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Hauptkommissarin Beate Maiwald muss routinemäßig in einem Fall von Selbsttötung ermitteln; ein älterer Mann hat sich in der Wohnung seiner Geliebten mit Tabletten das Leben genommen. Nach und nach tauchen Ungereimtheiten auf, die Beate Maiwald stutzig machen. Ist es Zufall, dass die drei im Ausland lebenden Söhne zum Zeitpunkt der Tat in der Stadt sind? Ist seine Geliebte wirklich so schüchtern und hilflos, wie sie sich gibt? Welche Rolle spielt die betrogene Ehefrau? Oder hat die Tat mit der Suche des Verstorbenen nach seinem leiblichen Vater zu tun? Immer wieder finden sich Hinweise darauf, dass es möglicherweise doch kein Selbstmord war. Die Kommissarin ist jedoch mit ihren privaten Problemen so beschäftigt, dass sie Wichtiges übersieht. Eine Katastrophe bahnt sich an.
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Seitenzahl: 272
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»Schafft er es?«, fragte Hauptkommissarin Beate Maiwald die Ärztin. Diese zuckte die Achseln. »Bis jetzt kann man gar nichts sagen. Er ist nicht mehr der Jüngste. Wenn er wirklich die ganze Packung genommen hat, dann ist die Giftmenge ausreichend, um einen Ochsen zu töten. Aber vielleicht war die Packung doch nicht mehr ganz voll und wir waren schnell genug, dann hat er eine Chance. Im Moment können wir nur abwarten.«
Die Kommissarin betrachtete den kahlköpfigen Alten, der mit grauem Gesicht auf dem Bett der Intensivstation lag. Eigentlich sah er jetzt schon aus wie tot. Die Schläuche und Kabel, an denen er hing, die Monitore mit ihren blinkenden Anzeigen, das Geräusch der Beatmungsmaschine – das alles wirkte lebendiger als der Mann, den sie am Leben erhalten sollten.
Beate Maiwald seufzte. Die Woche fing nicht gut an. Sie dachte sich, was wahrscheinlich alle denken, die so etwas sehen: Hoffentlich erwischt es mich nicht auch mal. Nur nicht so hilflos daliegen – Gott weiß wie lange. Dieser Wunsch nach einem schnellen und schmerzlosen Tod, den fast alle haben und der letztlich den allerwenigsten vergönnt ist. Beate kannte die Statistiken nur zu gut. Für den Mann auf dem Intensivbett vor ihr kam erschwerend hinzu, dass er vermutlich freiwillig gehen wollte. Wie mochte sich das anfühlen, dann so aufzuwachen? Falls er überhaupt wieder aufwachte.
»Warum sind Sie hier? Die übliche Routine oder gibt es begründete Zweifel an seinem Selbstmord?«, fragte die Ärztin mitten in ihre Gedanken hinein.
»Beides. Auffällig war die Reaktion seiner Lebensgefährtin – die hat den Notarzt misstrauisch gemacht.«
»Er vermutet, dass er die Tabletten nicht freiwillig genommen hat?«
Beate Maiwald zuckte die Schultern. »Es ist alles sehr vage«, sagte sie. »Nichts Greifbares. Der Doc wollte wohl einfach nur auf Nummer Sicher gehen. Ich hatte kürzlich mit ihm zu tun, da hatte er etwas voreilig einen Totenschein ausgestellt. Leider musste er dann einsehen, dass er einen Mord übersehen hatte. Das will er wohl in Zukunft vermeiden.«
Die Ärztin lächelte. Sie erinnerte sich lebhaft an den Fall, vor allem auch an das, was der Kollege über die Kommissarin gesagt hatte. Zitierfähig war nur der Satz gewesen, dass er den Tag herbeisehnte, an dem diese besserwisserische alte Zicke endlich in Rente gehen würde. Sie hatte ihm förmlich die Anstrengung angesehen, mit der er sich den Begriff ›Besserwessi‹ verkniff. Auf Beates Ruhestand würde er sich im Übrigen nach menschlichem Ermessen noch gute zehn Jahre gedulden müssen. Sie war sich sicher, dass die Kommissarin nicht die Absicht hatte, vorzeitig das Feld zu räumen.
Die Ärztin konzentrierte sich wieder auf ihre Gesprächspartnerin. Nachdenklich sagte sie: »Ich halte es für unmöglich, jemandem eine größere Menge von diesen Tabletten zu verabreichen, ohne dass er es bemerkt. Erstens sind sie so bitter wie die Not. Und wenn man sie in suizidaler Absicht schluckt, dann darf man auf keinen Fall alle auf einmal nehmen. Sie reizen den Magen und kommen schneller wieder hoch, als sie wirken können. Der häufigste Fehler, der dabei gemacht wird.«
»Von Ihnen kann man direkt noch was lernen«, antwortete die Kommissarin. Sie mochte die Ärztin, die ihre Menschlichkeit und Anteilnahme immer hinter einer Aura von unnahbarer Eleganz verbarg. »Falls ich mal was in dieser Art vorhabe, dann wird mir dieses Wissen sehr hilfreich sein.«
Ein prüfender Blick von der Seite war die Folge. Die Ärztin hatte in ihrem Leben zu viel gesehen, um über solche flapsigen Bemerkungen einfach hinwegzugehen.
»Bevor Sie sich ›etwas in dieser Art‹ vornehmen, sollten Sie mit jemandem reden, der etwas von Ihrem Kummer versteht«, sagte sie leise. »Ich glaube mich zu erinnern, dass ich Ihnen das schon einmal gesagt habe, oder?«
»Stimmt, haben Sie. Ich hatte es auch ganz fest vor. Und dann doch verschoben, verdrängt und schließlich vergessen. Aber machen Sie sich keine Sorgen, das war nur ein Witz.«
»Darüber macht man keine Witze«, antwortete die Ärztin streng. »Und jetzt gehen Sie, Sie können hier nichts tun. Der Anblick deprimiert Sie, geben Sie es zu. Ich rufe Sie an, wenn sich irgendetwas ergibt. Der Mageninhalt ist bereits auf dem Weg ins Labor.«
Beate Maiwald hatte nichts anderes erwartet. Sie nickte dankbar, verabschiedete sich und ging. Der Anblick hatte ihr in der Tat mehr zugesetzt, als sie erwartet hätte. Was hatte sie in ihrem langen Berufsleben schon alles gesehen! Da war dieser alte Mann auf der Intensivstation wirklich nichts Besonderes. Und doch, irgendwie berührte sie sein Anblick tiefer, als sie es jemals zugegeben hätte.
Ein Wunder ist es nicht, dachte sie resigniert, als sie durch die Krankenhausgänge zum Ausgang ging. Nach allem, was in den letzten Wochen los gewesen war, da konnte man schon dünnhäutig werden.
Sie fuhr sich mit der Hand durch die blonde Stoppelfrisur und kontrollierte ihr Aussehen in einer der großen Glastüren. Nichts dran auszusetzen, befand sie. Zierlich, sportlich und durchtrainiert, man sah ihr die gut fünfzig Lebensjahre nicht an. Ihre Fältchen waren in dem verschwommenen Spiegelbild nicht zu sehen. Umso besser. Ein Pfleger mit einem Tablett voller Blutproben kam ihr entgegen und grinste, als hätte er ihre Gedanken erraten. Beate grinste zurück.
Ihr junger Kollege Klaus Hubertson wartete in der Eingangshalle auf sie. Er trank Kaffee, und zwar nicht aus einem der deprimierenden Plastikbecher aus dem Krankenhausautomaten, sondern stilvoll aus einer echten Porzellantasse. Angeregt unterhielt er sich mit der Frau an der Rezeption.
Beate betrachtete ihn missbilligend. Er wies mit einem Kopfnicken auf die Tasse in seiner Hand. »Da staunst du, was? Ich habe erstens einen Parkplatz gefunden, direkt vor der Tür, und zweitens von dieser Zierde ihres Berufsstandes eine Tasse Kaffee bekommen. Das musst du mir erst mal nachmachen.«
Die junge Frau lachte. »Möchten Sie auch eine Tasse? Er ist ganz frisch«, bot sie Beate an. Aber die lehnte dankend ab. Sie trank ausschließlich Espresso, allenfalls mal einen Cappuccino, der übliche Filterkaffee jagte ihr kalte Schauer über den Rücken. »Und das mit dem Parkplatz glaube ich erst, wenn ich es sehe. Zur besten Hauptbesuchszeit direkt vorm Haus? Nie und nimmer.«
Hubertson zuckte die Schultern, murmelte etwas von ›Mutter-Kind-Parkplatz‹ und trank seinen Kaffee aus. Er gab der Schwester die Tasse zurück, bedankte sich und dann gingen sie hinaus.
Mindestens zehn Autos kreisten auf dem völlig überfüllten Parkplatz. Auch die für Mütter mit Kindern reservierten Plätze waren alle belegt, ebenso die für Dialysepatienten. Wahrscheinlich nicht von der entsprechenden Klientel, sondern von entnervten Besuchern, vermutete Beate.
Als Hubertson den Wagen aus der Parklücke lenkte, kam eine junge Frau mit einem Kleinkind auf dem Arm und einem Kinderwagen vorbei, die offensichtlich irgendwo ganz hinten einen Stellplatz gefunden hatte. Sie warf einen Blick ins Wageninnere und als sie dort weder ein Kind noch einen leeren Kindersitz sah, wurde sie wütend.
»Ich hoffe, ihr sitzt bequem auf euren egoistischen Hintern!«, rief sie.