Tod in der Champagne - Martin Roos - E-Book

Tod in der Champagne E-Book

Martin Roos

5,0

Beschreibung

Spannend, humorvoll und wunderbar leichthändig. In der Champagne sterben unter dubiosen Umständen Mitglieder bekannter Winzerfamilien. Der eigenwillige Trauerredner Bendix Kaldevin schöpft Verdacht: Hier ist etwas faul. Seine Nachforschungen führen ihn quer durch die Region Grand Est mit ihren Weinbergen, urigen Dörfern, himmlischen Getränken und köstlichen Menüs – und weit zurück in die Vergangenheit. Auf einmal erscheinen die Todesfälle in einem anderen Licht, und Bendix droht in einem Verwirrspiel aus Habgier und Rache selbst in eine mörderische Falle zu geraten.

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Martin Roos, Jahrgang 1967, wurde am Lehrstuhl für Allgemeine Rhetorik in Tübingen promoviert und arbeitete als Wirtschaftsredakteur für die Verlagsgruppe Handelsblatt. Heute ist er Autor, Journalist und Redenschreiber. 2019 wurde er zum Chevalier im »Ordre des Coteaux de Champagne«, einem der ältesten Weinorden Frankreichs, ernannt.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2021 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: shutterstock.com/geniusksy

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer

Lektorat: Dr. Marion Heister

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-805-4

Originalausgabe

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Auf Löwen und Ottern wirst du gehen und treten auf junge Löwen und Drachen.

Psalm 91,13

Champagne, 3. Oktober 1942

Es fehlten nur noch wenige Steine, bis der kleine Seitengang im hinteren Weinkeller zugemauert war. Josef-Jacob Armand trug etwas Mörtel in die verbliebene Lücke auf, zog mit der Kelle nach und setzte die letzten Steine ein. Das Versteck war zu. Noch ein paar Flaschen weniger für die Deutschen. Er stieg von der kleinen Leiter herab und klopfte sich die Kleidung aus. »Henri«, sagte er zu seinem Sohn, »wo hast du die Spinnen?«

Henri stand neben ihm, ein kleiner Junge, gerade mal so groß, dass er eine Magnumflasche halten konnte, die Backen rot, die Augen voller Entdeckerfreude, das Kinn halb bedeckt von dem Schal, den er gegen die Kälte im Keller trug. Er hob den kleinen Korb in die Höhe, damit sein Vater besser hineinschauen konnte.

»Gut gemacht«, sagte Josef-Jacob und strich ihm über den Kopf. »Jetzt verteilen wir sie.«

Sie setzten die Spinnen an verschiedenen Stellen der frisch gemauerten Wand ab. Henri hatte keine Angst vor Spinnen. Als Winzersohn waren sie ihm hier in Damery im Weinkeller seines Vaters früh begegnet und vertraut. In wenigen Stunden würden sie mit ihren Netzen die neue Mauer in eine alte verwandelt haben. Die Deutschen würden nicht merken, dass hinter dieser Wand ein Schatz versteckt lag.

Seit Beginn der Besatzung Frankreichs vor zwei Jahren hatten die Deutschen auch in der Champagne das Sagen. Sie bestimmten die Menge an Champagner, die ihnen die französischen Winzer liefern mussten, und diktierten ihnen die Preise. Sie wollten viel Champagner – für ihre Soldaten und Offiziere, für ihre Finanz- und Industrie-Elite, für die Treuesten ihres Regimes und die Clique um ihren Führer. Und wer sich weigerte, ihren Regeln zu folgen, wurde verhaftet und eingesperrt. Oder starb. Obwohl die Gefahr groß war, ließen sich viele Winzer nicht einschüchtern. Sie hielten ihre besten Weine zurück, versteckten sie, sabotierten Lieferungen und sprengten Eisenbahnlinien in die Luft, auf denen die Güterzüge Hunderttausende von Flaschen aus allen Weinregionen Frankreichs ins Deutsche Reich transportierten.

Henri wusste nicht, dass sein Vater der Résistance angehörte. Die Arbeit, die sie im Keller verrichteten, war für ihn oft wie ein Spiel. Schon mehrmals hatte er geholfen, die Flaschen umzuetikettieren. Sein Vater hatte ihm gesagt, dass sie damit die Deutschen ein bisschen ärgern und ihnen Sorten, die weniger hochwertig waren, unter teurerem Label verkaufen wollten. Und dann hatte er gelacht, und Henri hielt diese Schummelei nun für einen herrlichen Schabernack. Jemanden reinzulegen war immer ein Riesenspaß, dachte er. Er sollte dann den Staub, mit dem sie die Flaschen versahen, um sie älter aussehen zu lassen, aus uralten Teppichen schlagen. Das war weniger schön. Denn er bekam ziemliche Hustenanfälle.

Angst vor dem Krieg hatte er bisher nicht gehabt. Doch er spürte, dass der Gang, den sie nun zugemauert hatten, mehr als nur ein Spiel war. Einmal hatte er Gespräche seines Vaters mitgehört, in denen es darum ging, jemanden zu verstecken in den Hunderte von Kilometern langen Weinkellern und Kalksteinhöhlen, den crayères, die die ganze Region durchzogen. Von Verfolgung war die Rede, von Gefahr, von geheimen Treffen und von Erschießungen. »Papa«, sagte Henri schließlich, »wenn wir Flaschen verstecken, verstecken wir dann auch bald Menschen?«

Sein Vater schaute ihn ernst an. »Natürlich nicht«, sagte er. Dann nahm er ihn fest in den Arm.

Heute Abend würden die Ersten kommen.

1

Der Regen trommelte auf die Grabplatten des Nordfriedhofs von Reims. Das Wasser troff von den schmalen Säulen und Stelen, den kleinen Gruften und Mausoleen aus beigem oder grauem Sandstein und weißem Marmor. In den Blechdosen, die Besucher den herumstreunenden Katzen hingestellt hatten, schwamm aufgeweichtes Futter. Viele der alten Gräber der ersten Champagnerdynastien waren verwittert, von Moos überwachsen und wirkten wie verwunschen. Und doch zeugten ihre immer noch stolz in die Höhe ragenden Türmchen, Giebel und Kuppeln von Größe. Ein paar »Cheese«-Rufe von kreischenden amerikanischen und asiatischen Touristen, die sich in ihren bunten Regenjacken vor dem Mausoleum der alten Veuve Clicquot gegenseitig fotografierten, tönten herüber.

Bendix Kaldevin fühlte sich in seinem Anzug, über den er einen dunklen Gabardinemantel gezogen hatte, klamm und begossen. Er war groß und schlank und bot dem Regen viel Angriffsfläche. Die blonden Haare fielen ihm nass über Stirn, Ohren und Kragen. Immer wieder wischte er sich die Wassertropfen, die von seiner Nase auf das markante Kinn herabträufelten, mit einem Einstecktuch weg. Als Madame Kahnweiler, die Chefin des Beerdigungsinstitutes, ihn gebeten hatte, eine Trauerrede auf Henri Armand zu halten, hatte er sofort zugestimmt. Trauerreden halten konnte er. Zwar war es nicht einfach, über den alten Armand, der nun mit dreiundachtzig Jahren gestorben war, zu sprechen. Immerhin handelte es sich um den Patriarchen, den heimlichen König der Champagne. Doch Bendix mochte Herausforderungen. Dass der heutige Tag eine Kette von Ereignissen auslösen würde, die sein Leben für immer veränderten, konnte er nicht ahnen.

Seit sieben Jahren arbeitete Bendix als Trauerredner. Er war Mitte dreißig, als ihn Bart Lasalle, die rechte Hand von Madame Kahnweiler, auf die Idee gebracht hatte, Trauerreden zu halten. Sie waren seit der Kindheit befreundet. Bendix hatte an der Sorbonne Philosophie und Rhetorik studiert, und Bart wusste, dass sein Freund nicht nur in der Theorie gut war, sondern Reden auch schreiben und halten konnte. Er hatte ihn in der Kathedrale von Reims erlebt, als er aus Anlass ihrer Achthundert-Jahr-Feier 2011 eine leidenschaftliche Rede über den Champagner als die eleganteste Droge der Könige gehalten hatte.

Bendix gefiel Barts Vorschlag. Denn er kannte den emotionalen Zustand, den Trauer auslöste. Und die Möglichkeit, Menschen in ihrer Trauer Trost zu spenden, erfüllte ihn. Er war noch keine zwanzig Jahre alt, als sein acht Jahre älterer Bruder André tot in der Marne gefunden wurde. André war ein Vorbild für ihn gewesen, dem er immer nachzueifern versuchte. Die Umstände seines Todes wurden nie ganz geklärt. Der Verlust des Bruders hinterließ in Bendix eine Leere, die er anfangs kaum zu füllen wusste. Er musste lernen, mit dem Trauma zu leben, und entwickelte allmählich ein besonderes Händchen für den Tod. Immer wenn in seinem Umfeld jemand starb, wusste er sofort, was zu tun war. Er meldete sich bei den Betroffenen, ging ohne Scheu auf sie zu und versuchte zu helfen. Und sei es, dass er ihnen ein Stück Kuchen brachte. Der Schmerz um seinen Bruder hatte ihn jedoch nie ganz verlassen.

Bendix blickte über die Ansammlung der Trauergäste. Er kannte viele von ihnen, Winzer, Gastronomen, Stadträte und Familien aus der Region. Er stammte selbst aus einer Winzerfamilie, wenn auch aus einer kleinen. Der alte Armand war für ihn eine Führungsfigur aus dem Lehrbuch – einer, der streng und gütig zugleich war, manchmal uneinsichtig, aber selten zum Schaden anderer. In seiner Gegenwart konnte man gar nicht anders, als sich selbst als etwas Besonderes zu empfinden.

Bendix drehte sich zu Bart um und machte ihm mit einem energischen Blick deutlich, den Regenschirm endlich so zu halten, dass auch er nicht nass wurde. Bart schaute unschuldig zurück. Auch die sechs Sargträger neben ihm, gekleidet in weiße Uniformen, waren mittlerweile pitschnass. Dennoch hielten sie stoisch den Kirschholzsarg auf ihren Schultern. Sie waren Chevaliers des ältesten Weinordens der Champagne, des Ordre des Coteaux de Champagne, der verdienstvolle Größen wie Henri Armand zu seinen Mitgliedern zählte. Bendix zog den Kragen seines Mantels hoch, wischte sich mit einem Einstecktuch noch einmal die Regentropfen aus dem Gesicht und rieb sich die Schuhe an den hinteren Hosenbeinen blank. Er schaute auf seine Armbanduhr. Die Ehrenminute war längst vorbei.

Endlich setzten die Männer den Sarg auf der Vorrichtung über der Grabstelle ab, verbeugten sich und traten zurück. Die Karawane von Edelpolyester- und Nylonschirmen, an deren Griffe sich die Trauernden schutzsuchend vor den Regenschauern klammerten, drängte näher nach vorn. Zwei Frauen mit auffällig großen Hüten und dunklen Brillen, Charline und Lara, die Töchter Henri Armands, standen dicht am Sarg gleich neben ihrem Bruder Benoit. Auch die Mitarbeiter des Champagnerhauses Armand & Fils und der ehemalige Geschäftsführer Claude Wassermann waren gekommen.

Bendix versuchte auf der nassen grünen Kunstmatte, die rings um das Erdloch ausgelegt war, Halt zu finden. Wieder nahm er das Einstecktuch und wischte sich über Stirn und Nase. Dann holte er sein Redemanuskript aus der Manteltasche, räusperte sich, schaute auf die Trauernden und begann zu sprechen: »Heute begraben wir Henri Armand. Das ist für viele von uns ein schwerer Gang.«

Er blickte kurz in die Menge und sah, wie Benoit Armand zwischen seine Schwestern Charline und Lara trat und die Arme um sie legte. Charline hatte er beim Trauergespräch kennengelernt, eine große, elegante und schöne Frau. Das dunkle Haar fiel ihr unter dem großen runden Hut auf die Schultern. Er schaute sie unverwandt an. Schon beim ersten Treffen hatte er sich zu ihr hingezogen gefühlt. Erst nach einer Weile blickte er zu Lara. Sie wirkte unruhig. Sie war die jüngste der drei Armand-Geschwister, eine zierliche Person, deren kleines spitzes Gesicht von der schwarzen Sonnenbrille halb verdeckt wurde. Immer wieder wandte sie ihren Kopf zur Seite, wütend. Ihr Blick galt zwei Männern ein paar Meter von ihr entfernt, der eine ein stämmiger Typ, etwa Mitte fünfzig, mit einem blassen, ernsten Gesicht, einer Knollennase und dunklen kurzen Haaren. Der andere mit seiner gebückten Haltung eher ein Greis. Er stützte sich auf einen Gehstock.

»Liebe Schwestern und Brüder unserer Heimat, liebe Freunde«, fuhr Bendix fort. Aus den Augenwinkeln sah er wieder kurz auf Lara, die immer noch sehr aufgebracht wirkte. »In Henri Armands Leben ging es immer um viel«, sagte er und strich sein Manuskript glatt. »Es ging um die Familie, um die Weinberge, um Tradition, aber auch um Innovation, Fortschritt und die ständige Suche nach dem perfekten Wein. Und immer ging es darum, bei allem, was man tat, eine Haltung zu finden und im besten Fall das Richtige zu machen.« Er hielt inne. Denn nun sah er, wie sich Lara vom Arm ihres Bruders Benoit löste, sie energisch auf den alten Mann zuging, vor ihm stehen blieb und ihn mit erhobenen Fäusten anschrie.

»Verräter!« Ihre Stimme klang hell und scharf, ihr kleiner Körper bebte.

Jetzt erst erkannte Bendix den Alten. Es war Leo Reschenhauer, ein mürrischer Winzer, der den Ruf besaß, mit unlauteren Methoden seine Geschäfte gemacht zu haben. Die wenigen Haare auf dem großen Schädel mit seiner papiernen Haut und vielen Leberflecken waren glatt nach hinten gekämmt, sodass seine Ohren, die ihm wie gewellte Fleischlappen an der Seite hingen, noch deutlicher zum Vorschein kamen. Seine Lider hingen schlaff über den trüben blauen Augen. Über dem Rücken seiner viel zu spitzen Nase sammelte sich der Regen als winziges Rinnsal, sodass der Alte sich das Wasser immer wieder mit einem Stofftaschentuch abtupfen musste. Daneben stand der etwa dreißig Jahre jüngere Begleiter. Er hatte den Kragen seines dunklen Regenmantels hochgeschlagen, die Hände hielt er in den Taschen.

»Verräter!«, schrie Lara den Alten wieder an. Wie ein Pfeil schoss das Wort durch die Luft. Die nassen Stirnfransen klebten ihr wild über dem Gesicht. »Verschwinde von hier, hörst du?« Benoit wollte sie zurückziehen. Doch Lara ließ sich nicht beruhigen.

Contenance wahren, dachte Bendix, das war jetzt das Wichtigste. Emotionen am Grab war er gewöhnt. Und er wäre wohl eine komplette Fehlbesetzung, wenn er sich beim ersten Anzeichen von Ärger aus dem Staub machen würde. Er war schließlich Trauerredner, dachte er, und kein Börsenhändler oder Politiker. Er räusperte sich etwas lauter, streckte die Brust heraus, hob den Kopf und wollte gerade fortfahren, als Lara schrie: »Du hättest sterben sollen! Du Verräter! Geh endlich weg, du Mistkerl!« Sie holte noch einmal Luft und rief: »Ein dreifacher Mistkerl bist du! Un triple salaud!«

Ein Raunen ging durch die Reihen. Manche buhten, andere klatschten. Auf einmal marschierte der stämmige Mann neben Reschenhauer energisch auf Lara zu, baute sich vor ihr auf und ermahnte sie, endlich zu schweigen. Doch sie ließ sich nicht einschüchtern. Im Gegenteil. Wie eine wild gewordene Katze sprang sie auf ihn zu. Da packte Benoit sie von hinten und zog sie zurück. Dem Faustschlag, der ihn erwischen sollte, konnte er eben noch ausweichen. Geduckt holte er aus und verpasste dem Mann vor ihm einen Hieb. Weitere Männer kamen hinzu. Die einen versuchten die Streithähne zu trennen, die anderen mischten mit. Die Frauen kreischten, manche droschen mit ihren Schirmen auf andere ein. Mittendrin rangelten zwei Männer auf dem Boden.

Bendix schaute atemlos zu. Seine Gedanken rasten. In gewisser Weise imponierte ihm Lara. Es war dreist und mutig, so aufzutreten. Aber ein Grab war kein Ort der Abrechnung. Er musste handeln. Bart ahnte das offenbar und wollte ihn zurückhalten. Doch Bendix war bereits losgesprungen, mitten in die Keilerei, und versuchte, die Leute voneinander zu trennen. Zwei, drei Mal spürte er die Spitze eines Regenschirms in seinem Rücken. Ein Fußtritt sauste an ihm vorbei. Fäuste flogen. Energisch schob er einige Männer zurück. Plötzlich sah er, wie nun auch Charline zwischen die Fronten geriet. Sofort drängelte er sich durch den Pulk zu ihr und stellte sich mit dem Rücken vor sie, um sie zu schützen. Da traf ihn von vorne ein Schlag an der Schläfe. Er sah noch in die Augen des kräftigen Mannes mit dem blassen Gesicht und den kurzen, fransigen Haaren. Dann wurde es dunkel.

2

Das Haus von Madame Kahnweiler auf der Rue Dr. Rousseau in Épernay war ein elegantes vierstöckiges Gebäude, modern und mit einer großen Toreinfahrt, durch die die Leichenwagen mühelos in den Innenhof hinein- und wieder herausfahren konnten. Manche Leute in Épernay beschwerten sich bei ihr, dass sich ihr Beerdigungsinstitut ausgerechnet schräg gegenüber der Église Notre-Dame befand. Sie hielten es für geschmacklos. Ihre bisherigen Kunden jedoch fanden es praktisch, und auch diejenigen, die eines Tages ihre Kunden werden wollten, freuten sich schon jetzt über die geringen Kosten, die ihnen durch den kurzen Transport in die Kirche entstehen würden.

Bendix klingelte an der Tür. Sie öffnete sich automatisch. Sogleich trottete Bouchon, der braune Neufundländer, der fast immer im Flur lag, auf ihn zu und leckte ihm die Hände ab. Er war so etwas wie das Herz des Hauses und gehörte Madame Kahnweiler, die seit dem Tod ihres Mannes vor zehn Jahren das Beerdigungsinstitut allein führte. Sie hatte nur kaum Zeit für ihn. Maude, ihre junge Nichte, die ebenfalls im Institut arbeitete, hatte sie nach dem Tod von Monsieur Kahnweiler auf die Idee gebracht, einen Hund anzuschaffen. Für das allgemeine Seelenheil, wie Maude damals sagte. Madame Kahnweilers Stellvertreter Bart hatte keine Ahnung von Hunden. Zudem war er mit seiner eigenen Familie zu beschäftigt, um sich um Bouchon kümmern zu können. Allerdings war auch Maude viel zu chaotisch, um die Verantwortung für ein so großes Tier zu übernehmen. So blieb nur Monsieur Billiot, der alte Junggeselle, übrig, der im Keller in der Technik arbeitete, wo die Toten gewaschen, gepflegt und eingebettet wurden.

»Ah, hast du es doch überlebt«, begrüßte ihn Bart, als er im Erdgeschoss sein Büro betrat. »Wir hatten uns schon Sorgen gemacht und überlegt, ob wir dir hier im Keller im Einbettungsraum ein Plätzchen reservieren sollten.«

»Ein bisschen Leichenkosmetik würde sicher helfen«, antwortete Bendix und schielte ihn mit seinem gelb-purpurnen und immer noch leicht geschwollenen Auge an. Er wusste nicht mehr genau, was nach dem Schlag passiert war. Er konnte sich an den stämmigen Mann erinnern, der neben Reschenhauer gestanden hatte. Nachdem Bendix zu Boden gegangen war, hatte Bart ihn wegen des schlechten Wetters mit zwei Sargträgern in den Leichenwagen getragen, wo er sich erholen sollte. Die Polizei war gekommen und hatte für Ruhe gesorgt. Die Rede war allerdings ausgefallen. Als der alte Armand dann sehr zügig in die Grube gelassen wurde, hatte der Regen endlich aufgehört.

»Du kannst dir ja gleich bei Maude in der Technik ein wenig Farbe und Puder ausleihen«, erklärte Bart.

»Ach was«, sagte Bendix, »gib mir ein Glas Champagner, und meine Wangen werden von selbst rosig.« Schon als Jugendliche hatten die beiden so viel Champagner getrunken, dass sie manchmal in der Schule während des Unterrichts eingeschlafen waren. Champagner ging immer. Er war Lust, Lebensfreude und Lebenssaft. Und der Zustand, den sie mit ihm erreichen konnten, war wesentlich intensiver und schärfer als mit Koks. »Na los, mach schon«, sagte Bendix ungeduldig.

Bart zögerte. Er wusste, dass Madame Kahnweiler sie sprechen wollte, und da würde es keinen guten Eindruck machen, wenn sie angesäuselt waren. »Wir müssen erst zur Chefin.«

Bendix ließ seine Augen gen Himmel wandern. Bart war für ihn immer schon die vernünftigere, vielleicht auch gewissenhaftere Version seiner selbst gewesen. »Was bist du wieder so korrekt«, stöhnte er.

Bart nahm die Bemerkung gelassen hin. Mit seiner schmächtigen Figur, dem Kurzhaarschnitt, dem Seitenscheitel und dem quadratischen Schädel sah er unauffällig aus – und war längst nicht so extrovertiert wie der viel kräftigere Bendix. Doch steckte in dieser vermeintlichen Unsichtbarkeit und Kleinheit ein Mann mit einer festen Vorstellung vom Leben und dem unerschütterlichen Willen, die Aufgaben, die es ihm stellte, zu meistern. Bart hatte geheiratet, eine Familie gegründet und war mittlerweile der wichtigste Mitarbeiter im renommierten Haus Kahnweiler. Bendix hingegen hatte sich nach seinem Studium nicht nur in verschiedenen Jobs, sondern auch in seinem Privatleben verheddert. Eine Frau zu finden, mit der er das Leben teilen konnte, war ihm bisher nicht gelungen.

Bart nahm ihn am Arm, als ob er ihn verhaften wollte, und führte ihn zurück in den Flur. »Wir gehen jetzt erst einmal zu Madame Kahnweiler. Sie hat einen neuen Auftrag für dich.«

»Und warum ist das jetzt auf einmal so dringend?«

»Nicht dringend. Aber es ist ein Fall, der Madame Kahnweiler am Herzen liegt. Sie sagt, sie braucht dich.«

Sie gingen die schlichte Marmortreppe hinauf in das Büro der Chefin. Lily Kahnweiler saß hinter ihrem Schreibtisch und blätterte in der aktuellen »Éternité«, einem Thanatologie-Magazin. Sie war zwar schon eine ältere Dame, doch als sie die beiden sah, sprang sie federleicht auf und tippelte mit schnellen Schritten auf sie zu.

»Bendix, mein Lieber«, sagte sie, schlug die Hände zusammen und schaute ihn durch ihre schwarze Hornnickelbrille mitleidig an. »Wie sehen Sie aus?« Ihre Perlohrringe, die ihr rundes Gesicht umrahmten, vibrierten wie der Kamm, den sie wie ein Krönchen auf den hochgesteckten weißen Haaren trug, und die Brosche, die ihr himmelblaues Gewand um den kleinen runden Körper zusammenhielt. »Es tut mir ja so leid, was passiert ist. Das konnte keiner ahnen. Haben Sie noch Schmerzen?«

Bendix nickte ihr freundlich zu. »Kein Problem, Madame. Das ist doch schon einige Tage her. Ein Handgemenge, eine Balgerei, ein kleiner Schlag. Kein Problem!« Es war ihm peinlich, dass er vor allen Leuten derart zu Boden gegangen war.

Madame Kahnweiler tätschelte ihm die Hand und schaute strahlend zu ihm hinauf. »Das freut mich zu hören«, sagte sie. Sie hörte ihm gerne zu. Sie mochte seine Stimme, sie war weder zu hoch noch zu tief und besaß ein markantes Timbre, das so melodisch war, dass man es immer wieder hören wollte. »Ich hoffe, Sie lassen sich davon nicht abschrecken.« Sie lächelte. »Der Tod braucht nämlich Leute wie Sie, Leute mit Herz.«

Madame Kahnweiler hatte das Geschäft von der Pike auf gelernt. Ihr Großvater, Oskar Kahnweiler, war Ende des 19. Jahrhunderts von Stuttgart in die Champagne übergesiedelt und hatte in Épernay die Firma gegründet. Es war zunächst ein Fuhrunternehmen und transportierte in Kutschen Fahrgäste, Möbel, Kohlen, Bier – und dann auch Tote. Wenn jemand gestorben war, gingen die Angehörigen zum Schreiner und bestellten den Sarg, den der alte Kahnweiler mit seiner Pferdekutsche zum Friedhof brachte. Als er sich später ein eigenes Sarglager und schließlich sogar ein Automobil anschaffen konnte, war es ihm möglich, aus einer Hand zu liefern. Sein Weg zum kompletten Beerdigungsinstitut war nicht mehr weit – und das in einer Region, in der der Massentod während der Kriege gleichsam »florierte«. Auch die Familie Kahnweiler bekam das zu spüren. Zwei Onkel von Lily Kahnweiler starben im Zweiten Weltkrieg, der eine siebzehn, der andere neunzehn Jahre alt. Als junge Frau stieg Madame Kahnweiler in den siebziger Jahren in den Familienbetrieb, den ihr Vater mittlerweile führte, ein. Sie besuchte eine Fachschule für wissenschaftliche Leichenpräparation. Sie lernte einzubalsamieren, das Blut aus dem Körper zu ziehen und durch Balsamierungsflüssigkeit zu ersetzen. Ende der achtziger Jahre übernahm sie schließlich das Geschäft. Eines Tages würde ihre Nichte Maude alles erben. Kinder hatte sie keine.

»Also gut«, sagte Bendix und strich sich das Hemd glatt, »so eine Prügelei während einer Beerdigung war für mich schon neu.«

»Man erlebt in dieser Branche so einiges«, antwortete Madame Kahnweiler und schaute ihn bedeutungsvoll aus großen Augen an. Sie wusste, auf Beerdigungen konnte es gelegentlich recht bissig zugehen, denn für viele gab es kein größeres Vergnügen, als hinter den Särgen ihrer Todfeinde herzulaufen. Manche ihrer Kunden luden deswegen per Traueranzeige bestimmte Personen und Familienmitglieder von vornherein zu ihrer Beerdigung aus. »Aber«, sprach sie und tätschelte ihm wieder die Hand, »solche Spektakel sind eine Ausnahme. Da können Sie beruhigt sein, Bendix. Schlägereien am Grab könnte ich mir auch auf Dauer gar nicht leisten.« Sie hatte einen Ruf zu verteidigen. Natürlich ging es darum, die Toten anständig unter die Erde zu bringen. Ihr Erfolgsgeheimnis lag aber vor allem darin, Würde zu verkaufen.

»Dass die Familien Armand und Reschenhauer nicht die besten Freunde waren, hat sich ja bereits herumgesprochen«, sagte Bendix. »Aber können Sie mir diesen plötzlichen Ausbruch erklären?«

»In emotionalen Situationen kann so etwas passieren«, sagte Madame Kahnweiler. »Trauer ist der stärkste Stress, den Menschen überhaupt erleben können. Da geht schon mal etwas schief.« Sie drehte sich um, ging tippelnd zurück zum Schreibtisch und setzte sich.

Bendix schaute sich fragend zu Bart um, der ihm aber schnell zu verstehen gab, dass er der Sache besser nicht weiter nachgehen sollte.

»Wir haben hier einen neuen Auftrag für Sie, mein Lieber«, erklärte Madame Kahnweiler. Sie flötete regelrecht und kramte in einem Stapel Papier, der auf ihrem Schreibtisch lag. »Haben Sie Interesse, Bendix?« Sie schielte über die kleine Hornbrille zu ihm hinüber. »Wir brauchen für diesen Fall Ihre Intelligenz.«

3

Elisabeth Stauder stürzte. Mit jedem Meter, den sie hinabfiel, rauschte auch die Zeit ihres Lebens blitzschnell an ihr vorbei – die ersten Jahre ihrer Kindheit in Reims, in denen sie so krank war. Sie dachte an die Mutter, die früh starb, und den Vater, der sie streng aufzog und dem sie dennoch loyal ergeben war. Sie besaß kein außergewöhnliches Talent, das die Faszination, die sie auf viele im Laufe ihres Lebens ausübte, hätte erklären können. Man fragte sich stets, was sie eigentlich so anziehend machte, dass sich die unterschiedlichsten Personen aus den elitären Kreisen um sie scharten. Hatte sie dieses Leben nur ihrem Vater zu verdanken? Lebte sie sein Leben weiter? Sie konnte sich jeder Situation leicht anpassen. Ihre Ausstrahlung wirkte nicht nur auf Männer unwiderstehlich. Sie war auf nichts festgelegt. Alles schien möglich. Vielleicht war sie deswegen die ideale Projektionsfläche für alle diejenigen, die sie begehrten.

Sie stürzte die zehn Stockwerke des Luxushochhauses hinab. Es war früh am Morgen. Helles Blau breitete sich über dem Himmel der Côte d’Azur aus. Sie würde sterben. Sie wusste es. Sie war jetzt fünfundsechzig Jahre alt. Sie hatte immer geahnt, dass sie vor ihrer Zeit sterben würde. Sie lebte auf Kosten anderer. Und sie wusste, dass die Vergangenheit, die sie stets ausgeblendet hatte, auch sie eines Tages einholen würde.

Die Fenster und Etagen mit den eleganten Appartements rasten an ihr vorbei. Gleich würde sie aufschlagen, und ihr Leben wäre beendet. Was für ein langweiliger Gedanke, darüber zu sinnieren, gleich tot zu sein, dachte sie. Hätte ihr in diesem Augenblick nichts Besseres einfallen können? Mit einem peitschenden Knall schlug sie auf, ihre Schulter hatte beim Aufprall aufs Wasser des Swimmingpools wohl noch den Beckenrand erwischt. Doch den Schmerz spürte sie kaum. Es ging alles viel zu schnell. In einigen Appartements des Hochhauses gingen klappernd die Fensterläden hoch. Sonst war es ruhig. Elisabeths zerborstener Körper tauchte vom Grund des Pools wieder auf. Das Blut mischte sich mit dem Wasser und bildete tentakelartige Formen, die sich wie ein Tintenfisch um die Tote zu schlingen schienen. Erst als das Wasser ganz zur Ruhe gekommen war, tauchte tatsächlich ein Tier an der Oberfläche auf und krallte sich um den Hals der Toten. Es war ein Tintenfisch.

4

Seine Intelligenz. Bendix war geschmeichelt, dass Madame Kahnweiler dieses Wort so betonte. Er wusste zwar, dass sie viel von ihm als Trauerredner hielt. Aber sie gehörte nicht zu den Leuten, die mit Komplimenten um sich warfen.

»Es handelt sich um eine Frau«, sagte sie. »Elisabeth Stauder. Sie ist aus dem zehnten Stockwerk eines Hochhauses gestürzt, von dem Balkon ihres Ferienappartements in Südfrankreich. Ich habe sie und ihre Familie gekannt. Sie kommen alle aus Reims.«

Bendix sah ein, dass es keinen Sinn hatte, Madame Kahnweiler wegen des Vorfalls auf der Beerdigung des alten Armand weiter zu fragen. Sie war zu sehr mit dem neuen Auftrag beschäftigt, und er wusste, dass man sie dann nicht stören durfte. Sie konnte ungemütlich werden. Sie reichte ihm die Papiere mit den Angaben über die Tote.

»Was ist mit ihr passiert?«, fragte Bendix schließlich.

»Ach, die Arme«, antwortete Madame Kahnweiler. »Man weiß es nicht genau. Es könnte ein Unglück gewesen sein. Vielleicht Selbstmord.« Sie räusperte sich. »Vermutlich hat sie einfach zu viel getrunken und ist gestürzt.«

»Doch wohl nicht zu viel Champagner, oder?«, fragte Bart launig.

Madame Kahnweiler zog die Augenbrauen hoch. »Nun, eine Überdosis Kamillentee war es sicherlich nicht. Jedenfalls hätte man ihr mit dem Alkohol, den sie im Blut hatte, drei Mal den Führerschein entziehen können.« Sie tippte ungeduldig mit den Fingern mehrmals auf den Schreibtisch und erwartete noch eine Reaktion. Da aber niemand mehr etwas sagte, stand sie abrupt auf, ging zu Bart und schob ihn unmerklich zur Tür. »Geht doch bitte noch einmal nach unten in die Technik.« Sie lächelte Bendix fürsorglich zu. »Es ist ganz gut, wenn man einen Toten, über den man sprechen soll, sieht. Das ist immer eindrücklicher und wirkt sich auf die Rede aus.«

Bendix schaute sie mit gerunzelter Stirn an. Er hatte schon viele Tote gesehen. Sein Großvater war der erste. Bendix war erst acht Jahre alt gewesen. Anfänglich hatte er sich gefürchtet, den toten Mann anzuschauen. Doch als er ihn ansah, war alles ganz anders. Der Mann, der da lag, hatte nichts mehr mit dem ihm so vertrauten Großvater zu tun. Da lag nur eine schlechte Kopie von ihm, kalt und bleich wie abgestandene Butter. Sein Großvater war schon längst fort. Das war ihm sofort klar. Nur wo er war, das wusste er nicht. Doch es konnte nicht allzu weit von ihm entfernt sein. Auch das spürte er. Menschen, die einem nah waren, verließen einen nie, lernte er. Jahre später, nachdem Bart ihn immer wieder mal in die Technik mitgenommen hatte, waren viele Leichen hinzugekommen, Menschen, zu denen er keine Beziehung hatte. Im Tod sahen sie doch alle gleich aus, dachte er. Doch das stimmte nicht. Er hatte irgendwann so viele Tote gesehen, junge, alte, traurige, hässliche, von Krankheit gezeichnete, aber auch schöne und Tote voller Erhabenheit, dass ihr Anblick für ihn normal geworden war. Wer über Tote redete, sollte sie auch gesehen haben, wiederholte er still Madame Kahnweilers Rat. Warum sollte diese Leiche nun so besonders sein?

Madame Kahnweiler beherrschte die Kunst, einen Menschen zu beobachten, ohne ihn anzusehen. Sie merkte sofort, dass Bendix nicht besonders begeistert von ihrem Vorschlag war. »Tun Sie mir doch bitte einfach den Gefallen«, flötete sie nun. »Und versuchen Sie, so viel wie möglich über die Familie Stauder zu recherchieren.« Sie reichte ihm einige Papiere.

Bendix nahm sie und blätterte sie durch. Elisabeth Stauder war die Tochter von Victor und Elaine Stauder, vermögend, Besitzerin einiger Grand-Cru-Lagen in der Champagne. »Kapitalgeberin«, stand auf dem Zettel. Sie war nie verheiratet und hatte keine Kinder. »Soweit ich es den Unterlagen entnehmen kann, gibt es keine Verwandten mehr.«

»Nein«, sagte Madame Kahnweiler, »aber sie hatte ja Personal und einige Männer, die sich gut um sie kümmerten. Die sollten Sie unbedingt befragen.«

»Wen genau meinen Sie?«

»Einen haben Sie schon kennengelernt.« Madame Kahnweiler schaute ihn mit zusammengekniffenen Augen an. »Monsieur Reschenhauer zum Beispiel.«

Bendix und Bart gingen die Treppe in den Keller hinab. Unten im Flur mussten sie erst an dem Lastenaufzug vorbeilaufen, über den die Toten vom Innenhof aus direkt in die Technik transportiert werden konnten, bevor sie nach einigen Metern in den großen Einbettungsraum traten. Mit seinen schlichten weißen und hochragenden Schränken, den Waschbecken, Behandlungstischen, Hebevorrichtungen und Entlüftungsventilatoren wirkte er in dem gleißenden Licht, das aus einigen Strahlern von der Decke fiel, wie eine Mischung aus Operationssaal, Kosmetikstudio und Labor. In den Vorratsschränken stauten sich hinter den Glasscheiben verschiedene Desinfektionsmittel, Säuren und Chemikalien wie Ammoniak, Aceton, Ameisensäure, Chloroform oder Natriumhypochlorit. In den offenen Instrumentenschränken lagen nebeneinander geordnet und griffbereit Gefäßklemmen, Skalpelle, Scheren, Spatel, Nähnadeln, Pinzetten, größere und kleinere Drainagerohre und eine Hohlsonde. Daneben stand eine Vitrine mit Kunststoffpräparaten, mit denen sich Gesichtszüge wiederherstellen ließen, einige Kapseln, die unter die Augenlider geschoben werden konnten, um das Einsinken der Augen zu verhindern, dazu Füllmaterial und Gewebekleber, um Schädeldecke, Wangenknochen oder den Nasenrücken zu positionieren. In der Mitte des Raumes beugten sich in weißen Kitteln Billiot und Maude über einen nackten Körper, der auf einem der Behandlungstische lag.

»Bonjour«, sagte Billiot. Er schaute nur kurz auf. Sein dünnes dunkles Haar lag glatt über seinem Kopf. Unter dem weißen Kittel wölbte sich ein dicker Bauch. Sofort wandte er sich wieder den kalten Füßen der Leiche zu, um sie weiter einzucremen. Billiot war schon ewig bei den Kahnweilers angestellt. Er hatte als Sargmacher angefangen und sich allmählich im Technikraum zum Chef hochgearbeitet. Um sich weiterzubilden, hatte er früher einmal einige Monate in der Pathologie des Universitätsklinikums von Reims verbracht. Doch Leichen zerpflücken war seine Sache nicht. Er wollte sie verschönern und entwickelte im Laufe der Zeit eine immer stärkere Leidenschaft für kosmetische Versorgung und thanatologische Praxis. Streng achtete er darauf, dass seine Kunden, so nannte er die Toten, stets mit angehobenem Kopf und Schultern lagen, um die Verfärbung von Gesicht und Hals durch das Blut zu verringern. Und ganz gleich, ob es sich um Waschen, Schamponieren, Rasieren, Trocknen, Anziehen, Kämmen, Schminken, Pudern oder um das Rekonstruieren der Leiche handelte – kein Toter verließ diesen Raum, ohne dass Billiot einen Blick auf ihn geworfen hätte. Und wenn Yves und Jean-Claude, seine Gehilfen, die Toten für den Abtransport in den Sarg legten, war er es, der den Sargdeckel als Letzter schloss. Der Tod war sein Leben.

»Bonjour, Monsieur Billiot«, antwortete Bart. Er erwartete keine weitere Antwort. Billiot sagte nie viel. Alle respektierten das. Denn für sie hatte er vor allem die Fähigkeit, Dinge, die sie unappetitlich oder abstoßend fanden, ohne mit der Wimper zu zucken, zu tun.

»Wir wollten uns mal Madame Stauder ansehen«, sagte Bart, »Bendix soll zu ihrer Beerdigung die Trauerrede halten.« Er schaute auf die Leiche. »Ist sie das?« Die Tote wirkte so gut wie unversehrt. Immerhin war sie doch aus dem zehnten Stock eines Hochhauses gefallen.

»Ja, das ist sie«, sagte Maude und blickte die beiden durch ihre Schutzbrille an. Sie trug Latexhandschuhe und war dabei, den Nagellack von den Händen der Leiche mit Aceton zu entfernen. »Gefällt sie euch?« Maude kaute unaufhörlich Kaugummi.

»Ja, sie sieht gut aus«, sagte Bendix. »Ihr habt mal wieder ganze Arbeit geleistet. Hatte sie viele Brüche?«

»Klar. Genick gebrochen, Schädelbruch, Kieferbruch – sie muss mit dem Kopf aufgeschlagen sein«, erklärte Maude.

»Und sonst ist nichts gebrochen?«, fragte Bendix ungläubig. Der Sturz musste doch gewaltig gewesen sein.

»Nein«, erwiderte Maude. Sie zögerte. »Oder vielmehr doch.« Sie zeigte auf die rechte Hand. »Die Finger sind gebrochen.«

»Die Finger?«, wiederholte Bendix gedehnt, als ob er das Wort nicht richtig verstanden hätte.

»Ich weiß auch nicht«, erwiderte Maude und zuckte mit den Schultern. Sie zog sich wieder die Schutzbrille über und beugte sich über die Fingernägel. Sie erklärte ausführlich, wie sie mit Billiot den Schädel mit aufsaugendem Material gefüllt, die Kopfhaut von rechts nach links teils angeklebt und teils wieder angenäht hatte. Die zerstörten Wangenknochen mussten sie zunächst mit in Gips getauchten Baumwollstreifen rekonstruieren. Danach ging es an die Feinarbeit: Augenhöhlen richten, Wimpern reinigen, noch mal kleine Knochenstücke verdrahten, um das Profil zu schärfen, und hier und da noch ein wenig Wachs einfügen, um die Haut zu glätten. »Und dann natürlich die Farbe«, sagte Maude und schaute auf die Tote. Irgendetwas schien ihr gerade nicht zu gefallen. Sie kramte in dem kleinen Koffer, der mit Lippenwachs, Schminke, Make-up und Farben für Lidschatten angefüllt war, holte ein Violett heraus, beugte sich über das Gesicht der Toten und glich die Wimpernlinie noch mal an. Schließlich sagte sie: »Voilà! So schön wie nie!«

Tatsächlich sah Elisabeth Stauder nun viel jünger aus als ihre fünfundsechzig Jahre.

Bendix betrachtete sie eine Weile. »War schon jemand da, um sie zu sehen?«, fragte er schließlich Maude. »Irgendwelche Freunde?«

Sie schüttelte den Kopf. Sie hatte die Schutzbrille abgenommen und die Latexhandschuhe ausgezogen. »Oder hast du jemanden gesehen, Jacques?«, fragte sie Billiot.

Alle blickten auf Billiot. Er fühlte sich unwohl, wenn er im Mittelpunkt stand und spontan etwas sagen musste. Er bevorzugte es, zu schweigen.

Maude lachte und legte Billiot freundschaftlich die Hand auf die Schulter. »Seht ihr! Deswegen sind ihm die Toten einfach lieber. Die reden nicht und stellen keine Fragen, nicht wahr, Jacques?« Sie beugte sich zu ihm und schaute ihn freundlich an. »Unser guter Jacques weiß viel mehr über die Toten als über die Lebenden. Er kann sich an jede Leiche, die vor ihm gelegen hat, erinnern. Und dass zum Beispiel ein Bein von der Dame hier vor uns ein Stück kürzer ist als das andere und ihr rechter Fuß kleiner als der linke, hat er sofort gesehen. War bestimmt nicht einfach für sie, damit zu laufen.« Maude drehte sich zu den anderen um und breitete die Arme aus. »Na ja, dem Tod ist so etwas egal. Er verzeiht vieles.« Dann klatschte sie vergnügt in die Hände.

Bendix schaute sie verdutzt an. Es war das erste Mal, dass er Maude derart über den Tod sprechen hörte. Doch er beharrte auf einer Antwort. »War nun jemand da, um sie zu sehen, oder nicht?«

Keiner sagte ein Wort.

»Nein«, grummelte Billiot schließlich zur Überraschung aller. »Niemand war da.«

Bendix betrachtete die Leiche genauer. Er kannte Elisabeth Stauder nicht. Warum hatte Madame Kahnweiler gewollt, dass er ihre Leiche sah? Für die Vorbereitung und Recherche zu seiner Rede half ihm der Anblick jedenfalls nicht. Zumindest dachte er das.

Maude und Billiot begannen, die Tote zu bekleiden. Bendix fiel auf, wie weiß ihre Haut war. Das lag wohl auch daran, dass sie kaum Leberflecken und Muttermale aufwies. Doch gerade als Maude ihr den linken Arm aufrichtete, um ihr ein Unterhemd anzuziehen, fiel Bendix eine dunkle Stelle auf der Innenseite des Oberarms auf. »Was ist das?«, fragte er erstaunt und zeigte auf die Markierung. Es war eine Tätowierung, etwa sieben Millimeter groß, ihre Konturen waren nicht gut zu erkennen. Sie sah aus wie ein Buchstabe.

»Ein V«, rief Bart.

»V wie Victor«, sagte Bendix.

»Victor?«, fragte Bart.

»Im internationalen Buchstabieren ist V immer ein Victor«, erklärte Bendix. »Und warum sollte es kein Victor sein, Victor wie … äh … wie Victor Stauder. Elisabeth Stauders Vater!«

Maude verdrehte die Augen. »Warum soll sie ihren Vater unterm Arm tragen? Das ist doch pervers.« Sie drückte das Kaugummi gegen die Rückseite ihrer Vorderzähne, öffnete leicht und genüsslich den Mund, schob die Zunge heraus, pustete Luft in die dünne Schicht des Kaugummis und formte eine riesige Blase, die sie knallend zum Platzen brachte.

Bendix schaute sich die Stelle mit der Tätowierung nun von der anderen Seite an. »Es könnte aber auch ein A sein«, sagte er. »Ein A wie … äh … ja, wie wer?«

Bart machte noch ein paar Vorschläge, darunter so abwegige wie Armand, Asterix, Armweiler oder aisselle, die Achselhöhle, dass sie in lautes Gelächter ausbrachen.

Doch ausgerechnet der sonst so schweigsame Billiot unterbrach ihre Heiterkeit. »Die Einzigen, bei denen ich Buchstaben unter dem linken Arm gesehen habe, waren Männer, die aus dem Krieg kamen.«

Bart, Bendix und Maude schauten Billiot überrascht an. Dann blickten sie auf das Tattoo und wieder ihn an.

»Im Krieg?«, fragte Bendix. »Und was ist das für ein Zeichen?«

»Der Buchstabe zeigte die Blutgruppe an«, sagte Billiot, »Blutgruppe A zum Beispiel.« Und dann erklärte er ihnen, dass sich manche Soldaten im Zweiten Weltkrieg ihre Blutgruppe in den Oberarm tätowieren ließen, um im Fall der Verwundung schnell die richtige Bluttransfusion zu bekommen.

Maude pfiff leise. »Das ist ja mal cool.«

Bendix war beeindruckt. Doch ihm leuchtete nicht ein, warum sich eine Frau, die nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurde und im Zeitalter moderner Technik lebte, keine andere Methode ausgesucht haben sollte, um ihre Blutgruppe kenntlich zu machen. »Monsieur Billiot, können Sie sich konkret an jemanden erinnern, der so einen Buchstaben eintätowiert hatte?«

Billiot schien ihn nicht gehört zu haben. Er zog mit Maude der Toten das Unterhemd über. Dann strich er ihr von der Schulter über den Ellenbogen bis zur Hand sanft über die Haut, als ob er sie glätten wollte.

»Ja«, antwortete er schließlich. »Zum Beispiel ihr Vater.« Er schaute auf die Tote. »Da war auch ein A am linken Oberarm, allerdings nur schwer zu erkennen, ziemlich vernarbt. Als ob einer versucht hätte, es wegzumachen.« Er hielt inne, ging ganz nah an das Tattoo heran, betrachtete es eine Zeit lang und sagte schließlich: »Es ist erst wenige Tage vor ihrem Tod entstanden. Das Zeichen ist mit einem heißen Stempel eingebrannt worden.« Er schaute Bendix, Bart und Maude mit festem Blick an. Er war sich seiner Sache sicher.

»Eingebrannt?«, fragte Bendix bestürzt.

»Ja«, sagte Billiot. »Branding halt, etwas brutal, geht aber schneller.«

Keiner sagte einen Ton. Ihre Irritation war spürbar.

»Erst vor wenigen Tagen?«, wiederholte Bendix.

Ein Lächeln huschte auf einmal über Billiots Gesicht. Zum ersten Mal heute. »Vielleicht erst am Tag ihres Todes«, sagte er schließlich.

Maude schnalzte wieder mit dem Kaugummi. »Na ja«, murmelte sie schmatzend, »jeder verschönt sich, wie und wann er will.« Sie versuchte offensichtlich, die Stimmung zu retten. »Warum nicht auch an seinem Todestag? Das macht man in vielen Kulturen.«

»Aber nicht in Frankreich«, erklärte Bart trocken.

»Und woher willst du wissen, dass sie wusste, dass es ihr Todestag war?«, fragte Bendix zweifelnd.

»Jeder, der sich umbringen will, weiß, wann sein Tag gekommen ist«, erklärte Maude unbeeindruckt.

»Klar«, sagte Bendix, »aber wieso gehst du hier so selbstverständlich von Selbstmord aus? Das Tattoo sieht doch danach aus, als ob es in aller Eile angefertigt worden wäre. Warum gab es da diese Hektik? Und warum war sie so übermäßig betrunken? Um sich Mut anzutrinken, muss man nicht so viel saufen.« Er dachte an seinen Bruder, den man am Ufer der Marne auch mit viel Alkohol im Blut gefunden hatte. Sein Bruder wäre niemals so dumm gewesen, betrunken ins Wasser zu steigen. Schon deswegen war es für Bendix damals kein Unfall gewesen. Sein Bruder war ein erfahrener Schwimmer. »Es war kein Unfall«, sagte er nun laut.

Alle schauten ihn an. »Was meinst du?«, fragte Bart.

Bendix blickte erschrocken. Er merkte, wie er in Gedanken kurz abgeschweift war. »Ich meine, äh«, er zögerte, »ich werde sicher bald herausfinden, wie sie umgekommen ist.« Jetzt schauten alle noch ungläubiger. Da lächelte Bendix ertappt und hob die Hände. »Nein, also, ich wollte sagen, die Polizei wird sicher bald herausfinden, wie sie umgekommen ist.«

5

Madame Lacomblets dicke Oberarme schwappten bei jedem Messerstoß auf und nieder. Die scharfe Klinge schlug wie ein Fallbeil millimetergenau in die Zwiebel, dann auf den Knoblauch, die Pfefferschote und schließlich quer durch die Petersilie. Kleinste Stücke spritzten links und rechts zur Seite. Mit einer schnellen, eleganten Bewegung schob sie das zerkleinerte Gemüse mit dem Messer zusammen, nahm es und ließ es durch die Hände in die kleinen Schüsseln vor ihr gleiten. Sie lächelte. Ihre weißen Zähne leuchteten hell in dem dunklen, sympathischen Gesicht. Dann griff sie nach den geschälten Kartoffeln und schnitt sie in Sekundenschnelle in kleine Würfel, dass es nur so klackte. Schließlich nahm sie die Auberginen, wusch sie, trennte den Stielansatz ab und zerteilte sie nach der Paysanne-Methode, nicht in runde, sondern in viereckige, zwei Millimeter dicke Scheiben. Die Paysanne, die bäuerliche Technik, hatte sie schon als kleines Kind bei ihrer Mutter im Senegal gelernt.

Bendix, der vor der offenen Küche seiner Wohnung am Esstisch saß, blickte durch die offenen Fenster nach draußen auf die Rue Porte Lucas. Er wohnte nun schon einige Jahre in diesem geräumigen Vier-Zimmer-Appartement mitten in Épernay. Für ihn war es die schönste Wohnung, die er zwischen der Montagne de Reims, dem Marne-Tal, der Côte des Blancs und der Côte des Bar finden konnte. Von draußen strömte eine warme Brise in diesem wieder einmal heißen Sommer durch die beiden hohen Sprossenfenster herein, leicht angereichert mit dem Duft der Chocolaterie im Erdgeschoss. Er war ein musischer Mensch und genoss die Sanftheit des Augenblicks. Im Hintergrund spielte leise die Musik des französischen DJs Bob Sinclair.

»Monsieur Bendix, was ist los? Sind Sie wieder einmal unglücklich verliebt?«, fragte Madame Lacomblet und musste lachen, denn sie wusste um Bendix’ Schwachpunkt. Seit zwei Jahren war sie seine Haushälterin, seine femme de ménage. Erst sollte sie nur die Wohnung reinigen. Doch schnell hatte sie zu Bendix ein mütterliches Verhältnis entwickelt und vorgeschlagen, ihm nach Bedarf auch ein Mittag- oder Abendessen zu bereiten. Bendix liebte gutes Essen und natürlich Champagner. Das war der einzige Luxus, den er sich leistete. Und Madame Lacomblet. Dass er sie bezahlen und sich überhaupt einen gewissen Lebensstandard leisten konnte, lag nur daran, dass er von einem verstorbenen Onkel Geld geerbt hatte. Madame Lacomblet stammte aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Dakar. Als eine der ersten Einheimischen traute sie sich, am Strand von Yoff auf alten, ausrangierten Surfbrettern über die Wellen des Atlantiks reiten. Sie war damals eine der Besten – auch wenn man es ihr heute nicht mehr ansah. Sie hatte einige Pfunde zugelegt und wirkte durchaus korpulent. Vor dreißig Jahren war sie als Teenager aus ihrem Geburtsland, dem Senegal, nach Frankreich gekommen. Nur noch selten ging sie surfen. Heute gehörte Thieboudienne, das Nationalgericht ihrer Heimat, eine Fisch-Reis-Pfanne, zu ihren Spezialitäten.

Bendix schaute gequält und zog es vor, ihr nicht zuzuhören. Ihr Messer sauste nun in das Fischfilet, und in Sekundenschnelle schnitt sie mundgerechte Stücke. Modefine, die schwarze Katze, die ihm seine letzte Freundin als Beweis ihrer unzertrennlichen Liebe geschenkt hatte, streichelte Madame Lacomblet schnurrend um die dicken Waden. Früher oder später würde ein Stück Fisch zu ihr herabfallen.

»Oder haben Sie gestern wieder zu viel mit Monsieur Eitan getrunken?« Sie lachte.

Eitan Eisenberg, sein Etagennachbar, ein Fotograf, war ein eigenwilliger Typ und mehr als gewöhnungsbedürftig. Aber Bendix mochte ihn. Denn Eitan war der Einzige, mit dem man vollkommen grundlos zu jeder Tages- und Nachtzeit Champagner trinken konnte. »Nein«, sagte er, »ich war wieder auf Tour und bin müde.« Er lächelte bemüht.

Madame Lacomblet wusste Bescheid. Bendix’ Zweitjob als Gemüsedesigner verlangte von ihm frühes Aufstehen. Heute Morgen hatte es ein wenig gedauert, bis er die zwei großformatigen Stillleben in Öl in den Supermärkten von Damery und Bouzy richtig platziert und aufgehängt hatte – das eine mit Früchten neben Weinglas und Karaffe, das andere neben Kaninchen und Meerschweinchen. Er wechselte diese Bilder je nach Saison. Am liebsten ergänzte er echtes und gemaltes Gemüse. Über eine Formation von Spargelbünden hängte er eine hügelige Landschaft grüner und blauer Trauben, zu einem aufeinandergestapelten Haufen Kohlrabi kombinierte er gemalten Brokkoli und Blumenkohl, über Melonen und Trauben brachte er ein Stillleben mit Seekrabbe und gefülltem Weinglas an. Er kaufte die Bilder auf Antikbörsen und Flohmärkten. Er liebte die Porträtkollagen von Giuseppe Arcimboldo, Gesichter aus Blumen, Früchten und Gemüse. Manche malte er auch selbst, allerdings eher einfach, großformatige, farbenfrohe Bilder mit riesigen Orangen, Trauben oder Zitronen. Viele dieser Werke hatten sich mittlerweile in seiner Wohnung angesammelt. Sie zierten die Wände und stapelten sich im Keller.

Madame Lacomblet bohrte ein Loch in die Mitte der Filetstücke und füllte es mit einer Zwiebel-Kräuter-Mischung. »Oui, Monsieur«, sagte sie nur, wobei sich das »Oui« wie ein Zischen anhörte. »Ich bin gleich fertig, Monsieur Bendix. Soll ich Ihnen ein Glas Champagner eingießen?«

Er lehnte dankend ab. Für Alkohol war es selbst ihm noch zu früh. Da klingelte es an der Tür.

Bendix war überrascht. Er hatte niemanden erwartet. Er öffnete, und eine große, schlanke Frau trat in die Wohnung. Ihre dunklen, dichten Haare fielen ihr offen links über die Schulter. Zu den hochhackigen schwarzen Schuhen trug sie einen grauen, eleganten Hosenanzug, auf Taille geschnitten. Unter dem Blazer mit langem Revers, Ein-Knopf-Verschluss, paspelierten Pattentaschen und geknöpften Manschetten leuchtete eine weiße Bluse, geöffnet bis zum dritten Knopf. Auf ihrer Haut glänzte vom grazilen Hals bis zum Brustbein herabhängend eine Roségoldkette, an der ein schwarzblauer Stein baumelte, ein Saphir, handgeschliffen und poliert in Form einer Weintraube. Sie drehte sich zu Bendix um und lächelte. Es war Charline Armand, die älteste Tochter von Henri Armand.

»Bonjour, Charline«, begrüßte Bendix sie freudig.

»Haben Sie einen Moment Zeit?«, fragte sie ihn.

Sie sah umwerfend aus.

Einen Moment? Bendix wollte lachen. Eine Ewigkeit hätte er für sie Zeit. »Natürlich!«, antwortete er. Seine Stimme sprang leicht in die Höhe. »Schön, Sie zu sehen. Setzen Sie sich doch.«

Charline nahm auf dem Sofa Platz, stellte ihre Tasche auf den Boden, schlug die Beine übereinander und betrachtete mit einem gewissen Amüsement die vielen Obstbilder in seiner Wohnung. Bei einem Stillleben mit einem golden-silbrig glänzenden Wein blieb sie hängen. »Was ist das? Ein Montrachet Grand Cru?« Sie lachte. Natürlich kannte sie sich mit Weinen aus – und schon gar mit den teuersten.