Tod in der Steillage - Jens Burmeister - E-Book

Tod in der Steillage E-Book

Jens Burmeister

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Beschreibung

Geocacher stoßen im Norden Kölns auf einen grausigen Fund: Eine Leiche mitten im Naturschutzgebiet, weggeworfen wie ein Stück Müll. Die Tote ist Estelle Nicolier, Parfümeurin aus dem französischen Grasse. Wohin ist sie nach dem Abendessen mit ihren Kölner Kollegen verschwunden? Steckt Jaspal Wöhler dahinter, oberster Aromaforscher der Rheinischen Aromafabriken und passionierter Riesling-Fan? Jaspal ist auf dem Höhepunkt seiner Karriere, doch nicht nur der Mordverdacht erschüttert seine perfekte Welt. So beginnt ein spannender Genusskrimi um skurrile Charaktere, Winzer und Parfümeure, echte und falsche Rieslinge - am besten zu lesen mit einem guten Glas Wein in der Hand.

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Die geschilderte Handlung ist frei erfunden. Eventelle Ähnlichkeiten mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen sind zufälliger Natur.

»Kein Parfüm dieser Welt ist so vollkommen, wie der Duft von nasser Erde.«

(Damaris Wieser)

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kölner Schnitzeljagd

Die Enthüllung

Pheromone

Der Duft der Provence

Die Entscheidung

Mittelrheinische Winzerfreuden

Tod in der Steillage

Hollmann und die Chevaliers

Folgenschwere Erkenntnisse

Erntezeit

Prolog

Nun sollte der Höhepunkt des Abends folgen. Er hatte den Wein perfekt temperiert und rechtzeitig dekantiert. Nichts wollte er dem Zufall überlassen. Schon seit Tagen hatte er sich wie ein Kind darauf gefreut, Estelle endlich wiederzusehen und diesen grandiosen Abend gemeinsam mit ihr zu beschließen.

Höhnisch gellte ihr Lachen in seinen Ohren. Ihre Verachtung bohrte sich in sein Gehirn wie der Stachel eines Skorpions. Er presste sich mit beiden Händen die Ohren zu und versuchte, die Wut zu unterdrücken. Vergeblich. Die Wut wurde immer stärker. Er fühlte jetzt nichts anderes mehr als diese verdammte Wut. Estelle drehte sich von ihm weg, so als könne sie ihm nicht mehr ins Gesicht sehen. Immer noch lachte sie. In Trance packte er eine Flasche und schlug zu. Wie durch dichten Nebel sah er, wie sie sich an den Kopf fasste und sich erschrocken umblickte. Sie taumelte, stieß einen spitzen Schrei aus, prallte gegen die Kommode und fiel zu Boden. Das Lachen war verstummt. Der Nebel hatte sich verzogen. Ohne Regung beobachtete er, wie die rote Pfütze auf dem Fußboden immer größer wurde.

1. Kölner Schnitzeljagd

Als Celine die ersten kühlen Mai-Regentropfen auf der Haut spürte, ahnte sie, dass sich nun die Spreu vom Weizen trennen würde. Schließlich war sie mit Männern unterwegs. Sie blieb stehen, stemmte die Arme in die Hüften und funkelte ihre Begleiter an.

»Was ist los, seid ihr aus Zucker oder habt ihr euer mentales Pulver schon verschossen? Nur noch zwei Stationen und schon sind wir beim Cache!«

»Cash gehört en de Täsch«, ätzte Hagen, körperlich der größte der vier Geocacher.

»Oder zurück in die Realwirtschaft.« Lässig schob Sven, der wie üblich maximal tiefenentspannt wirkte, die viel zu große Ray Ban Sonnenbrille in die verwuschelten Haare. Celine liebte diese Geste.

»Genau, deshalb lasst uns hier pausieren und in der Waldschenke unsere Solidarität mit der regionalen Wirtschaft demonstrieren.« Joshuas Witz wirkte bemüht, das war für dessen Verhältnisse normal. Joshua schaute zu Celine, dann zu den anderen Jungs und wieder zurück zu Celine. Er ging zwei Schritte vor, sah sich nervös um und stapfte entschlossenen Schrittes in Richtung Waldschenke.

Celine reichte es. Seitdem sie aus der Linie 4, Haltestelle Schlebusch, ausgestiegen waren und die digitale Schatzsuche im Norden Kölns begonnen hatten, nervte Hagen mit seinen zynischen Bemerkungen. Sven trottete wortkarg neben der Gruppe her und Joshua versuchte, sie anzubaggern. Diese Truppe war viel zu heterogen. Das Studium als einzige Gemeinsamkeit war definitiv zu wenig.

»Okay Jungs, ich zieh das Ding jetzt allein durch. Ihr könnt euch von mir aus in der Waldschenke volllaufen lassen«, rief Celine mit kräftiger Stimme. Nach einem Blick auf das GPS-Gerät drehte sie sich um und folgte dem feuchten Waldweg.

Genüsslich sog sie den Duftcocktail aus Kiefernnadeln, Pilzen, Waldboden und Frühjahrsblüten ein und begann, sich zu entspannen. Was sie am Wald so sehr liebte, waren genau diese Momente: wenn er sie in grüner Molligkeit umfing und im steten Wechsel von Licht und Schatten, Wärme und Kälte alle ihre Sinne reizte. Der tröpfelnde Mairegen war in Sprühnebel übergegangen. Celine fühlte sich wie in einer überdimensionierten finnischen Sauna. Erstaunt schaute sie auf das GPS-Gerät. Es befahl den Abzweig auf einen matschigen Seitenweg. Sie zwängte sich durch eine enge Gasse, die durch stachelige Brombeerbüsche zugewachsen war. Ein Blatt klatschte ihr ins Gesicht. Celine erschrak. Wie feuchte Lappen in einer Autowaschanlage baumelten die Blätter über dem Weg. Zecken, Meningitis, schoss es ihr durch den Kopf. Fieberhaft tastete sie ihr Gesicht ab. Glück gehabt, es war nichts hängen geblieben.

FSME, die Frühsommer-Meningoenzephalitis, hatte ihr Professor gerade gestern in grellen Farben ausgemalt. Die Medizinvorlesungen, die der weißhaarige Schlacks hielt, waren mit Sadismus gespickt. War sie die einzige Idealistin unter all den karrieregeilen Medizinstudenten? Genau deshalb hatte sie nicht direkt nach dem Abitur mit dem Studium begonnen, sondern erst ein Praktikum in Ghana absolviert. Die schrecklichen Bilder hatten sich tief in ihr Gedächtnis gebrannt. Kaum noch heilbare Kranke, die sich viel zu spät ins Hospital schleppten. Die verwundeten Kinder in den ghanaischen Slums. Jetzt, im Studium, wollte sie von Grund auf lernen, wie sie durch die moderne Heilkunst helfen konnte. Deswegen gingen ihr solche Typen wie der sadistische Medizin-Prof und der zynische Hagen so gegen den Strich. Sven und Josh waren da ganz anders. Wegen denen war sie ja auch mitgekommen. Und doch – wegen typisch männlicher Trägheit in Tateinheit mit Gruppenzwang war sie inzwischen allein unterwegs.

Diffuses Unbehagen kroch in ihr hoch. Ihr Mund war trocken und der Herzschlag beschleunigte sich. Verflixt, jetzt musste sie doch bald an der nächsten Geocaching-Station sein! Sie zog den, inzwischen aufgeweichten Text, den Josh ausgedruckt hatte, aus ihrer Jacke. Der sagte kryptisch: »Du siehst eine rote Schrift auf weißem Grund. Übersetze den Namen ins Griechische und bilde aus dem Endbuchstaben des griechischen Wortes ein geläufiges deutsches Wort mit drei Buchstaben. Der letzte Buchstabe bildet die gesuchte Zahl, wobei gilt A=1, B=2, … Z=26. Diese Zahl musst du in die GPS-Koordinaten einsetzen, damit du weißt, wie es zum Cache weitergeht.« Von Station zu Station wurden die Geocaching-Aufgaben rätselhafter.

Trieb hier jemand üble Späße mit ihr? Josh oder einer seiner Freunde? Der hatte das Ganze schließlich vorgeschlagen. Ihr aufgeschwemmter WG-Mitbewohner war ihr inzwischen richtig ans Herz gewachsen. Genau wie sie steckte er voller Ideale. Studierte Biologie, weil ihn die Lebenswissenschaft begeisterte, und engagierte sich nebenbei in der Food-Quality-Bewegung. Einmal in Fahrt konnte sich Josh stundenlang über Gentechnik, Fleischkonsum, künstliche Lebensmittel und Aromastoffe aufregen. Und über Greenpeace-Aktionen gegen Tierversuche in der Kosmetikindustrie schwadronieren. Dass er versuchte bei ihr zu landen, nervte Celine zwar manchmal, tat aber auch ihrem Selbstbewusstsein gut. Josh oder einer seiner Freunde als Autor dieser Geocaching-Tour? Ein absurder Gedanke. Sekunden später begriff sie, was in der kryptischen Tour-Beschreibung gemeint war. Da hinten stand ein Schild. Inmitten einer winzigen Lichtung, zwischen dicht stehenden Birkenstämmen. Es war halb umgeknickt und auf ein rostiges Rohr montiert. Sie hastete zwischen den Birken hindurch, um die Aufschrift lesen zu können.

›GOTT‹, prangte es feuerwehrrot auf weißem Blech. Das rostige Rohr darunter war mit ebenso rostigem Stacheldraht umwickelt. Ein kalter Windstoß legte modrigen Waldgeruch über die Szenerie. Celine bekreuzigte sich, spontan, aus einem unbewussten Bedürfnis heraus. Sie verharrte bewegungslos. Gebannt starrte sie auf das Schild. Als Installation im New Yorker Museum of Modern Art hätte es Furore machen können.

›GOTT.‹ Sie musste an ihren Bruder denken, vier Jahre älter als sie. Mit seiner religiösen Überzeugung war er ihr stets ein Vorbild gewesen. Doch jetzt saß er im Gefängnis. Bis zum Pfarrer hatte er es nicht gebracht. Seine Geilheit hatte ihm die Zukunft verbaut. Mit seinen sexuellen Eskapaden hatte er die Seele seiner Schwester so schwer angegriffen, als hätte er ihr einen Schwung Säure ins Gesicht gekippt.

›GOTT‹, las sie sich erneut laut vor. Warum musste sie das Geocaching-Ding so stur allein durchziehen? Mit den Jungs zusammen hätte das Ganze viel weniger bedrohlich, eher belustigend gewirkt. Doch sie saßen gemütlich in der Waldschenke, mit vom Alkohol gelöster Zunge. Na ja, auf das Gefasel konnte sie gut verzichten. Ihr Handy surrte. Das war Josh. Celine drückte ihn entnervt weg. Okay, der griechische Gott hieß ja wohl Zeus. Und jetzt noch ein geläufiges deutsches Dreibuchstabenwort, das mit ›S‹ begann? Sehr witzig, dachte sie, vermutlich meint er Sex, was schon sonst.

Celine ergänzte die Koordinaten durch ein X, also eine 24 und tippte N51° 01.6245 E07° 04.0475 in ihr GPS-Gerät. Sie griff ihr Smartphone und drückte auf den Auslöser der Kamera. Ein Foto des Gottesschildes wollte sie noch mitnehmen. Klick. Sie checkte das Bild. Es war schwarz. Nochmals klick. Wieder ein schwarzes Bild. So etwas war ihr noch nie passiert. Irritiert ging sie weiter.

Sie überquerte eine morsche Holzbrücke, unter der ein trübes Bächlein dahinglitt. Darin eine pelzige Ratte. Celine schüttelte sich. Nach ein paar Metern endete der Weg vor einem Schild, das ein Naturschutzgebiet ankündigte. Dahinter Maschendrahtzaun und Stacheldraht. Den Ausblick auf das Naturschutzgebiet konnte sie nur schemenhaft durch dichten Regentropfen-Schleier wahrnehmen. Vor ihr breitete sich ein weiter See aus, der an drei Seiten von Tümpeln und sumpfigem Gelände umgeben war. Es mutete an, als wäre ein Meteorit in den Wald eingeschlagen und hätte dabei einen gewaltigen Krater hinterlassen, der inzwischen mit Wasser, Sumpf und Wiesen gefüllt war. Der Wald wuchs bis an den Kraterrand, der ringsum durch den Stacheldrahtzaun militärisch gesichert war. Weggesperrte Natur, dachte Celine.

»Das Areal wird im Volksmund ›Hornpott‹ genannt, weil hier um 1820 in einer Leimfabrik Knochen zu Kunstdünger gemahlen wurden und in einem ›Pott‹ Horn gebrannt wurde, um Leim und Knöpfe herzustellen. Später entstand an gleicher Stelle eine Kiesgrube, die nach ihrer Ausbeutung zu verlanden begann«, erläuterte ihr Geocaching-Führer. Also doch kein Meteorit, nur Hornpott und eine Kiesgrube. Erst jetzt realisierte Celine, was das GPS von ihr verlangte: Trotz Zaun und Verbotsschild sollte sie ins Naturschutzgebiet eindringen.

»Verdammte Scheiße«, murmelte sie.

Ein Ausdruck, der ihr höchst selten über die Lippen kam. Aber jetzt war es zu spät zum Kneifen. Sportlich schwang sie sich über den Maschendrahtzaun. Beinahe wäre sie dahinter ausgerutscht, denn es ging steil den Hang hinunter zu den Tümpeln. So ausgetreten wie dieser rutschige Weg war, war sie wohl nicht die Erste, die das Verbotsschild missachtet hatte.

Der Regen wurde heftiger. Dicke Tropfen prasselten, die Wolken verbreiteten eine massige Schwärze. Zum Glück hatte der Handy-Wetterbericht sie vorgewarnt. Sie zog die Kapuze dichter ins Gesicht, bis sie sich wie Reinhold Messner beim Abstieg vom Nanga Parbat fühlte. Da hinten, unter der Birke mit dem knorrigen Zebrastamm, da musste doch endlich der Cache sein. Dumm nur, dass die Birke mitten im Wasser stand. Und noch dümmer, dass eine Gruppe von drei Galloway-Kühen hinter einem Gebüsch hervortrotteten. Die Kühe hielten inne, um Celine gründlich in Augenschein zu nehmen. Ihre Knie zitterten und beruhigten sich erst wieder, als sie den Eindruck gewann, dass beide Seiten am Einhalten eines Sicherheitsabstandes interessiert waren.

Langsam umrundete sie den Tümpel, der die solitäre Birke umgab, behielt die Galloways stets im Auge und begriff endlich, was hier passiert war. Der Baum stand auf einer Art Halbinsel inmitten eines Tümpels, der stellenweise sehr tief zu sein schien. Der Regen hatte die Halbinsel gänzlich verschluckt und so schien die Birke inmitten des Wassers auf den ersten Blick unerreichbar. Celine zog die Wanderschuhe aus und betrat nackten Fußes vorsichtig tastend die Halbinsel. Das Wasser war kühl, der Untergrund moosweich und in einer faustgroßen Höhle im Stamm der Birke wartete der Geocache. Sie schreckte auf. Da war ein Gluckern. Kurz vor der Halbinsel. Genau dort, wo das Wasser am tiefsten war. Entsetzt beobachtete sie, wie eine müllsackblaue Masse an die Oberfläche trieb. Der Sack war oben mit einem groben, schwarzen Strick zugeschnürt. Kurz darunter war er eingerissen. Aus dem aufgeschlitzten Müllsack starrte Celine das kalkweiße Gesicht einer Frau an. Halluzinierte sie? Hatten Mairegen, Gotteswarnung, Verbotsübertritt und Nacktfüßigkeit sie um den Verstand gebracht? Wieder bekreuzigte Celine sich instinktiv. Das hier war superreal, war weder Film noch Fiktion. Der Vergrößerungseffekt des Wassers bewirkte, dass Celine jede Pore des aufgedunsenen Frauengesichtes erkennen konnte. Die Kreise der prasselnden Regentropfen hauchten der toten Haut auf zynische Weise wieder Leben ein. Celines Herz trommelte, ihre zitternden Knie schickten Wellen über das Wasser. Sie vergaß den Cache. Hektisch sprintete sie zurück ans Ufer. Schlüpfte in die Wanderschuhe, ignorierte die immer noch starrenden Galloways und rannte so schnell sie konnte aus dem Naturschutzgebiet heraus. Ihr Handy. Jetzt sollte es doch mal zu etwas nutze sein. Sie versuchte, Josh zu erreichen. Kein Empfang. Ausgerechnet jetzt. Immer noch zitterte ihr Körper. Das tote Gesicht, das sie aus dem Wasser anstarrte, hatte sich in ihr Hirn eingebrannt. Sie hastete die matschige Steigung nach oben, schwang sich über den Zaun und konnte es nur als Ironie empfinden, dass sich der Himmel wieder aufklarte und Blaues durchscheinen ließ. Auf dem kürzesten Weg rannte sie zurück zu den Jungs. Zurück zu dem Ort, an dem der ganze Schlamassel begonnen hatte, zurück zur Waldschenke.

Keuchend trat Celine ein. Sie wurde von gemütlicher Wärme, Stimmengewirr, Alkohol- und Kaffeegerüchen empfangen. Die Gaststube war fast leer. Im hinteren Teil des Raumes hatten sich die Jungs versammelt. Joshua begrüßte sie jovial.

»Hey Celine, setz dich zu uns, erzähl von deinem Adventure. Warum hast du dich nicht wenigstens mal kurz gemeldet? Abgenommen haste auch nicht. Ich meine das Telefon.«

Zitternd nahm Celine Platz. Entgeistert starrte sie in die Runde.

»Was ist los, du bist ja kreidebleich! Und völlig durchnässt! Und du zitterst ja wie, wie ... Espenlaub.« Joshua fummelte nervös an seinem Pferdeschwanz herum.

»Beim Cache, im Teich, eine Frau, furchtbar, in einem Müllsack.«

Jetzt endlich hatte Celine auch die volle Aufmerksamkeit der anderen Geocacher.

»Waaas?«, riefen ihre alkoholisierten Kommilitonen und starrten Celine wie Karpfen durch eine Aquariumscheibe an.

Wie gewohnt feuerte Hagen einen seiner typischen Kommentare ab: »Tatort ist doch erst morgen Abend. Sag uns einfach, welches Zeug du im Wald geraucht hast, scheint ja echt genial zu sein.« Er lächelte. Die kräftigen Falten in den Mundwinkeln unterstrichen den Zynismus seiner Worte.

Jetzt platzte Sven der Kragen. Erstmals am heutigen Tag verlor er die Contenance. »Hör auf mit diesem abgefuckten Gelaber, Hagen! Du siehst doch selbst, wie mies es Celine geht.«

Celine warf Sven einen dankbaren Blick zu.

»Okay, okay, entspann dich, komm wieder runter, Sven. Man wird doch noch einen launigen Spruch machen dürfen.«

Joshua öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Celine begann, wieder klar zu denken. »Ich muss die Polizei rufen, die müssen sofort den Tatort sichern. Hoffentlich habe ich keine Spuren zerstört.«

Sie griff ihr Smartphone, wählte zum ersten Mal in ihrem Leben die Nummer 110 und schilderte in präzisen Worten den Sachverhalt. Sie erhielt die Zusage, dass so schnell wie möglich eine Streife kommen würde sowie die Anweisung, sich keinesfalls von der Stelle zu bewegen. Celine bejahte, legte auf und schien für den Moment beruhigt zu sein, das sie aufwühlende Gefühlschaos in sachliche Bahnen gelenkt zu haben. Auch Josh schien sich wieder gefangen zu haben.

»Eine Runde Schnaps für alle und du berichtest, was genau passiert ist.«

»Moment mal, wenn wir unsere Antialkoholikerin bekehren wollen, dann ja wohl nicht mit ordinärem Schnaps. Sondern mit Champagner!«, rief Sven, der sich neben dem Biologiestudium als Sommelier betätigte.

Zur allgemeinen Überraschung willigte Celine ein. Vielleicht, weil es Sven gewesen war, der den Vorschlag gemacht hatte. Vielleicht auch, weil sie immer noch aufgewühlt war. Oder einfach nur deshalb, weil sie nicht immer als die spaßverderbende Öko-Tussi dastehen wollte. Nach einem Blick auf die rechte Spalte der Getränkekarte befand Sven, dass es doch eher ein Riesling-Sekt vom Mittelrhein sein sollte. Auch wenn der Sommelier weder dem Sekt noch dem Anbaugebiet besonders viel zutraute. Spätestens, als die Gläser hellgelb funkelnd und perlend vor ihnen standen, wurden sich die Kommilitonen der Absurdität dieser Situation bewusst. Hagen genoss dies sichtlich. Gab es hier irgendetwas zu feiern? Eine verkorkste Geocaching-Tour, einen Leichenfund? Celine roch an dem Riesling-Sekt und sog die herbfruchtigen und hefigen Aromen ein. Bereits der erste Schluck belebte und reizte ihre Sinne mit Funkeln, Prickeln, Fruchtigkeit und pikanter Würze. Vielleicht war es doch ein Fehler von ihr, generell auf solche Genüsse zu verzichten?

»Herbe Äpfel, so wie Granny Smith, Limettenblüten, eine Spur Cassis im Hintergrund, Noten von Brothefe und ein frisch aufgebrochener Liebstöckel-Stängel. Auch die Erinnerung an feuchtes Gesteinsmehl ist erlaubt«, fasste Sven im Sommelier-Jargon seine Eindrücke zusammen. »Am Gaumen lebendige Perlage, Schmelz, Brothefe, herbfrische Frucht und leichte Liebstöckel-Würze. Im Finale spielen Salz und Kräuter miteinander. Ein typischer, fruchtbetonter und erfrischender Riesling-Sekt vom Mittelrhein. Nicht so subtil und raffiniert wie Champagner – aber auch nicht zu verachten.«

Celines Augen hafteten wie Heftzwecken an Svens Lippen. Er hingegen badete in seiner blumigen Sommelier-Sprache. Joshua verdrehte die Augen so sehr, dass Celine nur noch das Weiße sehen konnte.

»Celine, möchtest du nicht über deine Erlebnisse sprechen? Was genau ist passiert?«

»Jetzt will Josh es aber wissen«, ätzte Hagen abermals, bevor Celine mit ihrer Erzählung begann.

Der Sekt belebte sie und löste ihre Zunge. Es half ihr, sich das Geschehene von der Seele zu reden. Sie versuchte, den Jungs die Intensität ihrer schrecklichen Erlebnisse so authentisch wie möglich zu vermitteln. Als sie bei dem Gottesschild angekommen war und Hagen dies scharf mit »sollte es denn möglich sein! Diese junge Frau hat in ihrem Walde noch nichts davon gehört, dass Gott tot ist« kommentierte, betraten zwei Streifenpolizisten die Waldschenke.

Sie kamen wie veritable Filmfiguren daher: er groß, sportlich, breitschultrig, kurzhaarig und mit Schnäuzer, sie klein, ebenfalls sportlich und mit zum Pferdeschwanz gebundenem, blondem Haar. Der Schnäuzer ging schnurstracks auf Celine zu.

»Sind sie Frau Gereon? Haben Sie die Einsatzzentrale wegen eines Leichenfundes verständigt?«

Celine nickte.

Währenddessen schaute die Blonde abschätzig von Sektglas zu Sektglas.» Dann lassen Sie bitte Ihr Sektglas stehen und führen uns zum Fundort.«

»Fundort, klar. Ist ja gleich in der Nähe.«

Celines Worte vibrierten noch im Gastraum der Waldschenke, als sie bereits im Polizeiwagen verschwand, den sie zügig bis zum Zaun des Naturschutzgebietes lotste. Sie blieb im Wagen sitzen und betete darum, dass sich ihr Fund als Fata Morgana erweisen möge, egal wie peinlich das für sie wäre. Rasch kehrten die beiden zurück. Das Gesicht der Blonden war kreidebleich. Der Schnäuzer gab zackige Anweisungen: »Sag der Zentrale Bescheid, die sollen das KK 11 informieren. Am besten, die kommen direkt hierher. Frau Gereons Freunde sollen bloß in der Waldschenke sitzen bleiben. Erkennungsdienst brauchen wir natürlich auch. Wir bleiben hier, damit niemand die Leichenruhe stört.«

Celine seufzte hörbar auf.

»Wird gemacht, Chef«, antwortete die Blonde mit einem genervten Seitenblick.

Die nächste halbe Stunde verbrachten die drei schweigend im Polizeifahrzeug. Der Erkennungsdienst fuhr vor, gefolgt von einem hellgelben Sportwagen.

Überrascht beobachtete Celine, wie sich ein Zwei-Meter-Hüne aus dem Cabrio herausquetschte. Er schüttelte sich wie ein zotteliger Hund, der sein Fell von Wasser befreien muss. Die Blonde und der Schnäuzer sprangen aus dem Auto und gaben ihren Lagebericht ab. Celine ließ den Blick über das zu kurze, in Blautönen karierte Jackett, das rosafarbene Hemd, die braune Stoffhose und die italienischen Wildlederschuhe gleiten. Dazu der viel zu klein geratene Sportwagen, leicht angegraute, fettig-lockige Haare und ein Gesicht, in das das Leben sich tief eintätowiert hatte. Der Kommissar wirkte wie ein gealterter Rockstar – oder wie der Sportdirektor eines Bundesligisten.

Er öffnete die Tür an Celines Seite. »Juten Tach, Frau Jereon, Bäumler ming Name, Kriminalpolizei Köln, wat hatten Se denn zo fiere?«

»Eigentlich, also ehrlich gesagt hatten wir gar nichts zu feiern, ... Können Sie sich ja denken. Sie spielen wohl auf den Sekt an. Das war eine Idee von Sven, unserem Sommelier. Und der hat uns alle schlagartig wieder ins Leben zurückgebeamt, der Sekt. Wir waren ja geschockt und sprachlos, während wir auf die Streife warten sollten.« Celine blickte müde aber aufmerksam in Bäumlers Gesicht, das gute dreißig Zentimeter über ihrem eigenen Blickfeld thronte. Aus ihrer Perspektive wirkten die grauen Tränensäcke wie faltige Ballons, aus denen man die Luft nur unvollständig herausgelassen hatte. Die Lider hingen tief in die wasserblauen Augen, aus denen er Celine in einem Gemisch aus Wachheit und Hundeblick ansah. Die Nase war knotig und von roten Äderchen durchzogen.

Alkohol, dachte Celine und suchte mit geschultem Blick nach weiteren diagnostisch nützlichen Hinweisen.

Bäumler wechselte ins Hochdeutsche. »Soso, eigentlich hatten Sie nichts zu feiern. Was hat Sie denn so ganz alleine, ohne Ihre Kollegen, zur Leiche geführt?«

»Na das Geocaching. Die anderen hatten wegen des Regens keine Lust mehr und wollten lieber chillen.«

»Soso, Geocaching und Chillen, klingt ja reichlich up to date. Ich nehme jetzt den Fundort in Augenschein. Danach unterhalten wir uns noch ein wenig. Sie warten bitte hier.« Während er sprach, wehte Celine ein Gemisch aus abgestandenem Schnaps und herbsüßlichem Aftershave in die Nase, das sie erschauern ließ. Okay, geschenkt, es war Samstag. Aber ein paar Stündchen hatte dieser Tag ja bereits hinter sich ...

Gerade bewegte Bäumler sich in Richtung Naturschutzgebiet, als zwei in weiße Ganzkörperkondome gekleidete Kollegen heraufeilten. Ihre blauen Schuhüberzieher erinnerten Celine schmerzlich an den Müllsack, aus dem die Leiche sie angestarrt hatte.

»Chef, die Leiche schwimmt in einem Tümpel. In dem Tümpel steht ein Baum, der hat ein Loch und darin liegt ein Kasten. Sieht aus wie ein Sprengkörper. Wir haben die Sprengstoffkollegen verständigt, die sollen sich das mal ansehen, bevor wir da weiter machen.«

Bäumler zog die Augenbrauen hoch und murmelte: »Eine Bombe? Was zum Henker soll das denn?«

Celine schaltete sich ein. »Eine Bombe im Baumstamm? Sie meinen doch bestimmt den Geocache. Genau deswegen waren wir doch hier.«

Die Gesichter der Spusis färbten sich feuerrot. Sie hätten einem norddeutschen Leuchtturm Konkurrenz machen können.

»Na, dann pfeift die Sprengstoffkollegen mal wieder zurück und führt mich zum Fundort. Ich will mir selbst ein Bild von der Lage machen. Wie gesagt, Frau Gereon, Sie halten sich hier zu meiner Verfügung.«

Die Spusis schnitten den blauen Müllsack behutsam auf. Wie in einem Striptease entblätterten sie nach und nach die aufgedunsene, nackte Tote. Bäumlers Blick wanderte von den schulterlangen, blonden Haaren zu den angsterfüllten Augen und dem erschrocken offenstehenden Mund. Ein schönes, faltenfreies Gesicht, in Schrecken und Angst erstarrt. Ein Gesicht, das den Ausbruch der Gewalt im Moment des Todes nicht hatte fassen können. Er blickte weiter zu den kleinen festen Brüsten, den manikürten Fingernägeln, dem straffen Bauch und den ebenfalls sehr gepflegten Fußnägeln. Glatt und kalkweiß wie frisch aufgezogene Hotelbettwäsche. Warum hatte sie sterben müssen? Bäumler hatte schon unzählige Leichen gesehen. Aber jedes Mal ging es ihm wie bei seinem ersten Leichenfund. Übelkeit stieg in ihm hoch. Fassungslosigkeit ob der menschlichen Brutalität. Seine Routine half ihm nur dabei, sich äußerlich nichts anmerken zu lassen.

»Sieht makellos aus. Zumindest von vorne. Stinkt aber wie eine Leiche«, bemerkte einer der Spusis.

Bäumler zuckte mit den Schultern. Seit über zehn Jahren konnte er nichts mehr riechen. Was damals als leichte Erkältung begann, wurde er wochenlang nicht los, traktierte er mit Tabletten und Nasenspray und bezahlte es letztendlich mit dem Verlust eines Sinnesorgans. Ganz selten noch drangen Gerüche zu ihm durch, und wenn dies passierte, waren es seine privaten Glücksmomente. Es war ihm dann vollkommen egal, ob er Pferdemist, frisch aufgebrachten Asphalt oder Frühjahrsblüten roch. Beinahe egal war es ihm in diesen Momenten auch, ob er diese Gerüche wirklich registrierte, oder ob er sie sich nur einbildete. Früher liebte er seine Nase, vielleicht das Sinnesorgan, das die meisten Menschen am sträflichsten vernachlässigten. Der Geruch der Holunderbüsche im Frühjahr. Trocknendes Heu auf den Wiesen des Alpenvorlandes. Staubige Wege nach einem kräftigen Sommergewitter. Der Parfümhauch einer vorbeigehenden Frau. Oder einfach nur frisch aufgebrühter Kaffee am Morgen.

All das war für ihn der Inbegriff von Lebensintensität gewesen. Wie sehr vermisste er seine geliebten Rieslinge, durch deren filigrane Aromatik hindurch er ihre Herkunft zu riechen und zu schmecken glaubte. Und die kölsche Küche. Im Grunde reichten bereits Himmel un Äd mit zart karamellisiertem Apfelkompott, um ihn in kulinarische Verzückung zu versetzen. An jenem denkwürdigen Tag, an dem ihm endgültig bewusst wurde, dass er von nun an zur Leidensgemeinschaft der Anosmatiker zählen würde, ging er ins Autohaus und bestellte das Boxter Cabrio.

Zu Bäumler, der Leiche und den Spusis gesellte sich nun ein übergewichtiger, glatzköpfiger Rechtsmediziner, der knapp grüßte. Mit ihm hatte der Kommissar schon so manchen Streit ausgefochten.

Er hielt die Nase schnuppernd in die Höhe. »Herr Kriminalhauptkommissar, Anerkennung für Ihr Aftershave. Das lässt auf echte Kennerschaft schließen. Insbesondere die Basisnote, die an einen geselligen Freitagabend erinnert. Verraten Sie mir die Marke?«

»Vielen Dank, dass Sie in meiner anosmatischen Wunde stochern. Wie wär’s, wenn Sie einfach Ihre Arbeit machen?« Der Mediziner schien mit dem Ausgang des kleinen Wortgefechtes bereits zufrieden und begann, die Leiche routiniert zu untersuchen. Mehrmals wischte er sich dabei den Schweiß mit einem überdimensionierten Stofftuch von der Stirn und sprach die Befunde in ein Diktiergerät. An äußeren Verletzungen konnte er nur die klaffende Wunde am Hinterkopf feststellen, die vermutlich zum Tod geführt hatte. Er schätzte, dass die Tote bereits seit einer Woche im Wasser gelegen hatte. »Mehr kann ich hier nicht ausrichten. Bringt sie mir unversehrt in die Rechtsmedizin. Oder korrekter: nicht noch versehrter, als sie bereits ist«, wies er die Spusis mit einem schmierigen Schmunzeln an.

Scherze dieser Art konnte Bäumler nicht ausstehen. Durch einen genervten Blick in Richtung des Rechtsmediziners verdeutlichte er diese Ansicht. Er liebte es geradeheraus und sah es als seine tägliche Aufgabe an, die ungeschminkten Tatsachen und die brutale Realität in maximaler Klarheit herauszuarbeiten. Und nicht, während der Arbeit seine Umgebung zu bespaßen, wie der verfettete Mediziner es ständig versuchte. Als Bäumler sich gerade zum Gehen wandte, fiel ihm auf, dass der Geocache immer noch in der Baumhöhle schlummerte. Bislang hatte noch niemand einen Blick in das Innere der grünen Blechdose geworfen. Er bat einen der Spusis, ihm die vermeintliche Bombe zu bringen und versuchte, die Dose vorsichtig zu öffnen. Das Ding sträubte sich und die Baumwollhandschuhe erschwerten das Handling zusätzlich. Bäumler wurde nervös. War es vernünftig gewesen, sich auf die Aussage der kleinen Medizinstudentin zu verlassen? Endlich sagte es ›Plopp‹ und der Kommissar konnte gerade noch verhindern, dass der Deckel wie ein Blechfrosch in den Teich davon sprang. Neugierig blickte er in die Dose.

»Ein USB-Stick und ein kleines Büchlein, sonst ist nichts in der Kiste.«

»Das ist völlig normal«, sagte einer der beiden Spusis, der eifrig auf seinem Smartphone herumtippte, um dann aus Wikipedia vorzulesen: »Ein Geocache ist in der Regel ein wasserdichter Behälter, in dem sich ein Logbuch sowie verschiedene, kleine Tauschgegenstände befinden. Der Besucher kann sich in ein Logbuch eintragen, um seine erfolgreiche Suche zu dokumentieren. Anschließend wird der Geocache wieder an der Stelle versteckt, an der er zuvor gefunden wurde. Der Fund kann im Internet auf der zugehörigen Seite vermerkt und gegebenenfalls durch Fotos ergänzt werden. So können auch andere Personen – insbesondere der Verstecker oder ›Owner‹ (englisch für Eigentümer) – die Geschehnisse rund um den Geocache verfolgen. Wesentlich beim gesamten Such- und Tauschvorgang ist, dass das Vorhaben von anderen anwesenden Personen nicht erkannt wird und so der Cache Uneingeweihten verborgen bleibt.«

»Vielen Dank für die kompetenten Ausführungen. Das Logbuch ist leer. Entweder war ich der erste Cache-Öffner oder meine Vorgänger wollten anonym bleiben. Den USB-Stick nehme ich mit nach oben. Ich hab meinen Laptop im Auto, bin gespannt, was da drauf ist.«

»Passen Sie auf, dass Sie den Stick nicht beschädigen! Sollen wir das nicht besser übernehmen?«

Der zweite Spusi nickte beifällig. Bäumler schüttelte den Kopf ob der Suggestion seiner computermäßigen Inkompetenz und ging wortlos zurück zu seinem Cabrio. Celine tippte gerade hektisch auf ihrem Smartphone herum.

»Wir zwei Hübschen fahren jetzt zur Waldschenke und unterhalten uns in Ruhe mit Ihren Geocaching-Freunden. Wird nicht lange dauern, dann können Sie den Rest des Wochenendes genießen.« Er griff nach seinem Smartphone und verfügte, dass man die Vermisstenmeldungen der letzten Tage durchgehen möge. Sportlich wendete Bäumler den Porsche auf dem Schotterweg und nach wenigen Sekunden erreichte das ungleiche Paar das Waldlokal. Celine hatte sich im Sitz verkrampft und war sichtlich froh, endlich wieder aus der engen Kiste aussteigen zu dürfen.

Die Waldschenke kannte Bäumler von früher. Oft hatten die familiären Wochenendausflüge hierher geführt. Das niedrige, weiß gekalkte Häuschen mit grünem Fachwerk und ebenso grünen Läden an den kleinen, weißen Fensterchen, lag am Waldrand inmitten lang gestreckter, niedriger Fachwerkhäuser. Dieses eigenwillige Ensemble außerhalb des Dünnwalder Ortskerns bildete einst eine Arbeitersiedlung, die um eine Sprengstofffabrik herum entstanden war. Sobald der Kommissar in die gemütliche Stube eintrat, fühlte er sich in seine Kindheit zurückversetzt. Er schüttelte sich, richtete sich zur vollen Körpergröße auf und sondierte die Lage.

Die Studenten schauten ihn gähnend aus glasigen Augen an.

»Hoppla, die Staatsmacht gibt sich endlich die Ehre!«, feuerte der größte von ihnen mit arroganter Miene in seine Richtung.

Der mittlere Geocacher schien in sich zu ruhen wie ein See in der Morgensonne. Der milchbärtige dritte trommelte nervös mit den Fingern auf die Tischplatte ein.

»Juten Tach zosammen, Stephan Bäumler, Kriminalpolizei Köln. Se wesse jo bereits, dat bei dä Zielposition Ihrer Jeocaching-Tour ene Leiche opgefunde wurd, de möglicherweise Opfer von nem Jewaltverbreche jeworde ess. Isch hab heezu enige Froge.«

Es war sonst gar nicht Bäumlers Art, Zeugenbefragungen im Kollektiv durchzuführen, weil der kölsche Kommissar so kaum Widersprüche zwischen den einzelnen Aussagen provozieren konnte. Aber in diesem speziellen Fall machte Bäumler eine Ausnahme, weil er nicht von einem Tatzusammenhang der Geocacher und der Frauenleiche ausging. Er schaute in die Runde und forderte die Studenten auf, sich jeweils steckbriefartig vorzustellen. Die Geocacher blickten überrascht. Mit einem so forschen Auftritt hatten sie augenscheinlich nicht gerechnet. Wieder war es der mit dem arroganten Gesichtsausdruck, der begann.

»Gestatten, Hagen von Träuble, geboren zu Freiburg im Breisgau im Jahre 1995, Wohn- und Studienort Köln am Rhein, Student der Zahnmedizin im dritten Semester.«

Bäumler versuchte mit einem knappen Nicken in Richtung dessen, der am entspanntesten wirkte, seinen Ärger über Hagens arroganten Auftritt herunterzuschlucken.

»Sven Bohn, gesprochen wie die Weinstadt Beaune an der burgundischen Côte d’Or, geboren 1983 in Köln, wohnhaft in Bergisch-Gladbach, Biologie im dritten Semester.«

»Und vorher?«, hakte Bäumler nach, dem Svens Alter nicht entgangen war.

»Ich habe als Sommelier im Restaurant auf dem Petersberg bei Bonn gearbeitet. Als Mundschenk der Reichen und Mächtigen. Allen, von Gerhard Schröder bis George Bush, habe ich dort den passenden Wein verpasst. Anfangs ganz faszinierend, aber irgendwann hatte ich die selbstherrlichen Inszenierungen und das ständige Bütteln satt. Jetzt bin ich Teilzeit-Mundschenk im Kölner Saga, habe auf Asiatisch umgesattelt. Die Gäste dort sind wesentlich entspannter.« Das Saga sagte dem anosmatischen Kommissar herzlich wenig. Aber was die Kölner Gastro-Szene anging, war er mit Sicherheit nicht auf der Höhe der Zeit.

»Danke, bitte weiter.«

»Joshua Kazmierski, geboren 1993 in Dortmund«, sagte der ungepflegt wirkende Student mit dem weißlichen, aufgeschwemmten Gesicht, dem Milchbart und den hinten zusammengebundenen, hellblonden Haaren. Er stockte kurz und beendete den Steckbrief: »Wohnhaft in Köln, Biologie im dritten Semester.«

»Celine Gereon, wie Sie ja bereits wissen, geboren 1994 in Köln. Ich wohne mit Josh in einer WG und studiere Medizin im gleichen Semester wie Hagen.«

»War das heute Ihre erste Leiche, Frau Gereon?« Celine zuckte zusammen und schniefte heftig. »Ja, die Leichen-Präpperei im Studium beginnt erst im nächsten Semester.«

»Sie kennen sich alle aus dem Studium?«

»Chemie für Biologen und Mediziner, das schweißt zusammen«, antwortete ausnahmsweise Sven. »Bitte berichten Sie mir so präzise wie möglich, was heute vorgefallen ist, beginnend mit der Anreise. Sparen Sie nicht mit Details. Alles kann bedeutsam für die laufende Ermittlung sein.«

»Und alles kann im Zweifel gegen uns verwendet wer- den, was?«, brach es aus Joshua hervor, dessen Gesicht so dunkelrot wie ein mächtiger, australischer Syrah anlief.

Celine unterbrach die spontan entstandene Stille. Gefasst und systematisch schilderte sie den Ablauf der verunglückten Geocaching-Tour. Beginnend mit der gemeinsamen Anreise in der Linie 4. Dann die Trennung an der Waldschenke. Ihre seltsame Begegnung mit dem Gottesschild. Das merkwürdige Worträtsel. Das Eindringen in das Naturschutzgebiet. Und schließlich der grausige Fund. Die Gruppe lauschte schockiert. Celines Stimme zitterte bei ihren letzten Worten. In der Schenke waren sie inzwischen die einzigen Gäste. Bäumler war froh, dass sein Auftritt so wenig Aufmerksamkeit bei den anderen Gästen hervorgerufen hatte.

»Den Cache haben Sie nicht berührt, richtig?«

Celine bejahte mit immer noch zitternder Stimme. Hektisch hob und senkte sich ihr Brustkorb.

»War jemand von Ihnen vorher schon mal hier in dieser Gegend?«

Die Geocacher schüttelten die Köpfe so simultan wie Abgeordnete des nordkoreanischen Parlaments.

»Josh, die Tour war doch deine Idee und du meintest, du kennst die Gegend«, stieß Hagen scharf hervor.

»Ja ... Also, im Prinzip schon, ist aber lange her und die Tour habe ich halt im Netz gefunden.« Joshuas Gesichtsausdruck war jetzt ein Gemisch aus ertapptem Schuljungen und dem Willen, Hagen einen spontanen, tödlichen Stoß zu versetzen.

»Warum ausgerechnet diese Tour?«

»Na ja, das passte halt wegen der Verkehrsanbindung für alle. Und der Cache war neu, noch kein Eintrag im Netz und so.«

»Herr ...«, Bäumler blickte auf seine Notizen, »... Herr Kazmierski, Sie kannten die Gegend bereits, die Tour aber nur virtuell?«

»Hmm, dafür gibt’s schließlich das Netz.«

Ein Telefon spielte ›Mer losse d’r Dom en Kölle‹ und Bäumler griff hastig nach dem iPhone, das in der Innentasche seines karierten Jacketts steckte. »Bäumler hier. Hallo Jupp. Momang bitte.« Er stand auf und entfernte sich vom Tisch, sodass die Geocacher nur noch Wortfetzen wie »Französische Polizei ... Usine Saveur Francaise us Grasse ... Dienstreise noh Köln ... sigg drei Dagn«, verstehen konnten, die Bäumler murmelnd wiederholte, während er sich Notizen machte.

»Haben Sie sachdienliche Hinweise erhalten?«, meldete sich Hagen schon wieder vorlaut, sobald Bäumler an den Tisch zurückkehrte.

Der ignorierte den Einwurf, entschuldigte sich für die Unterbrechung und bat Joshua, ihm den Link auf die Geocaching-Seite zu schicken. »Ich schau jetzt mal kurz in meinem Laptop was nach, dann führen wir ein abschließendes Gespräch. Und dann – sind Sie entlassen.«

Bäumler schmunzelte. Er setzte sich an einen Vierertisch, der am weitesten von den Geocachern entfernt stand, nahm den Laptop aus der Tasche und startete den Rechner. Viel Greifbares hatte er bis jetzt nicht in die Finger bekommen, aber immerhin war die Tote bereits so gut wie identifiziert. Die Todesursache schien auch klar, die Obduktion würde weitere Details liefern. Grasse sagte ihm etwas, das war doch diese Parfümstadt. Besonders schmeckte es ihm nicht, mit der französischen Polizei zusammenarbeiten zu müssen, denn die sprachen meist kein Englisch, von Deutsch ganz zu schweigen. Und er sprach nur ein paar klägliche Brocken Französisch. Von der Firma Usine Saveur Francaise, USF, einer Aromafabrik, hatte er noch nie gehört. Der Geocache und seine Jäger schienen mit dem Fall nichts zu tun zu haben. Auch wenn er diesen Hagen von Träuble zum Kotzen fand und Joshua augenscheinlich etwas zu verbergen hatte. Bäumler streifte die weißen Baumwollhandschuhe wieder über, nahm den USB-Stick aus der Plastiktüte und fand nach kurzem Suchen den passenden Slot am Laptop. Der Stick wurde erkannt. Er enthielt eine einzige Datei. Ein Video. Die Geocacher schielten herüber. Bäumler störte das nicht. Wegen der Sichtschutzfolie konnten sie mit Sicherheit nichts auf dem Bildschirm erkennen.

Das Video startete verschwommen, mit einigen Wacklern, bevor das Bild sich stabilisierte. Miss Piggy saß auf einem Holzstuhl vor einer weiß gekalkten Wand. Hinter ihr prangte das Logo der Rheinischen Aroma Fabriken. Die Szenerie erinnerte Bäumler an BRD-Terror-Zeiten der siebziger Jahre. Miss Piggy hielt ein Schild vor ihre rosa Plüschschnauze, das in großen Lettern verkündete:

›Aroma-Gangster der RAF. Wenn ihr euer A wieder haben wollt, spendet Bio-Lebensmittel im Wert von mindestens 10.000 Euro an die Kölner Tafel‹. Das Schwein wechselte auf ein zweites Schild: ›Künstliche Aromen machen krank. Stoppt eure Verbrechen. Sofort!‹ Dann hielt Miss Piggy ein riesiges, metallenes A, das sie kaum festhalten konnte, in die Kamera. Nochmals ein Zoom auf das Logo der Rheinischen Aroma Fabriken. Dann war der Spuk vorbei. Nun stand Bäumler komplett auf dem Schlauch. Was zum Henker sollte das?

Langsam dämmerte es dem Kommissar, dass er von dem Diebstahl des As aus dem Firmenlogo der Rheinischen Aroma Fabriken gelesen hatte. Dass diese Aroma-Firma kein Problem damit hatte, die gleiche Abkürzung wie eine Terrororganisation zu verwenden, hatte ihn schon immer gewundert. Er erinnerte sich daran, dass die Firma ziemlich traditionsreich war. Da stand man vielleicht über solch kurzfristigen Erscheinungen wie dem Linksterrorismus der alten BRD. Das Logo hatte wohl direkt über dem Haupteingang der Firmenzentrale in Köln-Mülheim gehangen und war gerade erst neu designed worden. Dass der Diebstahl mit einer Erpressung zusammenhing, davon hatte er nichts gelesen. Aber Moment mal, schoss es Bäumler durch den Kopf: Hatte er nicht gerade am Telefon erfahren, dass die tote Französin in der Aromaindustrie gearbeitet hatte? Und dass sie von einer Dienstreise nach Köln nicht wieder zurückgekehrt war? Gab es etwa doch einen Zusammenhang zwischen dem Geocache und der Leiche?

Er stand auf, zog die weißen Baumwollhandschuhe wieder aus, strich das zerknitterte Jackett so gut es ging glatt und schüttelte sich abermals wie ein Hund. Er fasste die Fakten nochmals kurz zusammen, um sich auf die Abschlussbefragung der Geocacher vorzubereiten. Die vier kannten sich aus dem Studium. Bis auf Kazmierski und die Gereon, die zusammenwohnten,