Tödlicher Riesling - Jens Burmeister - E-Book

Tödlicher Riesling E-Book

Jens Burmeister

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  • Herausgeber: Emons Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2019
Beschreibung

Ein toter Pfarrer, ein liebenswerter Ermittler wider Willen und süffiges Lokalkolorit satt. Während die Weinlese am Mittelrhein auf ihren Höhepunkt zusteuert, hat sich auf Burg Stahleck in Bacharach eine Sekte breitgemacht. Ihre Anhänger feiern Orgien und werben aggressiv um neue Jünger. Auch einige Winzer hat sie bereits in ihren Bann gezogen. Jaspal Wöhler, Aromaforscher mit eigenem Weinberg, will sich aus all dem heraushalten. Doch als er den Bopparder Pfarrer tot im Beichtstuhl findet, gerät er mitten hinein in ein Geflecht aus religiösen Wahnvorstellungen, Geldgier und Intrigen ....

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Seitenzahl: 384

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Jens Burmeister, 1967 in Wilhelmshaven geboren, ist promovierter Chemiker und arbeitet in der Pharmaforschung. Als Experte für das Weinanbaugebiet Mittelrhein veröffentlicht er Weinführer, kulinarische Krimis und Kurzgeschichten. Gemeinsam mit seiner Frau wohnt er in Leverkusen.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

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©2019 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: shutterstock.com/iravgustin Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer Umsetzung: Tobias Doetsch Lektorat: Susanne Bartel eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-96041-512-1 Originalausgabe

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Der höchste Genuss besteht in der Zufriedenheit mit sich selbst.

Prolog

»Armin ist dein Sohn«, hatte sie mir durch das Gitter des Beichtstuhls zugeraunt. Ich suchte ihre Augen, fand nur ein feuchtes Glitzern darin. Ihre Stimme klang heiser. Vier Worte, die sich wie Giftpfeile in meinen Körper bohrten, mich nun langsam zersetzen. Armin. Wie oft habe ich in all den Jahren seine Hand geschüttelt, ihm nach dem Gottesdienst freundschaftlich auf die Schulter geklopft. Armin, mein Sohn. Wovor bin ich damals weggelaufen? Geradewegs in die Arme des Herrn. Den warmen Schoß der Kirche. Ich hätte es einfacher haben können. Heiraten, Familie, Enkelkinder vielleicht, irgendwann. Doch ich bin weggelaufen, so als hätte mich jemand magisch fortgezogen.

Bin eingezwängt, kann mich nicht bewegen. Mir ist heiß. Das Holz riecht staubig, modrig, atmet den Dreck der Jahrhunderte. Kühl läuft mir der Schweiß den Rücken hinunter. Dicke Tropfen. Das Kollar nimmt mir die Luft. Ich atme tief ein, wieder aus, konzentriere mich auf den Rhythmus meines Atems. Raus muss ich, raus hier. Aber ich kann nicht. Das unwillige Fleisch. Ich sitze. Und sitze. Erdrückt von der Last der Bilder. Warum musste sie damit so lange warten? Die vielen Fragen, die mir durch den Kopf wirbeln. Keine einzige davon habe ich ihr gestellt. Keine. Alles wie pulverisiert in diesem einen Augenblick.

Erst Mutter, jetzt Susanne. Zwei Frauen, die mich um mein Leben betrogen haben. »Vater ist nicht dein Vater. Biologisch, meine ich. Ich wollte es dir schon lange sagen, aber… Tut mir leid, du verstehst schon.«

Ja, ich verstehe, habe es zumindest versucht. So wie ich immer versucht habe, die Menschen zu verstehen, die ihre Schuld bei mir abladen.

Warum zweimal? Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen. Wie oft ich das gepredigt habe. Leicht kamen mir Hiobs Worte über die Lippen. Hatten ja nichts mit mir zu tun.

1

Jaspal Wöhler blieb stehen, stützte die Arme in die Hüften und beugte sich nach vorn. Er keuchte. Die kalte Luft schmerzte in seiner Lunge. Was war in letzter Zeit los mit ihm? Warum war er nach den paar Metern vom Pfarramt zur Bopparder Karmeliterkirche bereits so geschafft?

Er war heute viel zu früh aufgestanden, die Strapazen der Weinernte steckten ihm in allen Knochen. Ein fatales Gemisch aus Plackerei und mentaler Anstrengung. Die Handlese in den steilen Lagen des Bopparder Hamm war wahrhaftig kein Kinderspiel. Wöhler musste die Lesemannschaft koordinieren, aufpassen, dass die Erntehelfer sorgfältig arbeiteten, sich an seine Anweisungen hielten. Sie machten so schnell Fehler. Erst gestern hatte er beobachtet, wie Wojciech Kowalski vollkommen gesunde Trauben auf den Boden fallen lassen und dafür die faulen geerntet hatte. So etwas konnte einen ganzen Jahrgang ruinieren! Immer wieder hatte Wöhler die Ärmel hochgekrempelt und selbst mit angepackt, ohne die Helfer aus den Augen zu lassen.

Wie erleichtert würde er sein, wenn er die letzte der orangefarbenen Lesekisten in den Anhänger gehievt und ins Weingut gebracht hätte. Anschließend würden die Trauben nochmals penibel von Hand selektiert, bis der Most endlich abgepresst werden konnte. Jeder musste sich hundertprozentig auf den anderen verlassen können. Und jeder musste verstehen, worum es hier ging. Um Qualität. Ohne Kompromisse. Die Aromen, die in den Beeren schlummerten, mussten mit Samthandschuhen angefasst werden, damit sie unbeschadet den Weg in die Flasche überstanden.

Obwohl Wöhler den Winzerjob erst seit einem halben Jahr machte, konnte er sich jetzt schon keine schönere Arbeit mehr vorstellen. Dieses komplexe Gebilde aus unwägbarer Natur, wirtschaftlichen Anforderungen und launischen Mitarbeitern durch alle Höhen und Tiefen zu steuern, das war genau das Richtige für ihn. Und als Aromaforscher, der er auch war, liebte er es, jeden Tag etwas Neues dazuzulernen.

»Qualität«, zischte Wöhler jetzt, presste die Lippen zusammen und ballte die rechte Faust. Als er sich aufrichtete und den Rücken durchdrückte, spürte er jeden Wirbel.

Er blieb vor der Kirche stehen, hielt den Atem an, schaute der als Traubenmadonna bekannten Marienfigur ins Gesicht. Bleich, oval, fein geschnitten. Die Augenbrauen schwangen sich zu filigranen, kühnen Bögen auf, eine römische Nase teilte das symmetrische Antlitz. Ihr Kindermund war schmallippig, wirkte entschlossen. Schauten ihre dunklen Mandelaugen ihn an, oder starrten sie in eine unbestimmte Ferne? Sie war von schlanker Statur, trug ein fließendes, bodenlanges Kleid, darüber einen samtroten Umhang mit Goldbesatz. Der hauchdünne Kopfschleier fiel ihr locker auf die Schultern, auf dem blonden Haar saß eine goldene Krone. In der rechten Hand lag etwas Eiförmiges, Goldenes, während sie mit der linken schützend das Jesuskind umfasste. Der Knabe versuchte, nach der goldenen Traube zu greifen, doch Maria hielt ihn sanft, aber bestimmt davon ab. Von links wuchs ein Rebstock zwischen den Pflastersteinen die Wand hinauf. Er schwang sich über den Kopf der jungen Frau, die reifen Rieslingtrauben hingen schwer und prall herunter, als könnten sie die Ernte kaum erwarten. In den schmiedeeisernen Zaun vor der Mauernische mit der Marienfigur hatte jemand einen Rebzweig mit inzwischen angetrockneten roten Trauben gesteckt. Eine Gabe für die Muttergottes? Die Blätter waren mittlerweile welk und freudlos, für immer abgeschnitten vom Lebenssaft, dem sie ihre Existenz verdankten.

»Hey, Jaspal! Was ist los? Flirtest du mit der Traubenmadonna?«

Erschrocken fuhr Wöhler herum, schaute in das vom Joggen rote Gesicht des jungen Winzerkumpels. »Mann, Daniel, bist du verrückt? Denk an mein schwaches Herz!«

»Klar, besonders wenn’s um die Frauen geht, ist es sehr schwach, hab ich recht? Aber seitdem die fesche Elisabetta wieder auf Sizilien ist, sieht es bei dir ja eher mau aus.« Daniel schob die Kapuze seines grauen Hoodies nach hinten und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Während er weiter auf der Stelle joggte, um den Rhythmus nicht zu verlieren, wischte er sich die Brille mit den kreisrunden Gläsern notdürftig an seinem Shirt ab. »Jetzt mal im Ernst, Jaspal, was treibt dich in aller Herrgottsfrühe hierher? Du hast doch sonst nichts mit der Kirche zu tun.«

»Stimmt. Seit Köln hab ich keine Kirche mehr betreten. Aber ich suche Kaltenborn.« Wöhler rieb sich die Augen und gähnte.

»Jetzt lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen! Was willst du vom Herrn Pfarrer?« Daniel erhöhte die Frequenz, mit der seine grellgrünen Laufschuhe den Boden berührten, so als wollte er in wenigen Sekunden wieder durchstarten. Ein dicker Schweißtropfen quoll aus seiner Stirn, rann hinunter und verlor sich in der linken Augenbraue.

Wöhler senkte die Stimme, schaute vorsichtig nach links und rechts, sprach im Flüsterton. »Es geht um die Vinea. Wenn wir Kaltenborn auf unserer Seite hätten, könnte das den Knoten endlich zum Platzen bringen. Du weißt, wie viel Einfluss er auf die Gemeindemitglieder hat und wie dicke er mit den meisten Winzern ist. Nie hätte ich gedacht, dass es eine solche Knochenarbeit ist, die Mittelrhein-Winzer auf eine gemeinsame Sache einzuschwören.«

»Sind alles Individualisten. Ich weiß das. Auf mich könnt ihr jedenfalls zählen. Vinea Rhenus Media. Der Name ist Musik in meinen Ohren! Es müsste doch mit dem Teufel zugehen, sollte es Paul und dir nicht gelingen, die störrischen Mittelrhein-Winzer zu überzeugen. Wenn nicht euch, wem dann?«

»Das mit dem Teufel hast du schön gesagt.« Wöhler ließ seinen Blick erneut über das Gesicht der Traubenmadonna gleiten, bevor er sich wieder an Daniel wandte. »Aber lass gut sein, ich will dich nicht vom Sport abhalten!« Er klopfte ihm auf die Schulter.

Daniel zog die Kapuze über den Kopf und klatschte mit Wöhler ab. Er raunte noch verschwörerisch: »Maria– Beschützerin der Trauben und des Weines«, dann sprintete er los.

Kopfschüttelnd schaute Wöhler ihm nach, bevor er sich umdrehte und die Stufen zum Hintereingang der Kirche emporstieg.

Er drückte gegen die massige Holztür, die knarrend nachgab, und betrat den schummrigen Innenraum des imposanten Gotteshauses. Kurz blieb er stehen, lauschte in die Stille und sog den süßlich-schweren Weihrauchduft ein. Als er an der Zitrusnote die Sorte Angelus erkannte, grinste er zufrieden. Sein Blick schweifte über die dunkelbraunen Holzbänke und die verblichenen Fahnen der Nachbarschaften, die von den seitlichen Säulen herabhingen. Sie erinnerten ihn daran, dass die Tradition der nachbarschaftlichen Vereinigungen in Boppard bis ins Mittelalter zurückreichte. Das Kirchenschiff war menschenleer, vom Pfarrer keine Spur. Wöhler wandte sich nach links, passierte einen Altar und blieb vor der ersten der mächtigen Säulen, die die beiden Kirchenschiffe teilten, erneut stehen.

Er betrachtete den hölzernen, mit Gold übergossenen Schaukasten, der an der Säule befestigt war. Drei gekreuzigte Männer, zu deren Füßen zwei Frauen und ein Mann in goldenen Gewändern trauerten. Wieder sog er den intensiven Weihrauchduft ein und registrierte diesmal eine metallische Note, die seiner feinen Aromaforschernase bislang entgangen war. Er atmete stoßweise ein und in einem Zug wieder aus, genau so, wie er es in der praktischen Aromaausbildung gelernt hatte. Was war das? Der metallische Geruch kam ihm bekannt vor, doch es gelang ihm nicht, ihn zuzuordnen. Wöhler rieb sich die Nase und ging gemessenen Schrittes weiter in das zweite, etwas größere Kirchenschiff. Der Weihrauch, die Stille, die feierliche Atmosphäre des Ortes ließen ihn immer ruhiger werden, beinahe vergessen, warum er hier war.

Sein Blick fiel linker Hand auf einen Altar, eingerahmt von hohen gotischen Bogenfenstern, durch die das Morgenlicht hereinflutete. Zu beiden Seiten des Altars standen dunkle, kunstvoll verzierte Bänke vor einer hohen, prächtig gearbeiteten Holzwand. Das war vermutlich das Chorgestühl, in dem einst die Mönche ihren Platz gehabt hatten. Leibhaftig konnte er sie vor sich sehen, die Männer in ihren braunen Kutten mit überdimensionierten Kapuzen, unter denen sie ihre feisten rotwangigen Gesichter verbargen. In Wahrheit saß gerade natürlich niemand im Chor. Und auch der Rest des Kirchenschiffes war verwaist. Von Kaltenborn keine Spur.

Wöhler gähnte, ließ sich auf die Holzbank in der zweiten Reihe fallen. Er würde einfach ein paar Minuten dasitzen und warten. Vielleicht käme der Pfarrer ja noch. Er hatte gesagt, dass ein Kollege den sonntäglichen Gottesdienst, der in St.Severus stattfand, übernommen hatte, in der Bopparder Hauptkirche konnte er also nicht sein. Warum hatte er, Wöhler, sich eigentlich nicht Kaltenborns Handynummer geben lassen? Er war wohl etwas aus der Übung, was Kommunikation betraf, das wäre ihm in seiner Zeit als Chef-Forscher der Rheinischen Aroma Fabriken mit Sicherheit nicht passiert. Damals hatte seine Sekretärin alle wichtigen Telefonnummern für ihn gespeichert. Doch inzwischen war er halt ein bodenständiger Winzer– und mächtig stolz darauf. Er stellte immer noch Aromen her, aber natürliche, nicht dieses künstliche Zeug, das er in Köln entwickelt hatte.

Er kniff die Augen zusammen, betrachtete die Scheiben der Kirchenfenster zu beiden Seiten des Altars. Fast hätte er vergessen, dass es sein Freund und Kompagnon, Paul Zeehse, gewesen war, der der Kirche die prächtigen Fenster spendiert hatte. Sie wirkten wie der Stempel des 21.Jahrhunderts auf diesem mittelalterlichen Bauwerk, das die Zeiten überdauert hatte. Wöhler grinste und stellte sich vor, wie Paul durch die Kirche getobt sein musste. Mal aus Frust über die Unfähigkeit der Handwerker, mal aus Begeisterung darüber, dass seine Vorstellung sich endlich in einem Kunstwerk materialisierte. Gewiss hatte der Pfarrer seine helle Freude an Wöhlers Künstlerfreund gehabt.

Wöhler hörte ein Knarren, drehte sich um und sah, wie die Hauptpforte der Karmeliterkirche sich langsam öffnete, eine Frau hereinschaute und zögerlich, mit vorsichtigen Schritten, das Gotteshaus betrat. Ihre rötlichen Haare betonten ihre helle Haut. Sie ging leicht gebeugt, schaute erst nach links, dann nach rechts, in Richtung des Beichtstuhls.

So leise, dass Wöhler es kaum verstehen konnte, raunte sie: »Claus, bist du hier?« Als ihr Blick Wöhler streifte, blieb sie abrupt stehen, strich sich ihre Locken hinter die Ohren. Dann sahen sie einander in die Augen.

Wöhler spürte, wie das Blut in seinen Kopf stieg. Wo war er dieser Frau schon mal begegnet?

Sie senkte den Kopf, wandte sich ab und verließ die Kirche mit schneller werdenden Schritten, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Wöhler rieb sich nachdenklich über das Kinn, stand ruckartig auf und ging links aus der Bankreihe heraus. Er drehte sich nach rechts, lief an der Außenwand des Kirchenschiffes entlang, bevor er das Kreuzgewölbe unter der Orgelempore betrat. Auf einem achteckigen Podest in einer Mauernische saß abermals die Muttergottes vor einem goldglänzenden Wandmosaik. Diesmal lag der tote Sohn auf ihren Knien. Maria schien den Karmelitern wirklich ans Herz gewachsen zu sein. Bei ihrem Anblick dachte Wöhler wieder an die unbekannte Rothaarige. War er ihr tatsächlich schon einmal begegnet? Und wenn ja, wo?

Er beschloss, die Kirche zu verlassen. Er musste zurück ins Weingut, konnte nicht noch länger auf den Pfarrer warten. Er verließ den Kreuzgang, schritt auf die Eingangstür zu. Da war er wieder. Dieser metallisch-süßliche Geruch, ein bisschen wie Rost. Jetzt viel intensiver als zuvor. Blut, schoss es Wöhler durch den Kopf. Na klar, warum hatte er das nicht sofort erkannt? In der Karmeliterkirche roch es eindeutig nach Blut! Sein Blick durchsuchte nochmals die Kirche und blieb am Beichtstuhl hängen. Er hatte drei Türen, wobei die mittlere dem Pfarrer vorbehalten war. War da nicht ein Schatten hinter ihr, schemenhaft durch die hellbraun getönte Scheibe zu erkennen? Wöhler änderte seine Richtung, beschleunigte seinen Schritt und blieb vor dem Beichtstuhl stehen. Da saß wirklich jemand. Vorsichtig klopfte er gegen die Tür.

»Hallo, alles in Ordnung?« Die Antwort blieb aus. »Kann ich Ihnen helfen?« Wöhler klopfte abermals, merkte, dass die Tür sich öffnen ließ, und erstarrte.

Auf einem Holzstuhl, eingezwängt in den engen Bretterverschlag, lehnte Pfarrer Claus Kaltenborn an der Rückwand des Beichtstuhls. Sein Kopf war unnatürlich nach hinten gekippt, sein Gesicht rot. Blutrot. Die Augen waren zugeschwollen, hatten sich zu zwei kleinen krebsroten Ballons verformt. Die Nase war unförmig und platt gedrückt, getrocknete Blutrinnsale verliefen aus beiden Nasenlöchern in Richtung Mund, die Lippen waren an mehreren Stellen aufgeplatzt. Mit zittrigen Fingern berührte Wöhler die Halsschlagader des Geistlichen, versuchte, einen Puls zu erfühlen. Doch da war nichts. Wöhlers Hirnzellen führten einen Veitstanz auf, Gedanken wirbelten durcheinander. Sollte er Erste Hilfe leisten, oder war es dafür bereits zu spät? Nein, es war definitiv zu spät! Er befand sich an einem Tatort, und das Einzige, was er für den Toten noch tun konnte, war, die Polizei zu rufen.

Er stolperte ein paar Schritte rückwärts, ließ sich auf die am nächsten stehende Kirchenbank fallen. Er schwitzte, wischte sich über die Stirn. Seine Finger zitterten noch immer, als er den Notruf wählte. »Jaspal Wöhler hier. Ich bin in der Karmeliterkirche in Boppard und habe gerade den Pfarrer Claus Kaltenborn gefunden.« Wöhler stockte, atmete tief ein. »Er ist tot, hat keinen Puls. Sieht aus, als wäre er verprügelt worden. Sie müssen sofort kommen.« Er ließ seinen Atem entweichen. Es klang wie ein Seufzer.

»Vielen Dank für Ihren Anruf, Herr Wöhler«, sagte der Beamte am anderen Ende. »Bitte bleiben Sie vor Ort. Wir schicken unverzüglich einen Notarzt und eine Streife.« Es knackte in der Leitung, und das Gespräch war beendet.

Wöhler würgte. Die Geruchsmischung aus Blut und Weihrauch löste bei ihm Schwindel aus. Bildete er sich das ein, oder hörte er ein leises »Kyrie eleison« aus dem Chorraum des Hauptschiffes? Hatte sich dort ein Mönchschor versammelt, oder litt er plötzlich unter Wahnvorstellungen?

Um sich zu beruhigen und die Halluzinationen loszuwerden, wandte Wöhler den Blick vom blutüberströmten Pfarrer hin zu den fünf hohen Kirchenfenstern an der Nordwand des Seitenschiffs. Paul hatte in jedem von ihnen eine auffällig farbige Madonnenfigur platziert. Im mittleren fand Wöhler die Pieta wieder, die er gerade noch in der Mauernische im Kreuzgang bewundert hatte. Das nächste zeigte die Traubenmadonna mit einer goldenen Rieslingtraube in der einen und dem Sohn Gottes in der anderen Hand. Paul hat viel Wert darauf gelegt, die Rieslingtraube so naturgetreu wie möglich abzubilden, dachte Wöhler.

Immer wieder hatten ihre gemeinsamen abendlichen Gespräche im Weingut oder in Pauls Villa an der Bopparder Promenade die bedeutenden Themen des Lebens umkreist, während die eine oder andere Flasche Riesling geleert wurde. Doch vor der Beantwortung der Gretchenfrage, was ihn dazu bewogen hatte, diese beeindruckenden Fenster anfertigen zu lassen und sie der Kirche zu schenken, hatte Paul sich stets gedrückt. Einen christlichen Lebenswandel konnte man ihm wahrhaftig nicht unterstellen. Wöhler verschränkte die Arme vor der Brust. Hatte sein Kompagnon am Ende aus schlechtem Gewissen gehandelt? Oder gedacht, dass es mit Sicherheit nicht schaden könnte, ein paar Argumente für die Diskussion an der Himmelspforte parat zu haben?

Wöhler selbst hatte lange nicht mehr über das Motiv für die Schenkung nachgegrübelt. Dafür hatte ihm ganz einfach die Zeit gefehlt. Viel zu schnell war das Leben an ihm vorbeigerauscht. Jetzt blickte er zur Seite, senkte aber sofort wieder den Kopf. Ihm schauderte, wenn er auch nur wenige Sekunden in das Gesicht des toten Pfarrers blickte.

Ein paar Minuten später wurde die Hauptpforte geöffnet, und ein Notarzt und zwei Polizisten eilten in die Kirche. Der Arzt marschierte auf den Beichtstuhl zu und begann sofort mit der Untersuchung, während die Beamten Wöhlers Personalien aufnahmen, ihm Fragen stellten und sich Notizen machten. Irgendwann nuschelte der Notarzt etwas, wovon Wöhler nur die Worte »Exitus« und »Gewaltverbrechen« verstand, und der jüngere der beiden Polizisten griff nach seinem Smartphone.

»Hauptkommissar Brenner hier. Melde einen Leichenfund in Boppard. Rheinallee vierundvierzig. Verdacht auf Gewaltverbrechen, Auffinder ist noch vor Ort.« Er stutzte. »Ja, klar meine ich den, wo die Leich aufgefunden hat.« Er wurde lauter: »Ja, in der Karmeliterkirch. Also, macht hin und schickt die Kripo mit großem Besteck. Wir sichern den Fundort.« Er legte auf, schüttelte verständnislos den Kopf und presste »Sesselfurzer« hervor, wobei er eine betont verächtliche Grimasse zog.

Als der Notarzt mit der Untersuchung des Toten fertig war, kam er auch zu Wöhler und erkundigte sich, ob alles in Ordnung sei.

»Körperlich ja. Der Rest wird seine Zeit brauchen.« Wöhler schaute in Richtung des Beichtstuhls.

Der Notarzt nickte, leuchtete Wöhler zur Sicherheit noch mit einer Taschenlampe in die Augen, um sich zu vergewissern, dass die Pupillen reagierten, klopfte ihm auf die Schulter und verabschiedete sich. Für ihn gab es hier nichts mehr zu tun. Er würde den Rechtsmediziner telefonisch informieren und den Totenschein ausstellen.

In der wieder stillen Kirche gingen die beiden Polizisten Richtung Hauptpforte, wo sie einige leise Worte wechselten und sich dabei mehrmals nach Wöhler umsahen.

Dessen Herz schlug schneller. Hielten die beiden ihn etwa für den Mörder? Als sein Handy klingelte, holte er es hektisch aus der Jackentasche und schaute auf das Display. Seine Mutter rief aus Indien an. Wöhler holte tief Luft, nahm ab, bemühte sich um einen sanften Tonfall. »Hallo, Mutter, was für eine Überraschung. Schön, dass du dich mal wieder meldest! Ich hätte dieser Tage auch angerufen.« Er rieb sich das linke Auge.

»Hallo, Lieblingssohn. Was ist los mit dir? Du klingst müde. Und lüg mich nicht an.«

»Nie, Mutter. Ich weiß doch, dass ich dir nichts vormachen kann.«

»Und dir? Was machst du dir vor?«

»Mir selbst? Gar nichts. Ich habe gerade einen toten Pfarrer im Beichtstuhl gefunden. Ist übel zugerichtet worden. Wahrscheinlich ein Gewaltverbrechen. Mir ist schlecht, ich will einfach nur raus aus der Kirche, aber ich muss auf die Kriminalpolizei warten. Fürchterlich, in unmittelbarer Nähe des Toten zu sitzen!« Wöhler versuchte sich zusammenzureißen, biss die Zähne zusammen und drückte den Rücken durch.

»Das ist ja schrecklich, Jaspal! Wenn ich doch jetzt nur bei dir sein könnte! Aber ich habe eine Überraschung für dich. Morgen Nachmittag holt mich ein Taxi vom Aschram ab.«

»Und wo soll’s hingehen?«, fragte Wöhler vorsichtig, seine Vorahnung verdrängend.

»Na, erst mal Neu-Delhi. Das ist von Goa eine Tagesfahrt. Dort übernachte ich, dann geht’s per Flieger nach Frankfurt und dann mit dem Zug direkt zu dir. Ist alles schon organisiert. Übermorgen Abend, so gegen acht, bin ich bei dir. Holst du mich vom Bahnhof ab?«

Wöhler schloss die Augen, biss noch fester als zuvor die Zähne aufeinander.

»Jaspal, was ist los? Habe ich dich sprachlos gemacht?«

»Natürlich nicht, Mutter. Ich freu mich einfach nur so, dass du mich besuchst.«

»Schon gut, mein Sohn. Ich weiß, für dich muss alles immer schön seine Ordnung haben. Da kommst du ganz nach deinem Vater. Aber ich wollte halt erst alles organisieren und dich dann überraschen.« Ihre Stimme klang enttäuscht.

Wöhler dachte an die Weinlese und an den toten Pfarrer und seufzte tief. Seine chaotische Mutter hatte mal wieder zielsicher den schlechtesten Zeitpunkt für einen Besuch erwischt. »Ich freu mich wirklich, Mutter. Ist nur gerade ein bisschen hektisch hier. Wir sind mitten in der Weinlese, und außerdem sitze ich–«

»Aber genau deshalb komme ich doch vorbei, Jaspal, weil ich dir helfen will! Ich hab in meinem Leben schon mehr Trauben gelesen, als du gesehen hast. In dieser Hinsicht hat dein Vater nie etwas an mir auszusetzen gehabt.«

»Das weiß ich, Mutter. Und natürlich hole ich dich vom Bahnhof ab und richte das Gästezimmer picobello her.«

2

Ein paar Minuten früher

»So, jetzt aber«, murmelte Hauptkommissar Stephan Bäumler und trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Während er ein leichtes Schwindelgefühl verspürte, beobachtete er mit Genugtuung, wie der Tachometer auf hundertsiebzig drehte und der Traktor im Rückspiegel zu einem grünen Punkt zusammenschmolz. Er liebte diese kurzen Glücksmomente auf der Straße, kostete sie mit jeder Faser seines Körpers aus. Rechts raste das herbstliche Gelbgrün der Reben an ihm vorbei, links flogen die Schiffe den Rhein hinunter. Jetzt ging es in eine weite Linkskurve, hinter der er das Bopparder Ortsschild erblickte. Er bremste auf sechzig runter, verließ die B9 und bog ab auf die Rheinallee, auf der es bereits von Ausflüglern und Sonntagsspaziergängern wimmelte.

Bäumler bremste so scharf, dass die Reifen quietschten, zog das Auto nach rechts, legte den Kopf in den Nacken und schloss kurz die Augen. Vor ihm schob im Schneckentempo ein gebeugter weißhaariger Mann mit grauer Strickjacke einen Rollator über die Straße. Dabei fletschte er seine gelbbraunen Zähne so sehr, dass man Angst bekam, sie könnten jeden Moment herausfallen. Bäumler seufzte, trat wieder aufs Gaspedal und schaffte es gerade noch, die Kurve in die Karmeliterstraße zu nehmen und auf dem Parkplatz neben der Kirche zum Stehen zu kommen. »Das Bächle ist wie üblich schon da«, grummelte er, während er neben dem AudiA4 der Kollegin parkte.

Er stieg aus, schaute durch die Seitenscheibe des anderen Wagens. Sigrid Bächle telefonierte mit ernster Miene und hatte ihn noch nicht bemerkt. Ihre rot lackierten Fingernägel hoben sich effektvoll von dem weiß glänzenden Smartphone ab. Holte sie sich letzte Anweisungen vom Chef, bevor es zur Besichtigung der Leiche ging? Immer einen Schritt voraus, das war doch genau ihre Art. Bäumler klopfte gegen die Scheibe.

Bächle fuhr erschrocken herum, winkte ihm fahrig zu, beendete schnell das Gespräch und entstieg dem Auto so grazil, als würden sie dabei Hunderte von Kameras filmen. Vor dem Wagen richtete sich die Kommissarin auf, warf das braune Haar mit einer schnellen Kopfbewegung nach hinten und strich mit einer lässigen Bewegung ihr perfekt sitzendes Jackett glatt, während sie die Hand ignorierte, die Bäumler ihr hinhielt.

Businesswoman durch und durch, dachte er. Sogar am Sonntagmorgen. »Einen wunderschönen guten Tag, Frau Bächle«, unterbreitete er ihr sein Friedensangebot.

»Morgen, und nun übertreiben Sie mal nicht. Einen Leichenfund würde ich nicht als wunderschön bezeichnen.«

»Nein, natürlich nicht. Damit meinte ich eigentlich auch den jungen Tag, die klare Luft und Ihre überaus reizende Erscheinung!«

»Vergessen Sie es, Bäumler. Aus Ihnen wird kein Poet mehr. Der Chef hat mir nochmals eingeschärft, dass wir hier mit größter Umsicht vorgehen müssen. Wenn die katholische Kirche involviert ist, ist Sensibilität gefragt.«

Bäumler biss sich auf die Lippen und sparte sich eine Erwiderung.

Zwei Polizisten, die vor der Kirche standen, grüßten knapp, stießen das Tor zur Karmeliterkirche auf, ließen Bäumler und Bächle passieren. Die beiden Männer schienen einen Sinn für den dramatischen Auftritt zu haben.

Bäumler ging in die Kirche, blieb abrupt stehen. »Wöhler?«, sagte er erstaunt.

»Den kenn ich doch auch«, zischte Bächle.

Mit einem knappen »Morgen, Herr Wöhler« grüßten beide Kommissare den Aromaforscher, der auf einer Kirchenbank in der Nähe des Beichtstuhls kauerte, mit gekrümmtem Rücken, den Kopf in die Hände gestützt. Doch zunächst galt die volle Aufmerksamkeit der Kommissare der Leiche.

Bäumler schluckte, unterdrückte einen Würgereiz. »Wurde ganz schön zugerichtet, der Arme«, flüsterte er.

»Sieht aus, als wäre das Genick gebrochen, so unnatürlich, wie der Kopf nach hinten gekippt ist«, meinte Bächle mit rauer Stimme.

Der Hauptkommissar kratzte sich nachdenklich am Kopf. »Ob die Kirche auch der Tatort ist?«

»Eine tödliche Prügelei direkt vor dem Beichtstuhl? Und anschließend hat der Täter ihn reingestoßen?« Bächle deutete mit dem rechten Arm eine schiebende Bewegung an.

»Muss aber nicht genau hier passiert sein. Die Kirche ist groß genug, es gibt viele Möglichkeiten, wo eine Prügelei mit Todesfolge hätte stattfinden können.«

»Nicht immer diese voreiligen Schlüsse, Herr Bäumler. Ich schlage vor, Sie befragen Herrn Wöhler, und ich koordiniere derweil die Spurensicherung.«

Der Hauptkommissar seufzte. »Wie Sie wünschen.« Er machte auf dem Absatz kehrt.

Bächle zückte ihr Smartphone und verließ die Kirche. Sicher wollte sie dem Chef Informationen aus erster Hand liefern. Na ja, sollte sie doch.

Bäumler klappte ein zerfleddertes Notizbuch auf und wandte sich an Wöhler. »Ich hätte nicht gedacht, dass wir uns so bald wiedersehen. Sie haben den Pfarrer also gefunden?«

»Erst habe ich ihn gar nicht bemerkt. Aber dann habe ich das Blut gerochen und gesehen, dass jemand im Beichtstuhl saß. Ja– und dann habe ich die Tür geöffnet. Ein schreckliches Bild. Wird mir nie mehr aus dem Kopf gehen.«

»Sie haben das Blut gerochen?«

Wöhler kniff die Lippen zusammen, nickte.

Bäumler schrieb etwas in sein Büchlein. »Was wollten Sie denn zu dieser Zeit in der Kirche? Nein, lassen Sie mich raten. Sie wollten doch nicht etwa beichten?«

»Nein, ich hatte einen Termin mit Herrn Kaltenborn. Eigentlich bei ihm zu Hause. Aber er war nicht da, und seine Haushälterin meinte, er wäre entweder im Pfarramt oder in der Karmeliterkirche.«

»Kaltenborn? Das ist der Name des Toten?«

»Ja, Claus Kaltenborn. Vorname mitC, Nachname mitK.«

»Worum sollte es bei Ihrem Termin gehen?«

»Um die Vinea Rhenus Media. Eine Winzervereinigung, die ich gemeinsam mit meinem Geschäftspartner Paul Zeehse gründen will. Pfarrer Kaltenborn wäre der ideale Multiplikator gewesen.«

Bäumler runzelte die Stirn. »Vinea wie?«

»Vinea Rhenus Media. Zu Deutsch: mittelrheinische Weinrebe.« Wöhler buchstabierte die lateinischen Worte in das Notizbuch des Hauptkommissars.

Als ein Knarren erklang, drehte sich Bäumler um und beobachtete, wie Bächle mit einem Trupp weiß gekleideter Männer mit Aluminiumkoffern die Kirche betrat. Vorneweg schritt die Koblenzer Rechtsmedizinerin mit den dicken Brillengläsern, die Bäumler bereits kannte.

»Herr Bäumler, darf ich Sie etwas fragen?«, meldete sich Wöhler zögerlich zu Wort.

»Aber bitte doch.«

»Warum ermittelt die Kölner Polizei in diesem Fall?«

Bäumler lachte, merkte, dass sein Verhalten pietätlos wirken könnte, und hielt sich schnell die Hand vor den Mund. »Tut sie nicht, Herr Wöhler. Ich bin seit Kurzem bei der Koblenzer Kripo. Und wirklich seltsam, dass wir uns schon wieder an einem Leichenfundort treffen. Nun ja, die Welt ist klein.« Er musterte Wöhler kritisch.

»Was schauen Sie mich so an? Denken Sie vielleicht, mir macht das Spaß? Erst im Spätsommer eine Leiche in der Steillage vor meiner Haustür und jetzt das hier. Ist doch völlig verrückt!« Wöhler massierte sich den Nacken.

»Solange Sie nicht wieder anfangen zu ermitteln, soll das für mich okay sein.«

»In der Hinsicht habe ich keinerlei Ambitionen, Herr Bäumler, das garantiere ich Ihnen. Ich werde nicht noch einmal in die Wohnung eines Verdächtigen einbrechen, um dort nach Beweisen zu suchen, nur weil Sie mir nicht glauben. Es sei denn, Sie zwingen mich dazu.«

»Na schön. Dann lassen wir das mal so stehen. Ist Ihnen denn irgendetwas aufgefallen, als Sie die Leiche gefunden haben? Und sei es auch noch so nebensächlich?«

Wöhler schaute hoch zur Kirchendecke. »Doch, jetzt, wo Sie so direkt danach fragen. Das hätte ich fast vergessen.«

Bäumler wartete gespannt. Es waren genau diese frischen, womöglich unscheinbaren Details, die es bei einer Ermittlung zu sichern galt.

»Da war eine Frau mit rötlichen Haaren, die kurz in die Kirche kam und eilig wieder verschwand, als sie mich sah. Sie schien nach jemandem zu suchen.«

»Kannten Sie die Dame?«

Wöhler stutzte, schien nachzudenken. »Ich hatte den Eindruck…«

»Ja?«

»Ach, schon gut. Nein, ich kannte die Dame nicht.«

Sekundenlang schwiegen die beiden Männer. Das Murmeln der Kriminaltechniker erfüllte die Kirche wie die Gespräche der ersten Gäste in einer Großkantine zur Mittagszeit.

»Sonst noch etwas? Denken Sie genau nach.«

Wöhler schüttelte den Kopf.

»Na dann. Ihre Personalien haben wir ja noch. Hier die Visitenkarten von meiner Kollegin und mir. Bitte halten Sie sich zu unserer Verfügung. Wir werden uns bei Ihnen noch wegen eines Termins im Präsidium melden.«

Die zwei verabschiedeten sich voneinander.

Bäumler blickte Wöhler hinterher, der die Kirche mit eiligen Schritten verließ. Dann wandte er den Blick Richtung Sigrid Bächle, die sich bückte, mit dem behandschuhten Zeigefinger über den Boden wischte und das Ergebnis eingehend betrachtete. Sie schien etwas entdeckt zu haben und winkte zwei Kriminaltechniker herbei, die sofort eine Flasche aus ihrem Koffer holten und mit deren Inhalt den Kirchenboden besprühten. Täuschte Bäumler sich, oder sah er plötzlich tatsächlich ein blaues Leuchten auf dem Stein?

Die Rechtsmedizinerin kam auf Bäumler zu, zupfte zaghaft an seinem Arm. Ihre dicken Brillengläser verkleinerten die eng beieinanderstehenden, ohnehin winzigen Augen noch stärker.

»Frau Vahlbruch-Wiesendank. Wir hatten vor einiger Zeit bereits das Vergnügen, oder irre ich mich?«, fragte der Hauptkommissar.

»Vahlbruch-Wesendonck, wenn ich bitten darf, Herr Bäumler.«

»Genau. ’tschuldigung… Und? Was meinen Sie?«

»Sie wissen, dass ich so früh… Also, ich meine, ohne Obduktion kann ich natürlich überhaupt noch nichts sagen.«

Bäumler verzog das Gesicht, als hätte er plötzlich heftige Zahnschmerzen. Er erinnerte sich noch allzu gut an die durcheinanderpurzelnden Satzfragmente der Koblenzer Rechtsmedizinerin mit dem eigenwilligen Doppelnamen. »Versuchen Sie es doch wenigstens, Frau Vahlbruch-Wesendonck. Mir zuliebe«, brachte er mit einer Stimme hervor, die zuckersüß klingen sollte, aber an ein Reibeisen denken ließ.

»Also, glauben Sie nicht, dass ich mich… Also, einwickeln lass ich mich nicht, denken Sie das bloß nicht. Todeszeitpunkt, den wollen Sie doch wissen, nicht wahr? Ich schätze, vor zehn bis fünfzehn Stunden, also, das heißt gestern am vorgerückten Abend.«

Bäumler nickte, machte sich eilig Notizen. »Und? Ist er im Beichtstuhl…?«

»Glaube ich kaum. Wurde zusammengeschlagen, ist dann ganz klar hingefallen und Genickbruch. Also, eindeutig außerhalb. Dann wurde er hindrapiert.«

»Sonst noch was?«

Die Medizinerin nickte und holte tief Luft. Doch ihre Antwort blieb ihr im Halse stecken, da Bächle ihr zuvorkam.

»Dürfte ich bitte auch erfahren, was Sie herausgefunden haben, Frau Dr.Vahlbruch-Wesendonck?«

Die Angesprochene seufzte, ließ dann aber einen zusammenfassenden Wortschwall aus ihrem Mund sprudeln. »Und außerdem«, beendete sie ihren Monolog, »habe ich dieses Heftchen in der Soutane des Toten gefunden.« Sie präsentierte den Beamten ein Notizbuch.

Bächle griff danach und blätterte es eilig durch. »Ein Terminkalender. Für jeden Tag ist ein Bibelspruch abgedruckt, darunter stehen kryptische Einträge, die von Hand vorgenommen wurden.« Sie krauste die Stirn. »Der hier ist von gestern: ›Danket dem Herrn und rufet an seinen Namen; verkündigt sein Tun unter den Völkern!‹«

»Und der kryptische Eintrag?«, hakte Bäumler gespannt nach.

»›S. inB.E.‹, dann: ›BeichteS., 20:00‹«, las Bächle nachdenklich vor.

»Sex inB.E.? Vielleicht eine Abkürzung für den Plan, in einen Puff zu gehen? Ganz schön lebenslustig, der Herr Pfarrer«, platzte es aus Bäumler heraus. Er hatte den Kalauer einfach nicht zurückhalten können, und sein Lachen durchbrach die sakrale Stille.

Auch über das Gesicht der Rechtsmedizinerin huschte ein Grinsen.

Bächle zog vorwurfsvoll die Augenbrauen hoch. »Mensch, Bäumler, wenn Sie doch nur einmal etwas Unerwartetes sagen würden. Ohne Anhaltspunkte kommen wir damit nicht weiter, aber ›BeichteS., 20:00‹, die Notiz könnte doch etwas mit dem Todeszeitpunkt zu tun haben, oder?«

Vahlbruch-Wesendonck nickte.

»Wöhler erwähnte eine Frau, die vor Kurzem die Kirche betreten haben, dann aber schleunigst wieder verschwunden sein soll. Vielleicht ein Indiz?«, versuchte sich Bäumler an einem betont sachlichen Tonfall.

»Nun lassen Sie uns doch erst mal das Ergebnis der Obduktion abwarten, Herr Kollege.«

»Na schön, wie Sie wünschen, Frau Bächle. Haben Sie denn gar nichts gefunden? Keine Spuren, die uns weiterhelfen, vielleicht Blut auf dem Boden…?«

»Wir sind fertig hier. Sie bekommen dann unseren Bericht, Frau Bächle«, meldete pflichtschuldig der größte der Kriminaltechniker. Er war ein Schlacks mit Spargelbeinen, kantigen Schultern und einem winzigen eiförmigen Kopf auf dem langen Hals. Auf sein Zeichen verließ der kriminaltechnische Tross, inklusive Rechtsmedizinerin und Pfarrer im Zinksarg, die Karmeliterkirche.

Sofort legte sich eine drückende Stille wie schwarzer Samt über die sakrale Stätte, die die Kommissare nun ganz für sich hatten. Bäumler schaute erwartungsvoll Bächle an, die hoch konzentriert im Terminkalender des Toten blätterte und seinen Blick nicht zu bemerken schien. Einer spontanen Eingebung folgend, setzte er sich auf den Platz des Pfarrers im Beichtstuhl. Die Kriminaltechniker hatten den Stuhl sauber hinterlassen.

Jetzt endlich nahm Bächle Notiz von ihm, warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu, wandte sich ab und stöckelte genervt davon. Bäumler lehnte sich zurück, lauschte in die Stille. Er sammelte sich, spürte, dass er bereit war. Bereit dafür,S. das heilige Sakrament der Beichte zu spenden. Wer auch immer sich hinterS. verbergen mochte. Jetzt wusste er immerhin, wie es sich anfühlte, wenn man kurz davorstand, die Sünden einer armen Seele zu hören.

Meine Beine zittern. Die Hände, ich kann sie nicht kontrollieren. Mein Herz hämmert. Es zersprengt mir den Brustkorb.

Ich schlage zu, noch mal. Und noch mal. Meine Faust kracht in sein Gesicht. Gut, dass ich Handschuhe trage. Seine Augen schwellen zu. Es knackt. Das war die Nase. Ich bin außer mir vor Wut, Blut rauscht in meinen Ohren, ich bin wie von Sinnen. Er strauchelt, fällt, landet auf dem Hinterkopf. Fassungslos. Will was sagen, röchelt aber nur. Sein Blick bricht. Blut, alles voller Blut. Warum habe ich das getan? Aber er ist doch selber schuld, hat’s nicht besser verdient. Warum musste er mich auch provozieren? Selber schuld ist er, selber schuld!

3

Bäumler rückte den Bürostuhl dichter an den Schreibtisch heran, starrte auf den Computerbildschirm. Die Webseite wurde von plüschigem Rot bestimmt, im Menü konnte er aus den Kategorien »Über uns«, »Girls«, »Ambiente«, »Preise« und »Kontakt« auswählen. Er klickte auf »Girls«. Im Zeitlupentempo baute sich eine neue Seite auf. Zwölf teils blutjunge, teils leicht verbraucht wirkende Frauen räkelten sich knapp bekleidet auf dem Monitor. Manche trugen Dessous, andere reckten dem Betrachter die nackten Brüste entgegen. Ihre Gesichter waren verpixelt. »Bel Étage– Deine Eintrittskarte ins Paradies« lautete die Überschrift. Bäumler stützte den Kopf in die rechte Hand und musterte die Mädchen, deren Dienste angepriesen wurden. Erst die Bürotür, die aufflog, riss ihn aus seinen Gedanken.

Bächle stolzierte herein. Heute trug sie hautenge Bluejeans, dazu hohe braune Stiefel. Sollte wohl nach Arbeit aussehen. Was für ein Weib, dachte Bäumler und konnte nicht umhin, die Wandlungsfähigkeit der Kollegin zu bewundern.

Bächle stellte sich hinter ihn und schaute entsetzt auf den Bildschirm. »Mensch, Bäumler, muss das denn sein? Können Sie sich das nicht für Ihren Feierabend aufsparen? Den Chef wird’s sicher freuen, wenn er davon Wind bekommt!«

»Sie glauben doch nicht im Ernst…?«

»Jetzt soll das auch noch beruflich sein, oder was?«

Bäumler drehte sich um, sah in Bächles unergründlich dunkle Augen.

Sie neigte den Kopf, grinste kurz, setzte aber eilig wieder eine ernste Miene auf.

»Schauen Sie mal auf den Namen des Puffs. ›Bel Étage‹, klingelt da was?« Bäumler lächelte so zuckersüß, wie er konnte.

Bächle tippte sich mit dem Finger an die Stirn. »Das glauben Sie doch wohl selbst nicht, Herr Kollege. Sind Sie immer noch auf diesem Trip? Der Pfarrer soll also zum Sex im ›Bel Étage‹ gewesen sein, bevor er ›S.‹ die Beichte abgenommen hat? Und selbst wenn, was bringt uns das?«

»Das werden Sie schon sehen. Erst mal müssen wir den Tagesablauf des Opfers so minutiös wie möglich rekonstruieren. Und sobald sich jemand von der schönen Etage an den Herrn Pfarrer erinnert, sind wir ein Stückchen weiter. Lassen Sie mich einfach machen.«

»Sie verrennen sich da«, murmelte die Kommissarin und verschanzte sich hinter ihrem großformatigen Monitor.

Das Büro, das die beiden sich teilen mussten, war schlauchförmig und so eng, dass die Schreibtische mit der Langseite dicht aneinandergerückt standen, damit jedem noch Platz für einen Stuhl blieb. Neben der Tür stand ein kleiner Besprechungstisch. Bächle hatte ihren Bildschirm so platziert, dass er Bäumler den Blick versperrte, Bäumlers kleiner Monitor stand rechts von ihm. Hinter Bächles Schreibtisch prangte der Stadtplan von Koblenz, daneben ein Wandkalender, in den sie ihren Urlaub eingetragen hatte. Sie hingegen musste auf das Wappen des 1.FC Köln sowie auf ein signiertes Foto der Meistermannschaft von 1978 schauen. Er hatte ihr schon mehrfach vorgeschlagen zu tauschen, aber sie wollte nicht. Wahrscheinlich befürchtete sie, dass hereinkommende Kollegen sie dann für eine Fußballproletin halten würden.

Bäumler klickte die Webseite des Bordells weg, verschränkte die Arme hinter dem Kopf, lehnte sich auf dem Stuhl zurück und lauschte dem Klappern von Bächles Tastatur, das nach heftigem Regen klang, der auf ein Zeltdach trommelt. Es war einer jener Momente, in denen er sich fragte, warum er sich nicht vehementer gegen die Versetzung nach Koblenz vor zwei Monaten gewehrt hatte. Er hatte einen neuen, jungen und sehr ehrgeizigen Chef bekommen, der gemeint hatte, Bäumler tue es nach fünfundzwanzig Dienstjahren in Köln mal gut, seinen Horizont zu erweitern. Außerdem sei er ja ungebunden. In Wahrheit wollte dieser Karrierist ihn, ein altes Eisen, nur entsorgen, um ein willfähriges junges Talent auf Bäumlers Posten hieven zu können.

Und so war er hier gelandet. Ausgerechnet in Koblenz. In einem Betonpräsidium mit orangefarbenen Jalousien, das den Charme eines Plattenbaus versprühte. Die graue Trutzburg wäre der Stasi-Zentrale würdig gewesen. Heute Morgen hatte er am Eingang zum Präsidium ein Plakat gesehen: »Fahndungserfolg: Karriere!«, stand darauf. Und darunter: »Komm zur Polizei Rheinland-Pfalz«. Dass ich nicht lache, dachte er.

Aber so schnell würde er sich nicht unterkriegen lassen. Er griff nach der Boulevardzeitung, die er vorhin am Kiosk gekauft hatte, und überflog den Bericht über den Leichenfund in der Karmeliterkirche. »Die Polizei macht keine weiteren Angaben über den Ermittlungsstand.« Was gut so war. Darunter ein Artikel, der ihn sofort in seinen Bann zog. »Hier, Frau Bächle, das müssen Sie unbedingt hören!« Laut las er vor: »Ufos über Burg Stahleck. Pressekonferenz am Samstagabend. Die verrückte Ufo-Sekte, die seit einem guten Jahr unser romantisches Mittelrheintal aufmischt, hat in den historischen Burgsaal geladen. Die internationale Presse lauscht gespannt, als Maître Dionysos(61), bürgerlich Jürgen Matthusen, sein Erweckungserlebnis im Hunsrück schildert. Das grüne Männchen, das dem Raumschiff entstiegen sei, habe ihm persönlich den Auftrag gegeben, den er nun ausführe. Der Zulauf wissbegieriger Jünger sei gewaltig, Burg Stahleck werde schon bald zu eng für die Anhänger des Weingottes sein. Alois Hinterbach(46), Leiter des Tourismusverbandes Mittelrhein, lobt die Sekte für ihr Engagement. ›Seitdem die Dionysos-Jünger sich in Bacharach niedergelassen haben, steigen die Übernachtungszahlen in der Region. Zwanzig Prozent mehr Tagesgäste in einem Jahr, das ist eine sensationelle Entwicklung‹, so Hinterbach…«

Bäumler hielt inne, da Bächle mit der flachen Hand auf ihre Schreibtischplatte geschlagen hatte.

Jetzt lugte sie hinter ihrem Monitor hervor und rief mit kratziger Stimme: »Es reicht, Bäumler, ich kann diesen Quatsch echt nicht mehr hören. Diese schwachsinnige Story wird auch durch ständiges Wiederholen nicht besser. Sind denn am Mittelrhein jetzt alle verrückt geworden?«

Bäumler schmunzelte, faltete die Zeitung zusammen und legte sie zurück auf den Schreibtisch. Er hatte sein Ziel erreicht, die Kollegin aus der Reserve gelockt. »Was meinen Sie eigentlich zu Wöhler? Ist seine Aussage glaubhaft?«

Bächle schüttelte unwillig den Kopf. »Wieso denn nicht? Ist Herr Dr.Wöhler Ihnen vielleicht zu seriös? Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, dass er den Pfarrer brutal zusammengeschlagen hat. Und nach einem überstandenen Kampf sah er nun auch nicht gerade aus.«

»Na schön. Und die unbekannte Dame?«

»Die könnte ein erster Anhaltspunkt sein. Das Phantombild erscheint mir aussagekräftig. Wöhler verfügt über eine exzellente Beobachtungsgabe. Vielleicht fällt ihm ja noch etwas Sachdienliches zu der Frau ein. Für alle Fälle hat er ja unsere Handynummern.« Bächle strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Natürlich können wir das Bild nicht veröffentlichen, sie ist ja keine Verdächtige.«

»Aber es so lange rumzeigen, bis jemand sie erkennt, das können wir schon«, brummte Bäumler, als jemand zaghaft an die Tür klopfte.

»Herein«, flötete Bächle.

Nichts geschah.

»Herein«, polterte Bäumler, doch wieder passierte nichts.

Durch die getönte Glastür war der Umriss eines kleinen Mannes zu erkennen. Bäumler schaute auf die Uhr, stand auf, murmelte: »Muss der Kaplan sein, den ich einbestellt habe«, und öffnete die Tür.

Mit unsicheren Schritten betrat eine schmächtige Person das Büro. Ihr Priesterkragen leuchtete so weiß wie ein fabrikneuer Tischtennisball.

Man gruppierte sich um den winzigen Besprechungstisch, dann ergriff Bächle die Initiative: »Schön, dass Sie gekommen sind, Herr Kamp. Wie ich hörte, hat Jesus Sie also vor einem Jahr nach Boppard geführt. Und– haben Sie sich bereits eingelebt?«

Der Kaplan nestelte an seinem Kollar. Sein Gesicht ähnelte dem einer Spitzmaus, und genauso hektisch blickte er abwechselnd zu Bäumler und Bächle. »Eingelebt? Wie meinen Sie? Zeit brauche ich. Ankommen braucht Zeit und Geduld, verstehen Sie?«

»Wem sagen Sie das, Herr Kaplan.« Bäumler schaute zu Bächle, wartete auf eine Reaktion.

Doch die fragte ungerührt weiter. »Dann sind Sie also noch nicht angekommen?«

»Kennen Sie die Sage von den indischen Trägern, die einfach auf dem Boden sitzen blieben, anstatt weiterzugehen?«

»Nein«, antworteten die Kommissare unisono.

»Als der Expeditionsleiter sie zum Weiterlaufen auffordert, antworten sie: ›Wir können nicht. Wir müssen warten, bis unsere Seelen nachgekommen sind.‹ Genau das haben wir in unserer unruhigen Zeit doch alle verlernt, zu warten.«

Bäumlers Augen weiteten sich. Er bohrte sich einen Finger ins rechte Ohr und überließ Bächle die Antwort.

»Das haben Sie wirklich schön gesagt, Herr Kamp. Aber jetzt müssten wir mal loslegen: Wie war denn Ihr Verhältnis zu Herrn Kaltenborn?«

Der Kaplan schien von dieser einfachen Frage überrumpelt. Für Bäumlers Geschmack dachte er einen Moment zu lange über die Antwort nach, bevor er sich schließlich einen Ruck gab. »Herr Kaltenborn war ein sehr tüchtiger Dechant. Ein wahrer Menschenfischer«, antwortete er mit Nachdruck.

»Menschenfischer? Könnten Sie das konkretisieren?«, setzte Bächle nach.

»Na ja… Er mochte die Menschen. Besonders… Also, wenn ich es recht überlege, mochte er besonders die Frauen.« Wieder schaute der Kaplan aufgeregt vom einen zum anderen und legte dann die Hand vor den Mund, als bereute er seine Worte schon.

Bäumler trommelte mit den Fingern auf dem Tisch, während Bächle mit gesenkter Stimme weiterfragte. »Ist das nicht schwierig in Ihrem Beruf?«

»Na ja, schon. Aber er hat sie gerne angefasst. Frauen… War halt ein bisschen unheimlich.«

»Unheimlich?«

»Ja, bei unserem Gemeindefest im letzten Jahr hat er mir erzählt, er würde sie gerne berühren. Den meisten hat es wohl gefallen, aber den einen oder anderen Ehemann hat er damit schon gegen sich aufgebracht.«

»Aha. Darüber hat die Gemeinde sich bestimmt mokiert. Gab es sonst noch etwas, über das die Leute geredet haben?«

»Es wurde ja so viel geredet, Frau Bächle. Viel zu viel. Natürlich auch über Grace.«

»Grace?«, fragte Bächle.

»Die Haushälterin. Die sehen wir nachher noch«, warf Bäumler genervt ein. Er hasste es, wenn eine Befragung im Schneckentempo voranging.

Bächle ignorierte Bäumlers Bemerkung und bohrte geduldig weiter. »Und was wurde über sie geredet?«

»Passte natürlich nicht allen, dass die schwarze Haushälterin bei ihm wohnte. Viele dachten, dass die beiden ein Verhältnis hätten.«

»Und? Hatten Sie?«

»Woher soll ich das denn wissen? Fragen Sie sie doch selbst!« Der Kaplan wischte sich über seine mittlerweile schweißnasse Stirn.

»Na schön. Hatte Herr Kaltenborn denn sonst noch Feinde, neben Rassisten und eifersüchtigen Ehemännern?«, schaltete Bäumler sich wieder ins Gespräch ein.

»Aber klar. Den Guru natürlich. Ich dachte, das wüssten Sie!«

»Den Guru?«, fragten die beiden Kommissare wieder unisono.

»Ja, den von der Ufo-Sekte, diesen Bacchus oder wie immer er sich nennt. Den hat er mit aller Macht bekämpft, wollte ihn aus dem Tal vergraulen. War ja auch gut so, dass jemand dem mal die Stirn bot!«

Bäumler schaute zu der Zeitung, die auf seinem Schreibtisch lag, und kratzte sich am Kinn. »Hochinteressant«, murmelte er, schaute auf seine Armbanduhr. »Wir müssen dann auch, Frau Bächle«, raunte er seiner Kollegin zu, bevor er sich vom Kaplan verabschiedete. Genugtuung lag in seinem Blick.

Während Bächle ihre Dienstlimousine über die Europabrücke steuerte, betrachtete Bäumler das dunkelblau schimmernde Moselwasser.

»Muss nur kurz wenden, dann geht’s wieder zurück auf dieB9. Bevor Sie fragen«, erklärte die Kommissarin unaufgefordert ihre Route.

»Schon klar. Ich fühle mich bei Ihnen sehr gut aufgehoben«, antwortete Bäumler sarkastisch und zwang sich dazu, nicht allzu offensichtlich auf Bächles wohlgeformte Oberschenkel zu starren.

Als es klingelte, drehte Bächle das Radio leiser, was Bäumler mit einem erleichterten Seufzer quittierte. Xavier Naidoo gehörte definitiv nicht zu seinen Favoriten. Lieber rockte er zu den Rolling Stones ab.

»Sigrid Bächle hier?«

»Frau Bächle, gut, dass ich Sie direkt erreiche«, antwortete ein müde klingender Bass aus der Freisprechanlage. »Haben Sie einen Moment Zeit, oder ist es gerade schlecht?«

Bächle schaute kurz zu Bäumler, zögerte mit der Antwort.

»Hallo, Herr Jagemann, schießen Sie los. Was gibt’s Neues von der KTU?«, knurrte der Hauptkommissar.

»Ach, Sie sind beide…? Na, ist ja auch besser so. Also, wir sind bereits mit unserer Auswertung fertig.«

»Soll heißen?« Bäumler war schon wieder viel zu ungeduldig.