Tod oder Taufe - Die Kreuzfahrer am Rhein - Jakob Matthiessen - E-Book

Tod oder Taufe - Die Kreuzfahrer am Rhein E-Book

Jakob Matthiessen

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Beschreibung

Mainz, im Jahre 1096. Ein mächtiges Kreuzfahrerheer steht vor den Toren der Stadt und fordert Einlass. Aufgehetzt von dem fanatischen Priester Rotkutte, wollen die Krieger die jüdische Gemeinde auslöschen. Wer nicht seinen Glauben verrät - ein undenkbares Sakrileg für jeden Juden - soll sterben. Rabbi Chaim und Domdekan Raimund, in ihrem Glauben einander freundschaftlich zugetan, suchen in der belagerten Stadt nach einem Weg, Blutvergießen zu verhindern. In Rotkutte steht ihnen jedoch ein Meister der Intrige gegenüber …

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Jakob Matthiessen

Tod oder Taufe – Die Kreuzfahrer am Rhein

Historischer Roman

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Daniel Abt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Bildes von: © https://commons.wikimedia.org/wiki/File:SiegeofAntioch.jpeg

ISBN 978-3-8392-6992-3

Grußwort

Liebe Leserschaft,

einer der bewegendsten Momente der letzten Zeit war für mich der Besuch der SchUM-Stätten von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am 1. Februar 2023 anlässlich der Übergabe der UNESCO-Urkunde. Ein bewegender Moment deshalb, da es vor der Aufnahme der SchUM-Städte in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes am 27. Juli 2021 in Deutschland zwar bereits 49 Welterbe-Stätten gab, jedoch keine davon mit jüdischem Bezug. Heute ist das anders und es erfüllt mich mit Stolz, dass Speyer, Worms und Mainz Teil dieses besonderen Erbes sind. Doch wie Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seiner Rede treffend formulierte: »Welterbe verpflichtet, und jüdisches Welterbe verpflichtet uns in Deutschland erst recht.«

Die Geschichte des Judentums ist eine wechselhafte – eine Geschichte des Erfolgs einerseits und eine Geschichte der Verfolgung andererseits. Die unmenschlichen Verbrechen der Shoah werden für immer Teil unserer Geschichte sein und ich sehe es als unsere Aufgabe, die Erinnerung lebendig zu halten und nachfolgende Generationen für dieses Thema zu sensibilisieren. Denn »Nie wieder« ist nicht nur ein Leitspruch, sondern erfordert den aktiven Einsatz von uns allen.

Dass ein friedvolles Miteinander möglich ist, davon berichtet uns SchUM: SchUM als ein Akronym der hebräischen mittelalterlichen Städtenamen Speyer (Schpira), Worms (Warmaisa) und Mainz (Magenza). Allesamt aufstrebende Städte des Mittelalters entlang des Rheins, in welchen Menschen jüdischen Glaubens, zumeist Fernhandelskaufleute, auf Grund der damals vorteilhaften Bedingungen siedelten. Die drei jüdischen Gemeinden entwickelten sich zu einem einzigartigen Verbund. »SchUM« prägte die jüdische Welt nachhaltig. Noch heute zeugen die SchUM-Stätten von baulicher Innovationskraft und herausragender Gelehrsamkeit. Von überall kamen Menschen in die SchUM-Städte, in denen für ganz Aschkenas verbindliche Rechtsordnungen festgelegt wurden. Sie trugen ihr Wissen von den drei Domstädten in die ganze Welt.

Doch wo Licht ist, ist auch Schatten und so spiegeln sich in SchUM die hellsten und dunkelsten Zeiten jüdischer Geschichte wider. Im 11. Jahrhundert erlebte das Judentum eine wahre Blütezeit, die jedoch mit dem Beginn des ersten Kreuzzuges 1096 jäh unterbrochen wurde.

Hier setzt die Handlung von »Tod oder Taufe – Die Kreuzfahrer am Rhein« ein. Anschaulich berichtet Jakob Matthiessen über die verheerenden Geschehnisse an nur sechs heißen Tagen im Juni, während derer die jüdische Bevölkerung vor die unmögliche Wahl gestellt wird, mit der Taufe den christlichen Glauben anzunehmen oder für ihre Überzeugung zu sterben.

Matthiessen schildert den Fanatismus und die Zerstörungskraft der Kreuzfahrerideologie, die zahlreiche Todesopfer forderte und das zuvor friedliche Miteinander von Menschen unterschiedlicher Konfessionen zerstörte. Denn auch hiervon erzählen die SchUM-Stätten – vom engen Zusammenleben der jüdischen und christlichen Bevölkerung in den drei Domstädten Speyer, Worms und Mainz, von vielfältigen Alltagskontakten und Geschäftsbeziehungen, von Austausch und von Annäherung.

Für diesen fruchtbaren Austausch und das harmonische Miteinander setzen wir uns weiterhin ein. Im Rückblick auf die Geschichte lernen wir dabei, wie Toleranz gelebt werden kann und ein friedvolles Miteinander allen zum Vorteil gereicht.

Viel Spaß beim Lesen wünscht Ihnen Stefanie Seiler Vorsitzende des SchUM e.V. & Oberbürgermeisterin der Stadt Speyer

Präambel

Tausendfünfundneunzig Jahre nach der Geburt des Herrn erging der Ruf des Papstes Urban II. an die Christenheit, das Gelobte Land müsse den Heiden entrissen werden. Nie verwelkender Ruhm und unendliche Freuden im Himmelreich erwarteten jeden, der diesem Ruf Folge leiste. Gott will es!

Mächtige und Habenichtse, Suchende und Skrupellose, Abenteurer und Vogelfreie machten sich auf zur heiligen Stadt Jerusalem. Pilgerströme formten sich zu Heeren. Getrieben von Armut, Heilsverlangen, Gier und Ruhmessucht zogen sie durchs Frankenreich.

Aber warum in der Ferne kämpfen, wenn hier unter ihnen ein Volk von Ungläubigen seine schändlichen Bräuche ganz ungehemmt betreiben darf?, fragten sich die bewaffneten Horden. Und auch auf gute Beute hofften sie in den Bischofsstädten Speyer, Worms und Mainz, in denen sich das Volk der Gottesmörder – wie es von ihnen genannt wurde – niedergelassen hatte. Denn nicht wenige der Juden waren tüchtig und erfolgreich, und einige von ihnen hatten es zu beträchtlichem Wohlstand gebracht.

Eine Stimme der Opfer

Warum verdunkelte sich nicht auch da der Himmel, warum zogen die Sterne ihren Lichtglanz nicht ein, und Sonne und Mond, warum verfinsterten sie sich nicht an ihrem Gewölbe, als an einem Tage, am dritten des Siwan, tausendeinhundert heilige Personen ermordet und hingeschlachtet wurden, so viel Kleine und Säuglinge, die noch nicht gefrevelt und gesündigt hatten, so viele arme unschuldige Seelen! – Willst Du hierbei an Dich halten, Ewiger? Denn für Dich ließen die Personen ohne Zahl sich umbringen.

Salomo bar Simson, ein Chronist der Verfolgungen

Lagekarte SchUM-Städte

 

SchUM steht für den Verbund der jüdischen Gemeinden in Speyer, Worms und Mainz. Die SchUM-Gemeinden waren im Mittelalter als Hochburg jüdischer Weisheit in Europa bekannt, von den Verfolgungen im Jahre 1096 waren sie besonders betroffen. Wegen ihrer herausragender Bedeutung wurden die Erinnerungsstätten der SchUM-Gemeinden am 27. Juli 2021 als UNESCO-Weltkulturerbe ausgezeichnet.

Dramatis Personae

 

Historische Personen sind mit einem * gekennzeichnet.

Aus der jüdischen Gemeinde von Mainz:

Chaim, Rabbi und Glasmacher, Mitglied des Judenrates

Jehudith, Chaims Frau

David, Jehudiths und Chaims ältester Sohn

Hannah und Benjamin, Jehudiths und Chaims kleinere Kinder

Mosche, Chaims älterer Kollege, ebenfalls Mitglied des Judenrates

Kalonymos ben Meschullam*, Vorsteher des Judenrates

Schmuel Hendlein, Kaufmann, Mitglied des Judenrates

Salomo, geschätzter Arzt und Mitglied des Judenrates

Zacharias, Trödel- und Kleinhändler

Rachel*, seine Frau

Aaron, Isaak, Orli und Bela, Rachels und Zacharias’ Kinder

Sarah, Jehudiths Schwester

Doron, Sarahs Bräutigam

Dov,Jehudiths Vater

Elischewa, Rachels Freundin

Erez, Jonah und Ethan, Jehudiths Brüder

*

In der Bischofspfalz:

Raimund, Domdekan

Bischof Ruthard*, Erzbischof von Mainz, gleichzeitig Stadtherr von Mainz und Erzkanzler des Heiligen Römischen Reiches

Manfried, Dompropst, Stellvertreter des Bischofs

Bruder Anselm, zuständig für die Verpflegung und Unterbringung der bischöflichen Gäste

Hauptmann Hadewin, Befehlshaber der Wache der Bischofspfalz

Irmgard, verantwortlich für die Näherinnen in der Pfalz

*

Im Heer der Kreuzfahrer:

Rotkutte, Priester

Peter, Bauernjunge aus der Nähe von Gerstendorf

Emicho von Flonheim*, Führer des Kreuzfahrerheers vor Mainz

Christain, Peters neuer Freund

Jutta, Hübschlerin

Roland, Fähnrich im Heer der Leininger

Veit, Hauptmann im Heer der Leininger

Wolf, Soldat im Dienste Emichos

*

In und um Mainz:

Ida, Bäckerstochter, Davids gute Freundin

Brose, Scharfrichter von Mainz

Gottfried, Idas Vater, Bäckermeister

Utz, einfacher Bauer

Veronika, Idas Mutter, Gottfrieds Frau

Hermann von Erkenbald, Vogt der Stadt Mainz

Wendel, Schuster

Meister Wernhart, Zimmermann

Bernhard, Peters jüngerer Bruder

Mathilde, Peters jüngere Schwester

Prolog

Dienstag, der 27. Mai Anno Domini 1096 / 3. Siwan 4856

Mainz – Bischofspfalz, in der Johanniskirche

Der Lappen in seinem Mund schmeckte fischig. Mit Mühe konnte er dem Würgereiz widerstehen, den der Knebel in ihm auslöste. Der Strick schnitt sich tief in seine Handgelenke, die man ihm hinter dem Rücken zusammengebunden hatte. Seine Finger waren inzwischen taub.

Rabbi Chaim stand in einer langen Reihe vor dem Altarkreuz. Diejenigen, die es noch in die Bischofspfalz geschafft und am heutigen Tag nicht den Tod gefunden hatten, warteten auf das nun Unvermeidliche.

Chaim wandte sich um. Dies war also der Rest seiner einst so blühenden Gemeinde. Die meisten der Seinen senkten die Köpfe voller Scham, vereinzelt gewahrte Chaim Blicke des Vorwurfs. Rachel, ihr blitzte der Zorn aus den Augen. Sie war bereit gewesen zum Kiddusch ha-Schem, dem höchsten Opfer zur Heiligung Seines Namens.

Chaim war es nur recht, dass auch ihr der Mund verschlossen war. Er wollte Rachels Beschimpfungen jetzt nicht hören, dafür war später Zeit genug. Aber viele in seiner Gemeinde empfanden Erleichterung. Das hatte er gespürt, selbst wenn die Wenigsten dies zugeben würden. Darauf ließe sich aufbauen. Darauf setzte Chaim all seine Hoffnung.

Er rieb seine gebundenen Hände gegeneinander, damit er sie wieder spüren konnte. Sie blieben jedoch taub. Chaim drehte seinen Kopf nach rechts. Jehudith hockte mit ein paar der Ihren gefesselt an der Wand unter dem Kreuz mit dem Gehängten. Ihr sonst so schönes, lockiges Haar war strähnig und zerzaust. Aber in ihrem Blick fühlte er auch jetzt die Wärme, die ihm in den letzten Tagen Kraft gegeben hatte.

Ach, Jehudith, meine geliebte Rose von Scharon. Du hast den schweren Gang schon hinter dir.

Chaim schloss die Augen. Nun war es an ihm.

Zwei Wachen zerrten ihn nach vorn. Die Beine drohten, ihm zu versagen, aber die beiden Hünen, die ihn fest unter den Armen packten, gaben Chaim Halt. Er spürte eine weite, schwammige Leere. Wie aus großer Ferne vernahm er die sanfte Stimme seines Freundes Raimund. »Glaubst du an Gott, den allmächtigen Vater?«

Chaim wollte den Kopf schütteln, mit dem bisschen Kraft, das noch in ihm war. Doch zwei Hände pressten sich gegen seine Ohren und Wangen. Dann wollte er sein Haupt eben gar nicht bewegen. Schließlich musste er sich dem Druck fügen, der seinen Kopf einmal nach oben und nach unten führte.

Warum auch nicht? Er glaubte an den allmächtigen Vater. Alle Juden glaubten daran.

»Glaubst du an Christus, Gottes Sohn?« Raimunds Frage erscholl in der Weite des Raumes in ungewohnter Fülle. Doch war da dieses schwache Zittern, das sich immer dann in die Rede seines Freundes einschlich, wenn dieser seinen Worten selbst nicht trauen mochte.

Was habt ihr Christen aus dem Nazarener gemacht? Einen Gott! Einen Gott, der gekreuzigt wurde!

Selbst über solch heikle Themen hatte er mit Raimund sprechen können. Zwischen den Reben auf den Hügeln am Ufer des Rheins waren sie umhergegangen. Und in den Stunden des hitzigen Disputs verriet jenes leise Zittern die Zweifel seines Freundes, der sonst seine Worte so geschickt zu setzen wusste.

Chaim machte sich ganz steif. Aber die zwei Pranken, die sich wie die zwei Backen eines Schraubstocks in seine Schläfen pressten, waren stärker als das, was von seinem Willen nach all den Strapazen übrig geblieben war. Sie zwangen ihn erneut zu einem Nicken.

»Glaubst du an den Heiligen Geist?«

Der Ewige ist eins, nicht drei! Mose und die Propheten sagen es immer wieder. Der Ewige ist nicht teilbar, er ist eins!

Aber Chaims Aufbäumen war nicht mehr als der Flügelschlag eines Spatzen, schon ließ er seinen Kopf bereitwillig führen.

Mit einem Ruck wurde er nach unten gebeugt. Er öffnete die Augen.

Sein Spiegelbild starrte ihn aus dem Wasser des runden Beckens an. All die Zweifel hatten tiefe Furchen in sein Gesicht gegraben.

Würde er je vor dem Gericht des Herrn bestehen können? Er selbst war es ja gewesen, der dies alles von Raimund verlangt hatte. Nicht nur für sich selbst. Und nicht nur für Jehudith und seinen Sohn David. Für den ganzen Rest der Gemeinde hatte er gesprochen.

War es Weisheit? War es Torheit? Oder war es nur die schäbige Angst um sein kleines bisschen Leben? Würde er all dies seinem Schöpfer erklären können?

Chaim, du Dummkopf. Der Ewige braucht keine Erklärungen, der Ewige weiß.

Tropfen bildeten sich auf seiner Stirn. Der Schweiß kroch in sein rechtes Auge, rann quälend langsam den Nasenflügel hinunter und tropfte in das Becken. Das Angesicht, auf das er schaute, verschwamm in der Unruhe der Wasserfläche.

Raimunds Stimme besiegelte den Frevel. »So taufe ich dich im Namen des Vaters.«

Die Hände pressten seinen Kopf in das Becken. Chaim hielt den Atem an. Das Wasser war angenehm warm. Und noch während er sich über seine Erleichterung darüber wunderte, wurde er wieder nach oben gerissen.

Er wollte einen tiefen Atemzug nehmen.

»Im Namen des Sohnes.«

Sein Haupt wurde nochmals in den Bottich getaucht. Chaim verschluckte sich am Wasser, das an dem Knebel vorbeirann.

Endlich erlaubten ihm die fremden Hände, nach Luft zu schnappen. »Und im Namen des Heiligen Geistes«, hörte er Raimund wie durch eine Blase verkünden.

Da war sein Kopf ein weiteres Mal unter Wasser, und Chaim prustete hilflos in das Becken.

Die Hände rissen ihn hoch, diesmal so, dass er aufgerichtet dastand. Röchelnd schaute Chaim in das Gesicht seines Freundes.

Raimund blickte zur Seite, als wolle er Trauer und Scham verbergen.

Die Hände lösten sich von Chaims tropfnassen Wangen, dann schleifte man ihn weg.

Er hatte es so erwartet, doch war da ein Rest Furcht in ihm gewesen. Aber weder hatte das Wasser seine Haut verbrannt noch hatte ein Blitz vom Himmel sein Herz zerfetzt.

Und es roch genau so, wie Wasser riechen sollte: nach nichts.

*

Einst die Herren,

werden sie jetzt in fremden Landen gedrückt durch Knechtschaft

und durch das Joch, das man ihnen aufgelegt.

Selichah – Kalonymos ben Jehuda

Teil I: Schatten aus dem Süden

Freitag, der 23. Mai Anno Domini 1096 / 28. Ijjar 4856 

Mainz – auf dem Synagogenplatz

»Gebt gut acht auf den Ring«, sagte Chaim beim Abschied. Der Rabbi hatte den goldenen Trauring, der schon seit Generationen im Besitz der Gemeinde war, zur Familie des Bräutigams gebracht. Dabei hatten sie die letzten Einzelheiten der Hochzeit besprochen. Und Chaim hatte sich überreden lassen, am Mitzwah-Tanz teilzunehmen, dem letzten Teil der Zeremonie, bevor Braut und Bräutigam endlich eine Weile allein in einem Zimmer verweilen durften.

Er trat aus der Tür und blickte auf den kleinen Platz. Die Sonne stand hoch am Mittagshimmel, die Häuser aus dunklem Holz und Lehm, die ihre Synagoge umschlossen, warfen wohltuende Schatten. Eng zusammengerückt standen sie da, als würden sie das große Steinhaus in ihrer Mitte beschützen wollen. Drei große bogenförmige Öffnungen fanden sich unterhalb des Giebels, das darüberliegende runde Rosenfenster mit dem rötlich schimmernden Glas kam aus Chaims Werkstatt. Erst vor einigen Jahren war ihnen der Bau ihres Bethauses gestattet worden. Jedoch nur unter der Bedingung, dass es nicht direkt an der Straße läge, sondern versteckt in einem Innenhof.

Haus der Beschnittenen wurde ihre Synagoge seitdem von den wohlwollenden Christen genannt. Brutstätte des Teufels war eine andere Bezeichnung, die auch jeder in der Stadt verstand.

Chaim hatte sich gerade dem hohen Eingang ihres Gotteshauses mit den drei breiten Treppenstufen zugewandt, da kam ein Junge aus dem Torbogen zur Lorscher Gasse gerannt. Ein etwas jüngeres Kind folgte dem Buben mit ein paar Schritten Abstand.

»Isaak, ich krieg dich!«, schrie der Jüngere.

»Versuch es doch, Aaron, du Zwerg«, rief Isaak zurück. »Lahmer Zwerg, lahmer Zwerg. Versuch’s doch, versuch’s doch!«

Während des Laufens hatte sich Isaak zu seinem Bruder umgedreht. Es schien, als wolle er den Abstand zu Aaron genau abstimmen. Einerseits sollte sein kleiner Bruder die Verfolgung nicht mutlos aufgeben, andererseits wollte Isaak genug Distanz bewahren, um dessen Knüffen nicht ausgesetzt zu sein. So bemerkte Isaak den Pferdewagen nicht, der mit Speisen und Getränken für die Hochzeit beladen war. Der Kutscher war abgestiegen und bemühte sich, das Gefährt unter den Kran zum Abladen zu bugsieren, sodass die vielen Säcke, Fässer und Kisten endlich im Keller eingelagert werden konnten.

Zunächst drückte er das breite Hinterteil des Pferdes nach vorn, rannte dann fluchend zum Kopf des Tieres und drängte es wieder nach hinten. Das arme Geschöpf wieherte und versuchte, aus den widersprüchlichen Anweisungen des Mannes schlau zu werden. So war der Blick des Wagenführers auf das Pferd und den Kran gerichtet und nicht auf den rennenden Isaak.

Der Rabbi sah das Unglück herannahen. Im allerletzten Augenblick zog er Isaak von dem großen Wagen weg.

Chaim schnaufte. Es hätte nicht viel gefehlt, und der Junge wäre von dem eisenbeschlagenen Rad zermalmt worden.

Langsam beruhigte sich der Herzschlag des Rabbis. Er nahm den Buben auf seinen Arm und ging auf Aaron zu, der vor Schreck auf den Boden geplumpst war. Dabei sprach Chaim streng auf Isaak ein: »Du musst nach vorne schauen, wenn du läufst. Guck, der Wagen dort wäre fast über dich …«

»Isaak, Aaron, rennt doch nicht weg! Ich habe Orli und Bela bei mir, ich kann nicht so schnell«, unterbrach ihn eine kräftige Frauenstimme. Da kam auch schon die Mutter der beiden durch den Torbogen herbeigeeilt. Ihren Säugling Bela trug sie eingebunden in einem Tuch vor der Brust. Die einjährige Orli thronte aufrecht, ebenfalls in ein Tuch gewickelt, auf dem Rücken der Mutter.

»Schalom, Rachel. Hier sind deine beiden Lausbuben«, grüßte Chaim.

»Schalom, Rabbi Chaim, gut, dass ich dich treffe«, brachte Rachel hervor, vom Laufen atmete sie noch schwer. »Hast du einen Moment Zeit?«

Die kleine, kräftige Frau kratzte sich verlegen mit der linken Hand den Nacken. Gleichzeitig zupfte sie mit der rechten ihr abgewetztes Leinenkleid zurecht, an dem ein Riss an der linken Schulter zwar sichtbar, jedoch sorgfältig zugenäht war.

Chaim lächelte freundlich. Er konnte Rachel gut leiden, auch wenn er ab und an über ihre mit manchem Aberglauben gespickte Gottverbundenheit schmunzeln musste. Die Länge des Bartes ihres Mannes Zacharias, dessen Haut doch so empfindlich sei, war Gegenstand langer Erörterungen gewesen. War die Anweisung aus dem neunzehnten Kapitel des Levitikons, den Bart nicht zu stutzen, nun ein Gebot oder ein Verbot? Und falls es ein Verbot war, wie schwer würde das Kratzen in Zacharias’ Gesicht gegenüber Gottes Willen wiegen? Rachel hatte auf einer Klärung des Sachverhaltes von höchster Stelle bestanden. So hatte diese Frage schließlich selbst den Rat beschäftigt.

Chaim unterdrückte ein Seufzen bei der Erinnerung an all die haarspalterischen Diskussionen. Insbesondere Rabbi Mosche liebte es, sich in solchen Details zu ergehen. Mit welcher Geduld sein älterer Kollege Rachel damals zugehört und alle Aspekte des Bartwuchses und Kratzens ihres Mannes beleuchtet hatte. Da war kein Zweifel: Diese stolze Frau führte ihr bescheidenes Heim nach allen Regeln der jüdischen Sitte. Nun stand sie vor ihm, ihre Haare quollen unter dem halb gelösten Kopftuch hervor, und dicke Schweißperlen standen ihr auf der Stirn.

Eine Unterhaltung mit Rachel könnte lange dauern, dazu hatte Chaim jetzt wirklich weder Lust noch Zeit. Der Domdekan Raimund würde bald in die Synagoge kommen, und Chaim wollte unbedingt den Psalm studieren, den sie gerade bearbeiteten, schließlich war Raimund immer bestens vorbereitet. So antwortete er: »Nein, Rachel, jetzt ist es gerade nicht so gut. Ich muss dringend in die Synagoge.«

»Bitte, Rabbi Chaim, du musst mich anhören. Gestern Nacht ist Zacharias nicht nach Hause gekommen«, insistierte Rachel, während die kleine Orli fröhlich mit ihren Fingerchen am Bindeband des Kopftuchs ihrer Mutter spielte.

»So? Wo wollte Zacharias denn hin?«

»Er ist mit seinem Handwagen frühmorgens Richtung Guntzinheim losgezogen. Am Nachmittag wollte er aber schon zurück sein.« Rachel musste Orlis Hände festhalten, die nun kräftig an ihrem Haarband zogen. »Meister Wendel wollte ihm doch endlich das Geld für die sieben Felle geben, die er vor vier Wochen auf Vorschuss von Zachi erworben hatte. Der Schuster wollte aus dem Leder Schuhe machen und uns dann von dem Erlös bezahlen.«

»Vielleicht ist die Deichsel seines Wagens gebrochen und Zacharias musste unterwegs übernachten.«

»Es ist noch nie passiert, dass er über Nacht nicht heimgekehrt ist«, erwiderte Rachel empört.

Chaim erwog die Möglichkeiten, was geschehen sein könnte. Dass der Trödel- und Kleinwarenhändler nicht heimgekommen war, konnte Tausende von Gründen haben. Jedoch war gerade ein Jude außerhalb des Walls in Gefahr. Die Mauern der Stadt boten Schutz vor Tieren, Wegelagerern und Ausgestoßenen, besonders bei Nacht. Und neuerdings gingen Gerüchte um, dass aufgewühlte Christen sich zu Heeren zusammenrotten würden. Rachels Sorge hatte also einen guten Grund.

Aber was soll ich jetzt machen?, dachte Chaim in seiner Ungeduld. Isaak zappelte auf seinem Arm und der Kutscher war nach wie vor gefährlich am Manövrieren. Er wollte den Jungen daher nicht loslassen. Deshalb fragte er Rachel: »Hast du genug Geld bis morgen?«

Der kleine Aaron war mittlerweile aufgestanden und zog an der linken Hand seiner Mutter. Rachels Blicke wechselten zwischen dem Jungen und Chaim hin und her. Gleichzeitig versuchte sie, mit ihrer Rechten Orli zu beruhigen. »Fünf Silberschillinge hat uns Meister Wendel versprochen. Mittlerweile können wir uns nicht mal mehr Brot kaufen. Zachi war so froh, dass wir nun endlich das viele Geld erhalten würden, das uns der Schuster schuldet.«

Chaim brannte es unter den Füßen, aber er musste der armen Frau helfen. Wenn er Rachel jetzt Geld gäbe, würde er dies jedoch nur unter größten Mühen aus der Armenkasse der Gemeinde zurückbekommen. Dazu brauchte es seit Neuestem die Zustimmung des Rates. Eine reine Formsache in diesem Fall, aber die Zustimmung musste vor der Auszahlung gegeben werden. Chaim fühlte einen Groll gegen diese völlig unnötige Vorschrift in sich aufkommen, dem er nun jedoch keinen Raum geben wollte. Ach, was soll’s, dachte er. Sobald es mit Zacharias’ kleinem Geschäft wieder aufwärtsginge, würde Rachel ihm das Geld unaufgefordert zurückzahlen. Sie würde ihn daran erinnern, wenn er das Ganze längst schon wieder vergessen hätte.

Er wandte sich an den Jungen auf seinem Arm. »Isaak, du musst jetzt brav deiner Mutter folgen, versprichst du das dem Rabbi Chaim?«

Der Junge, der inzwischen an Chaims Schläfenlocken Gefallen gefunden hatte und daraus kleine Zöpfe drehte, nickte gehorsam.

Chaim ließ Isaak hinunter, holte einen Lederbeutel aus seinem Wams hervor, nahm zwei Münzen heraus und legte sie auf seine flache Hand. »Rachel, ich muss jetzt wirklich gehen. Bitte nimm die zwei Pfennige und kauf Brot und auch etwas Wurst für dich und deine Kleinen. Wahrscheinlich gibt es für alles eine ganz einfache Erklärung.«

Rachel schaute Chaim zweifelnd an, sodass der hinzufügte: »Dein Mann kommt sicher bald wohlbehalten zurück. Du darfst das Böse nicht an die Wand malen, sonst kommt es von selbst.«

Bei dem Wort Böse schreckte Rachel unvermittelt zurück. Derweil zogen sowohl Isaak als auch Aaron an Rachels Arm. Sie schaute auf die zwei Münzen in Chaims Hand. Nun fing auch noch die kleine Bela zu schreien an.

Zögernd nahm Rachel das Geld an sich. »Danke, Rabbi Chaim. Ich gebe dir alles zurück, sobald Zacharias wieder zu Hause ist und wir das Geld von Schuster Wendel erhalten haben.«

»Ist schon gut, Rachel. Das hat keine Eile.«

»Kannst du dem Parnas sagen, dass mein Mann nicht nach Hause gekommen ist?«

»Es tut mir wirklich leid, ich muss jetzt gehen. Schalom.« Mit diesen Worten ließ er Rachel und ihre vier Kinder stehen und eilte zum Eingang der Synagoge.

Dort angekommen schlug Chaim das in weiches Leder eingebundene Buch der Psalmen auf und atmete den vertrauten Geruch des kostbaren Pergaments ein. Und während er sich an den wie Perlen aufgereihten Buchstaben und den feinen Bildern erfreute, die sich wie Efeu um die hebräische Schrift rankten, verflüchtigte sich jeder Gedanke an Rachel und ihren Mann.

*

Mainz – Bischofspfalz, im Schlafraum des Domdekans

Es war eine hohe Kunst, sich der schwarzen Soutane der Benediktiner zu entledigen. Die weiße Kordel mit den zehn Knoten hing bereits am Haken an der Tür. Mit der Gewandtheit jahrzehntelanger Übung griff Raimund mit beiden Händen über Kreuz den schweren Stoff auf Schulterhöhe, beugte sich nach vorn, zog sich zunächst das enge Rückenteil über die Schultern und dann den weiten Rest der Kutte. Dabei vermied er jegliche Berührung des Stoffes mit dem kargen Steinboden seiner Zelle.

Nun stand er da, mit nacktem Oberkörper, nur die weiße Bruoch bedeckte seine Blöße.

Er sah an sich hinunter. Im Gegensatz zur Mehrzahl seiner Mitbrüder hatte er seinen schlanken Körper bewahrt. Die straffe Ordnung des klösterlichen Tagesablaufes war für ihn seit jeher eine wohltuende Stütze, daher musste er die Monotonie des Mönchslebens nicht durch Sinnesfreuden kompensieren. Von dem meist reichhaltigen Klosteressen nahm er nur in Maßen. Aber am Sonntagabend beim geselligen Gespräch mit seinen Brüdern genoss er es, einen Becher Wein zu trinken. Das Kloster am Jakobsberg war allseits bekannt für seine Vinifikation, die sich der roten und weißen Reben von den Hängen der zwei großen Flüsse bediente, die in seiner Stadt zusammenfanden.

Sein Weg sollte ihn heute Mittag zur Synagoge führen. Dabei war es angeraten, unverdächtige Kleidung zu tragen. Schon aus Respekt vor jüdischen Besuchern. Denn obwohl Raimund und Rabbi Chaim für ihr Treffen die Mittagszeit ausgemacht hatten, in der kaum mit Anwesenden zu rechnen war, galt es, vorsichtig zu sein. Die Synagoge stand jederzeit allen in der Gemeinde offen, Gott war schließlich immer da. Und ebenso das Bedürfnis, mit ihm in Kontakt zu treten, hatte Chaim erklärt.

Aber auch christliche Stadtbewohner könnten Anstoß nehmen an einem Mönch auf dem Weg in das Viertel, in dem vorwiegend Juden wohnten, und dies umso mehr, nachdem man ihn im letzten Jahr zum Domdekan bestimmt hatte. Daher schlüpfte Raimund in das grau-grüne Wams, das auf der Pritsche bereitlag, obwohl es nur ein kurzer Fußweg von der Bischofspfalz neben dem Sankt-Martins-Dom zur Synagoge war. Und trotz der seit Wochen andauernden Hitze entschied er sich, auch die Gugel auf dem Kopf zu tragen.

Raimund hängte die Mönchskutte an den Haken zu der Kordel, öffnete die schwere Holztür und schritt an den geschlossenen Zellentüren seiner Mitbrüder vorbei. Das Klappern seiner Sandalen gab den Takt zum Zirpen einer Meise, blühende Rhododendren im menschenleeren Innenhof verbreiteten einen bleiern-süßen Duft. Wenn es so warm war, bevorzugten die Mönche ihre kühlen Zellen zur Mittagsruhe.

Er schritt an dem Kaiserhaus vorbei, in dem der Herrscher über das Frankenreich und seine Fürsten weilten, wenn sie sich zu einem Hoftag in der Mainzer Bischofspfalz versammelten. Heute vermied es Raimund, die Pfalz durch die große Pforte zum Marktplatz zu verlassen. Daher wählte er nicht den direkten Weg über den Michaelishof mit den Ställen und Verwaltungshäusern, sondern wandte sich zum Bischofspalast zu seiner Linken, der einen direkten Zugang zum Dom bot. Er schritt durch die Pforte mit den zwei Säulen und trat in eine große Halle ein.

Langsam gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit, ließen die schmalen Fenster hoch oben in dem Mauerwerk doch nur wenig Licht hinein. Ein Bildnis Heinrichs IV. auf der gegenüberliegenden Seite nahm zögerlich Gestalt an. Eine weite marmorne Treppe teilte sich nach links und rechts und ließ so Raum für das mannshohe Wandbild des Kaisers. Der stand dort jedoch etwas verloren zwischen all den gerahmten Gesichtern der Geistlichkeit: Seit einigen Jahren prangten Bischof Ruthards zweiundsiebzig Vorgänger an den Wänden hoch über dem Bildnis des Kaisers.

Raimund entschied sich für die rechte Treppe. Oben angekommen blickte er durch ein kleines Fenster in Richtung Michaelishof, wo er die Spitze des alten Wohnturms durch die enge Öffnung erspähen konnte. Obwohl der mächtige Turm von außen sehr robust wirkte, wusste Raimund, dass dessen Inneres in einem erbärmlichen Zustand war. Feuchte hatte sich in alle Winkel eingeschlichen, das Holz war modrig geworden und verbreitete einen muffigen Geruch. Er hatte den Turm als sicheren Lagerplatz für bedeutende Dokumente im Auge, war jedoch mit Bischof Ruthard bisher nicht bezüglich der vorher notwendigen Renovierung übereingekommen. Raimund seufzte kurz, wandte sich nach rechts und passierte den Empfangsraum des Bischofs, vor dem wie immer eine Wache stand. Der lange Gang war ausgefüllt mit goldenen und silbernen Monstranzen, die sorgsam auf Tischen aufgereiht waren. Dazwischen beäugten hölzerne Heilige die Vorbeigehenden, als wären sie vom Himmel abgestellt worden, die kostbaren Reliquien zu bewachen.

Über eine Holzbrücke ging es von dem Bischofspalast hinüber in den Dom.

All die Pracht der Pfalz konnte leicht vergessen machen, dass man sich in einer Festung befand. Neben dem gut gesicherten Tor zum Marktplatz war dieser Übergang die einzige Verbindung nach draußen. Erst letztes Jahr hatte Bischof Ruthard die weitaus prachtvollere Steinbrücke abreißen und durch diese schlichte einziehbare Holzkonstruktion ersetzen lassen. So konnte nun ein Ansturm vom Dom her vereitelt werden. Bei Gefahr verschluckte die Pfalz die Schubbrücke und die Angreifer stünden machtlos vor einem gähnenden Abgrund.

Eine kleine Tür führte in den Altarraum des Domes, durch die er mit seinen Mitbrüdern soeben erst vom Gebet zur Sext gekommen war. Das Mittagslicht zeichnete Streifen in den majestätischen Raum. Christus, ans Kreuz genagelt, blickte stumm auf die wenigen Betenden hinunter. Ein Kranz von Sonnenstrahlen umgab den Körper des Herrn, der, von der Marter seltsam unberührt, hoch über den Menschen schwebte.

Trotz all seiner Bewunderung für die hohe Baukunst empfand Raimund eine merkwürdige Beklemmung angesichts dieses Wahrzeichens erzbischöflicher Macht. Deutlich wohler war ihm in der viel bescheideneren Johanniskirche, die wenige Schritte westlich des Domes innerhalb der Pfalz lag. Dort, vor dem unscheinbaren Bild des Sämanns, der Gottes Botschaft vertrauensvoll über das weite Feld verstreute, betete er am liebsten.

War es, weil auch seine Eltern Bauern waren? Wie so oft tauchten Erinnerungen an seine Mutter ganz unverhofft in seinem Bewusstsein auf. In ihrem erdfarbenen Kleid sah er sie beim Melken der Kühe auf einem Schemel. Sie hielt ihm die noch warme Milch in einem grob geschnitzten Holzbecher an den Mund, aus dem er gierig trank. Der vertraute mütterliche Geruch und der süßliche Geschmack der frischen Milch, die seine Kehle hinunterlief, waren die sinnlichsten Momente eines Kindesglücks, welches einmal da gewesen sein musste. Das war, bevor er als Sechsjähriger in das Kloster auf dem Jakobsberg jenseits der Stadtmauer gebracht worden war. Seitdem hatte er seine Mutter nicht mehr gesehen.

Vermutlich lebte sie nicht mehr, die Bauern hier wurden nicht alt.

Am Ausgang des Doms zog er die Gugel tief ins Gesicht. Schnell schritt er an dem mächtigen Tor zur Bischofspfalz vorbei, hinein in die Straße zum Flachsmarkt, die in Mainz nur die »Lange Gasse« genannt wurde. Aus den zweistöckigen Häusern links und rechts drangen Stimmen, Kinderschreien und -lachen, deftiges Fluchen und das ein oder andere Tischgebet. Nur vor einigen der vielen Läden waren Waren ausgestellt. Er kam zügig voran auf dem sonst so geschäftigen, jedoch in der heißen Mittagszeit fast menschenleeren Weg.

Vor dem Flachsmarkt bog Raimund nach links ab in die Lorscher Gasse und ging auf einen weiten Torbogen zu. Der Durchgang zum Synagogenplatz führte durch eines der wenigen Steingebäude in Mainz, in denen keine Gottesdienste gefeiert wurden, sondern die ausschließlich als Wohnstätten dienten. Auf der rechten Seite des Durchgangs stand Frau Hendlein zwischen den Auslagen ihres Geschäftes. Die Gattin des wohl tüchtigsten Kaufmanns von ganz Mainz grüßte Raimund, indem sie die Hände auf die Brust legte und sich verbeugte. Sie trug ein Kleid aus einem der leuchtenden orientalischen Stoffe, die bei den Städterinnen heiß begehrt waren.

Raimund antwortete mit einem kurzen Nicken und warf einen Blick auf die Auslagen. Neben einem Tischchen mit feinen Lederhandschuhen stand eine marmorne Madonna aus Italien. Marderfelle hingen an einem Haken in der Tür, und in einer Vielzahl von Schalen waren bunte, herrlich duftende Gewürze aus fernen Ländern ausgestellt, die im Rheintal nicht gedeihen wollten. Sogar eine vergoldete Amphore stand neben einem kupfernen Kessel, der aus Afrika zu kommen schien.

Raimund schritt unter dem Torbogen hindurch und blickte auf das Haus aus hellbraunem Sandstein mit dem hohen Giebeldach in der Mitte des Platzes. Die rundliche Ausbuchtung in der Mitte der Hauswand zeigte die Stelle an, an der sich im Inneren der Torahschrein befand. Darüber thronte das runde Rosenfenster aus rötlich schimmerndem Glas. Ein Fuhrmann lud mit einem Kran die letzte Kiste seiner Ladung ab.

Er hatte sich mit Chaim in dem kleinen Holzanbau zur Linken der Synagoge verabredet.

*

Auf einem Acker nahe Gerstendorf

Ruhig und stetig zog das braune Kaltblut voran, dem trockenen Boden unter ihm zum Trotz. Lenes dunkler Schweif baumelte gemächlich über ihrem breiten Hinterteil. Der Pflug riss eine neue Furche, drei Handbreit neben der, die sie zuvor gezogen hatten. Lene wusste von selbst, wie sie sich bewegen musste, locker lag die Leine über Peters Schulter.

Wegen der Härte des Bodens musste er den Pflug fester halten, als es sonst notwendig war. Immer wieder wollte das Schar ausbrechen, manchmal nach links, in das unbearbeitete Feld, manchmal nach rechts, in eine der Furchen, die sie bereits gezogen hatten. Und Peter musste auch darauf achtgeben, dass er nicht hängen blieb an den großen Steinen, die sich auf dem Feld wie Sterne am Himmel verteilten, denn sonst könnte der eiserne Meißel beschädigt werden.

Er wischte sich den Schweiß aus der Stirn. Seit dem frühen Morgen hatten sie bereits geschuftet und erst ein paar Dutzend Furchen waren gezogen. Der Acker auf dem Rücken des Hügels schaute ihn mitleidlos an.

Wenn er schon pflügen sollte, dann nur mit ihrer Stute Lene, hatte er heute Morgen am Tisch in der Stube gefordert. Vater war einverstanden gewesen. »Nimm sie nur, ich habe heute im Stall zu tun. Pass aber auf, dass das Kumt richtig um ihren Hals liegt, damit sie genug Luft bekommt.« Diese Bemerkung seines Vaters hatte ihn geärgert. Als ob er das nicht selbst wüsste.

Am Ende des Feldes angekommen, lockerte Peter seine verkrampften Schultern. Weil er stetig auf den schwarzbraunen Boden hatte schauen müssen, tat es ihm gut, den Blick schweifen zu lassen, entlang des grünlich schimmernden Flusses und über die Hügel jenseits des Ufers. In weiten Bögen wand sich der Rhein durch die Landschaft. Ruhig floss er daher, von Speyer über Worms und schließlich bis nach Mainz, so wusste es Peter aus den Erzählungen seiner Eltern. Doch die drei großen Städte lagen verborgen hinter Hügeln.

Ach, wie gerne würde er Mainz einmal sehen. Der Turm der großen Kirche sei so hoch, dass er die Wolken kitzle. Das hatte ihm einmal ein altes Weib aus Gerstendorf erzählt, wohin sie jeden Sonntag zur Messe gingen.

Die Konturen des Rheintals verloren sich in der Ferne, verschluckt vom Dunst am Horizont. Aus den Wäldern auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses streckte sich der Turm der Burg Oppenheim wie der Kopf eines Rehs hervor. Etwas unterhalb der Burg mühte sich ein Bauer hinter einem Ochsen über ein Feld. Immer wieder ließ er den großen Stock auf das Tier niederfahren. Gut, dass er die folgsame Lene hatte, dachte Peter.

Ein Fährboot lag auf der anderen Rheinseite halb auf dem Ufersand, der Ferge ruhte in seinem Schatten.

Nur ganz selten war Peter mit dieser Fähre zum großen Markt in Oppenheim über den Rhein gefahren. Meist zusammen mit der Mutter und mit Gänsen und Hühnern, Zwiebelsäcken und ein paar Kisten Kohl. Zu zweit zogen sie dann frühmorgens den schweren Holzwagen den Berg hinauf in die Stadt. Angekommen am Tor zum Markt legte sie ihm gewöhnlich die Hände auf die Schultern und lobte ihn seiner gewachsenen Kräfte wegen.

Heute warteten lange Stunden der Plackerei auf ihn, und trotzdem würden sie erst in ein paar Tagen mit dem Acker fertig werden. Peter seufzte. Lenes große, freundliche Augen blickten ihn fragend an. Zärtlich streichelte er über ihren struppigen Hals und flüsterte ihr zu: »Komm, Lene, wir gehen zur Wasserstelle und ruhen uns im Schatten der Bäume etwas aus.«

Lene nickte mit ihrem zotteligen Kopf. Peter spannte den Pflug ab, und so trotteten sie gemeinsam zu dem kleinen Wäldchen am Feldrand. Nochmals richtete Peter seinen Blick in die Ferne in Richtung Worms. Eine außergewöhnlich große Staubwolke fiel ihm auf. Sie kroch zum Himmel empor, dort, wo der Rhein sich hinter dem lang gestreckten Hügel versteckte. Es ist doch kaum ein Wind zu spüren, wunderte sich Peter.

An der Baumgruppe angekommen, zog es Lene sofort zu dem kleinen Bach. Bald scharrten ihre Hufe durch den steinigen Grund, während sie das frische Wasser gierig einsaugte. Auch Peter genoss das kühle Nass, das er aus seinen Händen schlürfte.

Nachdem sein erster Durst gestillt war, nahm er den großen Ledersack aus Ziegenfell von Lenes Rücken, zog den Korken aus dem hölzernen Mundstück, lehrte den Schlauch aus und ließ das frische Wasser des Baches hineinlaufen. Er lehnte sich an eine große Linde und nahm eine der getrockneten Pflaumen, die ihm seine Mutter am Morgen mitgegeben hatte, aus dem Beutel, den er am Gürtel trug. Saftig und süß, so mochte er es. Bald würde auch sein kleiner Bruder mit dem Essen kommen.

Peter liebte diesen Platz, den er in den Pausen aufsuchte, wann immer er in der Nähe arbeiten musste. Von hier aus konnte er in aller Ruhe das Geschehen auf dem Treidelweg auf der anderen Seite des Flusses beobachten. Heute zogen zwei kleine Händlergruppen am Fluss entlang. Ein schwarzer Ochse war vor den ersten Wagen gespannt, ein massiger Ardenner zog den anderen. Ein Reiter auf einem stolzen Hengst forderte mit ausholenden Armbewegungen, dass man ihm Platz machte.

Flussabwärts trieben zwei Schiffe in Richtung Mainz. In Gegenrichtung mühten sich ein Mann und ein Mädchen, eine kleine Barke an langen Leinen zurück nach Worms zu treideln. Ach, auf einem Schiff zu arbeiten, das wäre schön. Dann könnte man sich ausruhen, wenn es den Fluss hinunterging.

Ein leises Rauschen meinte Peter zu vernehmen, ein Rumpeln und Poltern in der Ferne, aus der Richtung dieser seltsamen Wolke, die näher gekommen war. Unvermittelt stand der Ferge auf und schaute flussaufwärts. Hastig schob er sein Boot in das Wasser, steuerte mit kräftigen Schlägen in den Fluss und ruderte herüber auf die hiesige Seite.

*

Mainz – im Anbau der Synagoge

Beim Eintritt in den Anbau der Synagoge schlug Raimund der Duft von frisch gebackenem Brot entgegen. Jehudith, die Frau des Rabbis, winkte ihm mit einer mehligen Hand zu. Auch ihre Schürze und Arme waren ganz bestäubt von dem hellen Puder. »Mein Mann erwartet dich bereits. Er brütet in der Synagoge über dem Text, den ihr heute übersetzen wollt.«

Raimund zog sich die Gugel von seinem Kopf und verbeugte sich vor der Frau seines Freundes. Auf einem Tisch neben dem Ofen lag ein großer heller Teigklumpen, in den sie mit der Faust ihrer rechten Hand ein Loch drückte. Aus einem Tonschälchen goss sie eine gräuliche Masse in das Loch hinein und schlug den Teig darüber zusammen. Flink kneteten Jehudiths Hände die zähe Masse, mit kräftigen Bewegungen walkten ihre Handballen wieder und wieder in den Teig hinein. Dann streute sie Mehl auf den Tisch und drückte den Klumpen flach, um den Fladen nochmals zusammenzuschlagen und in rhythmischen Bewegungen weiter durchzukneten.

Fasziniert beobachtete Raimund das geschickte Spiel von Jehudiths Händen. Nach einer Weile der Stille blickte sie ihn fragend an. »Warum schaust du so interessiert, wenn ein Weib seine Arbeit verrichtet?«

»Entschuldige bitte, Jehudith«, erwiderte Raimund. »Aber kennst du das Gleichnis vom Sauerteig? Daran musste ich denken.«

»Nein, das kenne ich nicht.«

Da ertönte eine warme Stimme aus der Tür, die zur Synagoge führte. »Das Himmelreich ist gleich einem Sauerteig, den ein Weib nahm und unter drei Scheffel Mehl vermengte, bis es ganz durchsäuert ward.«

Chaim kam mit ausgebreiteten Armen auf Raimund zu. Seine großen wachen Augen über dem buschigen Bart schauten ihn freundlich an. »Raimund. Wie schön, dich zu sehen.«

»Dein Wissen über unseren Herrn beeindruckt mich immer wieder.« Raimund streckte seine Hand aus, die Chaim, das Angebot der Umarmung dezent zurückstellend, herzlich ergriff.

»Danke. Gerade gestern habe ich in den Berichten eurer Evangelisten gelesen. Ich mag es sehr, wie euer Herr seine kleinen Geschichten erzählt wie die vom Sauerteig. Ganz schlicht und doch verwirrend schön. Dann denke ich, da spricht ein Jude zu mir, rätselhaft und geheimnisvoll«, schwärmte Chaim und fügte dann ernst hinzu: »Aber du weißt, ich kann nicht glauben, dass Jesus Gott ist. Gott will nicht, dass man ihn teilt.«

Auch wenn Raimund das sehr wohl wusste, versetzte es ihm doch einen kleinen Stich ins Herz. Er hatte seinem Freund eine Funktion als Berater der Kurie zu Fragen des Alten Testaments vermittelt. Dies war sowohl für ihn selbst als auch für Chaim von Vorteil, konnten sie doch so ihre religiösen Gespräche unter einem Mantel der Legalität verbergen. Und natürlich hatte er gehofft, seinem Freund ein wenig Verständnis für die Göttlichkeit Jesu abzugewinnen, die seit dem Konzil von Nicäa vor mehr als siebenhundert Jahren ein kirchliches Dogma war. Aber in diesem Punkt gab Chaim keine Haaresbreite nach. So schaute Raimund nun ein wenig enttäuscht auf Jehudiths Hände, die in emsiger Beharrlichkeit den Teig weiterbearbeitete.

»Mein Freund, da ist ganz viel Gutes in dem, den ihr euren Heiland nennt«, fügte Chaim in versöhnlichem Ton hinzu. Er schloss die Augen und sprach langsam, als wolle er sich jedes Wort auf der Zunge zergehen lassen: »Das Himmelreich ist gleich einem Sauerteig, den ein Weib nahm und unter drei Scheffel Mehl vermengte, bis es ganz durchsäuert ward. Wahrlich, dieses schöne Gleichnis hätte einen Platz auch in unserem Talmud verdient.«

Jehudith kicherte. »Ganz gewiss arbeite ich für das Reich Gottes, denn ich bereite das Essen für die Hochzeit meiner Schwester Sarah vor. Fast die ganze Gemeinde wird am Sonntag hier erscheinen. Geht ihr nur euren geistigen Beschäftigungen nach, während ich mich um das Leibliche kümmere.«

»Höre ich da etwa eine Andeutung von Spott, mein Liebes?« Der Rabbi steckte seine Hände in die Seitentaschen seiner braunen Weste, die er über einem mit Stickereien verzierten Wams trug, zog die Augenbrauen hoch und blickte Jehudith an. Dabei musste Chaim sein Haupt nach oben richten. Seine Frau war einen halben Kopf größer als er.

»Ich will es so ausdrücken.« Jehudith legte von dem Teig ein daumengroßes Stück für das Opfer beiseite. »Wenn du mein Brot isst, dann ist es nur recht und billig, wenn du mir danach auch von den Früchten eurer Arbeit erzählst.«

An Raimund gewandt sagte Chaim schmunzelnd: »Du musst wissen, Jehudith mag die Psalmen sehr. Deshalb gefällt ihr deine Idee, sie zu übersetzen. Dann kann sie die Lieder Davids unseren Kindern nicht nur auf Hebräisch, sondern auch in unserer Alltagssprache vorsingen.«

»Du bist zu beneiden, ein solch kluges Weib deine Frau nennen zu dürfen«, antwortete Raimund.

»Nun aber genug der Schmeicheleien. Verschwindet aus meiner Küche und lasst eine einfache Frau ihre Arbeit verrichten. Sonst wird’s ein trauriges Hochzeitsfest am Sonntag werden!«, rief Jehudith lachend.

Freundlich, aber bestimmt schob Chaim seinen christlichen Freund zur Tür, die in die Synagoge führte.

*

Auf einem Acker nahe Gerstendorf

Da! Reiter auf schwarzen Pferden erschienen hinter dem Hügel auf dem Treidelpfad. Neben ihnen liefen einfache Soldaten. Peter sprang auf. Der Vorhut folgte ein Trupp Berittener mit weißen Fahnen. Er beschirmte seine Augen mit der Hand. Die großen weißen Banner mit dem roten Kreuz. Das mussten die heiligen Ritter sein!

Jetzt tauchte eine Kolonne Wagen auf. Peter kniff die Augen zusammen. Sie schienen mit allerlei Alltagsgerät beladen zu sein. Den Schluss der Karawane bildete Fußvolk. Aber bald kamen schon wieder neue Reiter. Ein wahrer Strom von Menschen, Pferden und Fahrzeugen quoll hinter der Biegung des Rheins hervor.

Seit letztem Jahr schwärmte der Pfarrer von den Gotteskämpfern! Und ganz verrückt vor Aufregung waren die Kinder im Dorf. Befreit Jerusalem, Gott will es, hatte der Papst gefordert. »Jerusalem, Jerusalem, wir befreien Jerusalem!«, riefen die Jungen und Mädchen seit Neuestem, während sie mit Stöcken um den Teich liefen. Und die Alten beklatschten das Treiben ihrer Kinder.

Sogar von Zeichen wurde seit einiger Zeit im Dorf gemunkelt. Ein Komet mit einem Schweif wie ein Schwert hätte sich am Himmel gezeigt. Auch zwei himmlische Reiter wurden geschaut. Einer mit einem großen Holzkreuz, der andere mit einem krummen Säbel. Und, so hatte es der Pfarrer berichtet, der Säbelträger wurde von dem Kreuz zermalmt, blutrote Wolken seien daraufhin am Himmel erschienen.

Peter schnalzte ungeduldig und Lene kam folgsam aus dem Bach getrottet. Er musste unbedingt ein Stück weiter das Feld hinauf, vielleicht konnte er von dort aus noch besser sehen.

Viele Menschen, viel mehr, als Peter je gesehen hatte, marschierten nun über den Handelsweg auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses. Immer näher kamen die Reiter an der Spitze des Zuges, viele in leuchtenden Kleidern und mit Schwertern. Echte Ritter! Daneben Knappen, die die Lanzen trugen. Vergessen war die Pflugschar. Peter ließ Lene am Feldrand grasen.

Eine Vielzahl von Karren, bunt durcheinandergewürfelt, von Ochsen und Pferden gezogen. Auf den meisten Wagen sah Peter lange Stangen. Zeltstangen! Das mussten Zeltstangen sein. Wie es wohl sein würde, mit Zelten zu lagern? Wild pochte Peters Herz. Je näher der Zug kam, desto deutlicher sah er, wie viele Pilger es waren. Dass es so viele Menschen auf der Welt überhaupt gab! Sapperlot! Und sie zogen an seinem Acker vorbei.

*

Mainz – in der Synagoge

Eine rote Rose vibrierte auf dem hell gekachelten Steinboden der Synagoge. Geheimnisvoll warf die Sonne ihr Licht durch das runde Giebelfenster mit dem rubinroten Glas. Die hohen weiß verputzten Wände ließen den Raum trotz der wenigen und schmalen Fenster licht und einladend erscheinen. Chaim geleitete Raimund an der achteckigen Bimah vorbei, auf der während des Gottesdienstes der Aufgerufene die heiligen Texte vortrug. Raimund bewunderte die fein ziselierten Bögen, von denen dieser erhöhte Bereich umgeben war. Doch wies ihn Chaim in einen Nebenraum, der sonst dem Talmudunterricht diente.

Wie so oft in den letzten Monaten standen sie gemeinsam an dem Lehrerpult. Raimund griff in sein Wams, entnahm ihm eine schlichte hölzerne Mappe und legte sie neben das in Leder eingebundene Buch, welches aufgeschlagen bereitlag. Ein kunterbunter Papagei umspielte mit seiner Laute die hebräischen Buchstaben, die mit höchster Präzision auf das kostbare Pergament geschrieben waren.

»Lass uns mit dem hundertvierten Psalm weitermachen, der Hymne der Schöpfung«, sagte Chaim. »Wir haben letzten Montag mit dem neunten Vers abgeschlossen.«

Raimund öffnete die Holzmappe, deren Innenseiten von einer honigfarbenen Wachsschicht überzogen waren. Links hatte er den Psalm aus der Übersetzung des großen Gelehrten Hieronymus eingeritzt. »Im zehnten Vers heißt es: Qui emittis fontes in convallibus inter medium montium pertransibunt aquae potabunt omnes bestiae agri expectabunt onagri in siti sua.«

»Dann lass uns auch im Sefer Tehillim nachschauen.« Chaim beugte sich über das Buch der Lieder und deutete auf eine der Zeilen. »Sieh, hier ist die Stelle.«

Chaims Finger fuhren von rechts nach links über eine Zeile mit den hebräischen Buchstaben, ohne das Pergament zu berühren. »Dort heißt es: Há-meschaléach ma’ajaním ba-nechalím, bejn harím jehalechún.«

»Leider sagen mir diese Zeichen nichts«, sagte Raimund mit Bedauern in der Stimme. »Aber im Hebräischen klingt es viel weicher als im Lateinischen. Es ist mehr ein Singen, selbst wenn du es sprichst.«

»Es sind ja auch die Lieder Davids«, antwortete Chaim schmunzelnd. »Nun sag schon, wie hast du es übersetzt?«

Raimund schaute auf die rechte Seite der Wachstafel.

»Auf Gottes Befehl hin füllen sich Auen aus den Quellen,

sie fließen zwischen Bergen,

die Tiere des Feldes trinken,

wilde Esel löschen ihren Durst.«

»Gut getroffen.« Chaim beugte sich nochmals über die Passage im Sefer Tehillim. »Im hebräischen Text steht in etwa: ›Der Quellen sich ergießen lässt zu Bächen, zwischen Bergen fließen sie.‹ Den Ausdruck Gottes Befehl, den sollte man vielleicht besser weglassen. Der Satz wird auch zu lang, und der Rhythmus geht verloren.«

Einen Moment lang schloss Chaim die Augen. Er kämmte mit seinen kräftigen Fingern durch seinen Bart und sagte schließlich: »Was hältst du von Du füllst Auen aus den Quellen.«

»Mmmmh, das gefällt mir gut.« Und nach einem Moment des Nachdenkens fügte Raimund hinzu: »So belassen wir es.«

»Der Rest stimmt ganz gut mit dem hebräischen Text überein, wobei man es vielleicht noch flüssiger ausdrücken kann.«

»Hast du einen Vorschlag?«

Chaim schloss erneut die Augen und sagte in einem leichten Singsang:

»Du füllst Auen aus den Quellen,

sie fließen zwischen saftig grünen Berghängen dahin.

Die Tiere des Feldes trinken,

wilde Esel löschen ihren Durst.«

»Saftig grün, ist das deine Erfindung?« Raimund sah auf den Text auf der Wachstafel. »Das steht jedenfalls nicht in der Vulgata. Kommt das im hebräischen Text vor?«

Abrupt öffnete Chaim die Augen und blickte auf das Buch vor sich auf dem Pult. »Nein, das steht nicht dort. Aber ich finde, es klingt so schön und man kann sich die Tiere des Feldes und die wilden Esel auf den grünen Hängen besser vorstellen.«

»Mhhh. Ich weiß nicht.« Raimunds Stirnfalten zogen sich zusammen. »Ich finde nicht, dass wir etwas hinzudichten sollten.«

»Du bist ja mal wieder richtig pedantisch!«, erwiderte Chaim unwirsch, wobei jedoch ein Lächeln seine Lippen umspielte.

»Es ist Gottes Wort, da kann man gar nicht vorsichtig genug sein«, antwortete Raimund ernst. »Aber lass uns einen Kompromiss schließen. Ich setze eine Klammer um saftig grün, dann können wir das später entscheiden, wenn wir den gesamten Psalm niedergeschrieben haben.«

Raimund nahm einen Griffel aus seinem Wams. Das eine Ende war zugespitzt und das andere abgeflacht. Mit Letzterem rieb er vorsichtig über das weiche Bienenwachs auf der rechten Innenseite der Mappe und die Schriftzeichen verschwanden. Dann drehte er den Griffel um und ritzte mit dem spitzen Ende den Text, den Chaim gerade vorgelesen hatte, in die Fläche ein. Sanft zog die Griffelspitze durch das weiche Wachs und die Buchstaben reihten sich in akkuraten Strichen und perfektenBögen aneinander.

Kritisch betrachtete Raimund das Geschriebene und reichte Chaim die Wachstafel. Der nickte wohlwollend beim Lesen und gab sie Raimund schließlich mit anerkennendem Blick zurück.

»Lass uns weitermachen.«

Raimund schaute auf die linke Seite der Mappe und las: »Im nächsten Vers heißt es: Super ea volucres caeli habitabunt de medio petrarum dabunt voces. Wie lautet es im Hebräischen?«

Das Tappen von Schritten riss die beiden Gelehrten aus ihrer Arbeit.

*

Auf einem Acker nahe Gerstendorf

Schier endlos schob sich der Menschenzug auf dem Treidelpfad dahin und immer mehr Gestalten strömten hinter dem Hügel hervor. Doch waren es kaum noch stolze Ritter auf Pferden mit ihren Knappen. Es waren Bauern mit Sensen und Spießen, Ochsenwagen, beladen mit Kisten, Säcken, Gänsen und Hühnern in ihren Käfigen. Mütter zogen ihre Kinder inmitten von Schweinen und Ziegen hinter sich her, Hunde rannten durch die Menge. Dazwischen schienen ein paar Mönche zu singen und zu tanzen.

Staunend beobachtete Peter das Treiben. Was für ein Schauspiel bot sich da direkt vor seinen Augen!

Sein kleiner Bruder Bernhard kam über den Rücken des Hügels gelaufen. Er hielt einen Korb in den Händen. »Peter, Peter! Mutter hat mich geschickt. Ich bring dir das Essen.«

Peter zeigte in Richtung des Treidelpfades. Für einen Augenblick blieb Bernhard stehen. Mit offenem Mund betrachtete er die Menschenmassen, rannte zu seinem älteren Bruder und zog ihn an der Hand. »Komm, komm, schnell nach Hause.«

»Das sind die kämpfenden Wallfahrer, die ins Heilige Land ziehen«, bemerkte Peter wissend. Er lächelte seinem Bruder zu. »Wollen wir uns die Jerusalempilger zusammen anschauen?«

Peter spürte den Druck von Bernhards Fingern in seiner Handfläche. Der Blick seines Bruders schweifte entlang des Rheins, dann schaute er Peter mit unsicheren Augen an. Der lächelte beschwichtigend. »Schau auf diese Menschen. Sie ziehen den weiten Weg in den Orient, weil der Herr der Kirche es von ihnen verlangt hat.«

Bernhard blieb bei seinem Bruder.

Sie inspizierten den Korb, den die Mutter für Peter gefüllt hatte. Ein halber Laib Brot war dort zu finden, eine große geschälte Zwiebel, zwei Äpfel, fünf Karotten und eine Tonschale mit Butterschmalz. Peter riss ein kleines Stück Brot ab und gab es Bernhard, nahm anschließend ein großes Stück für sich selbst, fuhr damit durch das weiche Schmalz und biss genussvoll hinein. Bernhard linste auf den kleinen Lederbeutel an Peters Gürtel. Der lachte, öffnete ihn und gab Bernhard eine Pflaume. Schmatzend lutschte sein kleiner Bruder an der dunkelblauen Frucht.

Bernhard lehnte sich an Peter an, der den Arm um ihn legte. Eng angeschmiegt saßen sie da. Peter spürte, wie das Auf und Ab des Brustkorbs seines Bruders langsam ruhiger wurde, die körperliche Nähe tat auch ihm gut.

Wie ein langer Wurm schlängelte sich die Prozession auf der anderen Seite des Rheins den Pfad entlang. Peter vergaß all die Köstlichkeiten, die Mutter für ihn mitgegeben hatte. Gemeinsam winkten sie den Menschen zu. Das ein oder andere Bauernkind erwiderte ihren Gruß.

Oder wollten sie die beiden zu sich winken? Riefen sie etwa: »So kommt doch mit, ihr zwei!« Oder war dies nur Peters Wunsch? Jerusalem, die Heilige Stadt. Peter war es, als wollten seine Füße den Berg hinunterlaufen. Bernhards Interesse richtete sich dagegen immer mehr auf den offenen Lederbeutel. Er stibitzte eine weitere Pflaume aus dem offenen Säckchen, aber Peter war so mit dem Treiben auf dem gegenüberliegenden Ufer beschäftigt, dass er seinen kleinen Bruder gewähren ließ.

Langsam steuerte der Ferge sein Boot zurück in Richtung des Ufers, an dem die Menschenmassen über den Treidelweg marschierten. Lene genoss derweil ganz unbeteiligt das frische Gras.

*

Mainz – in der Synagoge

Respektvoll näherte sich David, Jehudiths und Chaims Ältester. In seiner Hand hielt er eine Schiefertafel.

»Sei gegrüßt, David«, sagte Raimund, »wie geht es dir?«

»Entschuldigt bitte vielmals, dass ich störe«, antwortete David, »aber der Parnas hat mich gebeten, diese Nachricht eiligst meinem Vater zu übergeben.«

»Was will Kalonymos von mir?« Chaim stöhnte laut. »Kann das nicht warten? Du siehst doch, dass wir mitten in der Arbeit sind.«

»Er hat gesagt, es sei sehr dringend«, insistierte David und hielt ihm die Schiefertafel vors Gesicht.

Entschuldigend blickte Chaim zu Raimund, nahm die Tafel und las. Bereits nach wenigen Zeilen wurde er ganz ernst und wandte sich an seinen Sohn. »Was hat Kalonymos noch gesagt?«

»Er lässt ausrichten, dass sich der Rat augenblicklich bei ihm treffen soll. Er bittet darum, dass du dich beeilst.«

»Ich komme«, sagte Chaim. »Raimund, es tut mir leid, ich muss jetzt gehen.«

»Was ist passiert?« Raimund sah ihn besorgt an. Sein Freund konnte sich sicher denken, dass Streitfragen über Talmudauslegung oder innerjüdische Angelegenheiten nicht solcher Eile bedurft hätten.

»Es gibt beunruhigende Nachrichten aus Speyer.« Chaim wollte Raimund nicht vor den Kopf stoßen, aber er hatte eigentlich schon zu viel gesagt. Die Dinge, die im Rat besprochen wurden, mussten absolut vertraulich behandelt werden. Selbst Jehudith dürfte er eigentlich nichts davon erzählen. Aber in ihrem Fall überging er das strenge Gebot. Auf Jehudiths Verschwiegenheit konnte er sich verlassen. Um aus ihr etwas herauszubekommen, müsste man sie foltern.

Raimund schien sich über Chaims Situation im Klaren, daher unterbrach er die peinliche Stille und verbeugte sich. »Bitte lass mich wissen, wenn ich helfen kann.«

»Wir werden deine Hilfe vielleicht bald bitter nötig haben«, antwortete Chaim, erleichtert, dass sein Freund, der Domdekan, ihm vertraute, obwohl er sich so verhalten geäußert hatte.

Chaim zeigte auf ein zusammengefaltetes Leintuch neben dem Tehillim auf dem Pult und sagte: »David, möchtest du das Buch der Psalmen in das Regal zurücklegen? Du weißt ja, wohin.«

David nickte. Chaim sah noch, wie sein Sohn das Leinen nahm, es auf dem Pult auseinanderfaltete und das kostbare Buch auf den ausgebreiteten Stoff legte, den er schließlich sorgfältig über dem Leder zusammenschlagen würde.

Am Ausgang der Synagoge schaute Chaim nochmals hinter sich. Achtsam trug David den Tehillim zu dem kopfhohen Regal an der Seitenwand der Synagoge, in dem sich unzählige Schriftrollen, Bücher und andere Dokumente befanden, wohlgeordnet in verschiedenen Abteilungen. Eine süße Wehmut umfing Chaim, sein Vaterherz sehnte sich danach, dass auch David einmal ein Rabbi werden würde.

Chaim trat auf den Platz vor der Synagoge. Mit schnellen Schritten eilte er den kurzen Weg zum Haus von Kalonymos ben Meschullam, dem Vorsteher der jüdischen Gemeinde in Mainz.

*

Auf einem Acker nahe Gerstendorf

Letztendlich hatte Peter sich losreißen können und war zurückgekehrt zu seiner Arbeit auf dem Feld. Auch Bernhard war nach Hause gegangen, jedoch nicht, bevor er die letzte Pflaume aus Peters Beutel genommen hatte.

Die Ritter mit den Fahnen waren längst hinter der Flussbiegung in Richtung Mainz verschwunden, aber noch immer kamen Menschen von der Wormser Seite, jedoch weitaus spärlicher.

Die Fähre und ein kleineres Boot machten sich gerade daran, den Rhein zum hiesigen Ufer hin zu überqueren. Der Fährmann schob ein Ochsengespann auf seine Ladefläche. Der Wagen trug keinerlei Fracht, aber ein Ritter und sein Knappe gesellten sich zu ihm, nachdem der Ferge das Gespann unter großen Mühen eingeladen hatte.

In dem kleineren Boot saßen einige Mönche in braunen Gewändern. Ein Priester in einer feuerroten Kutte stand am Bug. Aufmerksam tastete der Blick des großen schlanken Mannes die Hügel des diesseitigen Ufers ab, ein großes silbernes Kreuz hing um seinen Hals. Nun schaute er genau in Peters Richtung. Nahm der Priester ihn wahr? Das Kreuz spiegelte das Sonnenlicht zu ihm herüber und eine Welle des Wohlbehagens durchfloss Peters Körper. Dann schweifte der Blick des Mannes weiter.

Das kleine Boot glitt über das Wasser.

Auf ihrer Seite angekommen, verteilten sich die Mönche in der Landschaft. Wie ein schmaler roter Strich zeichnete sich der Priester vor den grünen Wiesen und braunen Feldern ab. Langsam kleiner werdend, bewegte er sich einen Hang hinauf, bis er schließlich in einem Wald verschwunden war.

*

Mainz – auf der Langen Gasse

Speyer, hatte Chaim gesagt. In Gedanken versunken ging Raimund die Lange Gasse zurück zum Dom. Für den nächsten Morgen war Raimund beim Bischof einbestellt, zusammen mit dem Vogt. Ob das irgendetwas mit der Nachricht an Chaim zu tun hatte? Sein Freund schien seltsam reserviert und bekümmert. Raimund war so damit beschäftigt, sich einen Reim auf die ganze Sache zu machen, dass er beinahe mit einer Waschfrau zusammengeprallt wäre, die einen Zuber Wasser in den Rinnstein gießen wollte. Das Weiblein wollte schon zu einer Schimpftirade ansetzen, als sie den Domdekan trotz seines Wamses erkannte.

Raimund entschuldigte sich knapp. In seinem Kopf durchwalkte er die verschiedensten Möglichkeiten, wie es Jehudiths flinke Hände mit dem Sauerteig getan hatten. Wenn der Vogt involviert war, dann musste es um etwas gehen, das sich außerhalb der Bischofspfalz abspielte. Das gehörte nicht zu seinem Einflussbereich als Domdekan, das lag in der Verantwortung des Propstes. Raimunds Aufgabe bestand normalerweise nur in der Organisation des geistlichen Lebens innerhalb der Domdiözese.

Aber nun befand sich Dompropst Manfried seit einigen Wochen auf Reisen. Lange hatte sich der alte und wegen seines Pflichtbewusstseins allseits geschätzte Stiftskollege danach gesehnt, eine Pilgerreise zum Grab des heiligen Viktor in Xanten anzutreten. Seitdem musste Raimund den Propst vertreten.

Raimund stöhnte vor sich hin. Gerade er, dem das Machtpolitische gleichermaßen fremd wie zuwider war. Ein Empfang beim Bischof zusammen mit dem Vogt? Chaims besorgte Reaktion ließ Raimund mit noch größerem Unwohlsein auf das morgige Treffen blicken. Entsprechend beunruhigt trat er durch das Tor der Bischofspfalz, deren Wachen ihm erst den Weg versperren wollten, da auch sie ihren Domdekan in seinem Wams zunächst nicht erkannten. Erst jetzt bemerkte Raimund, dass er besser den weitaus diskreteren Weg durch den Dom über die einziehbare Holzbrücke genommen hätte.

*

Mainz – im Haus des Parnas

Noch bevor er klopfen konnte, wurde Chaim die Tür geöffnet.

»Sie warten schon auf dich, oben im Empfangsraum«, raunte ihm die Frau des Parnas zu. Sie war umgeben von einer Duftwolke, die Chaim für einen Moment irritierte. Auch Jehudith machte ab und an Gebrauch von Duftwasser, jedoch zu seinem Gefallen in einer weitaus dezenteren Art.

Beim Gang die Treppe hinauf bestaunte Chaim die Respekt einflößende Gleve, die an der Wand hing, als wolle sie den Weg zu dem großen Saal im ersten Stock weisen. Er widerstand der Versuchung, mit seinen Fingern die Schärfe der Klinge an der Seite dieser furchterregenden Lanze zu erfühlen. Mit seinen kindlichen Bewegungen hatte David, als er noch einige Jahre jünger gewesen war, seinem Vater anhand einer Gartenharke die mannigfaltigen Anwendungsmöglichkeiten dieses Mordinstruments vorgeführt. Selbst wenn der erste Stich mit der Spitze sein Ziel verfehlen sollte, hatte ihm sein Sohn damals stolz erklärt, könnte man immer noch die Klinge als Haken benutzen und den Gegner durch eine schnelle Zugbewegung umreißen. Mit dem zwei Handbreit langen Schlagdorn, der der Klinge gegenübersaß, ließ sich dann auf den hilflos am Boden liegenden Körper einhacken. Selbst die härtesten Panzerungen würden dem nicht standhalten, hatte David geschwärmt.

Legenden kreisten um diese Waffe des Geschlechts der Kalonymos: Kaiser Otto II. habe diese Waffe dem Ururgroßvater des Parnas vermacht. Dieser habe dem Kaiser das Pferd geschenkt, auf dem er nach der Schlacht bei Cotrone vor den Sarazenen flüchten konnte. Aus Dank habe der Kaiser die Familie aus Lucca eingeladen, sich in Mainz niederzulassen. Dies sei der Anfang ihrer nun so stolzen Gemeinde am Rhein gewesen, so die Legende.

War es Kalonymos selbst, der diese Geschichten verbreitete? Oder waren sie Teil der Überlieferungen, die Menschen befähigten, eine Gemeinschaft wie die ihre zu bilden? Chaim war in jedem Falle froh gewesen, als sich Davids Interesse für Waffen gelegt hatte und er stattdessen anfing, sich für das Schreiben und Zeichnen zu begeistern.

Er trat in den großen Raum, der fast die ganze Etage einnahm. Der Parnas begrüßte ihn an der Tür. Kalonymos’ festen Handschlag angemessen zu erwidern, kostete Chaim Mühe, und er musste seinen Blick nach oben richten, um dem Parnas in die Augen schauen zu können.

Die Sonne warf harte Schattenkanten durch die Fensteröffnungen auf den Dielenboden. In der Mitte des Raumes saßen sich zwei Männer an einem großen Holztisch gegenüber. Mit seinen faltigen Händen hielt der alte Mosche, der zweite Rabbi der Gemeinde, ein kleines Pergament nah an seine Augen. Ein Lächeln grub sich in sein zerfurchtes Gesicht. Ihm gegenüber saß Salomo, ein in Mainz nicht nur von den Juden geschätzter Arzt. Chaim nickte den beiden freundlich zu. Mosche blickte nicht auf, und wie so oft beschlich Chaim ein Gefühl der Verunsicherung. Nahm Mosche ihn aufgrund seiner schlechten Augen nicht wahr oder war es seine Art, ihm gegenüber Verachtung auszudrücken? Der alte Rabbi war doch sonst so warmherzig zu allen in der Gemeinde.

Die letzten Jahre waren von schmerzlichen Auseinandersetzungen mit seinem älteren Kollegen geprägt gewesen. Mosches großes Wissen beeindruckte Chaim immer wieder, jedoch verspürte er gegen dessen überpräzise Auslegung der Torah immer häufiger einen Unwillen, den er selbst bei den Gottesdiensten nur noch schwer verbergen konnte. Die Qualität von Mosches Stimme, der oft als Vorbeter die Torahtexte aus der Bimah vorsang, war jedoch unbestritten. Aus der Fülle seines Leibes entluden sich eine Tiefe und Wärme, die die ganze Gemeinde verzauberten. Und auch Chaim liebte es in diesen Momenten, dem alten Mosche zuzuhören.