Tod vor der Tür - Joachim Stengel - E-Book

Tod vor der Tür E-Book

Joachim Stengel

4,8

Beschreibung

Ein Schuss! Direkt vor seiner Bürotür in Essen Kray wird ein Mann erschossen. Das reißt den Privatdetektiv Robert Erich Tarne aus seinen süßen Tagträumen. Wieso gerade hier und jetzt, wieso gerade bei ihm? Zufall? Und was soll der blutverschmierte Schlüssel, den ihm der Sterbende so gerade noch zustecken kann, ehe die Bullen anrauschen? Tarne räumt auch im neuen Roman von Joachim Stengel im Ruhrpott ordentlich auf, mit seinen ganz speziellen Methoden. Quer durch geht’s dabei wieder: ob nach Bochum, Duisburg, Dortmund oder Hösel. Für den Detektiv läuft es erneut nicht so rund wie gedacht. Schließlich ist niemand perfekt und Tarne manchmal doch nicht ganz so cool, wie er sich selber gerne sieht, als Mischung aus Bruce Willis und Clint Eastwood. Er kann auch nicht verhindern, dass seine Ex mit hineingezogen wird. Der Fall weitet sich schließlich immer mehr aus, bis selbst die Kanzlerin dazu Stellung beziehen muss ...

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Cover-Design & Foto von

Sibylle Stengel-Klemmer

Die Story und die in der Handlung vorkommenden Personen sind fiktional, jede Ähnlichkeit mit real existierenden Personen, gegenwärtig oder früher, ist rein zufällig.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Epilog

Leseprobe

01

Gegenwart

Montag, früher Nachmittag, mitten im August. Die Sonne brütete am wolkenlosen Himmel über der ausgedörrten Stadt. Das Ruhrgebiet schmorte seit sechs Wochen vor sich hin. Die Menschen flüchteten in den Schatten, wo es ging, bewegten sich nur noch apathisch und sehnten sich stöhnend nach ein paar Tropfen Regen. Sollte er die Füße vom Tisch nehmen und die Jalousien zuziehen? Tarne liebte die Sonne und die Wärme, aber aus dem Schatten heraus. Im Moment störte sie bei seiner Lieblingsbeschäftigung, dem Lesen. Sie holte ihn aus einer Existenz in den faszinierenden Wechselwelten Paul Austers, eingelullt von Vogelgezwitscher und hin und wieder einem Autobrummen. Sollte er sich eine eisgekühlte Pepsi Light gönnen? Aber dafür müsste er sich erheben und sie aus dem Kühlschrank holen! Ein Schweißtropfen lief ihm von der Stirn. Ein schöner Tag. Ein ruhiger Tag! Keine Rechnung offen und ein paar Euros in der Tasche.

Die Überwachung der Frau eines eifersüchtigen Ehemannes hatte er delegieren können. Warum sich Sorgen um neue Aufträge machen? Das Leben war schön. Den Moment genießen!

Sein letzter Auftrag hatte ihn nach Dänemark geführt. Es ging um eine Hühnerfarm. Er war erfolgreich gewesen, hatte nachweisen können, dass Eier als Bio verkauft wurden, die nicht nach den Vorschriften dafür erzeugt worden waren.

Das Land hatte ihm gefallen. Dort waren Toilettenbenutzung und Parken kostenfrei. Im Gegensatz zu den Tankstellen auf den deutschen Autobahnen. Da hatte er siebzig Cent bezahlen müssen. Die verdienen sich sogar am Pinkeln dumm und dusselig! Der Gutschein über 50 Cent, den man dabei erhält und den man dann für einen eisgekühlten gesüßten Latte Macchiato im Plastikbecher für 2,99 einlösen konnte, der sonst 99 Cent kostet, machte das Ganze nicht erträglicher. Er spürte, wie der Ärger über sein Gesicht huschte, während er sich mit zwei Fingern über die rechte Augenbraue strich, als wenn er eine lästige Fliege vertreiben wollte.

„Pack!“, murmelte er vor sich hin, während er mit halber Aufmerksamkeit einen Mann beobachtete, der an der langen Fensterfront der ehemaligen Metzgerei vorbeihastete, in der Tarne sein Büro eingerichtet hatte. Der draußen trug trotz der Hitze ein Jackett, wie man das von biederen Geschäftsleuten kannte, und sah sich immer wieder um. Weitere Schweißtropfen suchten und fanden ihren Weg zu Tarnes Augenbrauen. Im Seitenfenster eines auf der anderen Straßenseite geparkten Wagens blitzte etwas auf, gefolgt von einem für den azurblauen Himmel völlig unpassenden Donnerschlag. Der riss Tarne endgültig aus seinen süßen Träumen. Seine Füße berührten den Fußboden, bevor der Hall des Schusses verklungen war. Der Mann mit dem Jackett wurde getroffen, riss einen Arm hoch und torkelte rückwärts über den Bürgersteig bis vor die Eingangstür von Tarnes Büro.

Das Geschoss war durch das menschliche Fleisch gejagt, als wenn es Butter wäre, und aus dem Körper ausgetreten. Es hatte seinen Weg durch die gläserne Eingangstüre von Tarnes Büro fortgesetzt. Vom Eintrittsloch aus breitete sich ein größer werdendes Spinnennetz aus Rissen über die ganze Scheibe aus.

Vergeblich versuchte der Mann Halt mit seiner erhobenen Hand zu finden. Langsam rutschte er herunter und hinterließ eine rote Spur. Der auf die Scheibe geklebte Schriftzug 'Robert E. Tarne – Private Ermittlungen' verschmierte in der Mitte mit einem blutigen Streifen. Gefährlich funkelte das Rot in der Sonne.

Mit einem Sprung war Tarne an der Tür. Ihn fröstelte plötzlich. Draußen heulte ein Motor auf und ein Wagen entfernte sich mit durchdrehenden Reifen. Er drückte gegen die Tür und schob den in sich zusammengesunkenen Körper zurück. Der Mann stöhnte. Tarne beugte sich über ihn. Das weiße Hemd war rot durchtränkt. Er streckte eine Hand aus und versuchte, etwas zu sagen. Ein Schwall Blut schoss aus seinem Mund, so dass nur ein undeutliches Grunzen zu hören war.

„Es wird alles gut!“, versuchte Tarne ihn zu beruhigen, ohne es zu glauben. „Ich rufe Hilfe.“ Er griff zum Handy, wählte die 110, machte die notwendigen Angaben und wiederholte:

„Ja, richtig, Hubertstraße, Ecke Hubertweiche in Kray, der Laden mit den gelben Fliesen – direkt vor meinem Büro.“

Tarne fragte sich, was er da zusammengestottert hatte, kniete sich dann wieder neben den Mann und bettete den Kopf des Sterbenden in seinen Schoß, um ihm eine bequeme Lage zu geben. Immer mehr Blut quoll aus dessen Mund. Mit letzter Kraft tastete er nach Tarne. Die zur Faust geballte Hand rutschte über Tarnes Brust und öffnete sich langsam. Sie hinterließ eine Spur von Blut und einen kleinen Schlüssel. Reflexhaft griff Tarne zu und ließ ihn in seiner Hosentasche verschwinden. Im selben Moment entwich der letzte Atemzug aus den Lungen des Mannes und sein Augenlicht erlosch für immer.

Tarne blieb unbeweglich sitzen. Das Adrenalin, das seinen Körper kurzfristig durchflutet hatte, war verbraucht. Eine überwältigende Mattigkeit machte sich in ihm breit. Er kannte diesen archaischen Mechanismus, der im Augenblick der Gefahr Energie zur Verfügung stellte, um schneller weglaufen oder härter zuschlagen zu können, und damit der Menschheit das Überleben in der Evolution ermöglicht hatte. Es hatte in dieser Situation nicht geholfen. Er hatte nichts verhindern können und war geplättet. Vor seiner Tür und in seinen Armen war gerade ein Mann gestorben. Nicht gestorben, nein, erschossen. Wie eine Hinrichtung auf offener Straße. Das traf am ehesten zu.

Fenster wurden geöffnet. Neugierige streckten ihre Köpfe heraus, um einen Blick auf die Sensation zu erhaschen, die ihrem tristen Alltag einen Hauch von Aufregung und Abenteuer verschaffen sollte.

Nur nicht die Nerven verlieren!, sagte sich Tarne, zog, seinem Berufsdrang folgend, die Brieftasche aus der Jacke des Toten und fischte den Ausweis heraus. Edgar Eberli, geboren Adligenswil/LU, Schweiz, am 18.04.1972, also zweiundvierzig Jahre alt. Wohnhaft in Bern, Aebistrasse 11. Als die ersten Schaulustigen sich näherten, hatte er die Brieftasche zurückgesteckt und abgewischt. Nur nicht seine Fingerabdrücke hinterlassen.

Schnell anschwellende Sirenen. Die eintreffenden Einsatzkräfte fanden Tarne im Schneidersitz vor seiner zerschossenen Eingangstüre, er über und über mit Blut verschmiert und in seinem Schoß der Kopf des vor ihm ausgestreckten Toten. Der Gehsteig unter beiden ein dunkelroter See zwischen Zigarettenkippen, platt getretenen Kaugummis und Kronkorken und verkümmerten, vereinzelten Grasbüscheln. Ein animalischer Geruch lag über allem und die ersten Fliegen tummelten sich auf den trocknenden Krusten aus Lebenssaft.

Nur langsam konnte Tarne einen klaren Gedanken fassen. Ja, das war merkwürdig, die Polizei war viel zu schnell zur Stelle! Als wenn sie vorher gewusst hätte, dass etwas passieren würde. Ein Ambulanzfahrzeug näherte sich ebenfalls schon aus der Richtung Stadtmitte.

Die Polizisten steckten ihre vorsichtshalber gezogenen Waffen weg. Der Arzt stellte den Tod Eberlis fest und wandte sich an Tarne, der abwiegelte:

„Ich habe nichts, mit mir ist nichts. Es ist alles okay!“ Aber nichts in Tarne war okay.

Er wurde von den Einsatzkräften hochgezerrt und die ersten Fragen stürmten auf ihn ein.

02

Vergangenheit

„Komm mal mit“, hatte ein Kommilitone gesagt, „das ist ein lustiger Job!“

So hatte Tarnes Arbeit als Detektiv begonnen. Sie hatten sich im Morgengrauen gegenübergestanden, wie zwei kleine Jungs, die sich auf ein Abenteuer einlassen. Wie Tom Sawyer und Huckleberry Finn. Ihr Atem war als weißer Hauch sichtbar gewesen, als sie auf den VW Bus gewartet hatten, in dem sie mit sechs weiteren Personen, davon zwei Frauen, nach Köln gefahren worden waren. Dort mussten sie den ganzen Tag in allen möglichen Kaufhäusern herumlaufen und Diebe enttarnen.

„Warum so weit?“, hatte Tarne gefragt.

„Deshalb“, hatte man ihnen erklärt, „damit ihr nicht zufällig jemanden kennt und decken könnt.“

Tarne hatte den Verdacht, dass es mit dem niedrigen Lohn zusammenhing und der Arbeitgeber befürchtete, man könne sonst einfach abspringen. Der Kommilitone erklärte ihm später, dass der eigentliche Verdienst erst nach einem halben Jahr anfing und dass der Reallohn im Moment deshalb so niedrig sei. Dann nämlich, wenn die armen Schweine, die beim Stehlen erwischt worden waren, vor Gericht standen. Dann bekam man Lohnausfall und Fahrgeld vom Gericht erstattet. Es sah dann so aus, dass man vormittags am Gericht war und danach den restlichen halben Tag in den Kaufhäusern herumlief. Je mehr man fasste, umso mehr Gerichtsverhandlungen, umso größer der Verdienst.

Tarne bekam ein Näschen dafür. Seine Quote war gut. In Spitzenzeiten schaffte er täglich sechs bis acht „Fänge“. Anfangs rührten ihn die Geschichten oft an, die die Betroffenen vorbrachten. Manchmal ließ er jemanden laufen. Aber in einem war er eisern. Er hatte sich nie bestechen lassen. Nicht von den jungen Mädchen, die in den Kosmetikabteilungen ein Nagellacktöpfchen oder einen Augenbrauenstift in ihre Handtaschen oder Jacken verschwinden ließen, oder von Männern und Frauen jeden Alters, die sich in den Umkleidekabinen neu einkleideten und tatsächlich glaubten, damit nicht aufzufallen. Er lernte schnell, wo er stehen musste, auf was er achten musste. Immer öfter konnte er voraussagen, welche Verhaltensweisen Männer oder Frauen zeigten, die sich bedienen würden. Besonders spannend fand er die Personen, die zwanghaft stehlen mussten, nur irgendetwas, egal, was es war. Die entwendeten spontan, unerwartet Dinge, bei denen kein Mensch auf die Idee käme, dass sie daran Interesse haben könnten. Sie agierten wie von einem Zwang getrieben. Aber er erwischte sie alle.

Wenn ihre Gesichter in den Kaufhäusern zu bekannt geworden waren, wurden die Detektive in eine andere Stadt verfrachtet. Anfangs nach Köln, Münster oder Wuppertal, später hauptsächlich innerhalb des Ruhrgebiets, von Duisburg bis Dortmund, Oberhausen, Mülheim, Gelsenkirchen, Herne, Bottrop, Bochum.

So fing alles an. Es war egal, wie man angezogen war. Man konnte bei dem Job in den Kaufhäusern herumlaufen, wie man wollte, je unauffälliger, umso besser. Irgendwann fiel Tarne auf, dass das Überwachungsunternehmen diejenigen, die im Anzug erschienen, in die besseren Läden schickte. Also begann er, Anzug zu tragen. Irgendwie gefiel es ihm, damit von seinem Studentenimage wegzukommen. Er merkte zwar, dass Anzug auch eine Art Uniform war, ebenso wie das studentische Jeans-Repertoire, und er nie gepflegt aussehen würde, aber in diesem Outfit wurde seine nachlässige, von manchen böswillig als schlampig bezeichnete Art nicht mehr ganz so deutlich. Er war bald bekannt für seine gute Nase in den nobleren Läden und hatte die besten Fangquoten. Scheinbar wirkte eine Person im Anzug unauffälliger, so dass er an den oft umfangreicheren Gerichtsverfahren dieser Klientel gutes Geld verdiente.

Anfangs war es nur ein Job gewesen, um als Student besser über die Runden zu kommen. Dann begann es Tarne Spaß zu machen. Hinter Leuten herzuspionieren, ihre Geheimnisse zu lüften. Das Unterwegssein, ungebunden und ohne Bevormundung durch einen Vorgesetzten, begann ihm zu gefallen. Er bestimmte, wann er sich in Gang setzte und was er unternahm, um den Leuten auf die Schliche zu kommen. Und auf seine Art tat er etwas für die Gerechtigkeit! Zumindest sah er das so.

Und noch etwas reizte ihn: Für Recht und Ordnung zu sorgen! Er machte sich keine Gedanken darüber, ob die Regeln, die er vertrat, richtig oder gerecht waren. Sie waren in diesem gesellschaftlichen System halt so. Es wurde immer mehr zu seiner Aufgabe, auf seine Art dafür zu sorgen, dass diese Regeln eingehalten wurden.

03

Gegenwart

„Und das Ganze nochmal von vorn“, leierte einer der beiden Quälgeister herunter in dem schäbigen, grau gestrichenen Raum, einem typischen Büro auf der Wache, Revier Norbertstraße, gegenüber der Gruga. Zwei Schreibtische standen Kopf an Kopf zusammen, so dass sich die beiden Nutzer auf ihren Schreibtischsesseln gegenüber saßen und in die Augen sehen konnten. An die Seite der beiden Büromöbel hatte man einen weiteren Tisch gestellt, um zusätzlichen Raum für die Berge von Akten und Papier zu schaffen. Davor stand ein Metallrohrstuhl mit Holzsitz und Holzrücken. Auf diesen Platz hatte man Tarne verfrachtet. Verkümmernde Topfpflanzen, geschmacklose Wanddekoration, Kalender mit Urlaubslandschaften auf der einen und mit Autos und leicht bekleideten Schönheiten auf der anderen Seite umgaben ihn. An der Wand hingen dazwischen Zettel mit ausgedruckten Sprüchen wie Als Gott die Gehälter der Angestellten sah, drehte er sich um und weinte bitterlich.

Tarne war über seine Rechte informiert worden und hatte sich kurz frisch machen dürfen. Reste des Blutes klebten an Gesicht, Hals und Händen. Verkrustet. Das frische Rot hatte sich in ein Rostbraun mit schwarzen Rändern verwandelt, bekam Risse und begann abzubröckeln. Die blutgetränkten Kleidungsstücke waren mittlerweile getrocknet und knisterten und scheuerten bei jeder Bewegung. Er strömte einen üblen Geruch aus. Sehr angenehm, das Ganze, dachte Tarne und hoffte, dass die Beamten ordentlich etwas von den Ausdünstungen mitbekamen.

Der mit den Urlaubslandschaften hatte sich als Kriminalbeamter Roland Bergmann vorgestellt. Markus Krause, der mit dem Autokalender hinter sich, hatte gesagt:

„Wir kennen uns zur Genüge. Haben Sie sich wieder in einen Schlamassel hineingeritten? Bin gespannt, wie Sie sich diesmal daraus befreien.“

Bergmann ging auf die Pensionierung zu, ein väterlicher Typ. Krause, erinnerte sich Tarne, musste um die Mitte dreißig sein. Krause konfrontierte ihn mit der wiederholten Befragung direkter, als wenn er sich die Sporen für die Beförderung verdienen müsste, und es schien ihm mächtig Spaß zu machen.

„Das kann nicht Ihr Ernst sein“, entfuhr es Tarne und man merkte ihm sein Genervtsein deutlich an, „das Ganze noch mal?“ Es kam ihm so vor, als ob das Verhör schon Stunden andauerte.

„Ja, bitte! Noch mal ganz von vorn. Es sind ein paar Dinge unklar.“

„Hören Sie, ich habe nicht mehr gesehen als ich gesagt habe. Das wird sich nicht ändern, wenn ich es noch fünfmal wiederholen muss.“ Auch Tarnes Hinweis, dass gerade in seinen Armen ein Mensch gestorben sei und so etwas niemand einfach wegstecken könne, half nicht.

Bergmann war eine Weile mit auf dem Rücken verschränkten Händen hinter Tarne auf und ab gegangen. Jetzt trat er hinter ihn und legte ihm eine Hand auf die Schulter.

„Hören Sie“, sagte er, „das ist kein Grund, ärgerlich zu werden. Wir tun nur unsere Pflicht.“

Tarne seufzte und ergab sich in sein Schicksal. Er wusste, es war Routine. Die Beamten hatten genug Erfahrung, um zu wissen, dass den Leuten oft noch etwas einfiel, je länger sie sie ausquetschten. Sie konnten ihm aber nichts! Es fing an, Tarne überall zu jucken: Der Schorf, der nicht von ihm war.

Bergmann ging zu einem niedrigen, ebenfalls grauen, angestoßenen Metallaktenschrank mit verschlossenen Türen und setzte sich darauf. Das graue Zimmer, ging es Tarne durch den Kopf.

Krause stützte den Kopf auf die Hände, fixierte ihn.

Aus dem Hintergrund fragte Bergmann in ruhigem Ton:

„Wollen Sie einen Anwalt?“

Eine Dusche wäre mir lieber, dachte Tarne und erwiderte: „Wofür einen Anwalt, brauche ich einen?“

Krause nahm die Hände herunter und lehnte sich weiter über den Tisch:

„Ja, was meinen Sie? Brauchen Sie einen?“

„Ich brauche keinen, wenn zufällig vor meiner Tür so etwas passiert. Wieso sollte ich einen Anwalt brauchen?“

Wieder aus dem Hintergrund:

„Zufällig?“

Tarne drehte sich zu Bergmann um:

„Ja, zufällig. Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen. Gehen Sie so mit Leuten um, die anderen helfen?“

Krause wieder:

„Schauen Sie mich an, wenn ich mit Ihnen spreche! Also: Wie viel Uhr war es, als Sie den Mann zum ersten Mal sahen?“

„Jetzt passen Sie mal gut auf!“, fuhr ihn Tarne an, „ich rede grade mit Ihrem Kollegen! Und jetzt zu Ihnen: Ich wiederhole es gerne zum letzten Mal, und zwar nur für Sie, Herr Krause: Etwa 14:30 sah ich diesen Kerl, fast im selben Moment hörte ich den Schuss.“

Krause ließ sich nicht im Mindesten von Tarnes Ausbruch beeindrucken.

„Woher wussten Sie, dass es ein Schuss war?“

„Na hören Sie, der Kerl flog mir fast vor die Füße.“

„Was haben Sie im Büro gemacht, woher wussten Sie die Zeit so genau?“

„Soll ich einen Vortrag halten, oder was?“

Aus dem Hintergrund versuchte Bergmann die Gemüter zu beruhigen:

„Wir fragen nur, was uns unklar ist!“

Krause stieg wieder ein:

„Und der Wagen, sind Sie sich bei dem Fabrikat sicher? Kam der Schuss überhaupt aus einem Wagen? Sonst hat niemand ein Auto gesehen!“

„Ja, ich habe das Mündungsfeuer gesehen. Ja, es war ein Audi A8, und ja, er war silbergrau-metallic. Und nein, die Nummer habe ich nicht erkannt!“

„Sie erinnern sich an viele Einzelheiten und wollen uns weismachen, dass Sie das Kennzeichen nicht gesehen haben? Wer soll das…“

Mitten im Satz wurde die Tür aufgerissen. Hauptkommissar Hesse erschien und wendete sich an Tarne:

„Hab jetzt erst erfahren, dass du hier bist, schöner Schlamassel, in den du da geraten bist!“, und an die Kollegen gewandt fuhr er fort, „nun macht mal halblang, der ist in Ordnung. Tut keiner Fliege was!“

Hesse und Tarne hatten sich vor langer Zeit kennen und schätzen gelernt, sich gegenseitig in vielen Situationen geholfen und festgestellt, dass sie aus dem gleichen Holz geschnitzt sind. Lange bevor Hesse Hauptkommissar geworden war, hatte er schon seine schützende Hand über Tarne gehalten.

Dann saßen alle zusammen in einer merklich entspannteren Atmosphäre um die Tische. Tarne hatte ein belegtes Brötchen vor sich, das er zur Hälfte verputzt hatte. Der Duft aus den servierten Kaffeetassen ließ das Zimmer sofort angenehmer erscheinen. Tarne kam sich nicht mehr als Verdächtiger vor. Jetzt wurde gemeinsam überlegt, ob man eine Information übersehen haben könnte. Nur Krause blickte misstrauisch zu Tarne herüber, als wenn er sagen wollte: 'Dir glaube ich nichts!'

Schon wieder wurde die Türe aufgerissen und ein Tumult drang in das Büro. Zwei in elegante, stahlgraue Anzüge und korrekt gebundene Krawatten gekleidete Herren drängten an anderen Kollegen vorbei. Sie hielten ihre Dienstausweise hoch, erklärten, dass sie direkt vom LKA seien, verdeckte Ermittler im Rahmen der Sonderkommission Singvogel, und forderten vehement die Herausgabe Tarnes. Bei der Vorstellung gingen ihre genuschelten Namen in dem Durcheinander fast unter. Tarne hatte sein Gehör angestrengt und trotzdem etwas mitbekommen, das wie Schmidt und Hagen geklungen hatte. Einer der beiden Anzugträger ließ sich lautstark vernehmen:

„Hier geht es um Fragen der Staatssicherheit. Das fällt in unseren Zuständigkeitsbereich.“

Alle hatten sich mittlerweile erhoben. Tarnes Gesicht war ein einziges Fragezeichen.

Bergmann meldete sich zu Wort:

„Umso besser, dann sind wir ihn los. Nach unseren Ermittlungen gibt es keinen Verdachtsgrund mehr gegen ihn. Wenn vor seiner Tür zufällig ein Mord passiert, ist das kein Grund, ihn hierzubehalten.“

Einer der grauen Anzüge:

„Zufällig? Dass ich nicht lache! Wieso waren Sie dann vorher informiert?“

Hesse zog die Sache an sich:

„Woher wissen Sie überhaupt, dass wir vorher informiert waren? Ich lege bewusst die Betonung auf das Wörtchen 'Sie'! Sie sollten uns erst einmal Informationen zukommen lassen. Vielleicht bringt das Licht in das Dunkel. Wir leben zum Glück in einem Rechtsstaat und für den trete ich in meiner Rolle als Polizeibeamter ein.“

Der andere, der Wortführer der beiden, erwiderte:

„Sie überschreiten Ihre Kompetenzen. Sie können sich da richtigen Ärger einhandeln!“

Zu Tarne gewandt sagte Hesse, der erstaunlich ruhig blieb:

„Du siehst, es geht, scheint’s, um mehr. Ich kann dir nur raten, nimm einen Anwalt. So schnell du kannst!“, und an die Leute vom LKA gewandt fuhr er fort: „Aus unserer Sicht hat der Mann nichts verbrochen. Er ist ein Zeuge, kein Verdächtiger. Oder haben Sie da andere Informationen? Und wenn. Er hat einen festen Wohnsitz. Es besteht keine Fluchtgefahr. Wir werden ihn jetzt gehen lassen“, und zu seinen Kollegen: „Oder habt ihr noch Fragen?“

Beide winkten ab.

Einer der grauen Anzüge:

„Sie lehnen sich da weit aus dem Fenster für jemanden, den Sie kaum kennen. Das wird ein Nachspiel haben!“

„Das lassen Sie mal meine Sorge sein. Oder wollen Sie mir drohen?“

„Warten Sie’s ab!“

„Tarne, Sie sind bei uns entlassen“, mischte sich Bergmann ein, „Sie können gehen.“

Die grauen Zwillinge versuchten, nach Tarne zu greifen. Der wich aber sofort aus und in dem entstehenden Tumult fiel kaum auf, dass Hesse und seine Kollegen sie abdrängten und verhinderten, dass sie Tarne folgen konnten. Selbst Krause, für den Tarne ein rotes Tuch war, verhielt sich solidarisch, wenn es um die Hoheit seines Reviers und das gemeinschaftliche Handeln mit den Kollegen ging.

Tarne hörte beim Verlassen des Zimmers noch, wie Bergmann in seiner ruhigen Art sagte:

„Lassen Sie uns erst die Zuständigkeit klären! Wir rufen am besten Ihre Behörde an.“

Hesse stand der Tür am nächsten und raunte ihm hinterher:

„Kurze Information am Rande, der Täter hat ein Hohlmantelgeschoss verwendet, kein Vollmantelgeschoss. Er wollte ganz sicher gehen. Und, noch was: Sobald du aus dem Revier bist, kann ich dir nicht mehr helfen. Du bist dann auf dich allein gestellt.“

„Ach ja? Danke für die Info. Das ist ja ein Ding.“

Verwirrt und wütend verließ Tarne die Wache durch den Keller und einen Hinterausgang. Was sollte das Ganze? Das konnten sie mit ihm nicht machen! Er drehte sich um und trat mit aller Kraft gegen die zugefallene Türe. Au, so eine Scheiße!

04

Vergangenheit

Manu hatte er beim Hochschulsport kennengelernt.

„Ich bin keine Studentin“, hatte sie gesagt, „ich mache eine Ausbildung zur ReNo“, und musste lachen, als er daraufhin dumm geguckt hatte.

„Rechtsanwalts- und Notariatsgehilfin.“

Da Tarne in Essen wohnte, besuchte er der Einfachheit halber den Hochschulsport auch in dieser Stadt. Viel zu unbequem, abends noch einmal nach Bochum zu fahren. Sie lebte damals noch bei ihren Eltern. Beim Zirkeltraining in der ehemaligen PH in der Henri-Dunant-Straße waren sie sich regelrecht über den Weg gelaufen. Tarne war zuerst ihr Hintern aufgefallen. Die Bewegung ihrer Muskeln beim Laufen. Ihn faszinierten Frauen mit einem solch durchtrainierten, wohl-geformten Körper.

Eine Zeitlang gab es da ein dreigeteiltes Training: erst Laufen draußen, dann Zirkeltraining, dann, falls das Bad auf war, gemeinsam Schwimmen in warmem Wasser – sehr entspannend.

Sie bevorzugte einen Badeanzug, legte es nicht darauf an, mit einem Bikini zu reizen. Tarne war besonders fasziniert von den endlos langen Beinen, die durch den geschickten Schnitt des Badeanzugs noch einmal verlängert zu werden schienen. Ihre Beine waren so verlockend – dass sich die Gedanken an seine Verflossene, von der er glaubte, über sie noch nicht ganz hinweg zu sein, ins Nichts auflösten.

Sie hatten beim Laufen eine Art Gleichklang gefunden, meist nebeneinander, und über Gott und die Welt gequatscht. Wenn er vor Beginn des Trainings auftauchte, gesellte sie sich immer zu ihm. Sonst war lange nichts passiert.

Dann hatte Tarne seinen ersten Auftrag vermittelt bekommen. Sein Vorgesetzter in der Agentur, die ausschließlich die Kaufhäuser überwachte, reichte ihn an einen Rechtsanwalt am Rüttenscheider Stern weiter: Es wurden für eine Scheidung Beweise gesucht durch eine Überwachung.

Als er im Wartebereich saß, war Manu mit Akten unterm Arm in ihrem „Dienstkostüm“, wie sie es nannte, durch den Flur gelaufen. Tarne musste sich ein Pfeifen verkneifen, so scharf wirkte sie in dem Moment auf ihn. Ihre tollen Formen kamen durch diese konservative Kleidung besonders zur Geltung.

„Was machst du hier?“ Sie blieb mit erstaunt aufgerissenen Augen vor ihm stehen.

„Na ja, ich überwache deine Arbeitsweise. So was ist ja mein Job, Hi, Hi!“

Dabei kniff er ein Auge zu.

Sie fiel in sein Lachen ein:

„Ja dann, bis heute Abend. Kannst mir dann mehr erzählen“, und schon war sie in einem der Büros entschwunden.

Es war ihr gemeinsamer Sportdonnerstag. Nach dem Training hatte sie vorgeschlagen:

„Wir könnten was trinken gehen!“

„Ja, gute Idee!“

Sie waren in dem Biergarten am Uhlenkrug gelandet. Es war eine laue Sommernacht. Die farbigen Glühbirnen in den alten knorrigen Bäumen und die Windlichter auf den Tischen hatten für eine romantische Stimmung gesorgt. Über das Gemurmel der anderen Gäste und das Zirpen der Zikaden hinweg hatte sie ihn nach einem Bier tatsächlich gefragt:

„Hast du es nicht bemerkt?“

Sie hatten sich gegenüber gesessen, vorgebeugt, und das Kerzenlicht hatte sich in ihren Augen gespiegelt.

„Was meinst du?“

„Wir kennen uns schon eine ganze Zeit, alle denken, wir seien ein altes Ehepaar!“

Er hatte gelacht, einen Schluck genommen und sie fragend angesehen und bemerkt:

„Stimmt wirklich. Wir verstehen uns gut.“ Er empfand es auch so, als wenn sie auf einer Wellenlänge lagen.

Gläser klirrten, ein glückliches Lachen klang von einem anderen Tisch herüber. Die Luft war dick und warm und der Geruch sommerlicher Blüten umgab sie.

„Ja, aber ich habe von Anfang an mehr im Sinn gehabt. Du hast mir gleich gefallen. Du siehst schweinegut aus, so muskulös, und dieser leicht brutale Zug um deinen Mund…“ Sie beugte sich über den Tisch und fuhr mit einem Finger an seinem Mundwinkel entlang. Angenehm irritiert strich er mit seinem Zeige- und Mittelfinger über seine rechte Augenbraue von innen nach außen und erntete ein weiteres strahlendes Lächeln aus ihren großen blauen Augen.

„Mach das noch mal!“

„Was denn?“ Er schüttelte den Kopf und fuhr fort, „Du meinst, das mit dem Paar… da ist was dran?“

„Klar!“

Das Ganze kam so plötzlich, er kam sich völlig überrumpelt vor, hatte das Gefühl, als müsse er zumindest jetzt die Initiative übernehmen.

„Na, wenn das so ist, gehen wir zu mir oder zu dir?“

Tarne wohnte zu diesem Zeitpunkt in einer WG in Uninähe und war erleichtert, als sie sagte:

„Meine Eltern sind die ganze Woche weg, wir können zu mir gehen.“

So hatte das begonnen. Sie hatten eine schöne Zeit. Geschmust und gelacht hatten sie viel, schönen exzessiven Sex gab’s zu beider Zufriedenheit immer wieder. Zumindest anfangs lief es mit ihnen rund, bis zu Tarnes Leidwesen die ständigen Grundsatzdiskussionen begannen.

Sie hatte sich schnell von ihren Eltern gelöst und eine eigene Wohnung eingerichtet. Sein Einzug bei ihr war schleichend vorangegangen, er hielt sich meist bei ihr auf. Nach und nach hatte er immer mehr Dinge bei ihr, so dass seine Kündigung in der WG nur noch eine Formsache war.

Wenn Tarne keinen Job hatte und sie sich einen Krankenschein nahm, lagen sie oft mittags noch im Bett und lachten über den Spruch, den angeblich ein Moderator des Mittagsmagazins mal gebracht haben sollte:

„Guten Tag, meine Damen und Herren – guten Morgen, liebe Studenten!“

05

Gegenwart

Er hatte den Tod im Arm gehalten. Fünf Stunden Verhör. Im Taxi roch es muffig, nach abgestandenen Ausdünstungen Hunderter von Fahrgästen. Egal, endlich entspannen! Tarne lehnte sich zurück und genoss die gedämpfte Ruhe. Durch die getönten Scheiben nahm er nur halb die vorbeihuschenden Lichter wahr. Verschwommene Gesichter. Die Stadt machte sich für die Nacht klar.

Der Fahrer wählte den Weg über die A 40. Auffahrt Stadtmitte. Ruhrschleichweg. Sich auflösender Stau hinter dem Tunnel. Kray raus.

Tarne verließ das Taxi vor seinem Büro. Näherte sich dem Eingang. Er wollte vermeiden, auf den Boden zu sehen. Aber sein Blick wurde magisch angezogen. Ein großer dunkler Fleck. Man hatte versucht, das Blut mit Wasser zu entfernen und Granulat oder Sägespäne gestreut. Er wollte nicht darauf treten, wich aus, griff zur Tür und stockte noch einmal. Von Schulterhöhe bis zum Boden mitten durch seine Firmenbeschriftung verlief ein breiter verschmierter Streifen getrockneten Blutes. Keine gute Werbung!

Mit einer Hand angelte er nach dem Schlüssel, zog an der Tür bevor er den Schlüssel ins Schloss geschoben hatte. Die Türe ließ sich einfach aufziehen. Hatte er vergessen, sie zu verschließen? Er konnte sich nicht erinnern. War verständlich in der Aufregung! Hatte die Polizei nicht dafür gesorgt, dass sein Büro verschlossen wurde?

Er schob die Tür weiter auf, ging einen Schritt vor. Knirschen unter seinem Fuß. War jemand eingedrungen? Er stockte erneut. Das Licht der vor kurzem eingeschalteten Straßenlaternen spiegelte sich in der Tür. Diese Lampen hatten die Eigenart, am frühen Abend in der beginnenden Dunkelheit nur gedämpften gelben Schein zu verbreiten und ihre volle Leuchtkraft erst zu späterer Stunde zu entfalten. Dann konnte es allerdings dazu führen, dass man durch ihr Strahlen vor dem Fenster nicht zum Schlafen kam, wie Tarne aus Erfahrung wusste. Im Moment führte es aber dazu, dass er kaum etwas sehen konnte. Tarne tastete nach dem Lichtschalter.

„Was zum…“

Regale umgeworfen, die wenigen Möbelstücke zerstört, Polster aufgeschnitten, regelrecht auseinandergenommen und im Raum verstreut. Jedes Buch, jede Akte auseinander gefleddert. Fallengelassen. Tapetenteile abgerissen. Die Wände kahl. Seine Bilder auf dem Fußboden, durch die Rahmen getreten. Es sah mehr nach mutwilliger Zerstörung als wie eine perfekte Durchsuchung aus. Wenn es das Werk von Spezialisten war, dann wollten sie ihm mit diesem Chaos zeigen, dass sie es ernst meinten. Als Warnung, dass sie es sich leisten konnten, dass hinter ihnen eine Macht stand. Wenn hier etwas versteckt war, hätten sie es gefunden. Der einzige Gegenstand, der an seinem Platz stand, war sein Schreibtisch. Der war ihnen anscheinend zu schwer. Aber die Türen und sämtliche Schubladen waren herausgerissen, sein Innerstes nach außen gekehrt und als Abfallberg auf seine Platte gehäuft. Über allem ein Geruch von Whisky. Sie hatten seinen Vorrat an Jack Daniels im Schreibtisch gefunden. Die Flasche ausgegossen. Zu schade! Was waren das für Banausen! Auch sein privates Zimmer hinter dem Büro hatten sie durchwühlt, die Matratze aufgeschnitten, alles auseinandergenommen – logisch, aber dieses Eindringen in seine Privatsphäre ging ihm völlig gegen den Strich!

„Was für ein Scheiße!“, entfuhr es ihm, während er mit voller Wucht einen umgefallenen Stuhl vor sich her trat, aber sofort mit schmerzverzerrtem Gesicht stoppte, weil sein geschundener Fuß sich an den Tritt gegen die Ausgangstür des Reviers erinnerte.

Um in dem Chaos Ordnung zu schaffen, wischte Tarne mit beiden Armen den Schreibtisch von allem Unrat leer. Hob das Telefon auf, stellte es hin und legte den Hörer auf – tatsächlich, es funktionierte noch! Dann stellte er seinen geliebten Holzdrehstuhl von Manufactum aufrecht. Setzte sich und zog den blutverschmierten Schlüssel aus der Tasche. Legte ihn mitten auf den Tisch und starrte ihn wie hypnotisiert an. Alles wegen dir!, fuhr es ihm durch den Kopf. Was hältst du verschlossen, verdammt?

Prompt erwachte das Telefon zu einem unheilvollen Klingeln. Eine sonore männliche Stimme stellte sich mit Braun vor. Er sei Leiter einer Sondereinheit und ein Freund von Eberli gewesen und müsse ihn unbedingt treffen. Es klang wie eine Drohung.

Tarne hatte nicht verstanden, was der andere gesagt hatte, Sondereinheit, Sonderkommission und noch irgendein Wort. Aber nach allem, was er heute Abend hinter sich hatte, war ihm das egal. Er fand endlich ein Ventil für seine Wut:

„Kommen Sie mir nicht so! Ich muss überhaupt nichts!“ Ich muss erst mal zur Ruhe kommen, fügte er in Gedanken hinzu.

„Nein, wirklich, es ist wichtig. Da ist etwas, das Sie wissen sollten.“

„Dann sagen Sie es. Immer heraus damit. Mich kann heute nichts mehr erschüttern!“

„Nicht am Telefon, aber so schnell wie möglich. Können wir uns jetzt treffen?“

Wieder jemand, der ihm Regeln diktieren wollte. Aus Trotz und um Zeit zum Nachdenken zu haben, entfuhr es Tarne mit einem deutlichen Ausdruck von Wut in der Stimme:

„Vor morgen Nachmittag geht nichts!“

„Okay, dann morgen. Ich habe leider nur kurz Zeit, halte es aber für dringend erforderlich, dass wir uns sehen. Ich habe in Duisburg zu tun, wäre Ihnen also sehr verbunden, wenn wir uns dort treffen könnten. Falls Sie dort ein Café kennen oder so, das wäre sicher und am unauffälligsten.“

„Ich schlage drei Uhr nachmittags in der Lindenwirtin vor, dem einzigen Biergarten, den ich in Duisburg kenne, in der Nähe vom Zoo und den Universitätsgebäuden.“ Tarne hatte den Hintergedanken, dass es gut war, wenn man draußen war und dadurch Überblick behielt. Für Fluchtwege gut geeignet.

„Ist bekannt, das wird gehen. Sie sollten übrigens schnell aus ihrem Büro verschwinden. Nach meinen Informationen ist eine Einheit von Landesbeamten auf dem Weg zu Ihnen. Wenn die Sie erst mal in die Mangel nehmen, kommen Sie nicht so schnell wieder raus.“