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Fanatiker planen einen Anschlag auf ein Ziel in Europa. Ein Einsatz für Jade Taylor vom Verfassungsschutz und Tom Forge vom BND. Sollten sie im Kampf gegen die Terrorzelle und die mächtige Organisation der Großen Sechs scheitern, werden Tausende ihr Leben verlieren. Die Voraussetzungen sind ungünstig. Tom Forge wird in Gibraltar gefangen gehalten, Jades Beziehung zu Laura ist von Eifersüchteleien geprägt und der Leiter der operativen Abteilung IV des Verfassungsschutzes, Dr. Lawrence Hall, vernachlässigt aus privaten Gründen seine Aufgaben. Kann seine Assistentin Babette Kahn ihn ersetzen? Bei der Überwachung der HAWALA Stationen in Deutschland, wird eine Terroristin bei der Abwicklung eines illegalen Geldtransfers beobachtet. Diese Spur führt zu ersten Hinweisen auf die Drahtzieher. Als sich auch noch die CIA einmischt, liegen die Nerven blank und der Wettlauf gegen die Zeit beginnt. Gelingt es dem eingespielten Team den Anschlag zu verhindern und gleichzeitig den Chef der kriminellen Organisation der Großen Sechs endgültig das Handwerk zu legen? Der ultimative Thriller über Bekämpfung des Terrorismus vor den dunklen Machenschaften im Coronaalltag, dem Kampf gegen das Virus und seine Hintermänner. In 56 Kapiteln führt der Autor den Leser durch den undurchschaubaren Dschungel der Geheimdienste. Harte Action und überraschende Wendungen steigern den Spannungsbogen bis zum finalen Shodown. Ein Agententhriller vor dem Hintergrund der Pandemie.
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Seitenzahl: 402
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Die Story und die in der Handlung vorkommenden Personen sind fiktional, jede Ähnlichkeit mit real existierenden Personen, gegenwärtigen oder früheren, ist rein zufällig. Personen des öffentlichen Lebens, die namentlich genannt werden, entspringen in ihren Verhaltensweisen vollständig der Fantasie des Autors und entsprechen in keinster Weise der Realität. Allerdings hat die Realität die Fantasie des Autors beflügelt.
Kapitel 01
Kapitel 02
Kapitel 03
Kapitel 04
Kapitel 05
Kapitel 06
Kapitel 07
Kapitel 08
Kapitel 09
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Dezember 2020
Eine dunstige Nacht, 26. Dezember, zweiter Weihnachtsfeiertag. Der Fahrer benötigte seine ganze Konzentration, um auf das Einsatzfahrzeug der Autobahnpolizei vor sich zu achten. Die Dunkelheit und der Regen behinderten die Sicht. Im Scheinwerferlicht verdichtete sich der Regen zu einem Wald aus weißen Fäden. Im Rückspiegel ebenfalls Bullen. Es ging darum, die Sicherheit der wertvollen Ladung zu gewährleisten. Die ersten Fuhren des ersehnten Impfstoffs gegen das tödliche Virus werden herangekarrt. Für ihn war es eine Tour wie jede andere auch. Er war es gewöhnt, nachts zu fahren. Nur der Begleitschutz war etwas Besonderes. Was für ein Aufstand wurde darum gemacht! Endlose Regelungen, Priogruppe 1, Priogruppe 2 und so weiter. Morgen würde im Rahmen der weltweit größten Impfaktion zum Schutz gegen das Virus auch auf deutschem Boden die Vergabe des Impfstoffs starten. Nach exaktem Plan und festgelegter Reihenfolge.
***
Januar 2021
Bochum, 17:23, in einer Querverbindung zur Dorstener Straße. Elke Bruns saß am Steuer eines Golf Diesel-Kombi, älteres Modell, dreckig, Kratzer, Beulen, Rost, unscheinbare dunkelbraune Farbe. Sven Eggebrecht neben ihr mit einer Nikon, Objektiv mit langer Brennweite, fixierte den Eingang eines türkischen Gemüseladens. Der Inhaber oder Mitarbeiter des Geschäfts ordnete Gemüse und Obst in den vor dem Schaufenster aufgestellten Kästen. Die beiden Ermittler gehören zur Financial Intelligence Unit, kurz FIU, einer Dienststelle, die dem Zoll angehörte und dazu diente, alle Aktivitäten, die mit Geldwäsche oder illegalem Geldtransfer verbunden waren, zu untersuchen und zu bekämpfen. Elke gähnte ungeniert. Sven grinste. Seine Kollegin war noch nie sehr kommunikativ gewesen, das kannte er schon. Er raunzte:
„Mir geht das auch auf den Geist. Aus heiterem Himmel sollen wir plötzlich wochenlang alle bekannten Hawala-Stellen überwachen. Ist dir eigentlich klar, wie viele Kollegen zurzeit unterwegs sind und sich in den Wagen ihre Eier abfrieren? Jetzt ist es gerade mal diese Zielgruppe. Wer weiß, gegen wen wir nächste Woche losziehen. Wenn du mich fragst, das bringt doch alles nichts. Die sind uns immer einen Schritt voraus.“
Aber natürlich hatte er sich pflichtgemäß mit der Thematik auseinandergesetzt. Bei der Bezeichnung Hawala handelte es sich um ein sehr altes System, mit dem Geldmengen in andere Länder transferiert wurden, ohne Einsatz einer Bank und ohne dass es offiziellen Stellen sichtbar wurde. Das wusste er jetzt. Jemand, der aus Deutschland einen Betrag in den Iran schicken wollte, ging zu einem Hawaladar, der sich hinter der Fassade irgendeines regulären Geschäfts verbarg, und übergab ihm die zu transferierende Summe. Der Kunde bekam einen Code, den er dem Empfänger in dem anderen Land, zum Beispiel dem Iran, weiterleitete. Mit diesem Code ging derjenige dann zu dem dortigen Hawaladar und erhielt das Geld, abzüglich der Transferkosten. Auf diese Art konnte keine Behörde die Summen verfolgen. So wurden jährlich Hunderte von Millionen an Beträgen aus illegalen Quellen, im Rahmen der Geldwäsche oder für eventuelle terroristische Aktivitäten bewegt.
Sven wartete, ob Elke sich dazu äußern wollte. Sie zuckte nur mit den Schultern.
„Nicht mal ins Kino kann man mehr gehen“, fuhr er fort, als sie keine weitere Reaktion zeigte.
Elke deutete auf den Eingang des Ladens. Eine Frau im Tschador, der traditionellen Frauenkleidung des Iran, näherte sich. Ein dunkles Tuch, das die Haare und den Körper bis zu den Fußspitzen bedeckte und nur das Gesicht frei ließ. Sie trug eine Reisetasche und begann ein Gespräch mit dem Verkäufer. Die Glock in Svens Halfter drückte. Er hatte sich immer noch nicht an das Tragen der Dienstwaffe gewöhnt, seit er zu dieser Einheit beim Zoll gewechselt war. Er rutschte in eine bequemere Haltung, hob die Kamera, fixierte das Gesicht der Kundin und löste aus.
„Sieht nett aus. Dass die ihre hübschen Körper hinter solchen Umhängen verstecken müssen …“
Er redete lieber nicht weiter. Zwar verstand er sich gut mit seiner Kollegin, aber wer konnte schon wissen, ob nicht ein Wort zu viel irgendwie sexistisch ausgelegt werden würde. Sah sie ihn etwa schon kritisch von der Seite an?
„Schon ziemlich dunkel. Hast du sie?“
„Ja. Gut zu erkennen.“
„Mir ist völlig schleierhaft, wie es Menschen geben kann, die diesen Typen Geld anvertrauen. Ich würde immer befürchten, das nie wieder zu sehen“, sagte Elke.
„Die vertrauen dem System. Wenn nur einer jemals betrügen würde, funktioniert es nicht mehr. Deshalb wird das niemand wagen.“
„Müssen wir bis zum Geschäftsschluss bleiben? Macht es dir etwas aus, wenn wir unsere Zelte hier früher abbrechen? Marcus hat heute Geburtstag. Wenn wir schon nicht feiern dürfen, will ich ihm wenigstens einen Kuchen backen.“
Marcus war seit zwei Jahren Elkes Freund. Da war die sonst so korrekte Elke sogar bereit, den Arbeitgeber zu hintergehen? Ihm sollte es recht sein.
„Bringst du mir ein Stück mit?“
Sie schaute demonstrativ, erschien es ihm, auf seinen Bauchansatz und zog die Augenbauen hoch.
„Okay, okay, ich verzichte.“ Er hatte sich seit Beginn der Pandemie nicht besonders diszipliniert verhalten, was die Nervennahrung während der langwierigen Observierungen betraf, und Ausgleichssport war ja momentan gesetzlich verboten. Das kam ihm entgegen, darauf legte er sowieso keinen großen Wert.
„Ist auch besser so“, sagte Elke und fuhr nach einer Pause fort, „Wir sammeln und sammeln Aufnahmen und erfahren nie, ob die Auswertungen je etwasbringen. Das müssen doch Hunderte sein. Allein die von heute.“
„Du kennst das doch. Die geben die in das System ein und dann überprüfen sie, ob jemand davon schon aufgefallen ist.“
Februar 2021
Der Gebäudekomplex des Bundesamtes für Verfassungsschutz wirkte bei dem fleckenlos blauen Himmel nicht so monströs wie sonst. Dieses Jahr hatte es richtigen Schnee gegeben, der liegen geblieben war, und nicht die Matsche, die sonst für diese Jahreszeit hier kennzeichnend war. Babette hatte Kinder rodeln sehen. Die zwei Wochen Winterzeit lagen jetzt hinter ihnen, ebenso wie die harten Einschränkungen des zweiten Lockdowns. Sie befürchtete aber, dass es mit Corona noch lange nicht zu Ende sein würde. Man munkelte von mutierten Viren, der dritten Welle und dass vorzeitige Lockerungen zu weiteren Problemen führen könnten. Sie schüttelte ihre roten Locken, die dringend einen Haarschnitt benötigten. Wie üblich, war sie vor den anderen im Büro. Heute stand die wöchentlich stattfindende Teamsitzung auf der Tagesordnung. Siestellte Fläschchen Wasser, Orangensaft und Apfelsaft an jeden Platz und bereitete Teller mit kleinen Snacks vor. Obwohl Babette Kahn längst von der Position einer Chefsekretärin zur Assistentin aufgestiegen war, nahm sie zusätzlich auch weiterhin diese Aufgaben wahr.
Nacheinander liefen die Kollegen ein. Vor allen anderen erschien Jean-Baptiste Hansen. Es war sein erster Arbeitstag nach einer stationären Reha wegen seines ausufernden Cannabiskonsums. Er sah schlanker aus, die Augen lagen tief in ihren Höhlen. Mehr konnte sie aufgrund der FFP2-Maske nicht sehen. Vorsichtig und zurückhaltend wirkte er und irgendwie strahlte er eine innere Zufriedenheit aus. Er schien sich zu freuen, wieder da zu sein. Babette umarmte ihn trotz der geltenden Maßnahmen.
„Kann ich dich nach der Teamsitzung unter vier Augen sprechen?“, fragte er, sobald sie ihn aus den Armen gelassen hatte.
Als Nächstes stürmte Freddie Rees durch die Tür und schimpfte sofort los. Er hatte mit seinem neuen Jeep Renegade, den das Amt ihm als Dienstfahrzeug zur Verfügung gestellt hatte, auf dem Weg zur Arbeit Altpapier zum Container gebracht. Da alles so schnell gehen musste und er mit der offenen Tür nicht andere Verkehrsteilnehmer beeinträchtigen wollte, hatte er sich in der Hektik einen Winkel in sein Jackett gerissen.
„Was meinst du, Babette, gilt das als Arbeitsunfall? Muss der Arbeitgeber mir das ersetzen? Es geschah ja auf dem Weg zur Arbeit.“ Dann sah er Jean-Baptiste und begrüßte ihn mit dem Coronagruß, Ellenbogen an Ellenbogen. „Da bist du ja wieder. Hast abgenommen, was?“
Zuletzt herein kamen gleichzeitig Jade Taylor, aktuell die einzige Außenagentin, und ihr Chef Dr. Lawrence Hall, der Jade, ganz die alte Schule, den Vortritt ließ.
„Nehmen Sie schon mal Platz!“ Mit diesen Worten verschwand er in sein Büro und erschien Minuten später wieder, ohne Mantel, Handschuhe und Aktentasche.
Babette durchschaute sein Verhalten. In letzter Zeit gab er sich nach außen hin weiter dynamisch, wie man ihn gewöhnt war. Sie merkte aber, dass es ihm von Tag zu Tag schwerer fiel, sich positiv und motivierend zu zeigen. Babette ahnte, dass seine Stimmung damit zusammenhing, dass Tom Forge seit zwei Monaten verschwunden war. Der Einzige, der seine Maske aufbehielt, war Jean-Baptiste, der sich sehr zurückhielt. Erst nachdem alle Platz genommen hatten, bemerkte Hall ihn.
„Herr Hansen, willkommen zurück. Sie können ruhig die Maske abnehmen. Maulkorb, Schnutenpulli oder wie sie die Dinger inzwischen noch alle nennen, benötigen wir hier nicht. Der Abstand zwischen uns ist groß genug. Schön, dass Sie wieder da sind.“ Er schaute über den Tisch und in die Runde.
„Sehr schön haben Sie das wieder vorbereitet“, sagte er in gedämpfter Lautstärke zu Babette und richtete sich dann an seinem Stammplatz vor Kopf gerade auf.
„Wie Sie wissen, haben wir seit zwei Monaten alles Erdenkliche unternommen, um unseren Mann zu finden, haben jeden Stein umgedreht, jede Möglichkeit in Betracht gezogen, aber …“ Hier pausierte er und sah jeden Einzelnen an, „… ohne Erfolg.“
Jade hob an, etwas zu sagen. Hall wischte es mit einer Armbewegung weg.
„Wir haben zu wenig Mitarbeiter, um allen Ideen zu folgen, jeder Spur nachzugehen. Ich bin, wie Sie mitbekommen haben, dazu übergegangen, mehr an andere Abteilungen zu delegieren.“
Babette wusste, dass das ganz und gar nicht seine Art war. Normalerweise würde er bis zum Umfallen arbeiten, um ein einmal gestecktes Ziel zu erreichen. So hatte er auch vor Urzeiten diese operative Untereinheit in der Abteilung IV des Verfassungsschutzes aufgebaut. Aber er schien zu müde zum Kämpfen zu sein. Ihrer Meinung nach war es die Trauer um Tom, den verlorenen Mitarbeiter, die ihn auffraß. Sie vermutete, dass für ihren Chef, der keine Kinder hatte, der junge Kollege so etwas wie einen Ersatzsohn darstellte.
Eine der Aufgaben des Verfassungsschutzes bestand in der Bekämpfung des organisierten Verbrechens, wenn es in Verbindung mit verfassungsrechtlichen Themen stand. Sie waren auf der Jagd nach dem führenden Mitglied einer weltweit agierenden Gruppe, bei der es sich um sechs Familien handeln sollte. Sie waren unter der Bezeichnung die großen Sechs bekannt. Tom Forge hatte versucht, sie aufzuhalten, als sie dem Zugriff entfliehen wollten, und war von ihnen entführt worden. Jade hatte es durch ein Fernglas beobachtet. Wenn sie doch nur von Tom etwas hören würden. Hoffentlich lebte er überhaupt noch.
Babette hatte Halls flammende Worte aus einer zurückliegenden Teamsitzung noch im Kopf. Als er tönte, dass er es leid sei, für die Organisation der großen Sechs nur ein Lakai zu sein. Für die die Karre aus dem Dreck zu ziehen. Sie erinnerte sich an die Vehemenz in seiner Stimme, als er gebrüllt hatte: „Jetzt gibt es nur ein Ziel, wir bringen die zur Strecke!“
Wo war dieser Enthusiasmus geblieben?
Jade hatte ihn wirklich erschossen. Daran gab es nichts zu beschönigen. Immer wieder kamen die Bilder hoch. Es gelang ihr nicht mehr zu unterscheiden, ob in wachem Zustand oder im Traum. Die Szene drängte sich in allen Einzelheiten auf. Tom stand neben ihr, sie selbst leicht vorgebeugt, eine Hand auf der Stuhllehne. Beide schauten zur Eingangstür, in der der Feind stand und eine Waffe auf sie richtete. Jade stieß den Stuhl nach hinten und sprang zur Seite. Es war eine fließende Bewegung, bei deren Abschluss sie wieder eine stabile Position innehatte. Die Glock lag fest in ihrer Hand. Alles automatisiert, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden. Dank des langen und intensiven Trainings. Noch ehe Tom einen Schritt auf den fremden Mann zugehen konnte, in ihr Schussfeld geriet, drückte sie ab. Ohne zu zögern. Treffer.
Das Bild wiederholte sich in Zeitlupe immer wieder vor ihrem inneren Auge. Der Moment, in dem die Kugel einschlug, durch die Jacke und das Hemd in den Körper des Mannes. Der Knall des Schusses war nicht zu hören, sondern nur das leise Klatschen des Aufpralls. Zumindest bildete sie sich das ein. Eigentlich konnte das überhaupt nicht sein. Das konnte man doch gar nicht wahrnehmen. Spielte ihre Fantasie ihr einen Streich? Gaukelte ihr vor, dass es sich so anhörte? Es war Notwehr. Sonst hätte er Tom oder sie erwischt. Abzudrücken war die einzig richtige Entscheidung gewesen. Das hatte man ihr immer wieder versichert. Aber stimmte das? Hätte es keine andere Lösung gegeben? Wäre es nicht möglich gewesen, ihn nur zu verwunden? Sie fühlte sich kraftlos und gleichzeitig aufgekratzt. Ihre Augen brannten von dem Starren in der Dunkelheit. Dieser Mann, Beck war sein Name, blieb tot. Es war ihre Schuld, ihr Gewissen war damit belastet. Sie hatte sich vorher nie damit beschäftigt, was passieren würde, wenn sie im Einsatz jemanden töten musste. Doch als es dann geschah, war das etwas ganz anderes als das Reden darüber und das Trainieren. Nach Lehrbuch hatte sie ihre Aufgabe bravourös erledigt. Das Ergebnis blieb dasselbe. Die Person war tot. Egal, was dieser Mann getan hatte, er war ein Mensch, der Eltern hatte, vielleicht Kinder, Freunde, eine Ehefrau oder Gefährtin und Nachbarn.
Jade hatte ihm das Leben genommen. Sie hatte das angerichtet. Aber vielleicht musste es so sein. Das war das Leben, für das sie sich entschieden hatte. Es war halt nur das erste Mal, dass es dazu gekommen war. Es konnte jederzeit wieder geschehen. Bei zukünftigen Einsätzen. Das war nicht zu ändern. Gehörte zu ihrem Job. Sie hatte es nicht anders gewollt. Nur – jetzt hatte sich ihre Einstellung geändert. Der Tod war so etwas Endgültiges. Durfte ein Mensch so handeln? Durfte sie richten, ohne dass ein Richter vorher die Sachlage beurteilt und die Entscheidung getroffen hatte? War sie in so einer Situation überfordert, in der es keine Zeit dafür gab, einen Vorgesetzten zu informieren? Seine Zustimmung einzuholen? War es wirklich Notwehr? Hatte es keine andere Handlungsalternative gegeben? Jetzt war es nicht mehr zu ändern. Würde sie das aushalten? Damit leben können? Wieder kämpfen, wenn es eine neue Situation erforderte? War sie noch dienstfähig im Sinne ihres Auftrages? Konnte sie sich weiter ohne Vorbehalt für ihre Aufgaben im Verfassungsschutz einsetzen lassen? Sie wollte diesen Beruf nicht aufgeben. Es war genau das, was sie tun wollte. Schon immer. Jade hatte nicht gezählt, wie oft sie sich in ihrem Bett hin und her geworfen hatte. Schweißgebadet: Wieder tastete sie nach ihrem Handy, drückte darauf und starrte auf das erleuchtete Display. Drei Uhr sechsundfünfzig. Hatte sie überhaupt ein Auge zugemacht? Es kam ihr vor, als wenn sie höchstens eine Stunde geschlafen hatte.
Diese Träume, dieses Grübeln, diese Gedanken sollten aufhören. Hoffentlich merkte das im Amt niemand. Sie musste stark sein. Was würden die anderen sonst von ihr denken? Sie würden ihr den Job wegnehmen, ihr andere Aufgaben im Innenbereich geben. Oder sie zum Psychodoktor schicken. Auch Tom durfte nicht wissen, wie sehr es sie noch belastete. Er musste sich auf ihre Hilfe auch in Extremsituationen verlassen können. Er durfte nichts von ihren Zweifeln wissen. Sonst hätte er recht, dass er ihr nicht mehr vertrauen könnte. Das war schon einmal Thema zwischen ihnen. Am Anfang ihrer Zusammenarbeit hatte er ihr eingeschärft, wie wichtig Vertrauen zwischen den Partnern sei. Sonst wollte er nicht mit ihr in einem Team bleiben. Sie hatte ihm zugesagt, dass er sich auf sie verlassen könne. Hoffentlich gelang es ihr, diese Gedanken eines Tages zu vertreiben. Sie spürte ein Kratzen im Hals. Ihr Mund war ausgetrocknet, das Bett ein einziges zerwühltes Durcheinander und der Schweiß auf ihrer Haut war eiskalt. Die Haare klebten ihr im Gesicht. Sie strampelte sich frei und tappte im Dunkeln in die Küche, hielt ein Glas unter den Kran, ließ es volllaufen und trank es in einem Zug aus. Dann ging sie ins Bad, streifte ihre feuchten Sachen ab und stellte sich unter die Dusche. Das Wasser beruhigte sie. Nach und nach fühlte sie sich besser. Die negativen Gedanken verschwanden. Zumindest für den Moment. Aktiv werden, konstruktiv vorgehen, das half ihr. Tom, ja, was mochte mit ihm sein? Sie erinnerte sich an die letzten Sekunden, als er auf dem Dach in den Hubschrauber gezogen wurde. Wo mochte er sich jetzt aufhalten? Lebte er noch? Sie hatte schon alles nur Erdenkliche getan, um seiner Spur zu folgen. Was konnte sie noch tun? Sie musste ihn finden!
Ihre angenommene Identität war typisch englisch, eben dem neuen Zuhause angepasst. Aus Gao Xia war Shirley Wang geworden. Man hatte sie nach London geschickt. Ein Beamter des britischen Inlandsnachrichtendienstes, der Sektion MI5, erwartete sie am Airport und stellte sich als Mike Deacon vor. Dr. Lawrence Hall kooperierte hin und wieder mit dem MI5. Aufgrund einer Information, die er den Kollegen vor einiger Zeit gegeben hatte, konnte in Cornwall ein Anschlag verhindert werden. Dafür schuldeten die Engländer ihm einen Gefallen. Die neue Identität der Chinesin beinhaltete die Coverstory, dass sie nach einem längeren Aufenthalt in Hongkong nach England zurückkehrte, um eine Stelle als Mitarbeiterin eines Brokerhauses in London anzutreten. Shirley Wang war von den unterschiedlichen und vielfältigen Anforderungen ihres neuen Lebens so abgelenkt, dass sie kaum die Muße fand, an Tom zu denken. In seltenen Augenblicken erinnerte sie sich an die wilden Nächte mit ihm. Die aufkommende Trauer, ihn so schnell wieder verloren zu haben, unterdrückte sie. Dafür blieb ihr wenig Zeit. Ihr Arbeitsplatz befand sich in der fünften Etage eines Hauses auf dem Berkeley Square, den man erreichte, wenn man gegenüber dem Hotel Ritz der Berkeley Street folgte. Ihre Aufgabe bestand darin, weltweit vermögende Menschen zu akquirieren und sie zu überreden, ihr Geld in Spekulationen zu stecken, die auf die Veränderungen zwischen den Währungen abzielten. Es war ein nettes Team, auch wenn ein starker Konkurrenzdruck herrschte. Sie bekam ein Grundgehalt und einen prozentualen Anteil von dem Umsatz, der durch ihre Kunden entstand.
Sie hatte wenig Verständnis für Menschen, die darüber klagten, dass sie als Kind wegen des Berufes der Eltern gezwungen waren, oft umzuziehen und deshalb nicht so etwas wie ein stabiles Zuhause kannten, die darunter litten, sich nie irgendwo heimisch gefühlt zu haben.
Ihre Kindheit und Jugend in China beinhaltete alles andere als angenehme Erinnerungen. Ihr war seit ihrer Geburt jeder Umzug wie eine Befreiung vorgekommen. Jeder Ortswechsel hatte eine Verbesserung ihrer Lebenssituation mit sich gebracht. Eine neue Umgebung bedeutete, neue Menschen kennenzulernen und neue Möglichkeiten, die sich daraus ergaben. Sie hatte sich angewöhnt, immer positiv in die Zukunft zu schauen, immer mit der Hoffnung auf weitere Chancen. Sie hatte sich noch nie so frei gefühlt wie heute. Außer Tom gab es in ihrem Leben nichts, dem sie nachtrauern konnte.
Gerade hatte sie begonnen, sich einzugewöhnen, als ihre Gedanken sich bereits mit der Zukunft beschäftigten. Sie war für alles offen. Wer weiß, was das Leben ihr noch anzubieten hatte und wohin es sie verschlagen würde.
Die drei deutschen Geheimdienste, BND, MAD und das Bundesamt für Verfassungsschutz, BfV, haben unterschiedliche Funktionen. Die Aufgabe des BfV besteht darin, das Land vor politisch motivierten und den Staat oder das Grundgesetz untergrabenden Straftaten zu schützen. Die Tätigkeit des MAD betrifft den militärischen Bereich und der BND vertritt die deutschen Interessen im Ausland. Aufgrund der politisch motivierten organisierten Kriminalität fiel der Kampf gegen die großen Sechs in die Zuständigkeit des BfV. Tom Forge, der Agent des BND, war Halls Verbindung zum Auslandsgeheimdienst. Da nicht nur die großen Sechs, sondern mittlerweile viele Feinde Deutschlands weltweit operierten, war ihm diese Kooperation wertvoll. Die Zusammenhänge waren Babette bewusst, als sie ihren Chef beobachtete, wie er an seinem Stammplatz im großen Konferenzsaal die Dienstbesprechung leitete. Er wirkte verloren. Statt seiner geraden Körperhaltung saß er geknickt, in sich zusammengesunken da und stierte vor sich hin. Sonst hatte er immer demonstrativ Berge von Akten durch die Gegend geschleppt, obwohl er sie nicht benötigte, da er alles im Kopf hatte. Das ersparte er sich, seit Tom weg war. Er hatte einen leeren Schreibtisch und auch bei den Teamsitzungen lag nichts mehr vor ihm. Einmal hatte Babette ihn in seinem Büro sitzen sehen. Wie eine leere Hülle hatte er die Wand angestarrt, bewegungslos. Sie hatte irgendwo einmal gelesen, dass das wohl ein typisches Symptom für Depression sei. Sie machte sich große Sorgen um ihn. Irgendwie musste sie ihn wieder aktivieren, ihn aus seiner Lethargie herausholen. Babette überlegte, mit welcher Aufgabe sie ihn wieder motivieren konnte.
„Wir sollten das Hawala-Finanzsystem weiter observieren lassen“, sagte Babette, „Aisha Siddika wurde bei dem Besuch eines Standortes dieser Organisation beobachtet.“ Das war die IS-Terroristin, die in den Kauf des atomaren Sprengsatzes verwickelt war, den Tom in Kooperation mit der Organisation der großen Sechs sichergestellt hatte. Babette beobachtete seit Langem mit Besorgnis die Entwicklung des IS. Hinter der Bezeichnung Islamischer Staat verbarg sich eine radikale islamistische Miliz, die mit brutaler Gewalt und Terrorakten gegen Andersgläubige vorging. Große Landesteile in Syrien und dem Irak wurden vom IS kontrolliert. Ziel der Organisation war es, ein weltweites Kalifat zu errichten. Man ging davon aus, dass über diese Kanäle vorwiegend Beträge zur Finanzierung des Terrorismus und große Summen illegal erworbener Schwarzgelder zur Geldwäsche verschoben wurden. Seit Januar überwachte eine andere Behörde diese Form des Geldtransfers.
Hall horchte auf, brauchte länger, um den Vorschlag zu verarbeiten, als Babette es von ihm gewöhnt war.
„Das fällt doch in die Aufgabe einer anderen Abteilung. Überlassen wir das denen.“ Auch seine Stimme klang gebrochen.
„Sicher“, sagte Babette, „aber wir sollten die Kontrolle behalten.“
Hall schien darüber nachzudenken.
„Ja, Sie haben vollkommen recht, machen Sie ruhig …“
Sie hatten Unterlagen von der FIU bekommen, dass die IS-Terroristin, nachdem sie entkommen war, an einem der überwachten Hawala-Standorte aufgetaucht war. Sie war fotografiert worden. Aber erst später hatte die Überprüfung der Fotos ergeben, dass es sich um die Gesuchte handelte. Sie war von den Sicherheitsbehörden als Gefährderin eingestuft, aber man hatte es verpennt, rechtzeitig die Außendienstmitarbeiter, die mit der Überwachung des Hawalasystems betraut waren, über die Flüchtige zu informieren. Die Bilder aus der Beobachtung lagen Babette jetzt verspätet vor. Zugriff nicht mehr möglich, Aufenthaltsort unbekannt. Sie hatte die Ausdrucke an Hall weitergereicht.
Hall betrachtete sie eingehend, nahm seine Brille ab und legte sie vor sich.
„Da kann man nichts machen. Das ist halt das übliche Kuddelmuddel. Wenn die unterschiedlichen Abteilungen der Behörden zusammenarbeiten, geht doch immer etwas schief. Es lohnt sich nicht, sich zu ärgern.“
„Aber Chef, mein Ansprechpartner dort war ganz zerknirscht. Es war nur eine routinemäßige Überwachung, zur Orientierung. Er sagte mir zu, dass sie jetzt alle ein Bild dieser Aisha Siddika bei sich haben und besser darauf achten würden. Falls sie wieder auftauchen sollte, wollen sie uns sofort informieren und den Zugriff mit uns koordinieren.“
„Sie hat vermutlich das Geld, das sie für den Kauf des nuklearen Sprengsatzes in ihrem Besitz hatte, zurück transferiert. Das war es dann. Wir werden nie wieder etwas von ihr hören. Davon können Sie ausgehen.“
Babette ließ sich nicht abwimmeln. Sie wartete. Sie sah, wie Hall sich unter Druck gesetzt fühlte, bis er sich dazu durchrang, noch etwas hinzuzufügen.
„Ist doch sehr unwahrscheinlich, dass sie da noch einmal auftaucht. Aber was soll es! Sonst haben wir ja nichts. Machen Sie ruhig.“
Babette fiel auf, dass er bei vielen Dingen inzwischen diese Sichtweise an den Tag legte. Im Januar waren die Ergebnisse der ballistischen Untersuchung gekommen. Es stand nun fest, welche Waffen bei dem Massaker in einem sicheren Haus benutzt wurden. Man hatte festgestellt, dass es sich ausschließlich um Waffen amerikanischer Herkunft handelte. Er hatte abgewunken.
„Was soll uns das schon bringen?“, hatte er damals gesagt, „Die kann jeder überall auf dem Schwarzmarkt gekauft haben.“
Im Prinzip war das natürlich richtig, aber früher hätte er auch diesen Hinweis weiterverfolgt. Gut, hierbei ging es nicht direkt um Toms Verschwinden. Nur das allein war für ihn vorrangig. Am Anfang war es noch jeder falsche Atemzug, der ihn auf eine weitere Möglichkeit gebracht hatte. Aber das war einer unglaublichen Passivität gewichen. Am Ende der Sitzung sah Babette, wie Hall Jean-Baptiste einen kritischen Blick zuwarf. Sie wusste, dass er die Veränderungen des Kollegen begrüßte, aber nicht von deren Dauer überzeugt war. Für Hall musste Jean-Baptiste sich erst beweisen, bevor er ihm wieder vertraute. Diese kurze Aufmerksamkeit ließ sie Hoffnung schöpfen, zumindest bewegte sich in ihrem Chef noch etwas.
***
Jade hatte der Teambesprechung wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Der gestrige Traum beschäftigte sie noch. Ob sie die Erinnerung an das Erlebnis wohl je wieder loswurde?
Hall nahm seine Brille vom Tisch, ohne sie aufzusetzen, und nickte ihr zu. Sie folgte ihm in sein Büro. Nach Toms Entführung war das ein Ritual geworden.
„Mir fehlt Tom“, sagte er zu Jade, „seine weitere Sichtweise auf komplexe Zusammenhänge und durch spontanen Perspektivwechsel. So kritisch und provozierend er oft war …“
Jade war klar, dass es auch etwas Persönliches zwischen den beiden Männern war, das Hall umtrieb. Hall sinnierte in diesen Gesprächen mehr vor sich hin, als dass er Konstruktives von sich gab. Jade kam sich die ganze Zeit wie eine Priesterin oder eine Psychologin vor. Was war nur mit ihm?
***
Babette grübelte in ihrem Büro über die Situation. Sie war es Hall schuldig, alles aufrechtzuerhalten, bis er wieder übernehmen konnte. In einem Workshop, den sie absolviert hatte, war es um Führungsqualitäten gegangen. Hatte sie die? Es gab anscheinend unterschiedliche Führungsstile. Sozial kooperativ und autoritär zielorientiert. Eine andere Unterscheidung bestand in einem prozess- versus zielorientierten Vorgehen, sie konnte sich nicht genau erinnern. Zu Hause wollte sie die Unterlagen der Weiterbildung heraussuchen und noch einmal hineinsehen. Sozialer Führungsstil? Ja, den hatte sie bestimmt. Sie konnte schon immer gut mit den Kollegen umgehen. Sich abzugrenzen, hatte sie mittlerweile gelernt. Ihr fiel Jean-Baptiste mit seinem früheren übergriffigen Verhalten ein. Sie war nicht nachtragend und sorgte gut für die Mitarbeiter. Aber wie war es mit dem zielorientierten Vorgehen? Konnte sie in ihren Überlegungen alle Fakten berücksichtigen? Sie hatte Hall all die Jahre beobachtet und bewundert, wie er das hinbekam. Aber genau genommen: Hatte sie nicht vieles auch schon aus eigenem Ermessen für ihn geregelt? Hatte sie nicht ebenfalls schon den Überblick?
Jean-Baptiste stürmte herein und unterbrach ihren Gedankengang. Stimmt, er wollte ein Zwiegespräch mit ihr. Was er wohl auf dem Herzen hatte? Nach seiner Therapie machte er auf sie einen guten Eindruck, auch wenn Hall noch skeptisch wirkte. Er hatte sein Äußeres verändert, sah gepflegter aus. Die kurze, modische Frisur stand ihm gut, die schwarzen Locken waren nur noch im Ansatz zu erkennen. Seine erste Frage, ob er sich setzen dürfe, ließ sie fast vergessen, Atem zu holen. Sie war es gewöhnt, dass er sich einfach immer irgendwo niederließ. Ob er sein vorlautes Mundwerk verloren hatte? Das konnte sie sich nicht vorstellen. Ihr fiel der Ausdruck freche Schnauze ein. Sie musste unwillkürlich lächeln. Das passte zu ihm, aber nicht diese zurückhaltende Art.
„Babette, ich habe dort gelernt, dass man sich bei allen Personen, denen man Unrecht getan hat, entschuldigen und es wieder gutmachen soll.“
Sie schaute ihn an und wartete. Als sie bemerkte, dass sie den Kugelschreiber zwischen die Lippen hielt, legte sie ihn schnell hin.
„Es tut mir leid, dass ich mich dir gegenüber so verhalten habe. Du machst hier so gute Arbeit. Ich sollte dir dankbar sein.“ Er wurde rot, ein kleiner Schweißtropfen bildete sich auf seiner Oberlippe. Babette konnte es kaum glauben, aber es klang, als meinte er, was er sagte.
Jade Taylor hatte den Raum verlassen. Dr. Lawrence Hall saß jetzt allein in seinem Büro im Amt für Verfassungsschutz in Köln, Merianstraße 100. Die Bezeichnungen Nachrichten- oder Sicherheitsdienst sollten nur die Tatsache beschönigen, dass es sich um einen Geheimdienst handelte. Hall fühlte sich verantwortlich, Unregelmäßigkeiten und Abweichungen, hervorgerufen durch Feinde unseres Landes, aufzuspüren. Er sah seine Aufgabe als erfüllt an, wenn er die Bedrohung von Feinden aus dem In- und Ausland rechtzeitig erkennen, im besten Fall ihr vorbeugen, sonst angemessen auf sie reagieren und sie abwenden konnte. In erster Linie gehörte dazu das Sammeln von Informationen mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln. Das Einsetzen von Außenagenten in Undercovermissionen hatte er selbst mit zu seinem Tätigkeitsbereich erklärt. Aufgrund der Gesetzeslage in Deutschland, die für ihn einengende Reglementierungen enthielt, ging er bisweilen Kooperationen ein, die nicht unbedingt in jedem Fall von Außenstehenden als legal eingestuft würden.
Die aktuelle Zusammenarbeit mit dem BND bestand ausnahmsweise im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben und beinhaltete, dass ihm ein Außendienstmitarbeiter auf unbestimmte Zeit ausgeliehen worden war. Diesen Mann, Tom Forge, setzte er zusammen mit seiner Agentin Jade Taylor ein. In seinen Augen war das ein gut funktionierendes Team. Je schneller er eine wichtige Information erhielt und je näher er an einem potenziellen Feind dran war, umso eher war ein Problem zu lösen. Verbindungen und erweiterte Ressourcen waren seine Hilfsmittel. Nur hatte ihm die Gegenseite jetzt seinen besten Mann, eben diesen Agenten Tom Forge, entführt. Die Befürchtung, dass sie ihn mittlerweile umgebracht haben könnten, ließ ihn seit Toms Verschwinden schlecht schlafen. Dieser junge Kerl wusste gar nicht, wie sehr er ihm, Hall, in seiner eigenen Jugend ähnelte. Als alles begann, hatte er auch oft Regeln gebrochen, es war sogar ein Teil seiner Aufgabe geworden. Genau genommen umging er auch heute noch ständig Regeln. Hall lächelte, als er daran dachte, wie er Tom oft eine Predigt gehalten hatte, damit sein junger Agent nicht zu stürmisch vorging.
Hall hatte seine operative Einheit in Form einer Unterabteilung eingerichtet, die klein, aber schlagkräftig war. Er hatte sie zu Beginn seiner Karrierenach seinen Vorstellungen gestaltet und die Finanzierung über schwarze Gelder und geheime Konten der Regierung organisiert. Damit hatte er sich eine Machtposition geschaffen, in der er nur von wenigen Personen kontrolliert werden konnte. Überprüfungen durch das geheim tagende Parlamentarische Kontrollgremium des Bundestags umging er nach Möglichkeit. Bei vereinzelten Operationen war Hall tatsächlich ausschließlich dem Innenminister gegenüber verpflichtet, Rechenschaft abzulegen. Und selbst der war nur selten über alles informiert worden. Hall hatte die damit verbundenen Befugnisse oft bis an die Grenze und darüber hinaus ausgenutzt. Wenn er zurückdachte, war er verantwortlich für den Tod einiger Menschen, hatte aber – und das war seine einzige Entschuldigung – immer für die Interessen des deutschen Staates gehandelt. So sehr er die erforderlichen Verluste bedauerte, so stolz war er auf einen gewissen Patriotismus für sein Vaterland. Es hatte genug Situationen gegeben, die nur aufgrund seiner Fertigkeiten nicht in einen Skandal ausgeartet waren. Niemand außer ihm selbst wusste, wie viel Dankbarkeit Deutschland ihm schuldete.
***
Frank Scheller bezeichnete sich gerne als einen simplen Mitarbeiter der Botschaft der Vereinigten Staaten in der Bundesrepublik. Das war die übliche Tarnung, wenn man zur CIA gehörte. Es war fast drei Uhr morgens, und er war mit seinem Audi auf der Rückfahrt in das Ruhrgebiet. In München hatte er ein Gespräch geführt, das den persönlichen Kontakt benötigte. Er legte gerne nachts weite Strecken zurück. Die Straßen waren leer, er konnte seinen Gedanken nachhängen und hatte seine Ruhe. Fahren, unterwegs sein. Nur mit dem Alkohol musste er sich dabei zurückhalten. Auf dem Boden vor dem Beifahrersitz kullerten zwei leere Dosen Heineken herum, die er seit Beginn der Fahrt getrunken hatte. Die Palette mit den restlichen Dosen stand zur Sicherheit im Kofferraum, damit er nicht verführt wurde. Auf dem Sitz neben ihm lagen das zerknüllte Papier eines Mars-Riegels und eine leere Schachtel Kekse. Er schlürfte den letzten Schluck aus der Diet Coke, zerdrückte die Dose, ließ das Fenster gerade genug herunter, dass der Spalt breit genug war, um sie hinauszuwerfen. Durch den Fahrtwind bemerkte er, wie verschwitzt er war. Er öffnete das Fenster vollständig und entsorgte den Abfall vom Nebensitz. Als er nach den Dosen im Fußraum angelte, kam er kurz ins Schlingern. Es gelang ihm aber, den Wagen wieder zu stabilisieren.
In diesen frühen Stunden schafften es manche Radiosprecher tatsächlich, bei Scheller ein Gefühl von sozialer Nähe aufzubauen, und das wollte was heißen – er schnaufte bei diesem Gedanken – bei jemandem wie ihm, der persönliche Kontakte nicht aufrechterhalten konnte und jedes weibliche Wesen aus seinem Leben vergraulte. Ein Berufskollege musste ihm mitteilen, dass sein Sohn Marc wohl dabei war, sein Jurastudium zu vollenden. Ob er nicht stolz auf ihn sei? Er hatte nicht einmal gewusst, welches Fach Marc überhaupt studierte. Julie sollte mittlerweile verheiratet sein. Er konnte kaum glauben, dass sein kleines Mädchen schon so alt war. Das brachte eben sein Job mit sich, entschuldigte er sich. Der kühle Wind tat ihm gut. Er schlief wenig und wenn, dann schlecht. Sein Leben bestand aus Bewegung, Gesprächen, Taktieren, Drohungen, Intrigen. Überall in Europa brodelte es und die aktuellen Coronabedingungen machten es nicht leichter, die Interessen der USA zu vertreten.
Er strich sich über das stoppelige Kinn. Er sollte aufhören, sich etwas vorzumachen. Meistens war er ausschließlich bemüht, für sich zu sorgen und sein eigenes Auskommen abzusichern. Es war nicht leicht, aber als alter Hase hatte er eine Menge Tricks drauf. So schnell machte ihm niemand etwas vor. Immerhin hatte er in der Botschaft schon vier Vorgesetzte überlebt. Der aktuelle war ein hirnverbrannter Idiot, der nicht den geringsten Überblick hatte. Außerdem so jung, dass er sein Sohn hätte sein können. Wieso setzten sie ihm solche Kinder vor die Nase? Der hatte ihn doch tatsächlich aufgefordert, ihm einmal schriftlich seine sämtlichen Aktivitäten zu dokumentieren, damit er einen Überblick über das Arbeitsfeld Schellers bekäme. Ein Nachweis seiner Tätigkeiten! Hatte der sie noch alle? Die Tage dieses Schnösels waren seiner Meinung nach gezählt. Er musste nur auf seine eigene Position achten. Sich so lange in Deckung halten.
Die letzte Nachricht seines Führungsoffiziers aus den Staaten beunruhigte ihn da viel mehr. Veränderungen in der Agency waren selbst nach all den Jahren immer noch etwas Gefährliches. Was wollten sie? Wurde dort eine andere Strategie entwickelt, von der er nichts wusste? Wo sollte das hinführen? Dinge waren ständig in Bewegung. Er musste vorsichtig sein. Keine voreiligen Schlüsse ziehen, abwarten. Aber er hatte so etwas oft genug mitgemacht, um die Zeichen deuten zu können. Er musste Tom erreichen, erfahren, wo der stand, was er bisher aufgedeckt hatte. Wie nah er der Organisation gekommen war. Es wurde langsam zu gefährlich, er musste auf jeden Fall verhindern, dass irgendetwas von seinen Machenschaften – oder denen, die er für sein Land angestoßen hatte – bekannt wurde. Manchmal schämte er sich für all die Tricksereien und wollte sich nicht mehr im Spiegel gegenübertreten. In solchen Momenten half der Alkohol, ihn von seinen Schuldgefühlen zu befreien. Dann gelang es ihm wieder, sich für seine Strategien zu bewundern. Es war schon ein genialer Schachzug, wie er sich an den jungen unerfahrenen Kerl damals in London herangemacht hatte. Bei Toms erstem Auslandsaufenthalt, da trug er noch nicht den Decknamen, hieß noch Tom Hagen und nicht Forge. Scheller hatte ihn für seine Zwecke rekrutiert. Eine Investition in die Zukunft sozusagen. Seitdem hatte er den Kontakt zu Tom immer wieder aktiviert, wenn er ihn für seine Zwecke einsetzen wollte, ohne dass es Tom aufgefallen wäre. Er hatte ihn in dem Glauben gelassen, dass er, Frank, eben sein zufälliger, praktischer Kontakt zur CIA wäre.
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Jennifer Tauber hatte es sich gegönnt, länger zu schlafen, da sie als Kindergärtnerin wegen Corona aktuell wieder beurlaubt war. Als sie aufwachte und hörte, dass ihr Lebensgefährte Christian Hellenkamp noch schnarchte, zog sie ihm die Decke weg. Er verzog das Gesicht, fasste sich an den Kopf und stöhnte.
„Erzähl mir nichts von Kopfschmerzen“, sagte sie, „ich ruf auch nicht wieder in der Redaktion an und entschuldige dich. Das kannst du dir abschminken.“
Sie wollte nicht in den Tag starten, indem sie sich ärgerte, aber mit seiner Sauferei, das ging ihr inzwischen auf den Keks. Das Einzige, das Christian noch hinbekam, war Stöhnen. Natürlich waren immer alle anderen schuld an seiner Misere.
Christian langte nach der Decke.
„Ach, komm, Jen, noch ein Viertelstündchen. Jetzt ist es doch sowieso egal.“
„Ist es nicht. Guck dich an und überhaupt. Das Schlafzimmer stinkt wie eine Brauerei“
„Was erlauben uns die Politiker denn noch? Man darf nicht mal mehr in ein Café oder eine Kneipe gehen. Ein Bierchen zu Hause ist das Einzige, was man sich noch gönnen kann.“
„Ist das alles, was von deinen Idealen übrig geblieben ist?“
„Nicht wieder eine Grundsatzdiskussion. Dazu ist es zu früh.“
„Für dich ist es nie der richtige Zeitpunkt.“
Er kam mit einem Stöhnen im Bett hoch und stützte den Kopf auf beide Hände.
„Mein Lebenstraum war immer, etwas verändern zu können. Daran zumindest mitzuwirken, Dinge, Missstände meine ich, aufzudecken und den Leuten zu zeigen, was falsch läuft.“
„Die Welt verändern? Guck dich an, was aus dir geworden ist. Deine hochtrabenden Ideen? Darauf bin ich anfangs reingefallen. Jetzt sehe ich dich nur noch trinken und rumnörgeln.“
„Ist das ein Wunder, die haben mich kaltgestellt. Wenn Tom nicht da ist, habe ich keine Quelle mehr, kann nur noch über so banales Zeug wie Mülltonnen berichten, die überquellen, und dass die neueste Errungenschaft darin besteht, dass die Müllcontainer jetzt elektronische Füllanzeiger bekommen sollen, damit die dann rechtzeitig geleert werden. Alles für die Umwelt.“
Was war nur aus ihrem Plan für ein schönes gemeinsames Leben geworden?, ging es Jen durch den Kopf. Tom, immer wieder Tom. Sie hatte auch eine Vergangenheit mit dem Kerl, doch nachdem er sie wegen ihrer besten Freundin hatte sitzen lassen, war sie bei Christian gelandet, anfangs fasziniert von seinen Idealen. Sie wollte genauso sein, nur realisierte sie das im Kleinen auch wirklich. In ihrem Beruf konnte sie für die Kinder da sein und die Fehler der Eltern ausgleichen. Ihnen helfen, den richtigen Start ins Leben zu bekommen. Das war ihre Möglichkeit, die Welt zu verbessern.
Wenn sie an Toms letzten Besuch dachte, als er die verletzte Chinesin in ihrem Haus untergebracht hatte und gleichzeitig hinter Christians Rücken wieder etwas mit ihr anfangen wollte, standen ihr die Haare zu Berge. Nicht zu glauben, dass sie sich fast wieder auf ihn eingelassen hatte!
Tom Forge saß auf einer Terrasse an der Küste Gibraltars. Zum hundertsten Mal suchte sein Blick jeden Quadratzentimeter des massiven, ocker getünchten Bauwerks hinter sich ab und streifte dann über die zerklüftete Küste. Als guter Kletterer würde er es schaffen, aber da seine Wächter immer in der Nähe waren, sah er keine Chance, von diesem Felsbalkon zu entkommen. Die auf einem Felsen an der Südspitze der iberischen Halbinsel liegende Kronkolonie Gibraltar war britisches Hoheitsgebiet, unter der Herrschaft Queen Elizabeth II. Der Zwergstaat breitete sich auf einer Fläche von etwa 10 Quadratkilometern aus. Von hier betrug die Entfernung zum afrikanischen Kontinent nur 21 Kilometer. Sie hatten ihm gesagt, worin seine Aufgabe bestehe, und jetzt warteten sie zusammen auf den richtigen Zeitpunkt für seinen Einsatz. Warum hielten sie ihn gerade hier fest? Gab es eine Möglichkeit für die Kollegen aus seiner Abteilung, diesen Aufenthaltsort herauszufinden?
Die vierundzwanzigjährige Renate Bartel leistete ihm beim Frühstück Gesellschaft. Sie gehörte zum Wachpersonal, das für seine Sicherheit sorgen sollte. Anders ausgedrückt, sie kontrollierte ihn, damit er keinen Fluchtversuch unternahm. Tom war es gewohnt, Menschen einzuschätzen. Er achtete auf jede Kleinigkeit, die ihm nützlich sein konnte. Diese junge Frau hatte eine enorm schnelle Reaktionsfähigkeit, ein hohes Aggressionspotenzial, das Tom auf eine versteckte Wut zurückführte, und enormen Ehrgeiz. Wenn andere anwesend waren, bemühte sie sich, wachsamer, schneller und einsatzbereiter als alle zu sein. Soweit er wusste, war sie die erste Frau, die für Omega arbeitete. Tom gegenüber hielt sie sich eher zurück. Abweisend. Nachdem, was er mit der Chinesin erlebt hatte, wertete er das als gutes Zeichen, war sich aber nicht sicher. Gao Xia, die chinesische Kämpferin, die er bei dem letzten Einsatz kennengelernt hatte, war anfangs auch sehr zurückhaltend gewesen. Hinter ihrer abweisenden Fassade hatte sie ihr Interesse für ihn lange verborgen gehalten. Bei dem Gedanken an sie sank er ein wenig nach vorne und schaute auf den Boden. Der Tag wirkte auf einmal trüber als gerade eben noch. Sie hatte eine neue Identität erhalten, und er würde sie wohl nach ihrer kurzen, heftigen Affäre über Weihnachten nie wiedersehen. Er nahm einen Schluck von dem hervorragenden Kaffee und betrachtete die Frau an seiner Seite. Sie war nur wenig kleiner als er, hatte eine helle moderne Kurzhaarfrisur und versteckte ihre Augen hinter einer überdimensionalen Dolce & Gabbana-Sonnenbrille. Sie kleidete sich immer sportlich, vermutlich, um nicht in ihrer Bewegungsfreiheit eingeengt zu sein. Heute trug sie ein rotes Top mit dünnen Trägern, Sport-BH, schwarze Leggins mit roten Farbspritzern und Leinenschuhe.
Tom atmete die salzige Meeresluft ein und betrachtete, wie in der Ferne die weißen Schaumkronen der Wellen miteinander um den höchsten Punkt wetteiferten.
„Herrliche Aussicht, nicht?“
Sie sah von ihrer Zeitung auf, richtete ihre dunklen Brillengläser auf ihn und nickte.
„Tom, Sie werden es nicht schaffen, hier herauszukommen.“
Sein Mund verzog sich, als er unwillkürlich seine Kieferknochen mit aller Gewalt aufeinanderdrückte. War er so leicht zu durchschauen? Oder konnte sie Gedanken lesen?
Als aktiver Mensch war er hier zur Untätigkeit, zur Bewegungslosigkeit verurteilt. Am liebsten wäre er auf und ab gelaufen, um die Anspannung aus allen Körperteilen loszuwerden. Aktuell bestand seine einzige Herausforderung darin, alles immer wieder zu durchdenken, einen Weg aus der Gefangenschaft zu finden. Er würde die momentane Hilflosigkeit aushalten müssen, wachsam bleiben, vorbereitet sein und den geeigneten Moment nutzen.
Es gab noch einen weiteren Wächter, den jungen, dynamischen Elmar Scholl. Sechsundzwanzig, ein harter und absolut loyaler Typ. Er sah so aus, als wenn es ihm eine Ehre wäre, sich vor seinen Chef zu werfen, um eine Kugel abzufangen. Dann war da noch der IT-Spezialist Kai Uwe Rentenberg, einunddreißig, der ausschließlich Interesse für seine Computer zeigte. Er war immer bereit, Tom etwas über sein Fachgebiet zu berichten. Tom förderte das Bedürfnis, indem er ihm zuhörte und aufmunternde Worte sprach, obwohl er weniger als die Hälfte von dem verstand, was Kai so von sich gab. Außerdem gab es eine Köchin und einen weiteren Bodyguard, der auch als Mädchen für alles fungierte: Boyd Rieger. Er hielt sich selten in Toms Nähe auf. Durch seine kantige Figur wirkte er auf Tom wie ein brutaler Schläger. Dem widersprach aber die Ruhe und Besonnenheit, die er ausstrahlte. Er war für Einkauf und sonstige Erledigungen zuständig. Zwischen Tom und der gesamten Truppe hatte sich ein nettes Verhältnis entwickelt. Niemand wollte dem anderen etwas. Aber sie waren so professionell, dass er sich im Ernstfall nicht darauf verlassen konnte, dass sie wegsehen würden. Im Gegenteil, sie blieben auch nach den zwei Monaten, die sie ihn mittlerweile hier gefangen hielten, auf der Hut und ließen ihn keinen Moment unbeaufsichtigt. Das musste er Omega und Gatow lassen, sie hatten sich ein hervorragendes Team zusammengestellt.
Als Agent des BND war Tom Forge für den Einsatz gegen die weltweit operierende kriminelle Vereinigung, die großen Sechs, an das Bundesamt für Verfassungsschutz ausgeliehen worden. Im Morgengrauen hatte er versucht, Omegas Flucht zu verhindern, indem er den unscheinbaren Anführer dieser Gruppe mit immer weiteren Fragen in ein Gespräch verwickelte, um ihn aufzuhalten, bis das GSG-9-Team vor Ort sein würde. Zu seiner Überraschung war er zum Schluss plötzlich in den Hubschrauber bugsiert worden. Seine Verblüffung war so groß, dass er sich nicht einmal im Ansatz gewehrt hatte. Während des Fluges hatte Schweigen geherrscht, sodass er seinen widerstreitenden Gedanken nachhängen konnte. Die Bodyguards hatten all ihre Kraft benötigt, ihn die ganze Zeit über fest in den Sitz zu drücken. Angst war es nicht gewesen. An sich selbst und die Gefahr, in der er schwebte, hatte er nicht eine Sekunde gedacht. Wütend war er, dass der Zugriff auf die Organisation gescheitert war. Auf der anderen Seite gab es auch Euphorie. Solange er sich in ihrer Nähe befand, dachte er, war nichts verloren. Dann wusste er immer, wo sie sich aufhielten, und es gab noch die Chance, sie zu erwischen.
Sie waren mit dem Leonardo-Mehrzweckhubschrauber zum Düsseldorfer Flughafen gebracht worden. Von dort ging die Reise mit einer Gulfstream weiter nach Heathrow Airport. Tom nahm an, dass ihr Fluchtweg bis dahin für den Verfassungsschutz nachvollziehbar war. Er quälte sich mit Selbstvorwürfen. Den ganzen Flug über wälzte er Gedanken, was er hätte anders machen können. Bis ihm klar wurde, wie müßig diese Selbstkasteiung war. In London verließen sie den Flughafen, und damit würde sich ihre Spur verlieren. Das gesamte Team wurde zur weiteren Verschleierung ihrer Route in einem Kleinbus nach Stansted Airport transportiert. Von dort flogen sie mit einer eigenen Maschine nach Gibraltar.
Man hatte sich in keiner Minute Gedanken gemacht, Tom gegenüber irgendetwas geheim zu halten. Sie waren sich sicher gewesen, dass er bei der bevorstehenden Aufgabe mitmachen würde. Nach der Landung auf dem Affenfelsen hatte er sich die Straßen gemerkt, soweit er sie unterwegs erkennen konnte. Nach der Devil‘s Tower Road war der Fahrer der Sir Herbert Miles Road die Küste entlang gefolgt. Den Stadtkern hatten sie gemieden. Die letzte Straße, deren Schild er erkannt hatte, als sie an einer Moschee vorbeifuhren, war die Europa Road. Danach ging es zwischen einem Gewirr kleiner Unterkünfte hindurch, bis sie an einer Reihe gleicher, ockergelber Gebäude hielten. Omega besaß wohl mehrere davon oder hatte sie angemietet. Tom kannte also ziemlich genau seinen Aufenthaltsort, konnte ihn aber weder verlassen noch Kontakt aufnehmen, um Hilfe von außen zu holen.
Als Grund für seine Entführung hatten sie ihm genannt, dass sie seine Hilfe bei einer größeren Aufgabe benötigten. Der Kontakt über den Verfassungsschutz, wie er vorher stattgefunden hatte, sei zu umständlich gewesen. Für die große Aufgabe, die bevorstünde, wäre die direkte Zusammenarbeit vorteilhafter und würde den Fortgang der Mission nicht so verzögern. Mehrfach und mit beschwörendem Unterton hatte Omega Toms Kooperation eingefordert.
„Tom, wir brauchen Sie. Wir wollen mit Ihrer Hilfe den größten Anschlag verhindern, der je auf europäischem Boden stattfinden soll.“
Als sie ihm den Grund für seine Entführung nannten, änderte sich seine Stimmung. Sie hatten mit der Information nicht lange gezögert, weil sie sich recht sicher waren, dadurch seine Kooperation zu fördern. Ihr Telepath Gatow hatte durch seine Fähigkeit von der Planung terroristischer Aktivitäten nie da gewesenen Ausmaßes erfahren. Toms Fertigkeiten und seine persönliche Erfahrung mit der involvierten Terroristin waren die Gründe, warum sie seine Mitarbeit für sinnvoll erachteten. Jetzt hatte er eine neue Aufgabe, ein konkretes Ziel, für das er planen, auf das er hinarbeiten konnte. Langsam kam er zu der Überzeugung, dass Omega mit dem Einfluss der großen Sechs trotz der unkonventionell erzwungenen Zusammenarbeit mehr Möglichkeiten hatte als der Verfassungsschutz in Köln mit seinem eigenen Vorgesetzten Dr. Lawrence Hall, der ihn meist mit eher strenger Hand von zu viel Eigeninitiative abhielt. Eine der Hauptaufgaben des Bundesamtes für Verfassungsschutz war und blieb auch nur das Sammeln von Informationen.
„… und nicht das direkte Eingreifen“, betonte Hall mit schöner Regelmäßigkeit, „dafür können wir andere Institutionen um Amtshilfe ersuchen.“
„Das dauert zu lang“, war Toms Standardantwort. Er wusste, dass Hall dem nichts entgegensetzen konnte. Auch er war sich dieses Problems der Langsamkeit der Behörde, der Zähflüssigkeit der bürokratischen Wege bewusst. Hall schimpfte zwar, vergaß aber nicht, den korrekten Dienstweg immer wieder deutlich zu machen. Wenn Tom trotzdem aktiv wurde, beschwerte er sich jedoch nicht. Also ging Tom davon aus, dass Hall es stillschweigend guthieß oder zumindest tolerierte.
Was mochte beim BND und in seiner Abteilung beim Verfassungsschutz in Köln vor sich gehen? Arbeiteten die beiden Geheimdienste jetzt zusammen bei der Suche nach ihm? Was unternahm Hall inzwischen, um ihn zu finden? Hatte er eine groß angelegte Suche eingeleitet? Wie ging es seiner Partnerin Jade? Wo wurde sie jetzt eingesetzt? Tom zermarterte sich das Hirn, wie er ihnen einen Hinweis zukommen lassen konnte. Ob sie in Deutschland inzwischen wussten, auf welchem Pulverfass sie saßen? Tom drängte Omega immer wieder dazu, den Verfassungsschutz, die operative Abteilung für die Verhinderung terroristischer Aktivitäten, einzubinden. Zumindest die Kollegen zu unterrichten und ihre Mitarbeit zu ermöglichen.