Intrige - Joachim Stengel - E-Book

Intrige E-Book

Joachim Stengel

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Beschreibung

Besondere Fälle organisierter Kriminalität und Spionageabwehr erfordern eine Zusammenarbeit der Geheimdienste. Der Bundesnachrichtendienst schickt seinen besten Agenten, Tom Forge, als wirtschaftliche Interessen eines deutschen Konzerns gefährdet sind. Der vermeintliche Routineeinsatz entwickelt sich schnell zu einer umfangreichen Aktion. Gemeinsam mit der attraktiven Jade Taylor vom Verfassungsschutz dringt er immer tiefer in ein Geflecht aus Lügen und Intrigen ein. Sie nehmen den Kampf gegen eine mysteriöse, weltweit operierende Gruppe auf, die anscheinend auch in die Bedrohung durch das Corona-Virus verwickelt ist. Gelingt es dem ungleichen Team trotz persönlicher Differenzen und unerwarteter Widerstände, Licht in das Dunkel der politischen Geheimnisse hinter der Krise zu bringen? Ein Agenten-Thriller vor dem Hintergrund der Pandemie.

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Seitenzahl: 338

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Cover-Design von

Sibylle Stengel-Klemmer

Die Stories und die in der Handlung vorkommenden Personen sind fiktional, jede Ähnlichkeit mit real existierenden Personen, gegenwärtig oder früher, ist rein zufällig. Personen des öffentlichen Lebens, die namentlich genannt werden, entspringen in ihren Verhaltensweisen vollständig der Fantasie des Autors und entsprechen in keinster Weise der Realität.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 01

Kapitel 02

Kapitel 03

Kapitel 04

Kapitel 05

Kapitel 06

Kapitel 07

Kapitel 08

Kapitel 09

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

01

Flughafen Düsseldorf. Das taghelle Neonlicht, das die Menschen immer krank aussehen ließ, stach ihm schmerzhaft in die Augen. Tom Hagen traf aus London ein. Tom Forge, sagte er sich. Ich muss mir die neue Identität einprägen. Ich heiße jetzt Tom Forge, 31 Jahre, bin Analyst bei der Unternehmensberatung ACA Consulting Group, in der Buckingham Palace Road, London. Das Unternehmen war ebenso renommiert, wie die Konkurrenten McKinsey, Boston Consulting oder Kienbaum.

Der Flughafen Düsseldorf war der größte in NRW und versorgte den siebtgrößten Wirtschaftsraum der Welt, hatte Tom in einer Broschüre der Lufthansa während des Fluges gelesen. Ihm war auch bekannt, dass im Umkreis von 100 Kilometern um Düsseldorf an die 18 Millionen Menschen lebten. Dieser Bereich, der auch das Ruhrgebiet umfasste, galt als größtes Ballungsgebiet in Europa und musste sich wirtschaftlich und kulturell nicht hinter Metropolen wie London oder Paris verstecken. Düsseldorf galt auch als Drehscheibe für den internationalen Flugverkehr. Beim Passieren der Sperre wurde sein Ausweis von dem Beamten vorschriftsmäßig über den Scanner gezogen. Alles in Ordnung. Trotz Vertrauens in die hervorragende Fälschung blieb ein Rest Zweifel, der auch bei ihm, der schon mit ganz anderen Situationen fertig geworden war, ein unangenehmes Kribbeln erzeugte. Weder in London Heathrow noch während des Fluges waren ihm verdächtige Personen aufgefallen. Wegen der Pandemie war das Tragen einer Maske zur Pflicht geworden. Anfangs hatte er erwartet, dass es deshalb mehr Aufmerksamkeit erfordern würde, einen Verfolger ausfindig zu machen. Aber er war schnell eines Besseren belehrt worden. Die Wahrnehmung wurde nicht mehr von Augen und Gesicht abgelenkt. Die reinen Bewegungen und Körperhaltungen verrieten ihm mehr und schneller, was er wissen wollte. Seine Tarnung war notwendig, weil sein alter Name bei einem früheren Einsatz bekannt geworden war. Automatisch bewegte er sich zu den Transportbändern. Er hatte nicht viel Gepäck, aber der aktuelle Auftrag erforderte mehr als nur den Aktenkoffer. Es war noch unklar, wie lange er sich im Ruhrgebiet aufhalten musste. Gewohnheitsmäßig ließ seine Wachsamkeit auch an der Gepäckausgabe nicht nach. Weder die Mitreisenden noch das Personal schenkten ihm die geringste Beachtung. Der Rimowa-Koffer fiel auf das Transportband. Seine gesamte Ausstattung, wie Kleidung und alle Accessoires, waren diesmal im gehobenen Preissegment angesiedelt. Passend für die anstehende Aufgabe sollte ein vornehmer Eindruck vermittelt werden. Er trug Maßanzug, Seidenhemd, edle Krawatte und Schuhe von John Lobb aus der St. James‘s Street. Hoffentlich war der Aufwand gerechtfertigt und seine Legende wurde nicht durchschaut.

Er begab sich durch den Gang mit den grünen Schildern. Automatisch öffneten sich die elektrischen Schiebetüren und das ungewohnte Bild ‒ Menschen nicht mehr in Trauben drängelnd, sondern in dem erforderlichen Sicherheitsabstand und mit Schutzmasken versehen ‒ warteten geduldig auf ankommende Bekannte, Verwandte, Geschäftsfreunde. Neben Tom, in knapp bemessenen einem Meter fünfzig, schob mit beschwingten Schritten eine junge Frau ihren Lastkarren mit Gepäck vorbei. Ihr zusammengebundenes Haar wippte freudig. Sie stoppte kurz, zwang Tom ebenfalls seinen Schritt zu verlangsamen, dann erspähte sie ein hochgehaltenes Schild, auf dem René Azziz stand.

Toms Konzentration hatte auch jetzt nicht nachgelassen und er erkannte trotz Maske den Mann, der den Namen hochhielt. Die Augen über dem Atemschutz verrieten ihm durch ein Zucken, dass auch er ihn registriert hatte.

„Tom …“, sagte der Mann und kam nicht weiter.

Tom Forge entschied sich, trotz der vorzeitigen Enttarnung in seiner Rolle als Unternehmensberater aus London zu bleiben und fuhr sofort dazwischen.

„Hallo Christian, how are you?“ Musste er ausgerechnet schon hier, zu Beginn seines neuen Einsatzes, Christian Hellenkamp begegnen? Eine Zeit lang hatten sie viel miteinander zu tun gehabt. Christian hatte Geschichte, Pädagogik, Anglistik in Bonn studiert und für zwei Semester Politikwissenschaften in London. In der Londoner Zeit hatten sie sich kennengelernt. Neben dem Studium hatte Christian schon als Korrespondent für Zeitungen in Deutschland gearbeitet. Sie hatten sich angefreundet und gemeinsam die mit ihrem Aufenthalt in London verbundene Freiheit genossen. Viele Nächte hatten sie in den angesagten Clubs der britischen Metropole verbracht. Christian trug graue ausgeleierte Chinos und ein zerknautschtes Leinensakko. So kannte Tom ihn. Er hatte nie viel Wert auf sein Äußeres gelegt. Die 5 Jahre waren nicht Spurlos an ihnen vorüber gegangen. Christian wirkte schwammiger und irgendwie weicher. Soweit Tom das beurteilen konnte. Von sich wusste er, dass er durch Training und die Anforderungen, denen er ausgesetzt war, ihn härter gemacht hatten und ihn kantiger aussehen ließen.

„Du hier? Ich dachte, Du lebst gar nicht mehr“, begrüßte Christian ihn.

Tom schüttelte leicht den Kopf und hoffte, dass Christian ihn verstand.

René Azziz schaute verwirrt zwischen den beiden Männern hin und her.

„Sind Sie der Redakteur für das Interview?“

Christian Hellenkamp bejahte, löste die Konfusion auf und eskortierte beide zum nächstgelegenen Ausgang.

„Halten Sie bitte Abstand“, sagte eine uniformierte Frau des Security-Dienstes.

Nach einem kurzen „Lassen Sie mich Ihr Gepäck …“ und dem „Nein Danke, ich kann das alleine …“ der modernen Frau stoppten alle drei an der ersten Stelle, auf halbem Weg zu den Parkhäusern, die genug Platz bot. Zur allgemeinen Erleichterung wurden die Masken fallengelassen. René Azziz‘ Blick hing an Tom. Christian beachtete sie nicht.

Für Tom hatte sie ein wirklich nettes Gesicht, kaum geschminkt, kein affektiertes Verhalten. Ihre perfekte Figur steckte in Jeans mit den gerade angesagten Rissen am Knie, T-Shirt und unauffälligem Jackett.

„Also“, begann Christian, „das ist …“

„Ich weiß, René Azziz“, sagte Tom, und fügte sofort hinzu, „und ich bin Tom Forge“, um zu verhindern, dass seine Tarnung aufflog. Er warf Christian einen strengen Blick zu. Auf Abstand bedacht, tauschten sie Verbeugungen und Freundlichkeiten aus.

„Ja Tom, Du hast das Schild gesehen, aber Du hast keine Ahnung, wer sie ist. Sie ist das neue Top-Model der Szene und sie soll die Moderation eines neuen Formats, einem Life-Style-Magazin, übernehmen. Ich habe die Ehre, sie abzuholen und unterwegs ein Interview zu führen.“

René Azziz lächelte Tom an. Er wusste, dass azziz heilig bedeutete aber für ihn hatte sie nichts heiliges an sich. Auf ihn wirkte sie nicht wie ein Model, eher wie eine eifrige Studentin, nicht aufgebrezelt, nicht als jemand zu identifizieren, der diesen Rummel mitmachte. Ganz natürlich kam sie daher und nett schien sie auch zu sein.

„Aber, wenn Du hier auftauchst, dann gibt es eine andere Story, das ist mal klar“, sagte Christian.

Wenn das so weiterging hatte Christian bald alles ausgeplaudert. Tom musste sich so schnell wie irgend möglich verabschieden.

„Ich habe lange überlegt, ob ich den Auftrag hier übernehmen soll. Genau das habe ich befürchtet, dass ich Dich wiedertreffe.“

„Befürchtet?“

„Aber nicht, dass es so schnell geht. Du schreibst nichts, ist das klar! Du hast mich überhaupt nicht gesehen.“

Tom gab Christian seine aktuelle Handynummer und fügte noch hinzu, „Forge, Tom Forge“, als der sie eintrug, und war froh, dass Christian das ohne weitere Erklärungen zu verstehen schien und mitspielte.

„Wie geht es Jen?“

„Wir sind zusammen.“

„Das dachte ich mir.“

Christian legte wieder los und Tom konnte den weiteren Wortwechsel nicht verhindern.

„Weißt Du, was damals in der Zeitung stand?“

„Will ich nicht wissen.“

„Eine Spur der Verwüstung habest Du hinterlassen.“

Tom dachte an den Bundespresseball vor fünf Jahren. Er hatte Christian vor die Toilette geschickt – lass niemanden rein, sag, es werde gerade geputzt. Christian hatte vor der Tür gestanden und er selbst hatte aufgeräumt. Es war einiges zu Bruch gegangen. Und blutig war es geworden, das stimmte wohl. Die Erinnerung verblasste.

René Azziz‘ Augen wurden immer größer.

Tom winkte ein Taxi, das gerade einen Reisenden abgeliefert hatte.

„Viel Spaß bei Eurem Interview.“

02

Essen, die zweitgrößte Stadt im Ruhrgebiet sollte seine Basis sein. Auf ihn wartete im Sheraton Hotel eine Executive Suite mit Zugang zur Club-Lounge. Die Reservierung hatte seine Firma, in Gedanken lachte er, die ACA Consulting aus London vorgenommen. Er checkte ein, begutachtete das Zimmer mit Aussicht über die Stadt. Bei einen Blick aus dem Fenster sah er die Philharmonie, das Aalto-Theater und den RWE-Turm. Erst jetzt bemerkte er, dass es ein wunderschöner Abend zu werden versprach. Auf dem Weg zu seiner Unterkunft war er so mit seinem Auftrag beschäftigt, dass das Wetter das letzte war, an das er einen Gedanken verschwendet hatte. Er packte aus und entspannte sich bei einem anschließenden Bummel durch Essen-Rüttenscheid, um sich auf seine morgen beginnende Arbeit einzustimmen. Gegen 23:30 kehrte er zurück, öffnete den Zugang zu seiner Suite, schaltete das Licht ein. Da saß Jade Taylor. Tom war gewohnt mit überraschenden Situationen umzugehen, trotzdem zuckte er innerlich zusammen. Trotzdem gelang es ihm einen gelassenen Anschein zu wahren. Die Kollegin, die so plötzlich in seinem Raum vor ihm saß, hatte er beim Training als verdammt harte Frau erlebt. Die Stärke, die sie in ihrem Leben entwickelt hatte, war für ihn nicht verwunderlich, bei den Geschichten, die Tom aus ihrer Kindheit kannte. Sie hatte ihm einmal an den Kopf geworfen, dass er genauso sadistisch, streng, belehrend und besserwisserisch wie ihr Vater sei. Daraufhin war er so wütend geworden, dass er seine männliche Kraft ausgenutzt und sie auf der Trainingsmatte besiegt und festgehalten hatte. Sie war knallrot angelaufen und fast vor Wut geplatzt.

„Was machst Du denn hier?“

„Ich bringe die Unterlagen.“

„Habe Dich erst morgen erwartet. Wie bist Du reingekommen?“

„Eine meiner leichtesten Übungen, müsstest Du doch wissen.“

„Okay, lass die Akten da und verzieh Dich.“

„Wie redest Du mit Deiner Partnerin? Planänderung. Ich bin Dir zugeteilt. Wir sollen es zusammen angehen. In der Zentrale ist man der Meinung, es sähe besser aus, wenn wir zu zweit auftreten.“

Das hatte ihm gerade noch gefehlt.

„Bist Du mit entsprechendem Outfit ausgestattet?“

„Das siehst Du doch, oder?“

Er schaute sie sich genauer an. Er musste zugeben, sie sah in dem Business Dress genau richtig für die Rolle aus, die ihr zugedacht war.

Sie erklärte ihm, dass in der Planung ihrer Vorgehensweise aufgrund der kurzfristigen Änderung ihre Tarnung nicht vollständig war und einer eventuellen Überprüfung nicht standhalten würde. Sie war nicht aus London eingeflogen worden, sondern direkt aus Köln herübergefahren mit einem Audi Q3.

„So sind wir beweglicher.“

„Und haben dafür eine löcherige Fassade“, ergänzte Tom, „falls jemand auf die Idee kommt, die Flugpläne zu überprüfen.“

Tom verriet ihr nicht, dass seine Tarnidentität bereits angeknackst war, da er einen alten Bekannten getroffen hatte. Es war genau das geschehen, was er in der Planung als mögliches Problem angegeben hatte. Dr. Lawrence Hall hatte ihn überredet, dass er der Geeignete für den Job sei, weil er sich im Ruhrgebiet gut auskannte. Dafür lebten hier aber auch einige Personen, die ihn identifizieren konnten. Er griff sich eine der Aktenmappen von dem runden Kirschholztisch.

„Lass es uns angehen“, sagte Tom.

„Muss das sein?“

„Natürlich. Die COOLTECH AG ist seit einem Jahr börsennotiert und wurde gerade von einem der größten Konzerne im Ruhrgebiet übernommen. Der Konzern ist weltweit aufgestellt. Allein in Deutschland sind ein Drittel der Mitarbeiter beschäftigt, also etwa 50.000. Die machen 17 Milliarden im Jahr, Sparte Technik und Anlagenbau. Das gesamte Unternehmen enthält weltweit ein Sammelsurium von 120 unabhängigen Einzelfirmen, die in einem Zusammenschluss in Form einer Holding, also Muttergesellschaften und diversen Tochtergesellschaften verflochten sind. Die genaue Struktur des ganzen Konstrukts ist kompliziert und schwer zu durchschauen.“ Tom stöhnte, schüttelte den Kopf und warf den Schnellhefter mit Schwung auf den Tisch. Er rutsche über die Kante auf den Boden. Tom ließ ihn liegen. „Ich bin kein Wirtschaftsfachmann, wenn wir uns das genauer ansehen sollen, wird es besser sein, wir geben das unserem Chefanalysten. Soweit ich das verstehe ist bereits die COOLTECH AG in mindestens drei unterschiedliche Unternehmen aufgespalten, die zusammen etwa sechshundert Mitarbeiter haben.“

„Wenn die jetzt eine Aktiengesellschaft sind, wie viel haben die Torgs dann in ihrem eigenen Unternehmen noch zu sagen?“, fragte Jade.

„Sie halten die Aktienmehrheit und haben sich die Geschäftsführung vertraglich gesichert.“

Tom schlug den nächsten Ordner auf.

„Hier haben wir den CEO, den Chief Executive Officer, also den Unternehmenschef …“

„Ich weiß, was ein CEO ist.“

„Gut, gut, wir sollten Frieden schließen“, Tom ließ den Satz einen Moment in der Luft hängen, bevor er weiter sprach. „Die Geschwister Torg. Wilhelm Torg, CEO …“

„Ich referiere den Hintergrund“, übernahm Jade, „32 Jahre, Abitur mit 1,4, Studium BWL und Business Administration, während des Studiums in die kleine Maschinenbaufirma des Vaters eingestiegen. Als der Vater sich zur Ruhe setzte, große Umstrukturierungen und mit Unterstützung der Schwester Laura Torg das aktuelle Unternehmen quasi aus dem Boden gestampft.“ Tom blätterte weiter und fasste zusammen, was er zwischenzeitlich überflogen hatte.

„Gut. Hier etwas zu seiner Persönlichkeit: Er führt das Unternehmen nach dem Motto Fressen und gefressen werden. So sieht er die Welt. Dahinter vermuten unsere Analysten, dass er die Welt wie einen Horror erlebt und mit der ständigen Angst lebt, zu kurz zu kommen. Wenn er keine Leistung mehr bringt, keinen Kampf mehr hat, dann ist die Befürchtung groß, seine Position zu verlieren.“

„Auf der nächsten Seite findest Du etwas zu den Eltern und der Schwester …“

Tom klappte den Ordner zu. „Okay. Erzähl Du.“

Jade Taylor strahlte, schlüpfte aus dem Jackett, streifte die Pumps ab, legte ein Bein unter sich auf den Sessel.

Wirklich ein nettes kleines Kraftpaket, geschmeidig wie ein Panther und dazu sah sie auch noch gut aus. Ihre Muskeln vermittelten Tom den Eindruck, dass sie jederzeit bereit zum Angriff war. Wenn sie nur nicht so widerborstig wäre. Aber vielleicht machte das für ihn gerade den Reiz aus.

„Die Mutter ist früh gestorben. Die Kinder mussten sich mit dem als hilflos erlebten Vater früh entwickeln. Der Vater ließ die Firma langsam verkommen, ging nur noch seinen Hobbys nach, die sich aus der Beschäftigung mit esoterischen Themen ergeben hatten. Er verplemperte das Kapital des Unternehmens mit der Konstruktion fantastischer Maschinen, die mit farblichem Licht angenehme Stimmungen erzeugen und psychische Erkrankungen heilen sollten. Den Geschwistern blieb nichts anders übrig, als ihn aus der Firma zu drängen. Er bereist jetzt im Wohnwagen mit einer Freundin die Welt. Wie alte Hippies. Hin und wieder schreibt er Postkarten aus allen möglichen Ecken der Erde. Beide Torgs finden ihn verachtenswert. Die ehemaligen Firmengebäude befanden sich auf einem großen Areal im Besitz des alten Torg. Die Immobilie und das Gelände haben sie gewinnbringend veräußert und damit die Basis für die jetzige Firma gelegt. Die Stadt Essen ist ihnen mit einem neuen Grundstück und Kapital entgegengekommen zur Schaffung von Arbeitsplätzen. Das war dem guten Verhandlungsgeschick von Wilhelm Torg und dem finanziellen Händchen von Laura Torg zu verdanken. Letztlich hat es sich auch für die Stadt Essen als eine erfolgreiche Spekulation erwiesen.“

Tom hörte konzentriert zu.

„Die Beziehung der beiden?“

„Dazu komme ich jetzt. Es ist eine Art Hassliebe. Sie können nicht miteinander und nicht ohne. Erst wurde um die Führung gestritten, jetzt scheint es so, als wenn sie sich mit ihren jeweiligen Fähigkeiten zum gemeinsamen Nutzen gewähren lassen.“

„Privatleben?“

„Er? Verheiratet, zwei Kinder, kümmert sich kaum um die Familie. Frau sehr häuslich, lenkt sich mit Haushaltsführung, Kindererziehung, Konsum und ihren Freundinnen ab. Merkt nicht ‒ oder will es nicht merken ‒, dass er ständig irgendetwas nebenbei laufen hat.“

„Sonstige Schwachpunkte?“

„Alkohol, wird schnell aggressiv, wenn es nicht geht, wie er will. Häufig Kontakt zu Prostituierten. Unser Leute vermuten, dass er auch kokst. Aufgrund seines narzisstischen Führungsstils sind Kollegen und Untergebene nicht gut auf ihn zu sprechen, was ihn aber nicht zu stören scheint. Also, er wird es gar nicht merken, denke ich.“

„Sie?“

„Laura Torg, 36. Banklehre, Fernstudium Banking & Finance, Abschluss Master. Sie war immer Vorreiterin. Ihr fiel alles wie von selbst zu. Er musste dafür kämpfen. Leidenschaftliche Tennisspielerin, kämpft bis zum Umfallen. Kann nicht verlieren. Sonstiges Privatleben gleich null. Diverse kurze Beziehungen, keiner hält es lange mit ihr aus …“

„… oder sie mit den diversen Männern“, warf Tom ein. Jade nickte.

„Es gibt da einen Typen in Hamburg. Da scheint sie sich unsicher zu sein. Es ist eine schwebende Beziehung. Hält vielleicht durch die Pausen und die Entfernung. Alle anderen wurden ihr schnell lästig. Sobald es länger dauerte und sie begann, eine Abhängigkeit vom jeweiligen Partner zu entwickeln, beendete sie es. Sie scheint nach dem Profil, das die Psychologin von ihr entworfen hat, eine Menge Selbstzweifel mit sich herumzutragen. So in der Art, wie: Bin ich wirklich wichtig? Bin ich gut genug? Die ganzen Männerbekanntschaften sollen ihr wohl zur Selbstbestätigung dienen.“

„Wir sollten uns eine Pause gönnen.“

Sie suchten die Bar des Hotels auf, in der sie eine schummrige Atmosphäre empfing. Gedämpft changierendes Licht hinter dem Tresen wechselte von Lindgrün zu leichtem Rosa. Es war wenig los. Sie ließen sich auf Barhockern an einem Stehtisch nieder, an dem sie sich von der Bedienung ungestört unterhalten konnten.

„Mir gefällt diese Arbeit“, sagte Jade, nachdem sie die Getränke erhalten hatten, „die Zentrale könnte uns immer solche vornehme, exquisite Kleidung zur Verfügung stellen.“

„Genieße den Moment. Wer weiß, was der Auftrag noch bringt. Wenn es um Geld geht kann es immer brenzlig werden. Was kommt als Nächstes?“

„Der Erfolg kam, als sie diesen Wissenschaftler, Dr. José Lopez-Varas, für die Entwicklungsabteilung aus Venezuela abgeworben haben.“

Tom war bei seinem dritten Drink angekommen. Seine Stimmung verschlechterte sich von Glas zu Glas. Er runzelte die Stirn.

„Mir gefällt die ganze Sache nicht. Die schicken uns in diese Firma unter dem Deckmantel, wirtschaftliche Interessen zu schützen, und geben uns nicht den kleinsten Hinweis, um was es eigentlich geht. Wir haben hier detaillierte Psychogramme der Verantwortungsträger …“

„Du kennst unseren Chef. Das sind seine schnellen Entscheidungen. Vielleicht wusste er es selbst noch nicht und hat uns schon einmal vorab eingeschleust?“

„Erst rein und dann weitersehen? Ich bleibe dabei. Ich finde es unverantwortlich.“

„Er wird sich etwas dabei gedacht haben. Wenn er es für sinnvoll hält, wird er uns informieren. Wir sind das Außenteam. Unser Job ist, das zu erledigen, was er uns aufträgt. Wir sind die Werkzeuge, die er einsetzt. Ist es das, was Dir nicht gefällt? Du als Schachfigur und nicht derjenige, der selbst entscheidet?“

Tom antwortete nicht. Sie lag mit ihrer Bemerkung gar nicht so falsch.

Sie sprachen noch die anderen Geschäftsführer durch und legten die Strategie für das erste Meeting fest. Wer von ihnen sollte die Leitung übernehmen?

03

Christian Hellenkamp war oft angespannt, fühlte sich unter Druck, seine Pflicht zu erfüllen. Leistung, Leistung, Leistung. Nur hervorragende Ergebnisse kamen für ihn in Frage. Ohne die Anerkennung von außen kam er sich unwichtig und klein vor. Das Einzige, wie er es schaffte, sich von diesem Druck zu befreien, bestand darin, Dinge einfach zu vergessen. Mit dieser Strategie handelte er sich immer wieder beruflichen und privaten Ärger ein. Er vergaß die Post im Briefkasten oder wenn er die Briefe mitnahm, legte er sie ab und öffnete sie nicht. So geriet er in Zahlungsschwierigkeiten. Nicht etwa, weil er nicht genug Geld auf dem Konto besaß, es interessierte ihn einfach nicht. Das meiste erledigte sich von selbst durch Abbuchungsaufträge, die Jen ‒ eigentlich „Jennifer“, aber das war ihr selbst viel zu lang und zu spießig ‒ für ihn eingerichtet hatte. Seit sie bei ihm wohnte und auf ihn achtete, lief es besser. Er blieb nicht mehr unterwegs mit seinem Auto liegen, weil er vergessen hatte zu tanken. Sie erinnerte ihn rechtzeitig daran. Er nahm auch nicht weiter ab, weil er einfach nicht daran dachte, etwas zu essen. Jens Unterstützung hatte dazu geführt, dass sein Leben jetzt geordneter verlief. Aber irgendwie kam es ihm jetzt genauso so vor, wie es mit seiner Mutter gewesen war. Er wurde bevormundet und das machte es nur schlimmer. Sein innerer Trotz, sein Auflehnen gegen Regeln wurde größer.

Zu dieser späten Stunde ‒ es war halb eins ‒ kamen ihm die Geräusche des Schlüssels, mit dem er die Wohnungstür öffnete, besonders laut vor. Er hatte mit einem befreundeten Paar, beides Pressefotografen, ein Mehrfamilienhaus in Essen-Rüttenscheid, in der Giselastraße gekauft. Die Fotografen nutzen die beiden unteren Wohnungen, er und Jen die obere und das Dachgeschoss mit einem großen Balkon, den ein Vorbesitzer angebaut hatte. Es war das letzte Haus in dieser Straße, das noch immer in dem charismatischen Ruhrgebietsgrau der Sechziger erstrahlte, wie er es in seinem wohlwollenden Humor gerne ausdrückte. Jen nannte es alt und dreckig. Hoffentlich schlief Jen schon und bekam nicht mit, dass er wieder die Arbeit bis zum letzten Moment aufgeschoben hatte. Obwohl er diesmal den späten Termin für das Treffen nicht zu verantworten hatte. Es war die einzige Möglichkeit im vollen Zeitplan des Models gewesen. Er hatte das Interview auf seinem Handy mitgeschnitten. Es war unterhaltsam gewesen. Heute Nacht würde es spät werden. Jetzt musste er es noch in die richtige schriftliche Form bringen. Morgen war Abgabetermin in der Redaktion. Vorsichtig drehte er den Schlüssel, um das Knacken des Schlosses gering zu halten, und schob die Tür dann von innen mit herunter gedrücktem Griff leise zu. Im Dunkeln tastet er sich durch den Flur in sein Arbeitszimmer und nahm seine abgewetzte lederne Botentasche von der Schulter. Er liebte die alten Holztüren in diesem Haus, mit den Sprossen und den Scheiben darin. Allerdings würde so sein Schreibtischlicht in den Flur fallen. Den einen Riss im Holz der Tür musste er unbedingt einmal reparieren. Die fast nicht sichtbare Welle am Rand des Teppichbodens sollte auch bald daran glauben. Andere sahen so etwas nicht, aber für ihn war es wichtig. Von diesen Gedanken durfte er sich jetzt nicht ablenken lassen. In der Küche bereitete er sich einen Kaffee zu, dann begann die Arbeit. Über den Kopfhörer ließ er das Gespräch mit René Azziz‘ frischer Stimme noch einmal Revue passieren und entwarf seinen Text.

Nach wenigen Minuten hörte er das vorsichtige Öffnen der Tür und tapsende Schritte hinter sich. Er drehte sich um und war sich des schuldbewussten Blickes, mit dem er Jen entgegensah, bewusst. Er wollte nicht so schauen, aber es geschah wie von selbst. Sie stand dort in einen übergroßen T-Shirt, unter dem gerade so eben ein Eckchen ihres roten Höschens hervorlugte. Ihre hübschen Füße hielt sie leicht nach innen gedreht auf dem Rand des Flickenteppichs. Mit ihrem rechten Zeh zupfte sie an den Fäden der Teppichfransen. Ihre Brüste zeichneten sich gerade so eben unter der weichen Baumwolle ab. Ihre Nippel waren hart.

Sie rieb sich die Augen.

„Wie spät ist es?“

„Ich bin gleich fertig. Tut mir leid, dass ich Dich geweckt habe.“

„Alles gut. Wie war das Interview? Ist noch Kaffee da? Ich könnte einen vertragen.“

Dann erst nahm sie anscheinend seinen schuldbewussten Blick wahr.

„Was hast Du?“

„Nichts“, sagte er schnell, „es ist noch etwas in der Maschine.“

Sie schlurfte in die Küche, kam mit ihrem Lieblingsbecher, von einer Freundin selbst getöpfert und mit Blümchen bemalt, voll dampfenden Kaffees zurück. Sie hockte sich neben seinen Schreibtisch, ihm schräg gegenüber auf den Korbstuhl, die Füße nebeneinander auf der Sitzfläche, den Kaffee auf den Knien mit beiden Händen umfasst, um sich zu wärmen.

„Lass Dich nicht stören, Christian. Ich sitze nur hier und schau Dir zu.“ Sie lächelte.

Er tippte. Das Klappern der Tastatur füllte den Raum. So wie sie da saß, sah sie nicht wie 34 aus, sondern wie ein kleines, schutzbedürftiges Mädchen. Sie kam aus einem stockkonservativen Dorf mitten im Münsterland. Vater war Inhaber einer erfolgreichen Schreinerei. Mutters Aufgabe hatte darin bestanden, den Ruf der Familie zu wahren. Nach außen hin musste eine glatte Fassade gezeigt werden, sonst würde alles zusammenbrechen. So wuchs Jen mit der ständigen Angst auf, sich ja in den Augen der anderen richtig zu verhalten. Als sie älter wurde und das durchschaut hatte, begann sie sich, wo es ging, dagegen aufzulehnen, und war so früh wie möglich weggezogen. In das verruchte, verdorbene Ruhrgebiet, wie ihre Mutter zu sagen pflegte.

Einen Augenblick fühlte Christian sich richtig wohl. Er empfand eine gemütliche Stimmung mit Jen in seiner Nähe. Für ihn war sie die tollste Frau auf der Erde, wenn sie nicht gerade an ihm herummeckerte. Womit hatte er sie nur verdient? Durfte er sich darüber freuen oder kam noch etwas hinterher? Dann fiel ihm die Begegnung mit Tom ein. Sollte er ihr davon erzählen? Lieber nicht. Jetzt kamen Zweifel und Schuldgefühle. War es richtig, dass er ihr die Begegnung verschwieg? Die Erinnerung an das Drama vor fünf Jahren kehrte zurück. Tom und er kannten sich aus ihrer gemeinsamen Londoner Zeit und sie hatten sich danach aus den Augen verloren. Vor fünf Jahren tauchte Tom plötzlich wieder auf. Bei einem Kneipenbummel hatten sie Jen kennengelernt. Tom hatte sich damals in sie verliebt und war kurz mit ihr zusammen, bis ihm Mary-Lou über den Weg gelaufen war. Als das Gefühlschaos zu groß geworden war, hatte Tom sich einfach aus dem Staub gemacht. Tom war damals in irgendwelche dubiosen Angelegenheiten verwickelt, die Christian nie durchschaut hatte. Dann kam es zum Eklat auf dem Bundespresseball und Tom verschwand, als wenn er nie existiert hätte. Wenn er es genau nahm, hatte Christian ihm sein Leben zu verdanken. Tom hatte die Kugel abgefangen, die sonst Christian erwischt hätte. Dafür fühlte er sich Tom gegenüber verpflichtet. Irgendwann würde er es wieder gutmachen. Als Tom verschwand, blieb Jen zurück und Christian hatte sie getröstet. Sie waren sich näher gekommen und ein Paar geworden. Hoffentlich erfuhr sie nie, dass Tom wieder im Ruhrgebiet aufgetaucht war. Christian wunderte sich über die eigenartige Namensänderung. Er hoffte, dass sein Freund nicht wieder in irgendwelche betrügerische und strafbare Aktivitäten verwickelt war.

04

Das Gebäude der Firma COOLTECH lag an einer der Ausfallstraßen der Stadt Essen in der Nähe einer großen Tankstelle nach amerikanischem Vorbild. In der kalten, perfekten Glasfassade spiegelten sich die teuren Fahrzeuge der Führungsriege, die an den Ladestationen davor hingen. Alles Elektro, vorwiegend Tesla. Zur Sicherheit waren überall bewegliche Videokameras zur Überwachung des öffentlichen Raums installiert. Dekorativ eingesetzte Bäume ließen die ansonsten mit Platten belegte Ebene vor dem Gebäude wie die Animation eines Architekturbüros erscheinen. Eine große Montagehalle schloss sich an, mit weiteren Etagen für die Forschungs- und Planungsabteilung.

Betreten des Gebäudes nur mit Schutzmaske und Anmeldung mit telefonischer Rückversicherung. Jeder bekam ein automatisch erzeugtes Namensschild, das auf dem gesamten Gelände zu tragen und bei Verlassen wieder auszuhändigen war. Sie wurden von einer elegant gekleideten Dame, von der sie nur die blitzenden Augen sahen, zu einem Konferenzraum in der dritten Etage geleitet. Die Gesichtsmasken des Personals trugen alle das COOLTECH-Logo in der blauen Farbe des Unternehmens. Jade Taylor und Tom Forge führten mit ihren Schutzmasken das Signet der ACA Consulting spazieren, roter Punkt mit den Versalien ACA in Schwarz. Die Abstandsregelung machte es erforderlich, dass der größte vorhandene Konferenzraum für das Meeting reserviert war. Als alle Platz genommen hatten, legten sie auf Hinweis des CEO die Masken ab. An Getränken standen Wasser und Säfte in kleinen Flaschen bereit. Die Gläser waren einzeln eingepackt und Süßigkeiten keimfrei eingeschweißt. Alles vorschriftsmäßig.

Anwesend waren alle bis auf Laura Torg, die per Video auf einem großen Flachbildschirm an der Wand aus Hamburg zugeschaltet war. Tom vermutete, dass sie sich bei ihrem Freund in Hamburg aufhielt. Wilhelm Torg vor Kopf, rechts und links je ein Sitz frei. Um den ganzen Tisch herum wurde der Sicherheitsabstand gewahrt. Berufsgenossenschaft und Betriebsärztlicher Dienst sorgten für die Einhaltung der erforderlichen Maßnahmen. Wilhelm Torg begrüßte und stellte vor, zuerst per Video seine Schwester, Laura Torg, CFO ‒ Chief Financial Officer, zu seiner linken Seite der Reihe nach Dr. Claudia Greinert, COO ‒ Chief Operating Officer, Kostümrock und Businessjackett in mittlerem Grau, hellblaue Bluse, schlank. Sie trug ihre dunkelblonden glatten Haare halblang mit Seitenscheitel, was auf Tom streng wirkte. Nach einem freien Platz folgte M.Sc. Astrid Brody, CIO ‒ Chief Investment Officer, Business-Hosenanzug dunkelblau, weiße Bluse mit dezenten Punkten in Blau. Lange dunkle Haare, hochgesteckt. Fülliger, drückte Tom sich gedanklich vorsichtig aus.

Sie packte gerade ein Plätzchen aus und schob es sich in den Mund.

Ihre Nachbarin Dr. Claudia Greinert nippte an ihrem Wasser, schüttelte den Kopf und schickte ihr einen strafenden Blick zu.

Wilhelm Torg konnte sich nicht verkneifen, deutlich zu machen, dass die Damen selbstverständlich nicht aus gesetzlichen Gründen der paritätischen Verteilung in der Führungsebene eingestellt wären, sondern ausschließlich wegen ihre Fähigkeiten. Die beiden Frauen nickten dazu und lächelten unverbindlich. Auf dem übernächsten Stuhl saß Mark Klee, an die zwei Meter groß, Anfang der Fünfziger, fast kahl geschorene Haare, verantwortlich für IT und Marketing. Ein Selfmade-Man, wie Tom am Abend von Jade erfahren hatte, kein abgeschlossenes Studium, aber ein umfassendes Fachwissen, in endlosen Fortbildungen angeeignet. Seine Fertigkeiten und sein geschickter Umgang mit Menschen hatten ihm den Job des Geschäftsführers für diesen Bereich eingebracht. Tom ging nicht davon aus, dass er sich zu einer Unregelmäßigkeit hinreißen lassen würde. Aus Angst, seine Position zu verlieren. Klee hatte sich ein Saftfläschchen geöffnet und ließ sich eine Bifi XXL schmecken. Tom hatte in diesem Unternehmen anderes erwartet. Aber vielleicht war Mark Klees Vorliebe bei der Wahl der Knabbereien berücksichtigt worden.

Zur Rechten eröffnete Dr. José Lopez-Varas den Reigen. Der Leiter der Forschungsabteilung war in einem weißen frisch gestärkten Kittel mit dem blauem Logo der Firma erschienen. Er schob seine Brille zurecht und fummelte an Schreibpapier und Kugelschreiber herum. Daneben Jade und Tom. Toms Aufgabe sollte darin bestehen, sich entspannt zurückzulehnen und nur auf seine Wahrnehmung zu achten. Sie hofften, dass sie mit Hilfe seiner geschulten Beobachtungsgabe, etwas über die Anwesenden erfuhren. Erste Hinweise, vielleicht Unregelmäßigkeiten, die sie zu ihrem Ziel führen konnten, dass erst einmal darin bestand zu erfahren, weshalb sie mit einem solchen Aufwand überhaupt hier eingeschleust worden waren. Jade übernahm wie vereinbart die Leitung und stellte sich und Tom vor. Sie erklärte, dass sie als Toms Vorgesetzte aufgrund der Bedeutung des Auftrags es für wichtig hielt, dass sie selbst mit vor Ort sei. Machte aber deutlich, dass Toms Fähigkeiten als Analyst unschlagbar seien.

Jetzt kam bereits der erste Einwurf des CEO Wilhelm Torg.

„Wieso sind Sie überhaupt hier?“

Wenn Tom das nur wüsste. Er kannte nur ihre Tarnung, nicht aber das Thema dahinter.

Torg schien es sichtlich schwerzufallen, sich vor den anderen die Blöße zu geben, dass hier jemand über seinen Kopf hinweg die Entscheidung getroffen hatte, eine Unternehmensberatung einzuschalten. Er hatte nicht die Geduld, bis zur Pause zu warten und dann Jade oder Tom unter vier Augen zu fragen.

„Auf Wunsch des Aufsichtsrats“, führte Jade aus. „Wie Sie wissen, hat der Aufsichtsrat, seit Sie an der Börse notiert sind, das Recht, diese Maßnahmen einzuleiten. In Anbetracht der Bedeutung der Entwicklung halte ich es auch für angemessen, eine Neuausrichtung vorzunehmen.“

Tom grinste innerlich. Das hatte sie gut hinbekommen. Sie stellte es so hin, als wenn sie informiert wären. Schön, wie sie von der Entwicklung des Unternehmens gesprochen hatte.

Torg ließ nicht locker.

„Wer aus dem Aufsichtsrat hat das gefordert? Was ist Ihnen über die Erfindung mitgeteilt worden?“

Erfindung? Aha, da gab es den ersten Hinweis. Tom konnte sich vorstellen, dass es ein Donnerwetter geben würde, sobald Torg erfuhr, wer für diese Aktion verantwortlich war. Tom beobachtete Schweißperlen an Torgs Schläfen und nahm wahr, dass Dr. José Lopez-Varas neben Jade unruhig hin und her zu rutschen begann.

Jade erklärte, dass bisher nicht der exakte Grund bekannt sei, ihnen aber die Genehmigung vorläge. Sie brachte ihre Verwunderung darüber zum Ausdruck, dass es allem Anschein nach Unstimmigkeiten in der Übermittlung gegeben haben müsse, und ging nicht auf die Frage nach dem Namen des Aufsichtsratsmitglieds ein. Da sie den Namen nicht kannte, hätte sie ihn auch gar nicht nennen können. Wenn sie ihre Unwissenheit aber zugab, sah es nach Inkompetenz aus, und wenn sie ihn nicht angeben wollte, dann wirkte es unkooperativ. Tom fand, dass sie alle Klippen schlau umschiffte, wie wenig Informationen sie bisher zu der ganzen Angelegenheit hatten. Sie verdeutlichte dann in erster Linie, dass sie ebenso zur Verschwiegenheit verpflichtet seien und sich selbstverständlich daran hielten, wie Ärzte oder Rechtsanwälte. Daraufhin ließ Torg sie reden. Sie blieb in dem Bild und verglich den Eingriff in ein Unternehmen mit einer schwierigen Herzoperation.

Jade erklärte, dass die ACA Consulting COOLTECH bei der strategischen Neuausrichtung unterstützen werde. Es sollten Lösungen für auftretende Fragestellungen erarbeitet werden, die zu Einsparung der Kosten und der Erschließung neuer Märkte führen sollten. Vor allem im Hinblick auf das neue innovative Produkt. Dabei wäre das Vorgehen, zuerst eine Ist-Analyse vor Ort durchzuführen. Falls sich Schwachstellen zeigten, würden Optimierungen vorgenommen.

Tom fand, Jade war brillant in ihren Erklärungen. Er musste aufpassen, sich nicht von ihrem Vortrag ablenken zu lassen. Seine Aufgabe bestand schließlich darin, die anderen im Auge zu behalten. Das war ihre Möglichkeit, die von ihnen gewünschten Informationen herauszufinden. Sie hatten bisher keine Ahnung, um was es sich bei dem von Jade so schön umschriebenen innovativen Produkt handelte. Es war ihre Aufgabe, etwas vor feindlichem Zugriff zu schützen, von dem sie noch nicht einmal wussten, was es war. Tom registrierte bei der Erwähnung des Begriffs innovatives Produkt eine allgemeine Unruhe. Er lehnte sich vor, schaute nach rechts und bekam mit, dass der Leiter der Forschungsabteilung sich nicht wirklich im Griff hatte. Eine Augenbraue zuckte bedenklich. Tom vermutete, dass es um ein Produkt, eine Erfindung ging, die noch nicht durch ein Patent geschützt war. Um einen Verrat an Unbefugte zu verhindern, war es nötig, undichte Stellen innerhalb des Unternehmens ausfindig zu machen. So würde das alles hier in seinen Augen einen Sinn ergeben. Bevor er mehr Informationen bekam war das seine Arbeitshypothese.

Jade fuhr fort, die Analyse im Detail zu erklären, und nutzte dazu die vorbereitete PowerPoint-Präsentation.

„Im ersten Schritt erfassen wir alle relevanten Daten, die zur Prozessanalyse im betroffenen Bereich anfallen. Der zweite Schritt“, Jade wechselte das Bild der Präsentation, „beinhaltet unsere Hauptaufgabe. Wir erarbeiten mit den gesammelten Daten Strategien und Maßnahmen zur Lösung, in diesem Fall einer Optimierung. Risiken werden ausgeschlossen, indem wir die Lösungsansätze während des Prozesses regelmäßig mit Ihnen abstimmen.“ Jade klickte wieder auf das mitgebrachte MacBook Pro. „Wenn Einigkeit über Umfang und Einsatz der Optimierung gefunden wurde, beginnt die Phase der Realisierung und Kontrolle.“

Tom fiel auf, dass die kleine Dicke, wie er sie insgeheim taufte, immer wieder unsicher das Konterfei Laura Torgs auf dem Videoschirm im Blick behielt. Bestanden da Abhängigkeiten? Hatte sie der Torg gegenüber Verpflichtungen, weil sie ihr die Stelle verdankte? Die Greinert erschien ihm einfach nur knallhart, Karriere über alles. Er schätze sie so ein, dass sie ihren Körper zur Erreichung von Spitzenleistungen im Sport genauso malträtierte, wie sie sich in ihrem Beruf forderte. Würde sie aus materiellen Gründen ihre Karriere gefährden? Männer spielten bei ihr keine Rolle. Zumindest war Jade und ihm nichts darüber bekannt. War sie an Frauen interessiert?

Der IT- und Marketing-Mann konnte am allerwenigsten von allen seine Langeweile in diesem Meeting verbergen. Es waren ihm ein paar Mal die Augen zugefallen. Vermutlich gehörte er zu den Personen, die Zugang zu den relevanten Unterlagen hatten, somit möglicherweise diese auch an eventuelle Interessenten verraten könnte, aber Tom neigte dazu, ihn aus der Gruppe der Verdächtigen zu streichen. Wilhelm Torg war es unglaublich schwergefallen, sich so lange zurückzunehmen. Mehrfach hatte er angesetzt, etwas zu äußern, sich dann aber beherrscht. Jetzt kündigte er eine Pause an. Er wolle ein Wort unter vier Augen mit Laura wechseln und einige wichtige Anrufe erledigen. Tom ahnte, dass das nichts Gutes bedeuten konnte. Was hatte er im Sinn? Sich in London vergewissern, dass sie wirklich von dort kamen? Er war ja gedeckt, aber Jade?

05

Die ausgerufene Pause ließ einige der Anwesenden wieder lebendig werden. Stühle wurden zurückgerollt. Die Teilnehmer des Meetings erhoben sich, stülpten ihre Masken über, bis auf Marc Klee, der noch etwas Essbares in den Mund steckte. Die beiden Damen verschwanden in Richtung Toilette. Der Leiter der Forschungsabteilung eilte mit wehendem weißen Kittel über den Flur davon. Jade begleitete Wilhelm Torg in ein angrenzendes Büro. Tom hörte noch, wie Torg sagte:

„Sie müssen verzeihen, aber Ihre Firma ist vom Aufsichtsrat kurzfristig eingeschaltet worden, ohne dass mir Näheres über die Ursachen und Gründe gesagt wurde. Das geht so nicht. Die können mich nicht übergehen. Ich bin hier der CEO. Nichts gegen Sie, aber ich muss wissen, wer sich das ausgedacht hat.“

Sein Ärger war selbst auf die Entfernung zu spüren.

Tom vermutete, dass Torg sich jetzt im Beisein von Jade in London rückversichern wollte, ob sie und Tom wirklich von dort kamen, und den Verantwortlichen vom Aufsichtsrat zu erreichen versuchte. Dabei wollte er vermutlich seine Macht demonstrieren, um Jade zu imponieren. Tom war sich sicher, dass Jade ihm die Durchwahl ihres Ansprechpartners in der Buckingham Palace Road geben würde, der war aber bisher nur über Toms Einsatz informiert. Das war der Mann, den Dr. Lawrence Hall, ihr Vorgesetzter im Amt, in London verpflichtet hatte, der als Einziger dort in der Firma informiert war und diese Angaben bestätigen konnte. Aber was, wenn Torg nach Jade fragte? Darüber gab es mit dem Verbindungsmann in der ACA Consulting keine Absprache. Er musste sich auf Jades Findigkeit und die Flexibilität des Mannes in London verlassen. Meist hatte Jade jedoch spontan die besten Ideen. Das hatte Tom während der gemeinsamen Ausbildung und in der früheren Zusammenarbeit festgestellt.

Tom holte sich Kaffee aus der bereitgestellten Maschine und gesellte sich zu Mark Klee, der Tasse und Teller mit einer Hand jonglierte. Mit der anderen versuchte er, ein Plätzchen in den Mund zu schieben. Dazu fummelte er unter seiner Gesichtsmaske herum. Essen und Trinken mit Maske war die neue gesellschaftliche Herausforderung.

„Soll ich die Tasse halten?“, bot Tom an und begann einen Smalltalk. So einfach machte man sich Freunde, man musste ihnen nur Gelegenheit zum Essen geben. Toms Grinsen war durch seine Maske versteckt. Um einen Schluck Kaffee zu sich zu nehmen, entschuldigte man sich kurz, drehte sich weg, klappte die Maske hoch, trank. Dann Mund und Nase wieder bedecken und sich dem Gegenüber wieder zuwenden. Die Alternative war, sich in größerem Abstand aufzuhalten, dann war es akzeptiert, dass in gegenseitigem Einverständnis die Schutztücher heruntergelassen wurden. Was würde Knigge dazu sagen? An den Anblick ernsthafter Menschen im Gespräch mit zur Hälfte verborgenen Gesichtern konnte Tom sich nicht gewöhnen. Noch vor einem halben Jahr wären solche Situationen als bizarre Sketche in Comedy-Shows gezeigt worden. Jetzt war es Realität. Es amüsierte Tom immer wieder aufs Neue.

„Was hat Dr. Lopez-Varas denn so Eiliges zu tun? Ist er immer so …?“

„Oh, ja. Wir haben ihn aus Venezuela eingekauft. Ich denke, vor allem wegen der Erfindung. Wirkt er nervös? Ist mir nicht aufgefallen. Macht sich bestimmt Gedanken, dass nicht alles so klappt, wie er es sich wünscht. Er ist so ein Hundertprozentiger, Genauer. Man wird sehen. Im Marketingbereich wird es absolut keine Probleme geben. Das wird einschlagen, da macht Marketing wieder Freude.“

Tom sagte nichts in der Hoffnung, Klee würde sich zu näheren Angaben über die Erfindung hinreißen lassen. Aber Mark Klee war nicht dumm.

„Ich sehe, man hat Sie noch nicht informiert. Sie müssen das verstehen. Die wollen sich erst ganz sicher sein, dass der Patentschutz rechtskräftig ist, sie völlig abgesichert sind. Aber glauben Sie mir, Sie werden staunen. Es ist ein Knaller.“

06

Der Stadtteil Rüttenscheid war ein angesagtes Viertel in Essen. Es gab einen Markt, Restaurants, Bars, Cafés und viele kleine elegante Lädchen. Auf der mit Blumenkübeln und Bäumen geschmückten Rüttenscheider Straße, die sich mitten durch den Stadtteil zog, tummelten sich viele entspannte Leute. Jade und Tom dazwischen, auf der Suche nach einem geeigneten Platz, an dem sie sich niederlassen konnten, um ihren Hunger zu stillen.

„Ich kenne diese Straße von einem früheren Aufenthalt“, erklärte Tom, „die nennen sie hier liebevoll Rü, in Anlehnung an Ku-Damm oder Kö. Hier ist immer etwas los.“

Sie passierten einen exzellenten Burgerladen, eine Tapas-Bar, diskutierten, ob es lieber ein italienisches oder ein griechisches Restaurant sein sollte. Bis ein modernes, urban wirkendes Lokal ihr Interesse weckte. Gin & Jagger, Café, Bar und Brasserie, wirkte wie ein Etablissement, das sich auch in New York oder Paris befinden konnte. Darauf einigten sie sich. Sie durchliefen bei Betreten des Restaurant das üblichen Prozedere, Maske auf, Hände desinfizieren, Name und Kontaktdaten angeben, Maske ab. Nach gründlichem Studium der