Die neue Gefahr - Joachim Stengel - E-Book

Die neue Gefahr E-Book

Joachim Stengel

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Beschreibung

Robert E.Tarne, Detektiv im Ruhrgebiet, soll für einen TV-Sender die Hintergründe eines vermeintlich rechtsextremistischen Terror-Anschlags aufspüren. Je tiefer er in den Sumpf der rechten Szene gerät, umso mehr wird er vom Ermittler zum Beteiligten, der nicht nur um seine Habseligkeiten fürchten muss. Was macht ihn so gefährlich für die Drahtzieher?

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 001

Kapitel 002

Kapitel 003

Kapitel 004

Kapitel 005

Kapitel 006

Kapitel 007

Kapitel 008

Kapitel 009

Kapitel 010

Kapitel 011

Kapitel 012

Kapitel 013

Kapitel 014

Kapitel 015

Kapitel 016

Kapitel 017

Kapitel 018

Kapitel 019

Kapitel 020

Kapitel 021

Kapitel 022

Kapitel 023

Kapitel 024

Kapitel 025

Kapitel 026

Kapitel 027

Kapitel 028

Kapitel 029

Kapitel 030

Kapitel 031

Kapitel 032

Kapitel 033

Kapitel 034

Kapitel 035

Kapitel 036

Kapitel 037

Kapitel 038

Kapitel 039

Kapitel 040

Kapitel 041

Kapitel 042

Kapitel 043

Kapitel 044

Kapitel 045

Kapitel 046

Kapitel 047

Kapitel 048

Kapitel 049

Kapitel 050

Kapitel 051

Kapitel 052

Kapitel 053

Kapitel 054

Kapitel 055

Kapitel 056

001

Am 22. November 1963 wurde in Dallas, Texas, John Fitzgerald Kennedy erschossen. Der Attentäter Lee Harvey Oswald – ein politischer Sonderling mit paranoider Persönlichkeit – wurde kurz darauf unter den Augen der Polizei ebenfalls für immer zum Schweigen gebracht. Am 8. Dezember 1980 um 22:50 wurde John Winston Lennon in New York durch fünf Schüsse getötet. Der Täter, Mark Chapman, war vorher in psychiatrischer Behandlung und verschwand anschließend wieder in einer geschlossenen Anstalt. Die Diagnose der Psychiater lautete auf paranoide Schizophrenie. Das ist alles sehr lange her. Inzwischen waren Attentate, die heute meist als Terroranschlag oder Amoklauf bezeichnet und als motiviert aus den unterschiedlichen extremistischen Ecken gesehen werden, an der Tagesordnung. Sonderlinge schienen es immer noch zu sein. Sie identifizierten sich heute nur mehr mit einer politischen rechts- oder linksextremen oder einer religiösen fundamentalistischen Richtung.

Peter Urban sah sich nicht so, nicht als Sonderling. Er schaute auf seine Armbanduhr. Es war morgens um 2:30 Uhr, der 23. Oktober. Heute würde er ernst machen. Zielstrebig setzte er einen Fuß vor den anderen. Er war auf dem Weg zu dem Haus des Bundestagsabgeordneten Eberhard Lauer im Essener Süden am Waldrand. In einem schwarzen Rucksack auf seinem Rücken lastete das Gewicht einer in die Plastiktüte eines Lebensmittelhändlers verpackten selbstgebastelten Bombe. Urban hatte seine blonden Haare – modisch oben länger, an den Seiten kurz rasiert – unter einer schwarzen Mütze versteckt. Seine dürre langgezogene Figur war insgesamt in schwarze Kleidung gehüllt. Das Gesicht schwarz zu schminken war ihm zu affig vorgekommen. Außerdem, und er hatte lange darüber nachgedacht: Wenn er damit gesehen würde, wäre das auffälliger als ungeschminkt. Wer ihn kannte, hätte sich gewundert, dass er, der sonst eher mit ungelenken, fast schüchternen Bewegungen durchs Leben stolperte, jetzt im Dunkeln dynamisch, zielbewusst, fast katzengleich seinen Weg fand. So sollten ihn die anderen einmal sehen!

Eine halbhohe Mauer, kleine Türmchen mit spitzem Betondeckel obendrauf und dazwischen ein hoher Zaun aus senkrechten, schwarz lackierten Gusseisen markierte die Frontlinie des Grundstücks. Eine undurchdringliche Hecke verbarg die dahinterliegende Villa vor ihm. Im Türmchen neben dem Eingangstor glitzerte selbst im Dunkeln eine polierte Messingplatte mit integrierter Schelle und perforierter Sprechoption. Ein Namensschild suchte man vergebens.

Vor dem Nachbargrundstück sah Urban einen mit den Insignien der örtlichen Polizei beklebten Passat Kombi parken. Seiner Meinung nach stand der mehr zur Demonstration als tatsächlich zur Bewachung dort. Das Observierungsobjekt lag vom Standort des Streifenwagens aus in der Blickrichtung der Beamten.

Helmut Schlieper zwirbelte an den Überresten seines 70er-Jahre-Schnurrbartes herum. Er würde seinem jungen Kollegen schon beibringen, was es hieß, ein richtiger Polizist zu sein. Schließlich hatte er in seinem Alter die meiste Erfahrung, das sollte der respektieren.

„Du interessierst dich doch für Autos? Ich zeig dir, was ich schon alles gefahren habe. Da kannst du nur von träumen.“ Er zückte sein Smartphone, drückte darauf herum und hielt es seinem Kollegen hin.

„Hier Marc, in deinem Alter, was bist du jetzt, 23?, da habe ich einen Ford Capri gefahren. Manta hatte ich nie. So einer war ich nicht.“

„Sieht echt gut aus, der Capri – für die Zeit zumindest. Hast du den auch heiß gemacht? Meinen Scirocco holt so schnell keiner ein. Was ich da schon dran herumgeschraubt habe!“

Beide schauten auf das Haus, das sie zu überwachen hatten.

„Was wird denn aus eurer Hochzeit? Ist das nicht bald? Habt ihr euch schon auf einen Namen geeinigt? Heute kann man ja auch den Namen der Frau annehmen.“

„Ich behalte meinen, Marc Grewert ist okay. Ich will nicht anders heißen. Außerdem, vielleicht findet es gar nicht statt.“

„Was? Die Hochzeit?“

„Ja, sie meckert dauernd, dass ich so selten Zeit habe, zu oft Nachtdienst, und dann immer am Auto bastele und so. Ich mach das nicht mehr lange mit, hat sie gesagt.“

Helmut Schlieper legte seinem Kollegen gutmütig die Hand auf die Schulter. „Mach dir keine Sorgen. Sie wird sich mit der Zeit daran gewöhnen.“

„Meinst du? Und die Langeweile bei diesen Überwachungen?“

„Damit wirst du dich abfinden müssen. Ich hab noch nie erlebt, dass etwas passiert.“

„Gehen wir eine Runde?“

„Gleich. Immer mit der Ruhe.“

Urban schlich sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite an seinem Zielgrundstück und der Überwachungsmannschaft vorbei. Hoffentlich bemerkten ihn die Beamten nicht. Er hatte sich ein Objekt ausgesucht, das um die nächste Straßenecke zwei Häuser weiter lag. Dort stand die Eingangstür zum Vorgarten immer dreiviertel auf und sah so verrostet aus, dass er annahm, dass sie sich gar nicht mehr schließen ließ. Als er um die Ecke war, aus dem Sichtbereich der Polizisten heraus, huschte er über die Straße und durch diesen Eingang, der wie erwartet offen stand, auf das verwilderte Grundstück. Nur wenig Licht drang von einer Straßenlaterne in das zugewucherte Grundstück hinein.

Er hielt im Schatten eines riesigen, längst verblühten Rhododendrongebüschs kurz inne. Nichts regte sich. Im Haus ging kein Licht an. Alles ruhig, bis auf ferne Autogeräusche, eher einem Rauschen vergleichbar. Ganz ruhig wurde es im Ruhrgebiet ja nie. Sein eigenes Atmen kam ihm unnatürlich laut vor. Fast verräterisch. Er kämpfte sich durch die unterschiedlichen Sträucher und Gehölze rechts am Haus entlang. Die Fenster des Erdgeschosses lagen so hoch, dass er sich unterhalb der Fensterbretter in die Tiefe des Grundstücks hinein bewegte, ohne sich unter den Fenstern bücken zu müssen, falls dort noch jemand wach sein sollte. Die Helligkeit

der Laterne drang kaum noch bis hierhin vor. Am hinteren Ende war vor langer Zeit eine Garage errichtet worden. Hinter dieser begann das dahinter gelegene Grundstück – ein Neubau, erkannte er auch in dieser Finsternis. Der Zaun war neu, hoch und ein ernst zu nehmendes Hindernis. Aber seine Richtung war ja sowieso das rechts daneben gelegene Grundstück. Vor der Garage überquerte er die einsehbare Zufahrt, bestehend aus zwei mit Betonplatten belegten Spuren, dazwischen hoch gewachsenes Gras. Dahinter drang er in das einen Meter breite Dickicht zum rechten Grundstück ein. Die Begrenzung bestand aus einem Zaun aus Holzlatten, 1,80 bis 2 Meter hoch. Sie waren vermodert, unten zum Teil abgefault, oben spitz und an zwei Querbalken angenagelt. Die Reste des Zauns waren dick mit Efeu überwachsen. An einer Stelle fehlten einige Latten. Urban zwängte sich durch diese Lücke. Ein Haus weiter. Noch eines bis zur Straßenecke und dann das dritte. Dann war er am Ziel. Hoffentlich gab es nirgends Wachhunde.

Das Grundstück machte auf Urban einen wesentlich gepflegteren Eindruck. Wenige Pflanzen warfen lange Schatten bis zum Haus. Er bewegte sich von Deckung zu Deckung nah an der Hauswand entlang. Die Fenster begannen knapp über ihm. Das plötzliche Gebell eines Hundes ließ ihn zusammenfahren. Ein helles hysterisches Kläffen. Es wollte nicht aufhören.

„Cindy, was ist denn los! Jetzt gib aber Ruhe“, drang eine weibliche Stimme an sein Ohr und gleichzeitig wurde das Licht eingeschaltet. Urban presste sich an die Wand, seine Finger berührten den Rauputz knapp unterhalb der Fensterbank. Genau über ihm öffnete sich das Fenster.

„Schau doch, Cindy, da ist nichts. Beruhige dich doch.“

Aus dem Hintergrund tönte eine männliche Stimme.

„Vielleicht muss sie nur mal raus?“

Ach du Scheiße, wenn die den Köter in den Garten lassen, dann würde der ihn natürlich sofort erwischen. Die Nase eines Hundes konnte man nicht täuschen. Das war Peter Urban klar. Er wischte sich über die Stirn. Sie war feucht. Er spürte, wie sein Atem schneller ging und sein Blick hektisch zwischen Fenster und dem weiteren Weg hin und her irrte. Wie weit noch bis zur Grundstücksgrenze? War die nächste Begrenzung genauso leicht zu überwinden wie die letzte? Eher nicht, nach dem Zustand der Anlage zu urteilen. Wenn die doch nur das verdammte Licht wieder ausmachen würden. Der Lärm könnte auch die Bullen noch auf ihn aufmerksam machen.

„Nein, das werde ich bestimmt nicht tun. Ich bin froh, dass sie inzwischen stubenrein ist und die Nacht durchhält. Das will ich gar nicht wieder einführen.“

Das Geräusch von Schritten, Türenklappern und das Gebell drang nur noch gedämpft an Urbans Ohren und verstummte kurz darauf ganz. Dann wurde das Fenster geschlossen und das Licht gelöscht.

Urban atmete tief durch und wartete noch einige Minuten, bevor er sich um zwei Koniferen herumdrückte, die zu beiden Seiten des Hauseingangs standen. An dieser Seite des Hauses hatten früher einmal Drainagearbeiten stattgefunden. An der Hauswand befand sich ein fünfzig Zentimeter breiter Streifen aus Kieseln, um durch einen besseren Abfluss von Wasser das Eindringen von Feuchtigkeit ins Mauerwerk zu verhindern. Er hob das Bein zum nächsten Schritt, weiter an die Hauswand gedrückt, und wollte den Fuß gerade aufsetzen, als er die Steine bemerkte. Das hätte gerade noch gefehlt, das Knirschen würde alle auf ihn aufmerksam machen. Geduckt sprintete er auf dem kurzgeschnittenen Rasen neben dem Kiesbett zum Grundstückrand und verbarg sich hinter einer weiteren Konifere, die mit mehreren in einer Reihe, mit Abstand dazwischen, die Grenze zum Nachbarn markierte. Dahinter behinderte ein Maschendrahtzaun sein Vorankommen. Ein Meter achtzig oder höher schätzte er. Er griff in seine Jackentasche und zog den eigens für diesen Zweck mitgebrachten Seitenschneider hervor. Er probierte das Werkzeug an einer Drahtschleife aus. Ein feines Pitschen ertönte. Der Draht trennte sich wie Butter. Das funktionierte gut. Er schnitt weiter, Ping – Ping – Ping, bis das Loch groß genug war. Dann durchtrennte er oben und unten noch in Querrichtung einige Maschen, bog das Drahtgeflecht wie eine Tür zur Seite und stieg hindurch. Hinter sich bog er das Maschendrahtstück wieder in seine richtige Form zurück und drang in das neue Gelände vor.

Hier war es dunkler. Das gelbe Licht der Straßenbeleuchtung störte nur in den Grundstücken, vor denen Laternen standen. Rasen für geräuschloses Gehen, Gebüsch für unsichtbare Fortbewegung, aber leider eine breite Zufahrt und ein Wendekreis mit Brunnen in der Mitte und alles mit weißem Geröll. Das ging nicht gut. Er musste es hinter dem Gebäude versuchen. Jetzt war es Zeit für sein neuestes Spielzeug. Mit einem Schulterzucken schwang er den Rucksack herum, stellte ihn vor sich und zog ein Nachtsichtgerät aus einem der Fächer. Seine Kumpel hatten ihn ausgelacht. Was er damit wollte, hatten sie gefragt. Aber was wussten die schon! Es war einfach großartig, was man alles im Versandhandel heute bekommen konnte. Er setzte das Gerät, seinen ganzen Stolz, auf und schaltete es ein. Wie im Kino. Absolut. Alles war sichtbar. Wenn ihn seine Freunde so erleben würden, dann würden sie bestimmt anders über ihn denken. Sie würden schon sehen, wozu er imstande war. Den Rucksack geschultert, setzte er mit großer Sicherheit einen Fuß vor den anderen. Begleitet von einem leisen Knistern, wenn er auf die dekorativ angeordneten Bodendecker trat. Was war eigentlich mit Spuren, die er hinterließ? Daran hatte er noch gar nicht gedacht. Hatte er Fußspuren hinterlassen? Konnten die durch so etwas auf seine Fährte kommen? Ach was. Er würde einfach die Sneaker sofort morgen entsorgen. Seine Schuhgröße, 44, war so weit verbreitet, die hatte bestimmt jeder Zweite. Da sollten die doch so viele Abdrücke von seinen Fußabdrücken machen wie sie wollten. Damit würden sie gar nichts herausfinden.

Hinter dem Haus war eine Terrasse, dann Sträucher, etwas Rasen und an der rückwärtigen Grenze ein Carport, einige Schuppen und überdachte Regale, in denen Kaminholz gelagert war. Genau in der Ecke zum Nachbarn lag ein großer Haufen gehackter Holzklötze. Bei genauerem Hinsehen erkannte er, dass es einfache Baumstücke waren, die wohl noch mit dem Beil bearbeitet werden sollten. Nur ein viel kleinerer Haufen schien schon brennfertig gespalten zu sein. Auch ein Hackklotz stand dort. Dahinter erstreckte sich ein schmiedeeiserner Zaun, der sich zwischen gemauerten Säulen auf einer kleinen Mauer erstreckte. Den zu überwinden würde ein Problem darstellen. Die Mauer war zwar klein, aber der Zaun darauf ziemlich hoch. Er müsste hinüberklettern. Durchtrennen war hier nicht möglich. Aber zu seinem Glück hatte er einen hervorragenden Eindruck der gesamten Trennungsvorrichtung durch das Nachtsichtgerät. Hinter dem letzten gemauerten Turm gab es einen Abstand von etwa fünfzig Zentimeter, bis ein anderer Zaun das Grundstück vom dahinter liegenden Nachbarn trennte. Er musste also nur über diesen Berg von zukünftigen Holzscheiten klettern, möglichst ohne Lärm zu erzeugen und ohne sich zu verletzen, und sich dann durch diese Lücke quetschen. Vorsichtig schaffte er die Überquerung und zwängte sich durch die Aussparung. Auf diesem Gelände gab es wenig Deckung. Er musste hinter dem Haus bleiben. Die Straßenseite und auch die nächste Grenze zu seinem Zielobjekt waren durchgehend mit demselben hohen schmiedeeisernen Zaun umgeben. Darunter ein kleines Mäuerchen und alle paar Meter ein gemauerter Turm mit einer Betonplatte als Abdeckung. Der Zaun war ziemlich hoch. Über zwei Meter, schätzte Urban. Das Grundstück war gut zu übersehen. Fast nur Rasen, Einfahrt und Parkplätze mit Natursteinplatten ausgelegt und sehr wenige Buchsbaumpflanzen, die zu großen Kugeln geschnitten waren. Hier standen rechts in der Ecke mehrere Fahrzeuge. Er erkannte einen Jaguar, eine größere BMW-Limousine und ein Cabrio. Ein japanisches Modell. Hoffentlich gab es am rückwärtigen Ende des Zauns wieder eine Lücke. Aber diesmal hatte er kein Glück. Das dahinter liegende Grundstück war mit einer Mauer auf der Grenze abgetrennt. Vermutlich eine Garage von hinten. Nach rechts in sein Zielgrundstück schloss wieder eines dieser Türmchen an, aber der Spalt dazwischen war hier für ihn zu schmal. Es blieb nur eins: Klettern. Hoffentlich waren auf diesen Türmchen nicht noch Glasscherben einbetoniert. Das fehlte ihm gerade noch. Er verstaute das Nachtsichtgerät wieder in seinem Rucksack und begann zu klettern. In demselben Moment hörte er eine Autotür zuschlagen und kurz darauf die nächste. Das konnte nur der Streifenwagen sein. Geräusche eines weiteren Fahrzeugs hatte er nicht wahrgenommen.

„Ich sag dir, wenn man nicht ab und zu ein paar Schritte tut, dann übersteht man so eine Nacht nicht. Außerdem kann es nicht schaden, sich umzusehen. Tut gut, die Beine zu vertreten.“

Von dem anderen war nur ein Murren zu hören.

Urban vergegenwärtigte sich den Standort des Polizeiwagens. Wenn sie in seine Richtung unterwegs waren, dann mussten sie erst am Grundstück des Politikers vorbei. Ein Stück noch davor hatten sie geparkt. Also waren es vielleicht fünfzehn bis zwanzig Meter. Wie lange benötigten sie dafür? Wahrscheinlich nur Sekunden. Er sprang hinunter, lief gebückt zurück und duckte sich hinter die Autos. Die Schritte der beiden Beamten hallten laut in der Ruhe der Nacht. Sie gingen am Zaun des Grundstücks entlang und blieben auf der Höhe der Autos stehen.

„Sieh mal da hinten.“

„Was ist denn da?“

Der Strahl einer Taschenlampe streifte über die parkenden Wagen, hinter denen Urban auf dem Bauch lag. Hatten sie ihn entdeckt?

„Sieh doch mal. Da steht ein Jaguar XKR Coupé, das ist doch mal ein Auto.“

Die beiden Beamten fachsimpelten einige Zeit über Automodelle, ihre Vor- und Nachteile, bevor sie sich wieder in ihr Dienstfahrzeug zurückzogen.

Urban atmete erleichtert aus. Es kam ihm so vor, als ob er die ganze Zeit die Luft angehalten hätte. Jetzt aber weiter. Die Klettertour klappte besser als erwartet. Auf der anderen Seite sprang er herunter und eilte auf die Terrasse seines Zielobjektes zu. Hier war es wieder dunkler, da der Bereich sich seitlich am Haus befand und nicht der direkten Einstrahlung des Laternenlichts ausgesetzt war. Er stieß gegen einen Korbtisch, den er übersehen hatte. Die Füße des Tisches kratzten über den Natursteinboden und erzeugten ein quietschendes Geräusch. Urban stockte der Atem. Er hielt in der Bewegung inne. Die Tischplatte neigte sich leicht und er bemerkte einen Schatten, der sich in Bewegung setzte und über die Tischkante zu fallen drohte. Im letzten Moment griff er zu und erwischte den Aschenbecher, bevor der auf den Boden poltern konnte. Mit seinen Oberschenkeln hielt er den Tisch in der Schräglage und ließ ihn dann ganz langsam wieder auf seine vier Beine hinunter. Das war gerade noch einmal gut gegangen. Alles blieb ruhig. Nirgends wurde Licht eingeschaltet. Nach mehreren ruhigen Atemzügen setzte er erneut das Nachtsichtgerät auf und begann mit seiner Arbeit.

002

Tarne saß an seinem Schreibtisch, die Füße auf der Tischplatte, und beobachtete die Sonnenstrahlen, die die kleinen Staubpartikel sichtbar werden ließen, die unbeweglich in der dicken Luft standen. Die Tür stand halb auf und war mit einem Holzkeil gegen das Zufallen gesichert. Auf dem Fußboden war der Schatten der Türbeschriftung verzerrt zu lesen: Robert E. Tarne, Ermittlungen. Die Sonne ließ die gelben Fliesen der ehemaligen Metzgerei in neuem Glanz erstrahlen, die Tarne als sein Büro und Domizil nutzte. Es waren die günstigsten Gewerberäume, die er kriegen konnte, ein Nebenraum, der als Schlafzimmer diente, und eine Küchenecke. Tarne betrachtete die Fliesen, die als Alterserscheinung allesamt mit einem Muster aus kleinen schwarzen Linien gezeichnet waren. Sein Gehirn begab sich von ihm unbeeinflusst auf eine Gedankenreise, ob darin wohl irgendwelche Hieroglyphen und Geheimbotschaften versteckt sein könnten. Die Grundfrage, ob er sich darüber ärgern sollte, dass er nichts zu tun hatte, oder darüber freuen, dass er seine Ruhe hatte, war noch nicht geklärt. Vielleicht sollte er üben, sich möglichst nicht zu bewegen. Gab es nicht so ein Kinderspiel: Wer sich zuerst bewegt, hat verloren? Es wurde langsam kühler. Er überlegte, ob er die Tür schließen sollte.

Die alte Metallrahmentür mit dem Sicherheitsglas, die durch die vielen Farbschichten mittlerweile das doppelte Gewicht haben musste, wurde durch einen Keil offen gehalten. Das erste Herbstlaub wurde von einem Luftzug über die Straße getrieben. Einige bunte Blätter verirrten sich in sein Büro. Nach den letzten Hitzemonaten war es jetzt ganz angenehm. Ob er aufstehen und sich einen Kaffee holen sollte? Lieber nicht bewegen, in der meditativen Stellung bleiben. Kindergekreische drang zur Tür herein, eine Fehlzündung und die Geräusche vorbeifahrender Autos und zur Untermalung die monotone Geräuschkulisse, die WDR 2 um diese Zeit zu bieten hatte.

In diesem Moment passierte es: Zuerst ein klirrendes Geräusch, dem wie als Antwort fast im selben Moment ein Klatschen folgte. In der Glastür befand sich plötzlich eine kleine runde Öffnung mit einem dünnen Spinnengewebe darum herum, an einer Stelle, an der eben noch durchsichtiges klares, leicht verdrecktes, aber heiles Glas gewesen war. Genau gegenüber hatte eine der gelben Fliesen ein neues Muster. In der Mitte ein schwarzes Loch und rundherum, in frischem Weiß, abgeplatzte Fliesenstücke. Feiner weißer Staub hing über der zerstörten Kachel. Die Staubpartikel, die Tarne beobachtet hatte, waren zwischen beiden Einschlägen in wilde Bewegung geraten.

Tarnes Herz setzte einen Schlag aus und die Luft blieb ihm weg. Das war ganz klar ein Einschussloch. Man hatte es auf ihn abgesehen. Irgendjemand schoss auf ihn. Erst nach diesen Überlegungen hatte sein Gehirn die Reflexe in Bewegung gesetzt und er rutschte vom Stuhl und glitt in einer geschmeidigen Bewegung in die einzige Ecke des Büros, in der eine massive Mauer zur Außenseite hin Deckung bot. Er hatte das Gefühl, ein Déjà-vu zu erleben. Das Glas war doch gerade eben erst nach dem letzten Einschussloch ausgewechselt worden.1 Das konnte doch nicht wahr sein! Warum sollte jemand auf ihn schießen? Er lugte vorsichtig hinter der Wand hervor und versuchte die Schussrichtung ausfindig zu machen. Wenn er die Linie verlängerte, von der Wand zu dem Loch in der Tür, dann kam das aus dem Dachgeschoss des Hauses, vor dem die amerikanische Flagge gehisst war. Er hatte schon öfter im Vorbeigehen die Harleys der Biker bewundert, die dort wohnten. Aber die hatten doch keinen Grund, auf ihn zu schießen, oder hatte er etwas Falsches gesagt? Sollte er die Polizei anrufen? Nein, bestimmt nicht. Das würde ein schönes Lachen geben. Ha ha, private Ermittlungen und Personenschutz und kann sich nicht mal selbst beschützen.

Schatten verdunkelten die Tür. Zwei massige Gestalten in schweren Lederkutten schoben sich zur Tür herein.

„Hallo, ist da jemand?“, fragte der mit dem roten fitzeligen Vollbart.

Tarne war ihnen gegenüber im Vorteil, da sie die Sonne im Rücken hatten und ihre Augen sich erst an das schummerige Licht im Raum gewöhnen mussten. Sie hatten keine Waffen in den Händen. Tarne trat ihnen aus der Dunkelheit der Ecke entgegen.

„Wart ihr das? Was habt ihr euch dabei gedacht?“ Trotz ihres bedrohlichen Äußeren schreckten sie im ersten Augenblick zurück. So große Kerle und so verlegen. In Tarnes bleiches Gesicht strömte langsam das Blut zurück. Er hatte sich wieder gefangen. Irgendwie hatte die Situation etwas Komisches. Der Zweite, lange glatte schwarze Haare mit einem Gummiband zu einem Pferdeschwanz zusammengehalten, meldete sich zu Wort:

„Du bist doch dieser Schnüffler? Tarne, ne?“

„Das steht zumindest an der Tür. Wer will das wissen?“

„Ich bin Kalle, und das“, er deutete auf den zippeligen roten Bart, „das ist Walla. Wir wohnen da drüben. Das heißt, wir haben da unser Clubhaus.“

„Also, das …“, setzte Walla an.

„Was?“

Die beiden wechselten einen schnellen Blick.

„Also, ja. Also das war keine Absicht. Okay?“

„Okay. Dann will ich auch gar nicht wissen, wie es passiert ist.“ Tarne machte eine Kunstpause, „… aber meine Tür …“

„Klar, versteht sich, das richten wir wieder her.“ Kalle erklärte: „Tut uns leid, die ganze Sache. Walla wollte nur ein paar Tauben schießen, weißt du, die scheißen immer auf sein Moped und da ist er eben wütend geworden. Dann wollte ich ihm das Gewehr entreißen und, naja, das Weitere weißt du ja.“

„Ja, ich war wütend“, ließ sich Walla vernehmen, als wenn das nun alles erklären würde, „und dann habe ich geschossen.“

Tarne strich sich mit zwei Fingern gedankenverloren über die rechte Augenbraue.

„Ihr solltet Unterricht nehmen, damit ihr auch trefft, was ihr treffen wollt. Könnte sonst schon mal Ärger geben.“

Kalle sagte darauf:

„Da hast du völlig recht. Tja, aber du bist ja schlau, was? Also keine Polizei, klar!“, und Walla fügte hinzu: „Du hast was gut bei uns. Das ist sicher mehr wert als zur Polizei zu gehen, was, Walla?“

„Klar. Immer besser, uns zum Freund als zum Feind zu haben.“ Mit diesen Worten drehten sie sich um und verließen sein Büro. Auf ihren Rücken entdeckte Tarne kunstvoll verschnörkelte Versalien DW und entzifferte darunter die fantasievollen Worte ‚Dragon Wheels‘.

Träumte er oder war das Wirklichkeit? Auf einmal wurde Tarne die beginnende herbstliche Kälte deutlich. Die Staubpartikel standen wieder bewegungslos in der Luft.

1 Siehe Tod vor der Tür.

003

Tarne rührte sich wieder, schüttelte den Kopf, ging ins Bad, füllte ein Glas mit Leitungswasser, trank einen Schluck und stützte sich mit beiden Armen auf das Spülbecken. Er vermied es, sich im Spiegel anzusehen, wusste, dass er wie üblich unrasiert war, seine kurz geschnittenen Haare grau zu werden begannen und er zu seinem kantigen Kinn einen brutalen Zug um die Mundwinkel herum haben sollte. Zumindest hatte er das schon einmal von einer Frau gehört. Nach dem heißen Sommer versprach es auch ein heißer Herbst zu werden, wenn das so weiter ging. Tarne atmete noch einmal tief durch, setzte sich wieder hinter seinen Schreibtisch und lehnte sich zurück. Das Radio dudelte leise vor sich hin. Das musste er erst einmal verdauen. Diese Hirnies. Schossen einfach so in der Gegend herum. Was hatten die da auf den Lederwesten stehen? Dragon Wheels? Was kannte er? Hot Wheels, seinerzeit, die Hotties, natürlich die Hells Angels und die Bandidos. Aber Dragon Wheels? Nie gehört.

Sein Grübeln wurde von den Nachrichten unterbrochen.

„… nun die Nachrichten aus NRW. In den frühen Morgenstunden … ging in Essen auf der Terrasse des CDU-Abgeordneten Eberhard Lauer eine Bombe hoch. Bisher hat sich keine Gruppierung zu diesem Anschlag bekannt. Der Polizeipräsident war nicht zu einer Stellungnahme zu erreichen … Näheres konnten wir von den zuständigen Stellen bis zur Stunde noch nicht erfahren …“

An dieser Stelle wurde Tarne durch das Läuten des Geschäftstelefons abgelenkt.

„Esser hier. Hör zu, ich hab was für dich. Falls du es schon in den Nachrichten gehört hast: Attentat. Ist wieder das Thema der Stunde. Oder besser: immer noch! Weißt du, unsere Zuschauer haben die Nase voll von IS. Der ganze islamistische Terror, Selbstmordattentäter und so. Davon hatten wir zu viel in letzter Zeit. Wir wollen ja auch nicht immer die Islamisten diskreditieren, sind ja auch Zuschauer. Das ist auch politisch nicht gewünscht. NSU liegt auch schon lange zurück. Da ist viel zu tief gegraben worden. Unser Geheimdienst mit seinen V-Leuten. Ist immer schwierig zu entscheiden: Wie viel davon ist wichtig und was ist zu viel? Wir von den Medien haben die Verantwortung, aber wenn wir zu viel aufdecken, bekommen wir vom Verfassungsschutz auf die Finger. Aber moralisch, finde ich, sollte die extreme Rechte im Auge behalten werden. Wir müssen da einfach aufpassen, dass so etwas wie damals nicht wieder passiert, you know? Deshalb denke ich, wir brauchen jemanden, der uns da ein wenig unterstützt. Jemanden wie dich. Du solltest in diese Richtung ermitteln. Man muss diese Tendenzen rechtzeitig erkennen und unterbinden, you know? Du warst schon immer pfiffig und wenn ich an dein Thema Ehre denke, das stand für dich doch immer vorne an. Ich bin sicher, wenn, dann schaffst du das, da etwas Licht ins Dunkel zu bringen. Also dachte ich mir, beauftragen wir Tarne. So what? Was sagst du?“

Aber Tarne kam nicht zu Wort.

„Wir wollen hier keine Partei diffamieren. Keine Seite, solange sich alle im Rahmen der Gesetze bewegen, aber diese extremistischen Auswüchse, das muss man endlich stoppen. Da sehe ich uns in der Pflicht.“

Dieser Name. Esser … Wer war das? Ach ja. Paul, Paul Esser. Das war der, der immer jeden kannte. Alles wusste. Blonde Mähne und immer die modernste Brille, von der er glaubte, dass sie ihn intelligenter aussehen ließ. Sommersprossen, so ein vierschrötiger Typ. Wollte sich früher schon immer dadurch wichtigmachen, dass er englische Brocken in jedes Gespräch einstreute. Wie whatever oder You know. Aber Billigschuhe mit schiefgetretenen Absätzen. Immer überall dabei. Wollte wichtig sein. Erst Klassensprecher, später an der Uni in der Fachschaft engagiert und dann hat er beim ASTA mitgearbeitet. Die großen Uni-Partys organisiert. Politisch aktiv. Debattiert, argumentiert, polemisiert, agitiert. Aber ein Opportunist. So einer war das, erinnerte Tarne sich. Aus den Studienzeiten kannten sie sich. Tarne hatte ewig nichts von ihm gehört.

„Paul? Paul Esser? Wie geht’s dir denn?“

„Great, man. Auf dem aufsteigenden Ast. Bin Redakteur im Privatfernsehen. Läuft super. Hab es geschafft, bin dick drin, wie man so sagt. Ich hab einen Job für dich. Leg am besten sofort los. Unsere Konkurrenz hat eine Sendung gebracht, groß angelegt, über die Terrorismusszene. So nach dem Motto, NSU-Gerichtsverhandlung ist vorbei, Autonome Zellen zerschlagen, was noch übrig war, waren nur angeheuerte Spitzel und V-Männer usw. usw. Und dann haben die mit diversen hochkarätigen Sachverständigen – alles ganz wichtige Leute – gezeigt, dass es nur noch Wochenendterroristen gäbe. Keine Verbindungen untereinander, keine Organisation usw. Wir recherchieren jetzt und wollen da etwas entgegensetzen, wenn‘ s geht, you know. Wir müssen investigativen Journalismus betreiben. Aufdecken, was dahinter steckt. Wir wollen nicht, dass … du weißt, unsere Vergangenheit … dass so etwas noch einmal passiert. Dafür sind wir schließlich da. Dafür gibt es die Pressefreiheit.“

Da kam der Idealismus durch, wie in alten Zeiten an der Uni. Der Gut-Mensch. Der soziale Gedanke. Informationen für die Bürger. Aufklärung.

„Ich hab dafür schon eine geniale Schlagzeile: Die Rechte formiert sich neu! Schlagkräftiger denn je. Wie hört sich das an?“

Tarne pflichtete ihm bei.

„Wo komme ich da ins Spiel?“

„Нa, das liegt doch auf der Hand. Ich hab sofort an dich gedacht. Du hast doch die Verbindungen, du kennst dich doch wie kein anderer im Ruhrpott aus. Da hat sich doch sicher nichts dran geändert, oder? Welche Szene wo spielt, und außerdem dachte ich, ich könnte dir was zukommen lassen, du weißt doch, die zahlen gut hier, nenn mir deinen Tagessatz.“

Für Tarne klang es so, als wenn er Almosen verteilen wollte. Er nannte ihm aber seinen normalen Tagessatz, plus Spesen.

„Alles kein Problem.“

„Nett, dass du an mich gedacht hast. Aber diese Szene, das ist noch nie mein Bereich gewesen. Wo soll ich denn da ansetzen, Mensch?“

„Dir fällt bestimmt etwas Brauchbares ein. Bei deinen Verbindungen. Ich denke mal, wir können das doch nicht so unkommentiert lassen, verstehst du? Bei diesem neuen Attentat, die können doch nicht die Augen verschließen und so tun, als wenn es die rechte Szene nicht mehr gäbe. Wenn wir hier in den Medien eine Aufgabe zu erfüllen haben, dann ist es doch Aufklärung, oder? Verhindern, dass so etwas noch einmal passiert. Je mehr Hintergrund du uns da beschaffen kannst, umso besser. Wie diese Unverbesserlichen immer wieder und immer mehr junge Menschen verführen. Das können wir doch nicht einfach zulassen. Du hilfst dann mit, dass wir das verhindern können. Das muss doch in deine Sichtweise passen, oder? Da fällt mir deine Abschlussarbeit ein. Das Thema war doch Ehre, wenn ich mich recht erinnere? Das passt doch. Was hast du denn dafür gekriegt?“

„Oh, nein, erinnere mich nicht daran.“

„Sorry, falsches Thema?“

„Kann man sagen …“

„Okay, aber das aktuelle Thema, da bist du doch dabei, oder?“

„Gibt es denn einen Beleg dafür, dass es aus der rechten Ecke kommt?“

„Ach, bestimmt, den wirst du uns schon bringen können.“

Tarne versprach, sein Bestes zu geben. Dann tauschten sie noch drei Minuten Erinnerungen aus.

004

Tarne führt einige Telefongespräche, unter anderem mit Alexander Dorfmann.

„Ich komm dann morgen im Laufe des Vormittags vorbei.“

„Jederzeit, du weißt, wo du mich findest.“

Dann beschäftigte er sich ein wenig damit, Informationen über Neonazis aus dem Internet zu bekommen. Stichwort Rechte Szene: 191.000 Ergebnisse bei Google. Rechtsextremismus: 1.750.000. Das Angebot war ihm zu umfangreich. Er verschob das auf das für den nächsten Tag angesetzte Treffen mit Dorfmann.

Bevor Tarne sich auf den Weg nach Oberhausen zum Grillen bei Hesse machte, schaute er kurz bei den Bikern vorbei und hinterließ einen Schlüssel, damit sie die Scheibe auswechseln konnten. Das Loch hatte er kurzfristig von beiden Seiten mit durchsichtiger Klebefolie gesichert. Auf dem Grundstück stand ein weißer Fahnenmast und die US-Fahne flatterte im Herbstwind. Walla schraubte an seiner Harley. Motorradteile lagen überall herum. Mehrere abenteuerliche Gestalten standen dabei und gaben ihre Kommentare ab. Als Walla Tarne entdeckte, schaute er verlegen und schuldbewusst weg. Die Atmosphäre war freundlich. Einige lachten. Die Geschichte hatte sichtlich die Runde gemacht.

Sein alter Volvo, der ihm lange Zeit gute Dienste erwiesen hatte, hatte bei seinen letzten Fällen sehr gelitten und war in der Schrottpresse gelandet. Diesmal hatte er sich für einen etwas älteren, aber dafür recht gut motorisierten Dodge Charger entschieden. Natürlich in Schwarz. Er hielt es da ganz mit Henry Ford, der gesagt haben soll, welche Farbe ein Auto hat, ist völlig egal, wenn es denn nur schwarz ist.

Unterwegs wurde er mit weiteren Informationen aus einem Radiosender versorgt:

„… bei dem gestrigen Bombenattentat auf den … kann ein Terroranschlag aus der rechtsextremistischen Ecke nicht ausgeschlossen werden … erste Stimmen … dagegen muss mit allen zur Verfügung stehenden harten rechtsstaatlichen Mitteln vorgegangen werden …“

Königshardt war ein kleiner verschlafener Stadtteil Oberhausens. Tarne bog in die Pfälzer Straße ein, wendete und parkte seinen Dodge Charger mit zwei Rädern auf dem Bürgersteig, halb vor einer Garageneinfahrt. An der Tür hing ein Zettel: Wir sind im Garten. Zwischen Haus und Garage führte ein kleiner Weg in den Garten. Früher trennten nur Zäune die kahlen Grundstücke. Mittlerweile war alles zugewachsen und gewährte mehr Privatsphäre.

Hesse, inzwischen Oberkommissar und seit langem Tarnes Freund, hatte von Anfang an in dieser damals Neubausiedlung einzelner Pappschachteln, wie Tarne sie immer genannt hatte, mit seiner Frau und seinen beiden Kindern zusammen gewohnt, als diese gerade geboren waren. Damals war das nett. Mit den anderen jungen Paaren, die alle auch gerade Kinder bekommen hatten, gab es viele Gemeinsamkeiten in der Organisation und Erziehung der Kinder. Jetzt wohnte Hesse aber seit einiger Zeit nicht mehr hier mit seiner Frau Helen zusammen. Man hatte sich auseinandergelebt. Wie so etwas hieß. Beide hatten unterschiedliche Ansichten über ihre Lebensplanung entwickelt. Umso mehr verwundert war Tarne, als er hierhin zum Grillen eingeladen worden war.

Tarne begrüßte seinen Freund, der mit Jeans und Holzfällerhemd in hochgekrempelten Ärmeln an einem riesigen Gasgrill stand, der wirkte wie die Steuerkonsole eines Raumschiffes. Harald Hesse war Mitte 40. Genau ein Jahr älter als er. Tarne hatte sich schon immer gewundert, ob die Querfalten auf der Stirn seines Freundes durch den Ärger entstanden waren, den sie beide empfanden, wenn sie den in ihren Augen oft dummen Anordnungen übergeordneter Autoritäten ausgeliefert waren. Seine schwarzen Haare trug er kurz, damit man die Anlage zu Locken nicht sah. Das Gesicht war breit, wurde dominiert von gütig blickenden Augen unter dicken, wuchernden Augenbauen und einer langen Nase.

Hesse erklärte gerade einigen Gästen die Funktion der Lavasteine. Dozierte über die Vor- und Nachteile der unterschiedlichen Grillarten.

„Da kannst du mir erzählen, was du willst, aber so richtig verbranntes Grillgut mit Holzkohle, es mag ja so ungesund sein wie es will, schmeckt doch am besten.“

„Für einen ordentlichen Kerl auf jeden Fall.“

„Mann, ich glaub, ich hab dich noch nie ohne deine alte Lederjacke gesehen.“

„Hör bloß auf, glaubst du eigentlich, du kannst mit deinen Anzügen deine schlampige Art vertuschen? So teuer kann kein Anzug sein, dass er an dir nicht in 10 Minuten wie ein Putzlappen aussieht. Kannst übrigens das Jackett ausziehen. Ist warm genug hier. Wir haben Glück mit dem Wetter.“

Tarne kannte seinen Freund gut genug, um zu wissen, dass er sich nur in seiner Lederjacke wirklich wohl fühlte. Als wenn sie ihm Sicherheit gab wie eine zweite Haut. Ein Schutz gegen den ganzen Dreck, mit dem er bei der Polizeiarbeit in Berührung kam.

Die Begrüßungszeremonie dauerte an. Es kamen immer neue Gäste, Nachbarn, Arbeitskollegen und -kolleginnen – auch von weiter her – und sonstige Bekannte.

Auf dem Weg, sich etwas zu trinken zu organisieren, schnappte Tarne im Vorbeigehen an einer Gruppe weiterer Gäste einige Gesprächsfetzen auf:

„Wer ist das denn?“

„Ein alter Freund von Harald. Das ist einer, der noch ziemlich hohe moralische Ansprüche hat. Im Gegensatz zu der heute üblichen Praxis. Kann man sagen. Er selbst sagt immer, Geradlinigkeit sei das Einzige, wofür er seinem Vater dankbar sei. Der war Polizist, wie Haralds Vater auch. Auf ihn treffen so Sprüche zu wie, Was nicht tötet, macht hart … und so. Glaubt es mir ruhig. Für ihn ist jeder, der sich nicht ehrenvoll verhält, ein Penner. Er ist der einzige Mensch, den ich kenne, der nicht bestechlich ist. Jeder ist käuflich trifft auf ihn nicht zu.“

Da schien ihn jemand ganz gut zu kennen. Mit einer Flasche Bier bewaffnet gesellte Tarne sich zu der Herrenrunde am Grill.

Hesse wendete die Würstchen.

„Sind schon gut angebraten von der Seite.“

Das Fett tropfte auf die Lavasteine. Es flammte kurz auf.

„Riecht sehr gut.“

„Wer will gleich Würstchen? Wie viele soll ich auf den Grill legen?“

„Ich warte auf die eingelegten Filets.“

„Machst du die immer noch mit der Marinade mit dem Traubenzucker? Wie ging das noch mal?“

Markus Krause, ein Kollege aus dem Präsidium, kannte sich aus:

„Du meinst die mit Olivenöl, Grillgewürz und Pfeffer und extra Traubenzucker?“

Tarne kannte Krause sonst nur in billigen Synthetik-Anzügen von der Stange, doch der hatte seinen zum Übergewicht neigenden Körper in eine kurze, schwarzweiß karierte Hose gezwängt. Dazu ein enges T-Shirt mit der Stones-Zunge, Sneaker und weiße hochgezogene Socken. Sehr gewagt, dachte Tarne, verkniff sich aber die Bemerkung.

„Genau, der Geheimtipp war der Traubenzucker.“

„Nee, habe eine neue Version, die ist viel besser. Ich nehme jetzt Öl, Maggi und Senf, und natürlich auch wieder Traubenzucker. Das ist noch besser.“

Auf den fragenden skeptischen Blick antwortete Hesse:

„Wart‘s mal ab.“

Das Gespräch stockte einen Moment, als eine Frau, die sie alle nicht kannten, auf ihrem Barhocker an einem der Stehtische ein Bein über das andere schlug und ihr enges kurzes Kleid kaum etwas verbarg. Die Blicke aller um den Grill stehenden Männer folgten dem Schwung ihrer Beine.

„Gut, dass Helen nicht da ist. Wenn die unsere Blicke gesehen hätte …“, sagte Hesse mit gedämpfter Stimme und begann dann mit seinem mächtigen Bass ein neues Thema:

„Jetzt will ich euch mal erzählen, wo das Herz des Ruhrgebiets und somit das Herz der Welt liegt.“

„Rom?“

„Also, hört ihr auch alle zu? Ich bin in Röhlinghausen geboren.“

„Nie gehört.“

„Wo liegt das denn?“

„Ich sage es euch! Das ist ein Stadtteil von Wanne-Eickel. Wanne wurde zu Herne eingemeindet. Das wird dort auch immer noch nicht akzeptiert. Dazu könnte ich noch eine extra Geschichte erzählen, aber …“

„Und der Mond von Wanne-Eickel …“ Hesse ließ sich nicht beirren.

„Ja, der gehört auch uns! Also, in der Mitte, auf dem Marktplatz von Röhlinghausen liegt ein Stein, der ist die Mitte des Ruhrgebiets. So, und da das Ruhrgebiet in der Mitte Deutschlands liegt und Deutschland in der Mitte Europas und Europa die Mitte der Welt ist, ist Röhlinghausen in Wahrheit die Mitte der Welt. Und da bin ich geboren! Ergo bin ich in der Mitte der Welt geboren. So, da habt ihr‘s!“

Tosender Applaus. Alles lachte. Hesse hatte seinen Starauftritt. Die rechte Hand an der Grillzange, die linke Hand den Teller mit dem Fleisch haltend, verkündete er:

„Und was ich noch sagen will: Die Würstchen sind fertig!“

Tarne hoffte, dass er seinen Freund Hesse im Laufe des Abends noch unter vier Augen erwischen würde, um Näheres über das Attentat zu erfahren.

005

Später – die anderen saßen alle irgendwo und schoben sich das Fleisch in ihre gierigen Schlünde, Hesse hatte die Grillschürze abgelegt, die fettigen Hände an der Jeans abgewischt – stand er mit seinem Freund etwas abseits von den anderen.

„Wie sieht es überhaupt mit Helen aus? Ich wundere mich, dass wir uns hier treffen. Ich dachte, du bist ausgezogen?“, fragte Tarne.

„Alles für die Kinder. Ist besser, wenn ich hier bin. Solange Helen weg ist, geht das schon mal. Bei mir ist‘s sowieso zu klein und die beiden haben ja all ihre Freunde hier. Nur Helens Neuer, dem gefällt das nicht so … und bei dir? Mit Manu, wie steht es da?“

„Nach der letzten Aktion: Funkstille.“

„Wen wundert es. Das war ja auch ein bisschen strange. Erst die Entführung und dann dieser Unfall.“

Er bezog sich auf seinen letzten großen Fall, in dem Manu entführt wurde, um eine CD mit brisanten Daten steuerflüchtiger Bürger zu erpressen, die sich zeitweise in Tarnes Besitz befunden hatte.

„Aber das hatten wir schon häufig.“

„Hmm.“

„Daher ist das vielleicht ganz okay so. Auch wenn die Pausen länger werden.“

„Vermisst du sie?“

„Hmm, ach weißt du … unüberbrückbare Schwierigkeiten, wie es so schön heißt. Weißt du, wir waren so weit, wie soll ich es ausdrücken … Sie hatte so an die hundert verschiedene Arten, Hmm zu sagen. Hinten höher, tiefer, bestimmte Ton-Nuancierungen, bestimmte Veränderungen der Mimik dabei … und das Schlimmste war, ich kannte sie alle und wusste, wie ich darauf zu reagieren hatte. Nicht nur das, sondern ich fing an, das auch zu erfüllen, weißt du.“

„Immer dasselbe.“

„Aber auf der anderen Seite …“

Tarne war nicht so ganz klar, warum er meinte, seinem Freund gegenüber so cool erscheinen zu müssen, vielleicht, weil es ihm peinlich war.

„Du musst gar nicht so cool tun, ich kenne dich doch, wenn du drüber wärst, dann hättest du längst eine Neue …“

Tarne strich sich mit zwei Fingern über die Stirn.

„Hmm.“

„Wie lang hast du sie denn nicht mehr gesehen?“

„Jetzt so ein halbes Jahr. So lange war es beim letzten Mal auch. Dann kam diese dicke Aktion dazwischen.“

„Warum meldest du dich nicht einfach mal bei ihr?“

„Nee. Du weißt doch, wie das ist. Wenn man so lange zusammen war wie wir, dann kann man nicht mehr mit und nicht mehr richtig ohne den anderen … „

„… irgendwie …“, fügte er noch an.

„Hmm.“