Tödlicher Fokus - Sonja Rüther - E-Book
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Tödlicher Fokus E-Book

Sonja Rüther

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Beschreibung

Weil jeder Mensch zum Monster werden kann: Der psychologische Thriller „Tödlicher Fokus“ von Sonja Rüther jetzt als eBook bei dotbooks. Ein Jäger weiß, wie man Hasen fängt: mit einer Schlinge, die das Opfer erst sieht, wenn es zu spät ist … Für die junge Schauspielerin Marike geht ein Traum in Erfüllung, als sie ihre erste Filmrolle bekommt – noch dazu an der Seite des charmanten Top-Stars Lars Behring. Aber während sie vor der Kamera über sich hinauswächst, fallen nach Drehschluss dunkle Schatten auf Marike: Sie fühlt sich beobachtet, verfolgt, schutzlos. Noch ahnt Marike nicht, welcher Horror ihr bevorsteht … und wie er sie verändern wird! Im Visier des Stalkers: Ein eiskalter Thriller über Machtspiele, Besessenheit und die Abgründe, die in unserer Seele lauern. „Ein verrückter Stalker, die Fallstricke der Filmbranche und die zentrale Frage, ob die beste Freundin Marikes Rettung oder ihr Untergang sein wird: Der Thriller ist so packend, dass ich mich verfolgt gefühlt habe wie die Heldin!" Laura Wulf alias Bestsellerautorin Sandra Henke Jetzt als eBook kaufen und genießen: „Tödlicher Fokus“ von Sonja Rüther. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 447

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Über dieses Buch:

Ein Jäger weiß, wie man Hasen fängt: mit einer Schlinge, die das Opfer erst sieht, wenn es zu spät ist …

Für die junge Schauspielerin Marike geht ein Traum in Erfüllung, als sie ihre erste Filmrolle bekommt – noch dazu an der Seite des charmanten Top-Stars Lars Behring. Aber während sie vor der Kamera über sich hinauswächst, fallen nach Drehschluss dunkle Schatten auf Marike: Sie fühlt sich beobachtet, verfolgt, schutzlos. Noch ahnt Marike nicht, welcher Horror ihr bevorsteht … und wie er sie verändern wird!

Im Visier des Stalkers: Ein eiskalter Thriller über Machtspiele, Besessenheit und die Abgründe, die in unserer Seele lauern.

Über die Autorin:

Sonja Rüther, geboren 1975 in Hamburg, betreibt in Buchholz/Nordheide einen Kreativhof (»Ideenreich – der Kreativhof«) und den Verlag »Briefgestöber«.

Bei dotbooks veröffentlichte Sonja Rüther bereits den Thriller »Blinde Sekunden«, die Horror-Story »Eine Spur aus Frost und Blut« sowie die von ihr herausgegebene Anthologien »Aus dunklen Federn« und »Aus dunklen Federn 2«, in denen neben ihr auch Autoren wie Markus Heitz, Kai Meyer, Boris Koch und Thomas Finn ihre schwärzesten Seiten zeigen.

Die Website der Autorin: www.briefgestoeber.de

Die Autorin im Internet: www.facebook.com/sonja.ruther.1

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Originalausgabe April 2016

Copyright © der Originalausgabe 2016 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung von Bildmotiven von shutterstock/Fer Gregory und shutterstock/BlueSkyImage

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-95824-528-0

***

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Sonja Rüther

Tödlicher Fokus

Thriller

dotbooks.

Für David

Prolog

10. September 2012

Das grelle Scheinwerferlicht blendete nicht ansatzweise so stark wie die Bilder in Marike Lessings Kopf. Sogar ihr Lampenfieber verblasste angesichts der konzentrierten Anstrengungen, nichts von dem nach außen dringen zu lassen, was in ihr an Verstörung und Angst tobte.

Sie lächelte den Moderator an, dem sie gegenübersaß, und zwinkerte mit professioneller Fröhlichkeit in die Kamera. Der Schweiß juckte unter der dicken Puderschicht auf ihrem Gesicht, aber Marike faltete ihre Hände lässig vor dem Bauch, das linke Bein über das rechte geschlagen, die Ellbogen auf den Armlehnen des roten Sessels. Alle wollten sie als Opfer sehen, aber sie bestimmte, was für eines sie sein würde.

Sie hielt ihre Finger bewusst von der Perücke fern, die die Maskenbildnerin in der Garderobe mit viel Haarspray fixiert hatte. Akkurat umrahmten die braunen Locken ihr Gesicht. Wenn sie wieder zu Hause wäre, würde sie sich ein langes Bad gönnen, um die ganze Chemie und alles andere aufzuweichen und wegzuspülen.

Seit zehn Minuten beantwortete sie Fragen über Wege zu gehen, den Film, der sie endlich auf die große Leinwand brachte. Keine dieser Fernsehproduktionen, die das Abendprogramm irgendwelcher Sender füllten – nein, ein richtiger Kinofilm.

Diesen Erfolg würde ihr kein Psychopath der Welt zerstören.

Auf eine Bemerkung des Moderators hin warf sie den Kopf in den Nacken und lachte herzlich. Die Menschen mochten ihre fröhliche Art. Marike bezauberte, und das tat sie gern. Deswegen war sie Schauspielerin geworden. Wenn sich die Zuschauer von ihr unterhalten fühlten, sie Emotionen bei ihnen anstieß oder sie zum Lachen brachte, war sie vollkommen zufrieden gewesen mit sich selbst – und genau das würde sie wieder sein, das hatte sie sich fest versprochen.

Diese Zufriedenheit war brutal erstickt und durch Angst und Paranoia ersetzt worden, aber es war nur eine Frage der Zeit, bis die seelischen Wunden verheilten.

Sie sah den Moderator an, der von ihrem Management genaue Vorgaben erhalten hatte, was er fragen durfte und was nicht. Er schäkerte mit ihr. Trotz allem, was er über ihre Traumata wusste, würde er sie wahrscheinlich anmachen und flachlegen wollen, wenn sie nicht gerade vor laufenden Kameras und einem Live-Publikum gesessen hätten.

»Es heißt«, setzte er an, »Sie seien bei Ihren Fans besonders beliebt wegen Ihrer offenen und herzlichen Art. Ein Star zum Anfassen. Mit Ihrem ersten großen Film wird das Interesse an Ihrer Person sicher steigen. Wie gehen Sie damit um?«

Bilder durchbrachen kurz den Wall ihrer Konzentration. Sie spürte, wie kleine Muskeln in ihrem Gesicht verräterisch zuckten. Auch wenn sie es schnell mit einem Lächeln überspielte und den Blick auf ihre Finger senkte, irgendwer hatte es sicher bemerkt. Sie entdeckte einen winzigen dunklen Punkt auf ihrem buntgemusterten Kleid und legte einen Finger darüber.

»Wissen Sie, Herr Marberg, man kann nicht allen gerecht werden, ich kann nur mein Bestes versuchen.«

Im Publikum klatschten ein paar Zuschauer, der Rest schien mit ihrer ausweichenden Antwort weniger zufrieden zu sein. Ungefähr 50 saßen dort irgendwo hinter der Wand aus Licht.

Aber beobachtet fühlte sie sich von einer anderen Stelle aus. Sie widerstand dem Impuls, sich umzudrehen. Wenn da niemand stand, hieß es nicht, dass da tatsächlich niemand war.

»Erzählen Sie unserem Publikum, wie alles begann.«

Wie alles begann. Marike atmete tief durch. Eine schwierige Frage, denn ihre Gedanken waren noch zu sehr damit beschäftigt, wie alles geendet hatte.

Kapitel 1

12. März 2011, 18 Monate zuvor

»Setzt euch ruhig schon an die Bar, ich komme gleich.« Marike zog ihr Handy aus der Tasche und schaltete es ein.

»Ach komm, du willst dich doch jetzt nicht ärgern. Lass uns lieber die gelungene Vorstellung feiern.«

Mit einer scheuchenden Handbewegung schickte Marike ihre Schauspielkollegen weiter. Sie konnte nicht feiern, wenn sie vorher nicht gehört hatte, ob ihr Freund den Streit mit dem Vermieter aus der Welt geräumt hatte. Sie waren gerade erst in diese Wohnung eingezogen, und allein die Vorstellung, alles wieder einpacken und rausschleppen zu müssen, war grauenhaft.

Während die Verbindung hergestellt wurde und das Freizeichen erklang, sah sie zu ihren Kollegen rüber, die ordentlich aufgekratzt waren und Wein und Bier orderten. Es war der dritte Abend gewesen, ausverkauftes Haus, eine tolle Stimmung und Standing Ovations. Sie selbst spielte eine der vier Hauptrollen, es hätte gar nicht besser laufen können.

»Hallo?«

»Hey, Frank, ich bin’s. Wie war es?« Sie drehte sich um, damit sie sich ganz auf das Gespräch konzentrieren konnte.

»Er bleibt dabei. Wir müssen den Aufschlag zahlen oder ausziehen.« Seine Stimme klang wütend. Marike konnte sich vorstellen, wie das Gespräch mit dem alten, sturen Mann verlaufen war.

»Aber hast du ihm nicht gesagt, dass wir –«

Frank fiel ihr mit einem genervten Laut ins Wort. »Ich habe ihm alles gesagt, was wir besprochen hatten, aber es nützt nichts, er bleibt dabei. Der Mieterschutzbund sagt, dass wir dagegen vorgehen können, aber ich habe keine Lust, in einer Wohnung zu leben, die mit so viel Stress belastet ist.«

Sie wusste, was das bedeutete. Wieder unzählige Annoncen wälzen, Telefonate führen, Besichtigungen, Bewerbungen und Frust.

»Du hast recht«, sagte sie leise. »Wir finden schon eine Alternative.«

Viel lieber wäre sie zu dem alten Mann gegangen und hätte ihm mal so richtig die Meinung gegeigt, aber so ein Mensch war sie nicht. Sie regelte die Dinge höflich und friedlich. Umso mehr frustrierte es sie, dass andere sich das Recht herausnahmen, laut und unsachlich zu werden.

Ihre Feierlaune war endgültig dahin.

»Ich werde mit den anderen noch auf die gelungene Vorstellung anstoßen, dann komme ich nach Hause, okay?«

Sie hörte Geräusche im Hintergrund.

»Lass dir Zeit, ich bin mit den Jungs unterwegs – den Ärger etwas ertränken. Vor Mitternacht bin ich sicher nicht zu Hause.«

Die Vorstellung, allein in der Wohnung zu sitzen, war nicht sehr verlockend. »Okay, viel Spaß.«

Sie verabschiedete sich und stand unschlüssig neben der Garderobe. Es war immer das Gleiche, schon seit ihrer Kindheit: Wenn sie ungerecht behandelt wurde, kam alles in ihr zum Stillstand. Als drücke eine mächtige Hand einen schweren Deckel auf die Wut. Ihr war nach Weinen zumute, aber das hätte auf die anderen sicher albern gewirkt.

Bevor sich jemand zu ihr gesellen konnte, ging sie zu den Toiletten, setzte sich in eine Kabine auf den geschlossenen Deckel und sperrte ab. Nach einiger Zeit hörte sie, wie jemand hereinkam, in die Nebenkabine ging und die Hose öffnete. Es war das Natürlichste der Welt, weil jeder Mensch zur Toilette gehen musste, aber Marike mochte die damit verbundenen Geräusche nicht. Vor allem, wenn es ansonsten so still war, dass man jeden Tropfen und auch alles andere hören konnte.

»Verdammt«, vernahm sie eine leise Stimme.

»Ist das Klopapier alle?« Marike nahm die Rolle von der Halterung und hielt sie unter die Trennwand.

»Danke. Sie sind meine Rettung!«

»Dann habe ich meine gute Tat an diesem Tag ja doch noch geschafft.« Sie musste lächeln.

»Brauchen Sie die Rolle zurück?«

Marike stand auf. Auch wenn die Auszeit nur kurz gewesen war, es hatte geholfen, einen Moment hier durchzuatmen. »Nein danke, ich habe noch.«

Pro forma drückte sie auf die Spülung und verließ die Kabine. Nebenan rauschte es ebenfalls, und eine recht durchschnittliche Frau mit langen, aschblonden Haaren und einem dunkelblauen Kostüm kam heraus. Aber ihre grünen Augen waren bemerkenswert wach und lebendig. Sie strahlte Lebensfreude aus und so was wie Freundschaft-auf-den-ersten-Blick.

»Harter Tag?« Sie ging ans Waschbecken und wusch sich die Hände.

»Streit mit unserem Vermieter«, sagte Marike und war froh, darüber reden zu können, auch wenn es nur eine Fremde war.

»Das kenne ich. Freunde von mir sind gerade aus einer Wohnung ausgezogen und sollen noch drei Monate die Miete zahlen, weil sie einen Tag zu spät gekündigt haben.«

Marike wurde hellhörig. »Gibt es schon einen Nachmieter?« Sie glaubte ans Schicksal. Das Leben schrieb nun mal solche Geschichten, warum sollte diese Begegnung nicht ebenso schicksalhaft sein?

»Ich kann sie gern fragen.«

Schnell kramte Marike Zettel und Stift aus der Tasche und schrieb ihre Nummer auf. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen wäre.«

Die Fremde streckte ihr eine Hand entgegen. »Ich bin Jutta, ich denke, das Sie ist überflüssig.«

Freudig ergriff Marike die Hand und schüttelte sie. »Marike. Es ist mir eine Freude.«

***

Zwei Tage später meldete sich Jutta tatsächlich, und Frank und sie fuhren zu der Adresse, die sie ihnen gegeben hatte. Direkt im Zentrum in einer kleinen Nebenstraße vom Schulterblatt im dritten Stock. Marike konnte es kaum glauben, dass sie so ein Glück haben sollten. Die Wohnung war perfekt. Zwei Zimmer, voll ausgestattetes Bad und eine geräumige Küche – viel besser als die andere Wohnung.

Sie unterschrieben den Vertrag und zogen noch in derselben Woche um, und neben vielen Freunden half auch Jutta beim Schleppen der Kartons und der Möbel.

Es kam Marike bald so vor, als würde sie sie schon ihr Leben lang kennen. Während Frank arbeitete, bauten sie beide die Möbel auf, richteten alles ein und entdeckten dabei immer mehr Gemeinsamkeiten.

»Was ist das für ein Foto?« Jutta hielt ein gerahmtes Bild hoch, das Marike auf der Bühne zeigte.

»Das war meine Premiere auf den Brettern des Schauspielhauses. Eine kleine Rolle, aber der Beginn meiner Karriere.«

Jutta ließ sich aufs Sofa fallen. »Du bist Schauspielerin?«

Marike musste lachen. Normalerweise reagierten Freunde nicht so ehrfürchtig, wenn sie von ihrem Job erzählte. »Ja, es macht unfassbar viel Spaß. Was machst du beruflich?«

Jutta stellte das Bild auf den Tisch zurück. »Ich bin Schneiderin. Nichts Besonderes, aber mir reicht’s.«

»Ich finde das bewundernswert. Mir fehlt die Geduld dafür. Bei der Arbeit sehe ich ja, was Schneider so alles zaubern können. Ich finde sehr wohl, dass es etwas Besonderes ist.«

Jutta wurde rot, dann lachte sie herzlich. »Ich würde dich gern mal spielen sehen.«

»Das kannst du gleich morgen Abend, wenn du willst.«

Es war schön, dass Jutta so viel Interesse zeigte. Ihre Freunde fragten zwar auch ab und zu mal nach, aber es war eine andere, distanziertere Anteilnahme. Jutta hingegen fragte viel, versuchte, sich in Marike hineinzuversetzen, und brachte Verständnis für sie auf. Sie könnte die beste Freundin werden, die ihr bislang gefehlt hatte.

»Der alte Vermieter hat noch ganz schön Stress gemacht. Kennst du das, wenn man mal so richtig aus der Haut fahren und nicht immer um des lieben Friedens willen zurückstecken will?«

Jutta klatschte in die Hände. »Warum tust du es nicht einfach mal? Wäre sicher eine Befreiung für dich.«

Der Umzug und die Streitigkeiten hatten Marike erschöpft, aber jemanden anschreien oder gar angreifen konnte sie nur auf der Bühne. »Ich mag es nicht, wenn andere überreagieren. Ich finde das erschreckend.«

Jutta stand auf und nahm sie in den Arm. »Genau das macht dich ja so liebenswert.« Die Umarmung tat gut, Frank tat das viel zu selten. »Komm, wir kümmern uns jetzt um die Klamotten.«

Es war Marike etwas peinlich, dass Jutta durch das Einräumen der Kleidung intime Einblicke in ihre Wäsche bekam. Aber manche Kleider warf sie aufs Bett, statt sie in den Schrank zu hängen.

»Was wird das?«, fragte Marike amüsiert. »Zensur?«

»Ich wette, dass diese Stücke zwar gut an dir aussehen, aber nicht optimal passen. Ich könnte sie für dich etwas umnähen, wenn du möchtest.« Sie nahm eines davon in die Hand. »Ich habe immer Nadeln in meiner Handtasche – Berufskrankheit. Willst du das hier mal anziehen?«

Marike fragte sich, wie man diese Kleider noch besser machen könnte, und irgendwie fühlte sie sich ein wenig wie Pretty Woman, weil Jutta sie so wohlwollend betrachtete und ausstaffieren wollte.

»Okay, aber nicht ohne Sekt.«

Sie holte eine Flasche aus dem Kühlschrank, und die Kleiderparty konnte beginnen.

Vom Theater war sie es gewohnt, sich vor anderen umzuziehen. Es störte sie nicht, dass Jutta sie berührte, um den Stoff zu straffen und abzustecken, und tatsächlich saßen die Kleider anschließend besser.

»Ich bin echt froh, dass wir uns begegnet sind«, sagte sie und sah Jutta im Spiegel an. »Vielen Dank für alles.«

Jutta legte einen Arm um ihre Hüfte und den Kopf an ihre Schulter. »Ich auch. Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, nicht enttäuscht zu werden. Du bist der großartigste Mensch, den ich kenne.«

Diese Aussage kam vielleicht etwas schnell, aber Marike empfand ganz genauso. Und sie verdankte Jutta viel.

Kapitel 2

15. Juni 2011, drei Monate später

»Ich habe die Rolle!« Marike war so aufgeregt, dass sie die Begrüßung am Telefon gleich übersprang. Seit sie es erfahren hatte, freute sie sich auf den Anruf bei Jutta. Immerhin hatte die ihr gut zugeredet, zum Casting zu gehen, und ihre Zweifel, auch für einen Film geeignet zu sein, nicht gelten lassen. Und nun bekam sie nicht irgendeine Rolle, sondern die Hauptrolle in einem Paul-Kreuzer-Film!

»Das ist ja phantastisch. Keine andere hat es mehr verdient. Das müssen wir feiern!« Jutta machte den Eindruck, dass sie sofort aufbrechen wollte und nur noch auf die Bekanntgabe des Treffpunkts wartete.

»Das hat Frank auch gesagt. Ich denke, er plant auch schon etwas für heute Abend.«

Noch während sie das sagte, bemerkte sie ihren Fehler. So gut sie sich auch mit Jutta verstand, so schlecht harmonierte es zwischen ihrer Freundin und Frank. Das war inzwischen ein kleines Reizthema in der ansonsten engen Freundschaft, weil Jutta manchmal mit ihm um Marikes Aufmerksamkeit zu wetteifern schien. Das fiel zum Glück nur selten ins Gewicht, weil Marike und Frank ganz andere Tagesrhythmen hatten und sie viel Zeit mit Jutta verbringen konnte, ohne dafür weniger mit ihrem Freund zusammen zu sein. Und wenn Frank sich zu sehr über Jutta aufregte, erinnerte sie ihn einfach daran, was sie ihr alles zu verdanken hatten. Meist ließ er es anschließend gut sein.

Jutta war kein einfacher Mensch, aber das war Frank auch nicht. Und ganz offensichtlich war es ihre Aufgabe, beide so zu lieben, wie sie waren.

Ihre Freundin schwieg am anderen Ende.

»Wie wäre es, wenn wir Freitag essen gehen?«, bot Marike schnell an.

Sie hätte Jutta schon gern dabeigehabt, aber die Gefahr, dass sie mal wieder provokante Themen aufbrachte, auf die Frank mit einer gewissen Streitlust reagierte, war zu groß. Manche Menschen passten eben nicht zusammen.

Die Stille in der Leitung hatte etwas Forderndes.

»Ich lade dich ein«, ergänzte Marike.

Jutta atmete durch, dann seufzte sie. »Freitag kann ich nicht.«

Da sie selbst keine Alternative anbot, sollte Marike sich offenbar mehr anstrengen. Also schwieg sie ebenfalls und wartete, was passieren würde.

»Na gut«, sagte Jutta dann in getragenem Tonfall. »Ich werde meine Termine absagen und mit dir essen gehen.«

»Das musst du nicht, wir können es auch an einem anderen Tag machen. Sag mir nur, wann es passt.«

Es knarrte im Hintergrund. Jutta saß anscheinend auf dem alten Ledersessel, der in ihrer Wohnung dem Panoramafenster zugewandt war. Von dort konnte man die Wohnhäuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite betrachten. Manchmal saßen sie abends im Dunkeln davor und dachten sich Geschichten zu den Menschen aus, die hinter den Fenstern wohnten.

»Ich habe heute Zeit, die restlichen Abende sind verplant.«

Das musste ja kommen. Frank würde wütend werden, wenn sie ihn bat, die Überraschung zu vertagen oder Jutta ebenfalls einzuladen. Im Zweifelsfall ging ihr Partner nun mal vor.

»Heute geht es nicht, tut mir wirklich leid.«

»Mir auch«, klang es verschnupft aus dem Hörer. »Dann muss ich eben meine Termine am Freitag absagen.«

Es hatte keinen Sinn, gegen diesen Vorschlag anzureden, zumal Marike nicht glaubte, dass Jutta überhaupt Termine hatte. Diese Behauptung diente sicher nur dazu, das Opfer zu betonen, das sie brachte, weil sie heute Abend nicht die erste Wahl war.

»Das ist sehr lieb von dir. Dafür lade ich dich zu diesem neuen Argentinier ein.«

»Ist gut.«

Es wurde Zeit, das Gespräch zu beenden. Bis Freitag hätte sie sich beruhigt, und dann könnten sie über die kommenden Proben und die Dreharbeiten sprechen – und über Lars Behring, ihren Filmpartner. Sie bekam Herzklopfen, wenn sie nur daran dachte, diesen Superstar küssen zu müssen.

Frank würde sie von diesem Telefonat nichts erzählen. Er hatte schon gemutmaßt, ob Jutta vielleicht lesbisch sei, aber diesen Weg wollte Marike gedanklich nicht zu Ende gehen. Selbst wenn Jutta sich zu Frauen hingezogen fühlte, sie selbst tat das definitiv nicht, also sollte es auch gar nicht erst zum Thema werden.

»Ich muss jetzt los. Bis Freitag sprechen wir uns sicher noch mal«, sagte Marike fröhlich, in der Hoffnung, etwas Leichtigkeit zu verbreiten.

»Wir werden sehen.«

Die Verabschiedung war ein knappes Flüstern, dann legte Jutta auf.

Marike atmete tief durch. Die Freude über die Rolle war nun etwas gedämpft, aber sie würde sicher mit voller Kraft zurückkommen, wenn Frank heute Abend mit ihr ausging.

Jutta war eine sehr unsichere Person, was sie besonders in solchen Momenten zeigte. Marike musste ihr ständig bestätigen, dass sie wichtig war und gemocht wurde, aber wenn sie daran dachte, was andere Freunde Jutta in der Vergangenheit angetan hatten, wunderte es sie nicht, dass sie so wenig Vertrauen hatte. Sie würde schon noch sehen, dass sie, Marike, nicht so war. Ab und zu würde es eben solche Gespräche geben, aber so schnell gab sie nicht auf. Augen zu und durch.

An ihrem linken Arm glänzte das silberne Armband mit dem Kleeblatt, das Jutta ihr als Glücksbringer geschenkt hatte. Sie hatte oft kleine Geschenke dabei, über die sich Marike ehrlich freute, auch wenn sie oft nicht wusste, wie sie damit umgehen sollte. Sie selbst war gar nicht gut in solchen Dingen, bekam es selten hin, Blumen oder etwas Süßes mitzubringen, wenn sie eingeladen war. Geburtstagsgeschenke kaufte sie auf den letzten Drücker, und ihre Geschenkpapierverpackung sah oft aus, als wäre ein Fisch darin eingewickelt worden. Nein, ihre Qualitäten lagen woanders.

Sie stand noch immer unschlüssig im Flur neben dem kleinen Tischchen mit der Telefonladestation – ein Gerät, das in diesem Moment für die drei emotionalen Zustände stand, die sie seit der Heimkehr durchlebt hatte: Freude über die Nachricht auf dem Anrufbeantworter; Liebe zu Frank, der sie mit so viel Anteilnahme überschüttet hatte; Enttäuschung, weil Jutta sich zurückgesetzt fühlte. Sie tippte das Telefon neben der Station an und ließ es einmal um die eigene Achse rotieren.

»Ich habe die Rolle«, sagte sie halblaut. Ihre Gedanken öffneten sich für das, was diese Worte bedeuteten. »Man wird mich im Kino sehen.«

Sie schaute in den Spiegel, der am weißen Holzrahmen kleine Häkchen für die Haustürschlüssel aufwies. Mit einer Hand strich sie sich übers Gesicht, und ein Lächeln erstrahlte im Spiegel. »Hauptrolle. Mensch, Marike, das kann der Anfang von etwas Großem werden!«

Sie fasste die langen rotbraunen Locken zu einem Pferdeschwanz zusammen und suchte ein Haargummi aus dem Schälchen hinter der Ladestation. Sie nahm das weiße heraus, fixierte den Zopf und ging gutgelaunt in die Küche. Bis Frank nach Hause kam, würden noch zwei Stunden vergehen. Genug Zeit, in Ruhe einen Kaffee zu trinken und sich für den Abend schick zu machen.

So, wie sie ihn kannte, würde er ein paar Freunde mobilisieren, damit sie gemeinsam feiern gehen konnten.

In der Gesäßtasche ihrer Jeans summte das Handy.

Sie schaltete den Kaffeeautomaten ein und zog erst dann das Handy heraus.

Es war eine Nachricht von Jutta. Lass dich feiern. Ich freue mich für dich.

Erleichtert steckte sie das Smartphone weg. Der Abend war gerettet.

»Tick, tack … ein kleines Vögelchen hat mir gezwitschert, dass du wieder auf Freiersfüßen bist.

Ich sehe jeden deiner Schritte, jeden deiner Blicke.

Du musst nicht flüstern, ich bin doch immer in deiner Nähe.«

Kapitel 3

17. Juni 2011

Dass alles so schnell gehen würde, hätte Marike nicht gedacht. Das Treffen mit dem Regisseur und dem Team hatte bereits am Vormittag stattgefunden, und sie war bis oben hin voll mit Informationen und Eindrücken – und mit Vorfreude.

Sie hatte Hände geschüttelt, Namen gehört, die meisten direkt wieder vergessen und ehrfürchtig ihrem Filmpartner gegenübergestanden. Lars Behring war derzeit der erfolgreichste Schauspieler Deutschlands, und sie würde seine Frau verkörpern, ihn lieben, hassen und letztendlich verlassen müssen.

Das war so unfassbar großartig.

Jetzt war sie spät dran, aber dafür würde sie Jutta mit Informationen überfluten, um sie über die Verspätung hinwegzutrösten. Seit dem Telefonat hatten sie sich nur ein paar SMS geschickt, mehr ein Kontakthalten als Informationsaustausch.

Von der Feier wollte Marike lieber nichts erzählen. Frank hatte alle Freunde zusammengetrommelt, und sie hatten beim Italiener über die Wand hinterm Tisch ein großes Banner gespannt, auf dem stand: Marike, unser Superstar!

Sie hatten Pizza gegessen, Rotwein getrunken und unglaublich viel Spaß gehabt. 20 Freunde, die mal eben alles stehen und liegen ließen, um ihr viel Glück und Erfolg zu wünschen. So fühlte sich das Leben genau richtig an.

Sie parkte vor dem Wohnhaus und ließ die Tasche mit dem Drehbuch im Auto. Sie würde nur kurz klingeln, raufgehen, Jutta abholen, und dann könnte sie im Auto fragen, ob sie es sehen wollte. Immerhin war es in diesem Moment ihr wertvollster Besitz.

Erst nach dem dritten Klingeln summte es, und sie drückte die Tür auf. Wahrscheinlich war Jutta im Bad gewesen.

Doch als sie im dritten Stock aus dem Fahrstuhl stieg, erwartete sie keine ausgehfertige Freundin. Die Tür stand angelehnt, gedämpftes Licht fiel durch den schmalen Spalt.

»Hallihallo, das Taxi ist da«, rief sie und drückte die Tür auf.

Schritte hallten durchs Wohnzimmer.

»Jutta?«

»Taxi?«, erklang Juttas missmutige Stimme, ehe sie im Bademantel um die Ecke kam. »Du hättest mich nicht abholen müssen.«

»Das sollte nur ein Scherz sein.« Marike merkte, wie die Euphorie verflog. »Aber warum bist du noch nicht fertig?«

Jutta verschränkte die Arme vor der Brust, was im grauen Frotteemantel, mit ihrem blassen Gesicht und den aschblonden Haaren ein befremdliches Bild abgab. Als würde Marike eine Abhängige aus dem Drogensumpf retten wollen und nicht ihre Freundin zum Abendessen abholen.

»Ich dachte, du kommst nicht mehr«, sagte Jutta kühl und blieb regungslos im Türrahmen stehen.

»Meine Güte, ich bin 20 Minuten zu spät, das kann doch mal passieren.«

Jutta fixierte sie mit ihren grünen Augen.

Marike hielt dem Blick arglos stand. »Nun zieh dich endlich um. Ich kann kaum erwarten, dir alles zu erzählen. Heute war die Vorbesprechung, und du erfährst alles aus erster Hand.«

Juttas Blick verweilte noch einen Moment prüfend auf ihr, dann nickte sie. »Gut. Wenn du das möchtest.«

Marike verdrehte die Augen, als Jutta sich in Bewegung setzte. Mit abgeschminktem Gesicht, Schlafanzug und Bademantel sah sie gar nicht so aus, als hätte sie auf Marike gewartet.

So beleidigt hatte sie ihre Freundin bisher noch nicht erlebt. Es waren immer nur Kleinigkeiten gewesen, die schnell wieder vergingen. Und wenn sie bedachte, dass die Freundschaft noch gar nicht so alt war, erschien die Reaktion ziemlich übertrieben. Andererseits verbrachten sie sehr viel Zeit miteinander, da musste man sich ja zwangsläufig mal auf die Nerven gehen. Marike kam gerade mit schwierigen Charakteren besonders gut klar. Der Trick lag darin, die guten Eigenschaften niemals aus den Augen zu verlieren. Marike wusste besonders Juttas Anteilnahme und ihre Hilfsbereitschaft zu schätzen. Jutta war oft enttäuscht worden, und sicher erwartete sie, Marike würde sie irgendwann ebenso enttäuschen. Aber das hatte sie nicht vor.

Die Wohnung war etwas unordentlich. Marike fand das sympathisch, weil sie selbst auch keine gute Hausfrau war. Neben dem Sessel zum Fenster stand eine leere Weinflasche.

Draußen war es sommerlich hell. Noch konnte sie hinter den Scheiben der gegenüberliegenden Wohnungen nichts erkennen, aber im Laufe des Abends würden nach und nach die Lichter angehen. Menschen, die nach Hause kamen, die sich fürs Ausgehen schick machten oder vor dem Fernseher die Couch besetzten und mit der Arbeitswoche abschlossen. Letztere faszinierten Marike am meisten, weil sie so ein Leben niemals führen würde. Stillstand kam für sie nicht in Frage. Sie musste unter Leute gehen, Action und mindestens drei Dinge gleichzeitig in Bearbeitung haben.

Sie setzte sich auf die dunkelbraune Couch, die wie neu aussah, weil Jutta nicht oft Besuch bekam.

Sie erzählte zwar ständig von anderen Leuten, aber Marike hatte noch nie jemanden von ihnen kennengelernt. Es machte den Eindruck, dass Jutta im Moment am liebsten mit ihr zusammen war und andere auf Abstand hielt. An ihrer Stelle wäre sie wahrscheinlich auch froh gewesen, eine neue Bekanntschaft gemacht zu haben, denn Juttas Händchen für Freunde schien nicht das beste zu sein.

Im Bad klirrte es, Jutta fluchte.

»Alles okay?«

Es kam keine Antwort, nur das Wasser rauschte.

»Wird schon«, sagte Marike leise zu sich selbst und sah sich gelangweilt um.

Neben der Couch stapelten sich Zeitschriften, auf dem niedrigen Tisch lagen allerhand Papiere. Dazwischen drei leere Gläser und zwei Kaffeebecher. Sie widerstand dem Impuls, die Wartezeit zum Aufräumen zu nutzen.

Ein Blick durch die offene Küchentür zeigte ihr, dass die kurze Zeit bei weitem nicht ausreichen würde, um Platz in der Spüle zu schaffen, damit sie zumindest die Gläser abwaschen konnte.

Jutta war sonst wesentlich reinlicher, wahrscheinlich machte sie gerade einfach eine schlechte Phase durch. Das hatte ja jeder mal, zumindest was man so hörte. In ihrem eigenen Leben war bislang einfach nie Platz gewesen für so was.

Sie stellte gewiss nicht die Selbstsicherheit in Person dar, aber alles in allem konnte sie sehr zufrieden mit ihrem Leben sein. Frank verglich sie gern mit Julia Roberts, weil das Etikett »Everybody’s Darling« auch auf sie zutraf. Und sie hatte die gleiche schlanke, hochgewachsene Figur und lange, rotbraune Locken. Sie mochte es sehr, wenn er diesen Vergleich immer mal wieder anbrachte, aber sie selbst hätte sich niemals mit einer so begnadeten Schauspielerin in einem Atemzug genannt. Er hingegen durfte es, weil er sie liebte und deshalb ruhig übertreiben konnte.

Unter den Zetteln auf dem Tisch lugte ein Zeitungsartikel hervor, den Marike sofort erkannte.

Vorsichtig zog sie den akkurat ausgeschnittenen Artikel heraus. Der Bericht stammte aus einer Zeit, als sie sich noch gar nicht gekannt hatten – als sie das Engagement im Schauspielhaus gehabt hatte. Die Kritiken waren gut gewesen, auch wenn sie nur in einer einzigen namentlich erwähnt wurde. Die interessanteste Rolle hatte Hera Thalius gehabt, die genauso falsch war wie ihr Künstlername, aber das Publikum hatte sie am meisten gemocht.

Marike musste lächeln. Das waren noch Zeiten. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, obwohl es erst anderthalb Jahre her war. Und nun komme ich ins Kino! Sie schob den Artikel wieder an seinen Platz zurück.

Die Badezimmertür öffnete sich endlich, und Jutta stellte sich mit einem breiten Strahlen vor sie hin. »Ta-daa, was sagst du?« Sie drehte sich einmal um die eigene Achse und präsentierte sich in einem offensichtlich neuen Kleid. Es passte zu ihr, weil es durch den taillierten Schnitt die weibliche Figur sehr betonte und ungewohnt offenherzig war. Nur das dunkle Grün wäre besser ein Blau gewesen, aber das behielt Marike für sich.

»Du siehst großartig aus!«, lobte sie und stand auf. »Gegen dich bin ich richtig underdressed.« Sie trug nur eine Bluejeans und eine weiße, lockere Bluse.

»Na, wir wollen doch feiern gehen.«

Marike nickte. Ihr war allerdings mehr nach Reden als nach Feiern zumute. Die Eindrücke der letzten Tage und von der Vorbesprechung wollten erzählt und verarbeitet werden.

»Dann mal los«, sagte sie unverbindlich, und gemeinsam verließen sie das Haus.

Als hätte sie sich den Unmut weggeschminkt, setzte sich Jutta fröhlich lächelnd auf den Beifahrersitz. So war es wesentlich angenehmer in ihrer Gesellschaft, aber der plötzliche Stimmungswechsel irritierte Marike doch.

Die Fahrt würde nur wenige Minuten dauern. Sie konnte es kaum erwarten, etwas Richtiges zu essen. Heute hatte sie nur Kaffee und Kekse gehabt.

»Ist das das Drehbuch?« Jutta deutete auf den Stoffbeutel im Fußraum, der, halb heruntergerutscht, den Blick auf das Deckblatt freigab: Wege zu gehen.

»Ja, du kannst gern mal reinschauen, wenn du willst.«

Marike wollte sich aufs Fahren konzentrieren, aber neben ihr blätterte Jutta, las und machte kommentierende Laute, die irgendwo zwischen Aha und Abneigung lagen.

»Du wirst die Michaela spielen?«, vergewisserte sie sich.

»Jepp, das ist meine Rolle.«

»Hmm.« Mehr nicht. Nur dieses eine Hmm, das so viel Wertung beinhaltete, dass es Marike Unbehagen verursachte.

»Was, hmm?«, fragte sie nach einer Weile, als Jutta keine Anstalten machte, eine Erklärung zu liefern.

»Ich sehe dich gar nicht als Michaela, du bist so nett, und sie ist so …«, sie hielt inne und suchte nach dem richtigen Wort, »… tough.«

Marike sah sie von der Seite an. »Und das alles liest du aus der ersten Seite heraus?«

Mit einer entschlossenen Bewegung klappte Jutta das Drehbuch zu und steckte es in die Tasche zurück. »Habe ich dir jemals erzählt, dass ich selbst mal Drehbücher geschrieben habe? Um das zu beurteilen, muss ich gar nicht viel lesen.«

»Du hast Drehbücher geschrieben? Wirklich? Warum hast du mir das nie erzählt?«

»Das hat sich bislang nicht ergeben, aber ich kann dir beim Einstudieren der Rolle helfen. Wenn ich ein paar Sachen schiebe, kann ich dich auch zum Dreh begleiten und dich unterstützen. Noch bist du nicht so weit, aber das kriegen wir gemeinsam sicher hin.«

Marike hätte am liebsten angehalten und den Menschen rausgeworfen, der gerade neben ihr saß, um zu Juttas Wohnung zurückzufahren und ihre richtige Freundin zu suchen.

»Wann war denn das mit den Drehbüchern?« Sie versuchte, den Plauderton beizubehalten, damit die Stimmung nicht wieder kippte.

»Das ist lange her«, sagte Jutta unverbindlich. Mühsam verdrehte sie sich auf dem Sitz, um die Tasche mit dem Drehbuch auf den Rücksitz zu legen. »Es gibt vieles, das du nicht von mir weißt. Es geht ja immer nur um dich.«

»Warum erzählst du es mir dann nicht einfach?« Juttas Vorwurf ärgerte sie. Immerhin vermittelte sie ständig den Eindruck, nichts Spannendes zu erzählen zu haben und sich brennend für Marikes Leben zu interessieren.

Jutta dachte nach. Schließlich legte sie die Hände in den Schoß und sah aus dem Fenster. »Ich denke nicht gern an diese Zeit zurück«, gestand sie ruhig. »Die Filmbranche ist brutal. Meine Ideen wurden geklaut, und andere wurden mit dem reich, was aus meiner Feder stammte. Eigentlich wäre ich heute ganz oben, aber ich hatte keine Kraft, mich zu wehren. Deshalb will ich auch auf dich aufpassen.«

»Aber konntest du das nicht beweisen?«

»Dafür hätte ich viel Geld gebraucht, um einen Anwalt zu bezahlen. Für meine Arbeit bekam ich keinen Cent, woher hätte ich es nehmen sollen?« Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Außerdem haben sie meinen Ruf mit fiesen Verleumdungen ruiniert. Ich wurde richtig krank davon.«

»Das tut mir leid.« Mehr fiel ihr dazu nicht ein.

»Und mir tut es leid, dass ich es dir manchmal nicht leichtmache. Seit dieser Sache fällt es mir nun mal sehr schwer, anderen zu vertrauen. Tanja war damals wie eine Schwester für mich, niemals hätte ich mir träumen lassen, dass ausgerechnet sie mir in den Rücken fallen würde. Erfolg verändert Menschen, und ich habe große Angst, dass das mit dir auch passiert.«

Marike hielt sich selbst nicht für eine Person, die Gefahr lief, die Bodenhaftung zu verlieren. Und niemals würde sie sich mit fremden Federn schmücken. Wenn das also Juttas einzige Sorge war, müsste sich ihr Misstrauen bald legen.

»Tanja«, wiederholte Marike den Namen. »Du meinst doch nicht etwa Tanja Finkenau?«

Jutta seufzte. »Ich habe sie entdeckt und gefördert. An Herzstücke haben wir gemeinsam geschrieben, aber als sie es an ihren Agenten weitergab, vergaß sie, meinen Namen mit draufzuschreiben.« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Trotzdem war ich bei den Dreharbeiten dabei. Ich kümmerte mich um die Darstellerinnen und sollte dafür ein gutes Honorar bekommen, aber Tekla Meyer hielt sich für so begnadet, dass sie für meine Anregungen gar nicht offen war.«

Tekla Meyer spielte inzwischen nur noch in Fernseh-Soaps mit. Was andere als Sprungbrett benutzten, war für sie die Endstation.

»Deswegen bin ich mit dir auch so streng«, ergänzte sie. »Du bist gut, ich bin sehr stolz auf dich, aber es ist etwas anderes, vor der Kamera zu stehen als auf der Bühne. Jede Bewegung, jeder Tonfall und die Mimik müssen sitzen. Damit du das hinbekommst, werden wir ganz schön arbeiten müssen. Ich habe mir geschworen, nie wieder ins Filmgeschäft zurückzukehren, aber für dich mache ich eine Ausnahme.«

Marike war hin- und hergerissen. Es gab keinen Grund, an Juttas Geschichte zu zweifeln. Was noch viel schlimmer war: Innerlich fing sie an, sich zu fragen, ob Jutta vielleicht recht hatte.

Was, wenn sie tatsächlich nicht gut genug für die Rolle war?

Und während die Gedanken eine Art Eigenleben entwickelten, wechselte Jutta das Thema und plauderte über ihren Tag in der Schneiderei.

Marikes Laune sank zunehmend. Vor dem Lokal gab es keine Parkplätze mehr, und die Strecke, die sie laufen mussten, nachdem sie ein paar Straßen weiter endlich fündig geworden waren, machte es nicht besser. Jutta hingegen war geradezu beschwingt.

Als sie schließlich am Tisch saßen und auf den Kellner warteten, zauberte sie ein kleines Päckchen aus ihrer Handtasche.

»Das ist für dich. Herzlichen Glückwunsch zu deinem großartigen Erfolg!«

Es kostete Marike etwas Mühe, angemessen darauf zu reagieren, aber sie war schließlich Schauspielerin. Sie würde so lange auf ihre Fähigkeiten zurückgreifen, bis der bittere Beigeschmack vergangen war.

Schon das Päckchen sah besonders aus. Dickes, braun-goldenes Geschenkpapier und eine goldene, kunstvoll gebundene Schleife. Keine zerknickten Ecken, alles sauber gefalzt und passend zurechtgeschnitten. Es hatte sicher lange gedauert, das Geschenk derartig einzupacken.

»Nun mach es schon auf«, forderte Jutta.

Marike bekam gern Geschenke, aber sie hoffte inständig, dass Jutta nicht übertrieben hatte. Sie atmete tief ein, versuchte, alle negativen Gedanken abzuschütteln und den Abend endlich zu genießen. Dann zog sie an dem Schleifenband und packte den Inhalt bedächtig aus. Jutta sollte sehen, dass sie die Mühe wertschätzte, und gleichzeitig wollte sie sich auf eine angemessene Reaktion vorbereiten.

Unter dem Papier kam eine kleine Box zum Vorschein. Der Deckel ließ sich leicht abziehen, und darunter entdeckte sie ein kunstvolles Lesezeichen. Es war eine von diesen versilberten Klammern, die man von oben über eine Seite schieben konnte. Bei dieser krönten stilisierte Engelsflügel die Spitze.

»Dieser kleine Schutzengel soll dich durch die Dreharbeiten begleiten. Dann weißt du, dass ich immer bei dir bin.«

Bevor Marike etwas Passendes erwidern konnte, kam der Kellner an den Tisch, begrüßte sie freundlich und zählte routiniert die Tagesspezialitäten auf. Er überreichte die Karten und ging wieder.

Das genügte Marike, um sich etwas zu sammeln. Sie wusste nicht mal genau, was sie an diesem eigentlich liebevollen Geschenk störte. Vielleicht war es die Tatsache, dass sie Jutta eben nicht ständig dabeihaben wollte.

Vorsichtig legte sie es in die Box zurück und sah die Freundin mit einem Lächeln an. »Vielen Dank, das ist ein tolles Geschenk.«

»Ja, magst du es wirklich?«

Wieder dieser prüfende Blick. Und er überdauerte Marikes Bemühungen um weitere Dankesbekundungen. So lange, bis ihre Glaubwürdigkeit anscheinend nicht mehr in Frage stand. Dann konnten sie endlich die Speisekarten aufschlagen.

Um das Thema zu wechseln, sprach Marike über die Gerichte. Was gut klang, was sie garantiert nicht mögen würde und dass man beim Argentinier eigentlich zwingend Steak essen müsse. Als der Kellner zurückkam, bestellten sie das dann auch, dazu einen passenden Rotwein.

»Ich kann kaum erwarten, dass es losgeht. Es ist so aufregend. Der Regisseur meinte, dass ich später viele Interviews geben müsste. Er ist überzeugt, dass der Film ein Riesenerfolg wird.«

Jutta nickte bedächtig. »Ja, das wird er wohl. Du hast es verdient.« Ihre Stimme klang kühl, als läge ganz viel Enttäuschung darin. Es war Marike unbegreiflich, wie man so chaotisch zwischen den Stimmungen hin- und herwechseln konnte. Lag es daran, dass sie sich nicht genug über das Geschenk gefreut hatte?

Eine Pause entstand. Jutta ließ mit leichtem Druck die Zinken der Gabel auf dem Tisch kreisen.

Nun reichte es Marike. Sie fühlte sich unausgesprochen unter Druck gesetzt. »Habe ich dich irgendwie beleidigt? Es wäre nett, wenn du mir das sagst, weil ich mir absolut keiner Schuld bewusst bin.« Sie hatte keine Lust, den ganzen Abend einem Rätsel gegenüberzusitzen. Wenn Jutta etwas störte, sollte sie es jetzt sagen oder allein damit klarkommen.

»Magst du mich?«, war ihre Antwort.

Eine Bedienung huschte vorbei und stellte einen Brotkorb auf den Tisch.

»Natürlich, deswegen sitzen wir doch hier. Was soll diese Frage?«

Die grünen Augen nahmen einen unerbittlichen Ausdruck an. »Ich habe bei Facebook die Fotos von eurer Feier gesehen. Das hat mich sehr verletzt.«

Nun mischte sich auch noch Fassungslosigkeit in den Gefühlscocktail dieses Abends. Sie hatte ganz bewusst keine Fotos der Feier auf ihrer Pinnwand gepostet, aber Jutta war mit fast allen anderen ebenfalls befreundet – zumindest virtuell.

»Das war eine Überraschungsfeier. Ich wusste nicht, dass Frank so viele eingeladen hatte.«

Die Gabel klirrte gegen das Messer. »Schon gut«, sagte Jutta mit einem Lächeln, das ihre Augen nicht erreichte. »Du hast recht, lass uns feiern.« Sie drehte sich zum Kellner um. »Zwei Gläser Sekt, bitte!«

Selbst wenn jetzt alles wieder so freundschaftlich war wie immer, das verstörende Gefühl, ein Gesicht von Jutta gesehen zu haben, das ihr sehr unangenehm war, blieb.

Jutta erzählte irgendwas über eine Bekannte, die sie gerade bei Facebook geblockt hätte, weil diese sie nur ausnutzte. Dabei holte sie ganz weit aus und streute Details über deren Privatleben und persönliche Defizite ein.

Doch Marike hörte gar nicht richtig zu. Sie nickte nur und versuchte, die eigene Enttäuschung zu unterdrücken, weil ihr größter Freudenmoment gerade durch egoistische Animositäten ruiniert wurde.

In diesem Augenblick entschloss sie sich, Jutta nicht immer alles sofort zu erzählen und ihre Meinung einzuholen.

Solange sie nur eine unbedeutende Theaterschauspielerin gewesen war, schien alles okay zu sein, aber jetzt, da etwas Großes passierte, änderten sich die Dinge offenbar gewaltig.

»Ich kann mich nicht immer nur ausnutzen lassen«, schloss Jutta ihren Bericht und wartete auf eine Bestätigung.

»Da hast du recht. Man sollte einen Schlussstrich ziehen, wenn es nicht mehr passt«, sagte Marike unverbindlich und war froh, als der Sekt gebracht wurde.

»Auf dich, mein Herz«, sagte Jutta und prostete ihr zu.

»Auf Wege zu gehen!«

»Wähnst dich in Sicherheit.

Ich kann förmlich hören, wie du wider besseres Wissen aufatmest.

Aber ich weiß was, was du nicht weißt. Zähle die Tage, mein Schatz, zähle die Tage.

Ich fühle, dass du an mich denkst.

Ich gehe dir unter die Haut – deine warme, sanfte Haut.«

Kapitel 4

18. Juni 2011

Marike hatte gar nicht vorgehabt, so viel zu trinken, schon gar nicht, ihr Auto in der Innenstadt stehenzulassen und das teure Taxi zu bezahlen, das sie nach Hause brachte. Wenn die Gage käme, würde sie alles locker berappen können, aber nun fehlte ihr das Geld für die letzten zwei Wochen des Monats.

Frank würde das ausgleichen, aber trotzdem mochte sie nicht, wenn ein Ungleichgewicht entstand. Bis sie ihn kennengelernt hatte, war sie immer gut allein zurechtgekommen. Kleine Nebenjobs als Bedienung oder Messehostess hatten sie über Wasser gehalten. Jetzt wohnten sie zusammen, aber Konten und Kassen blieben getrennt.

So wie sie es sah, war er der Mann fürs Leben, andererseits musste sich noch herausstellen, ob er auch mit ihrem Lebenswandel klarkam, denn verbindliche Regelmäßigkeiten konnte sie nicht bieten. Marike war spontan und kommunikativ und fühlte sich mit anderen Menschen schnell sehr wohl. Bis zu einem gewissen Grad lebte sie eine bewusste Naivität aus, ließ sich viel zu oft mitreißen und erzählte Dinge, die ihr, falsch verwendet, schaden konnten.

So wie an diesem Abend – der aber letzten Endes doch noch ganz schön geworden war.

Die Missstimmung hatte sich irgendwann verloren, und dann hatten sie über Gott und die Welt geredet. Marike hatte von ihren Ängsten, sich in den Filmpartner zu verlieben, erzählt, weil sie davon gehört hatte, dass sich viele derartig in ihre Rolle hineinsteigerten, dass es sie vollkommen durcheinanderbrachte.

Jutta hatte gesagt, ihr sei aufgefallen, dass es zwischen ihr und Frank seit dem Umzug nicht mehr ganz so innig lief.

Und sie hatte recht.

Es war normal, dass man einen gewissen Alltag entwickelte, aber es fehlte ihr schon, dass Frank nicht mehr jede Gelegenheit nutzte, ihr seine Aufmerksamkeit zu schenken. Aber wenn es darauf ankam, war er großartig – so wie vergangenen Mittwoch.

Jetzt war sie wieder zu Hause – und zu betrunken, um sich alles richtig in Erinnerung zu rufen. »Habe ich das wirklich alles gesagt?«

So leise wie möglich zog sie die Schuhe aus und warf ihre Jacke in die Garderobe. Sie wollte nur noch ins Bett. Der Schlüsselbund landete auf dem Telefontischchen, die Handtasche auf dem Fußboden im Flur.

Im Schlafzimmer ging das Licht an.

»Da bist du ja endlich«, erklang Franks Stimme, dann kam er ihr in Shorts und T-Shirt entgegen. »Ich habe mir schon Sorgen gemacht. Ihr wolltet doch nur essen gehen.«

»Es ist etwas später geworden«, brachte sie mit schwerer Zunge hervor.

Frank musste lachen. »Aber sag mir bitte, dass du nicht mehr gefahren bist.«

Mit groben Bewegungen zog sie sich die Bluse über den Kopf, Frank half ihr, als ihr Ohrring daran hängenblieb. »Bringst du mich morgen zu meinem Auto?«

»Ich bringe dich jetzt erst mal ins Bett«, sagte er lachend und hob sie hoch. »Wie war’s denn mit Jutta?«

Marike war zu betrunken, um ihre Worte abzuwägen. »Anfänglich echt anstrengend«, sagte sie. »Sie war sauer, weil sie nicht eingeladen war und die Fotos bei Facebook gesehen hat.«

Er legte sie auf ihre Seite des Betts und half ihr aus der Bluejeans.

»Keiner mag sie. Weiß der Geier, was du an ihr findest. Sie ist echt komisch.«

Marike schloss die Augen. Der Rausch war wie Lärm in ihrem Kopf. »Sie ist eben speziell, aber sie hat ganz tolle Talente. Ich mag Menschen eben, wie sie sind.«

Sie hörte die Hose auf den Boden fallen, dann setzte sich Frank neben sie und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. »Das ist mit Sicherheit eine deiner bestechendsten Eigenschaften. Immerhin magst du auch mich.«

Marike nickte müde. Gern hätte sie Mögen durch Lieben ersetzt, aber dafür war sie zu erschöpft.

Er zog die Decke über sie und ging auf seine Bettseite. Durch die geschlossenen Lider merkte sie, wie das Licht ausging, endlich wurde es dunkel, und der Rausch würde im Schlaf ertränkt werden.

Frank kuschelte sich an sie und strich ihr sanft über den Kopf. »Morgen erzählst du mir dann alles von der Vorbesprechung, ja?«

Die Vorbesprechung! Marike riss die Augen auf und wurde vor Schreck ganz starr. »Ich habe das Drehbuch im Auto liegenlassen.«

Frank zog sie fester an sich und küsste sie auf die Wange. »Das kommt schon nicht weg. Wir fahren morgen los, sobald du wieder nüchtern bist. Nun schlaf.«

Widerwillig schloss sie die Augen.

Irgendwie lief gerade nichts so, wie es sollte.

Sie wachte einige Male auf, aber Kopfschmerzen und Übelkeit ließen sie die Flucht in den Schlaf antreten. Frank war bereits vor Stunden aufgestanden. Sie hörte ihn im Nebenzimmer in der Zeitung blättern.

Jedes Mal, wenn sie erwachte, fragte sie sich, was sie gestern Abend alles gesagt hatte. Sie erinnerte sich nur noch an Bruchstücke.

Es war ein schöner Abend gewesen. Jutta hatte irgendwann das Miesepetrige abgelegt und war wieder ganz die Freundin gewesen, die Marike so mochte. In solchen Momenten teilten sie denselben Humor, Jutta zeigte Interesse an Marikes Leben, und es tat gut, ganz viel über die jüngsten Ereignisse reden zu können.

Und doch hatte etwas einen misstönigen Nachhall hinterlassen, etwas, das Marike das ungute Gefühl gab, zu vertrauensselig gewesen zu sein. Sie hatte gestern eine Seite ihrer Freundin kennengelernt, die sie lieber nicht gesehen hätte.

Es klingelte, und sie hörte Franks Schritte im Flur. Er drückte auf den Summer. Marike mochte die Vielzahl der Geräusche, die als akustische Kette mit Besuchern verbunden war: Schuhsohlen auf den Marmorstufen, der Hall im Treppenhaus, das Donnern, wenn die Eingangstür zurück ins Schloss fiel. Und wenn jemand in Sichtweite kam, erklangen die Stimmen von Frank und dem Besucher.

Marike lauschte, ob sie schon am Klang erkennen konnte, wer es war. Aber sie hörte nur Frank Hallo sagen.

Dann erklärte er, dass sie immer noch im Bett lag. Sie hätte sich am liebsten das Kissen über den schmerzenden Kopf gezogen. Die Tür zum Schlafzimmer wurde aufgedrückt, und Jutta kam ungefragt herein.

»Wow, du siehst für gestern aber echt fit aus«, sagte Marike und setzte sich ächzend auf.

Juttas Miene war verschlossen. Mit wachen Augen sah sie auf Marike hinab, schloss die Tür hinter sich und stellte eine große, braune Umhängetasche auf dem Boden ab. »Ich hatte mir schon Sorgen gemacht«, sagte sie und setzte sich auf die Bettkante. »Du warst ganz schön betrunken.«

Marike lachte und boxte sie sanft gegen den Oberarm. »Wir beide waren es, aber was für ein schöner Abend.«

Jutta nickte und senkte den Blick. »Ja, das war es wohl.«

Der Tonfall klang eher nach Verlust und Trauer und stand so gar nicht im Verhältnis zu dem Spaß, den sie gehabt hatten.

»Ist irgendwas?« Marike wäre gern aufgestanden, aber unter der Decke hatte sie nicht besonders viel an.

»Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll. Du warst gestern so stolz auf deinen Erfolg, ich will dir das nicht kaputt machen.« Ein Bild von Katastrophe und Elend zersetzte in Sekundenschnelle jeden positiven Gedanken.

»Was meinst du?«

Jutta sah sie nun direkt an und wirkte dabei sehr mitfühlend – nur dass Marike keinen Schimmer hatte, wovon sie sprach.

»Ich habe dir gestern den Autoschlüssel abgenommen, damit du in deinem Zustand nicht mehr fährst.«

»Ich würde niemals …«

Ohne auf den Einwand einzugehen, redete Jutta weiter. »Und ich dachte, du würdest dich freuen, wenn ich dir heute Morgen dein Auto bringe. Ich wusste, dass es dir schlechtgehen würde.«

Marike zog die Decke enger um sich.

»Eigentlich wäre ich schon vor zwei Stunden hier gewesen, aber dann sah ich das Drehbuch auf dem Rücksitz und fing an zu lesen.«

Sie legte eine Hand auf die Decke, dort, wo der Oberschenkel war. »Die Rolle ist sehr anspruchsvoll, und Lars Behring ist ein unglaublich charismatischer Schauspieler. Das ist ein ganz anderes Niveau als die Theaterrollen, die du bislang gespielt hast.«

Es klang anders als am Abend zuvor – konkreter.

»Gemeinsam schaffen wir das«, ergänzte sie aufmunternd. »Ich werde dir helfen. Wie wäre es, wenn ich dir einen Kaffee koche und wir dann an die Arbeit gehen?« Nun lächelte sie offen.

Marike rieb sich übers Gesicht und versuchte, die widersprüchlichen Gefühle zu ordnen. Es war ihr wichtig, kritikfähig zu sein und professionell zu agieren.

»Normalerweise nehme ich richtig viel Geld fürs Coaching, aber ich will dir helfen, weil ich an dich glaube.«

Als die Gesprächspause zu lange anhielt, bedankte sich Marike, auch wenn sie gar keine Dankbarkeit empfand. Bislang hatte sie sich mit ihrer Rolle noch gar nicht auseinandersetzen können, und sie hatte Jutta nicht darum gebeten, das Drehbuch zu analysieren.

Sie wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Eigentlich klang das Angebot sehr großzügig und hilfsbereit, aber sie wurde nicht gefragt, ob sie es überhaupt annehmen wollte. Jutta kam herein und übernahm mal eben das Ruder. Entmündigend war das erste Wort, das Marike dazu einfiel.

»Lass mich eben duschen gehen, dann reden wir weiter, okay?«

Marike ließ sich Zeit. Die Dusche tat gut, und die Ruhe im einsamen Bad war eine Wohltat. Sie betrachtete sich lange im Spiegel und fragte sich, ob sie den Anforderungen gerecht werden konnte.

Die Euphorie vom Vortag hatte ihr besser gefallen als diese aufkommenden Zweifel, aber sie wollte nicht zu denen gehören, die wegen ausgeprägter Selbstüberschätzung peinlich auffielen. Dazu gehörte zwingend, sich selbst kritisch zu betrachten.

Es würde nicht schaden, mit Jutta zu üben, sicher würde es Spaß machen, die Szenen nicht allein einzustudieren. Ob sie nun wirklich Coaching-Erfahrungen besaß oder nicht, ein Blick von außen war immer gut. Sie konnte den Gedanken nicht verdrängen, dass Jutta sich diese Dinge nur ausdachte, um sich wichtigzumachen. Das wäre so albern, denn noch wichtiger kann sie für mich ja gar nicht sein – sie ist meine Freundin.

Mit einem schwarzen Jogginganzug bekleidet verließ sie das Bad und ging zu Jutta in die Küche. Es duftete nach frischem Kaffee, und sie hatte sogar den Frühstückstisch für Marike gedeckt.

Sie setzte sich an den Tisch und ließ sich einschenken. »Das ist lieb von dir.«

Das Drehbuch lag auf der anderen Seite, kleine gelbe Post-it-Zettel lugten zwischen den Seiten hervor.

Sosehr ihr Verstand dem etwas Gutes abgewinnen wollte, es dominierte der Drang, Jutta rauszuwerfen. Die Aufgabe einer Freundin wäre zunächst Anteilnahme gewesen. Sie hätte Hilfe anbieten können, aber gleich zur Tat zu schreiten, war ein Schritt zu viel.

»Ich habe Frank gesagt, dass wir arbeiten wollen. Er ist irgendwohin gefahren.«

Marike nahm den Kaffeebecher in beide Hände und ließ die Hitze einen Moment auf ihre Haut wirken. Es ärgerte sie, dass er nicht wenigstens geblieben war, bis sie aus dem Bad kam.

»Also, welche Szene wird denn als erste gedreht? Oder sollen wir mit grundsätzlichen Übungen anfangen? Bevor du den Text lernst, musst du auf jeden Fall die Figur ausarbeiten, damit du sie konsequent spielen kannst.«

Marike seufzte hörbar.

Jutta stellte die Kaffeekanne auf die Arbeitsplatte, setzte sich ihr gegenüber und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich habe mir deinetwegen ganz viel Arbeit gemacht. Sag mir, wenn du das nicht willst.«

Ertappt wich Marike ihrem Blick aus. »Doch«, sagte sie leise. »Ich bin gerade aufgestanden, lass mich erst mal richtig wach werden.«

Sie wollte Juttas Gefühle nicht verletzen. Eigentlich war es ja sehr nett, was sie alles wegen ihr auf sich nahm. Marike war hin- und hergerissen. Ab wann befand man sich mit seinem Unmut im Recht, und ab wann war man undankbar?

Nachdenklich stellte sie den Becher ab und rieb ihre aufgeheizten Finger. Jutta fixierte sie, das spürte sie, dafür musste sie nicht mal hinsehen. Als würde sie einer Prüfung unterzogen, einer Art ultimativem Freundschaftstest – sie musste sich nur entscheiden, wie viel Wert sie auf diese Freundschaft legte. Ohne Kater wäre ihr das Denken leichter gefallen, denn rein nach Tagesform sah es gerade nicht gut für die Freundschaft aus. Wie konnte ein Mensch so plötzlich von »normal« auf »unglaublich anstrengend« switchen? An dem Mittwoch war alles losgegangen, und nun saß ihr eine Fremde gegenüber, die sie definitiv nicht eingeladen hatte. Wo war die anteilnehmende, rücksichtsvolle Freundin hin, die immer so viel Verständnis für alles zeigte und ihr so viel Talent zusprach? Diese Jutta erschien fordernd, übertölpelnd und passiv aggressiv.

»Können wir bitte ein andermal damit anfangen? Ich habe das Drehbuch selbst noch gar nicht gelesen, und mir brummt der Schädel.«

Jutta legte eine Hand auf die gebundenen Seiten und schob sie in die Tischmitte. »Bist du sauer, dass ich dir einen Teil der Arbeit schon abgenommen habe? Das ist doch nur zu deinem Besten.« Die Tonlage bewegte sich irgendwo zwischen Theatralik und Enttäuschung, als würde sie taktieren, worauf Marike besser ansprang.

Vielleicht war so ein Dreh das Aufregendste, was Jutta in ihrem Alltag miterleben durfte. Sich derartig aufzudrängen, war fragwürdig, aber es erklärte, warum alles plötzlich so anders lief.

Sie lächelte Jutta offen an und lehnte sich gegen die Stuhllehne. »Ich freue mich wirklich, dass du mich so toll unterstützen willst. Nachher lese ich das Drehbuch, und dann reden wir darüber, okay?«

Diesmal hielt sie dem prüfenden Blick stand und fühlte sich erleichtert, als Jutta nickte und sich entspannte.

Sie zog ihre Tasche vom Nebenstuhl und kramte den Autoschlüssel heraus. »Ich habe ein Tagesparkticket gekauft, morgen Abend solltest du deinen Wagen woanders abstellen. Frühstücke in Ruhe zu Ende, ich gehe zu Fuß nach Hause.«

Wenn es ihr bessergegangen wäre, hätte sie widersprochen und ihre Freundin nach Hause gefahren, aber sie fühlte sich nicht fahrtüchtig. Der Fußweg von gut 40 Minuten führte direkt vom Schulterblatt durch die Hamburger Innenstadt. Marike war ihn auch schon oft zu Fuß gegangen. Der kleine Marsch tat Jutta sicher gut.

Sie brachte sie zur Tür.

»Ist alles gut zwischen uns?«