Tödliches Geheimnis auf Usedom - Elke Pupke - E-Book

Tödliches Geheimnis auf Usedom E-Book

Elke Pupke

4,8

Beschreibung

Unfall oder Mordanschlag? Eine junge Frau und ihre kleine Tochter Emma werden im beschaulichen Bansin auf Usedom angefahren, der Fahrer flüchtet. Aus ihrer großen Verwandtschaft erfahren sie kaum Unterstützung. Und so sind es erneut die Pensionswirtin Berta Kelling und ihre Freunde, die den beiden helfen und ihren dritten Fall übernehmen. Sie beginnen, die Familiengeschichte zu erforschen und blicken plötzlich in Abgründe aus Erpressung, Erniedrigungen und familiäre Zerrüttung. Auf einem Dorffest führt der aufgewirbelte Staub schließlich zu einem Selbstmord. Oder war es Mord? Bald sind auch die Ermittler in Gefahr und die Polizei tappt im Dunkeln. Treibt schon wieder ein Gewaltverbrecher sein Unwesen auf Usedom? Und: Wer ist der Vater der kleinen Emma? Die Antwort darauf führt hoffentlich zum Täter.

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Elke Pupke

Tödliches

GEHEIMNIS

auf Usedom

Inhalt

Donnerstag, 13. Februar 2014

Freitag, 14. Februar

Sonnabend, 15. Februar

Sonntag, 16. Febuar

Dienstag, 18.Februar

Donnerstag, 20. Februar

Freitag, 21. Februar

Freitag 28. Februar

Sonnabend, 1. März

Sonntag, 2.März

Montag, 3. März

Dienstag, 4. März

Mittwoch, 5. März

Samstag, 8. März

Sonntag, 9. März

Montag, 10. März

Dienstag, 11. März

Donnerstag, 13. März

Freitag, 14. März

Sonnabend, 15.März

Sonntag, 16. März

Montag, 17. März

Dienstag, 18. März

Mittwoch, 19. März

Freitag, 21.März

Sonnabend, 22. März

Sonntag, 23. März

Montag, 24. März

Mittwoch, 26. März

Donnerstag, 27. März

Freitag, 28. März

Samstag, 29. März

Sonntag, 30. März

DIE AUTORIN

Impressum

Donnerstag, 13. Februar 2014

Um sieben Uhr abends ist es stockdunkel, es sind auch nicht mehr viele Autos unterwegs. Die Einheimischen sitzen am Abendbrottisch oder bereits vor dem Fernseher. Am Morgen lag noch eine dünne Schneedecke, aber tagsüber war es warm und sonnig, jetzt ist die Straße trocken.

Eine junge Frau kommt mit ihrem Fahrrad aus dem Seebad und fährt hinab ins Dorf. Ihr Licht funktioniert nur sporadisch, zum Glück säumen Laternen die Straße. Das kleine Mädchen vor ihr im Kindersitz weint leise. Es ist müde und ihm ist kalt. Die Mutter rückt ihm die Mütze zurecht und streicht mit dem Handrücken über seine Wange. Sie fühlt Tränen und murmelt: »Nicht weinen, Schatz, es wird alles wieder gut.« Dabei klingt ihre Stimme eher verzweifelt als tröstend. Hinter der Kurve bremst sie vorsichtig ab.

Das Auto erfasst das Fahrrad, gerade als die Frau nach links einbiegen will, ins Dorf.

Das Kind schreit einmal laut auf, dann wimmert es nur noch leise vor Angst und Schmerz und streckt die Arme nach der Mutter aus. Die hat das Bewusstsein verloren, als ihr Kopf auf den Asphalt geprallt ist.

Ein Mann kommt mit seinem aufgeregt kläffenden Hund aus der Dunkelheit. Noch bevor er die Unglücksstelle erreicht, gibt der Autofahrer Gas und der dunkelblaue Golf verschwindet mit quietschenden Reifen in der Finsternis.

Berta Kelling legt ihr Besteck auf den leeren Teller und lehnt sich zufrieden zurück. Sie blickt ihre Nichte und deren Freundin an. »Na, seid ihr satt?«

Die beiden Frauen nicken. Anne wischt sich den Mund ab und stöhnt. »Viel zu satt. Das kann nicht gesund sein, so spät noch so viel zu essen.«

Die zierliche Sophie zuckt mit den Schultern. »Was soll’s. Dafür hab ich den ganzen Tag kaum was gegessen.«

Die vierundsiebzigjährige Berta sieht auf die Uhr. »Ist wirklich ein bisschen spät geworden. Schon nach acht. Morgen koch ich wieder früher, heute hat Plötz mich so lange aufgehalten.«

»War der hier?«, will Anne wissen. »Warum ist er denn nicht zum Essen geblieben?«

»Ich war bei ihm unten am Strand. Wir haben ein bisschen gequatscht, da hab ich nicht auf die Zeit geachtet.«

»Und Grog getrunken«, vermutet Sophie, die ihre Tante und deren langjährigen Freund, den Fischer Paul Plötz, gut kennt.

Sie unterbrechen ihr Gespräch, als sie hören, wie die Haustür geöffnet wird. Vom Stammtisch aus, an dem die drei sitzen, ist der Eingang nicht zu sehen. Aus gutem Grund hat Sophie bei der Planung der Gaststätte darauf geachtet, dass dieser runde Tisch etwas versteckt zwischen der Rückwand des Empfangsbereiches und der Wand zur Küche steht. Das Lokal, das auch als Frühstücksraum ihrer Pension dient, nimmt fast die ganze untere Etage des Hauses ein. Nur die Küche und der Sanitärbereich sind abgeteilt. An der Ostseite geben große Fenster den Blick auf die Strandpromenade und die Ostsee frei. Passend zu dieser Lage des Hauses und seinem Namen Kehr wieder, ist die Ausstattung hell und freundlich und hat einen maritimen Charakter.

Ein kräftiger dunkelhaariger Mann kommt um die Ecke. »Gut, dass ihr noch hier seid. Ich wollte jetzt nicht alleine zu Hause sein, musste mit jemandem reden. Und ich brauch ein Bier.«

Während er sich setzt, räumt Anne die Teller zusammen und steht auf, um das Geschirr in die Küche zu bringen. Sophie geht zum Tresen gegenüber vom Stammtisch, an der anderen Seite der Küchentür.

»Ich bleibe bei Grog«, ruft Berta ihrer Nichte zu, die ein Glas Bier zapft und für sich selbst und ihre Freundin Rotweinschorle mischt. Dann wendet sich die Alte an ihren Tischnachbarn, der aufgeregt eine Zigarettenpackung aus der Tasche gezogen und sie nach einem suchenden Blick auf den Tisch wieder eingesteckt hat.

»Steck dir schon eine an, Sophie hat noch einen Ascher versteckt, den bringt sie dir gleich. Was ist denn nun los, Heiko? Hast du wieder Krach mit deiner Kleinen?«

Er nickt. »Ja, und zwar richtig. Ich hab sie rausgeschmissen. Ich hab aber nicht gesagt, dass sie sofort abhauen soll«, verteidigt er sich, obwohl sich noch niemand geäußert hat. »Das Kind hat doch schon geschlafen. Da sieht man wieder, was das für eine Mutter ist! Reißt das Mädchen aus dem Schlaf und setzt sich mit ihr auf das Fahrrad, bei dem Schietwetter. Die arme Kleine. Wenn ich ein Auto hätte, wäre ich ihr nachgefahren!«

Er schnieft vor Mitleid und Berta blickt ihn alarmiert an. »Und dann? Was ist passiert? Wo ist sie hin?«

»Sie hatte einen Unfall. Ist von einem Auto angefahren worden, unten im Dorf.«

Anne ist aus der Küche gekommen und bleibt erschrocken stehen. »Wer hatte einen Unfall? Kim? Ist es schlimm?«

»Was ist mit der Kleinen?«, fragt Sophie dazwischen, die gerade die Getränke an den Tisch bringt.

»Ich weiß nicht genau. Der Fahrer vom Krankenwagen, ein Kumpel von mir, hat mich angerufen. Er hat sie nach Wolgast gebracht. Kim war bewusstlos. Er meint, so schlimm ist es nicht, aber Genaues weiß er natürlich auch nicht. Das wollte ich doch nicht!«

Vorsichtig sieht er zu den beiden ungleichen Freundinnen hoch. Anne ist mindestens einen Kopf größer und wohl fast doppelt so schwer wie Sophie. Beide werden in diesem Jahr fünfzig und kennen sich schon ihr Leben lang, obwohl Sophie in Berlin aufgewachsen ist. Sie hat ihre Ferien immer hier in Bansin bei ihrer Tante verbracht. Berta war damals Köchin in diesem Haus, das zu DDR-Zeiten der Gewerkschaft gehörte. 1990 bekam die alleinstehende, kinderlose Frau den ehemaligen Familienbesitz zurück. Noch heute ist sie froh und dankbar, dass ihre Nichte zwanzig Jahre später alles übernahm und es nun, nach gründlicher Sanierung, als gut gehende Pension betreibt.

»Nun setzt euch schon hin«, sagt Berta ungeduldig, »ihr macht mich ganz nervös.«

»Sag mal, du kannst die beiden doch nicht einfach rausschmeißen«, wendet sie sich dann wieder an den Mann. »Wo soll Kim denn hin mit dem Kind?«

Der Angesprochene blickt trotzig in sein Bierglas und zuckt mit den Schultern. »Mir doch egal, ist ja nicht mein Kind. Soll sie dahin gehen, wo sie sich sonst auch rumtreibt, abends. Und nachts. Und wenn ich nicht da bin, ist die Kleine allein. So eine Mutter ist das nämlich.«

Er blickt auf und spricht jetzt schneller, lauter. »Sie ist nicht das stille kleine Mädchen, für das sie alle halten. Lieb, schüchtern und hilflos, ein Püppchen mit rosa Haaren. Wenn es nicht nach ihrem Kopf geht, wird sie zur Furie, schreit und flucht wie ein altes Fischweib. Und sie lügt wie gedruckt. Trotzdem hat sie mich immer wieder rumgekriegt, wenn ich sie rausschmeißen wollte. Aber nun ist Schluss. Ich bin doch kein Hans Wurst.«

Sophie lacht. »Dass sie kein liebes Püppchen ist, haben wir uns ja nun schon gedacht. Kein stilles, schüchternes Mädchen färbt sich die Haare pink.«

Auch Berta muss grinsen. »Nicht alltäglich, aber ihr steht es. – Wieso sagst du eigentlich, sie treibt sich nachts rum? Hast du mir nicht mal erzählt, sie hat keine Männergeschichten mehr, sie ist nur für dich und die Kleine da? Wo geht sie denn nachts hin?«

»Das ist es ja. Sie sagt es nicht. Sie haut einfach ab. Sie wartet, bis sie denkt, ich wäre eingeschlafen oder sie erzählt mir, sie muss noch einen Strandspaziergang machen, sie braucht frische Luft – und ich darf natürlich nicht mit. Was soll ich denn davon halten? Mir liegt sie auf der Tasche und bei anderen im Bett, nehm ich an. Mal ehrlich, hab ich das nötig? Ja, und heute Abend ist mir eben der Kragen geplatzt. Ich hab sie gefragt, wo sie letzte Nacht war – sie ist erst nach Mitternacht zurückgekommen, war stundenlang weg – und sie behauptet, sie wäre spazieren gegangen. Also hab ich ihr gesagt, sie kann spazieren gehen, wann und wohin sie will, aber nicht mehr in meine Wohnung. So. Und dabei bleibe ich. Wenn mir das auch leidtut mit dem Unfall. Dafür kann ich doch nichts, oder?«

»Nein, nein.« Berta schüttelt den Kopf. »Dafür kannst du wohl nichts. Wer war denn der Autofahrer? Ein Einheimischer?«

»Was? Wer sie angefahren hat? Keine Ahnung.«

»Na, das werden wir morgen schon erfahren«, sagt Berta zuversichtlich.

»Wahrscheinlich wollte sie zu ihrer Mutter«, vermutet Sophie. »Die wohnt doch da unten im Dorf, nicht?«

»Ja, schon.« Ihre Tante nickt zögernd. »Aber die beiden verstehen sich ja nun gar nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Kim mit der Kleinen dort übernachten wollte.«

»Was blieb ihr anderes übrig«, wirft Anne mit einem vorwurfsvollen Blick auf Heiko ein. »Und woher weißt du das überhaupt schon wieder alles, Berta? Kim war doch noch nie hier in der Gaststätte und ihre Mutter schon gar nicht, soweit ich weiß.«

»Die alte Bauer kenne ich noch aus DDR-Zeiten. Sie war Küchenhilfe, hat bei mir mal im Abwasch gearbeitet. Die war schon immer faul und dreckig und, na ja, ich glaube es heißt ›nymphoman‹, ich nenne es einfach mannstoll.« Sie sieht Heiko an. »Sollte ich vielleicht gar nicht sagen, sie ist ja sowas wie deine Schwiegermutter.«

Der Mann grinst freudlos. »Ich hab schon ganz andere Sachen von der gehört, Kim nimmt da kein Blatt vor den Mund. Du hast recht, die beiden können sich wirklich nicht ausstehen.«

»Kim kenne ich natürlich vom Strand«, fährt Berta fort. »Sie hat im Sommer in Plötz seiner Bude Fisch verkauft, da hab ich mich manchmal mit ihr unterhalten. Sie ist zwar nicht sehr gesprächig, eher ein bisschen verschlossen, aber ich mag sie. Und die kleine Emma ist wirklich süß.«

»Ja, ja.« Heiko richtet sich auf. »Ich merke schon, worauf das hier hinausläuft. Nein, ich bin fertig mit ihr. Eigentlich wusste ich schon immer, dass sie mich nicht liebt. Ich dachte, das kommt vielleicht noch, wenn sie merkt, wie gut sie es bei mir hat. Ich war verrückt nach ihr und die Kleine war wie ein eigenes Kind für mich. Aber ich kann es nicht erzwingen. Ich bin schließlich nicht mehr der Jüngste, ich will auch mal ein eigenes Kind haben und ein richtiges Familienleben. Vielleicht kommt Kim ohne mich sogar besser zurecht. Sie hat ja genügend Geschwister, sollen die sie doch unterstützen.«

»Halbgeschwister«, ergänzt Berta nachdenklich, »ich glaube, die Bauer hatte ihre acht Kinder von ebenso vielen Männern. Wo die alle abgeblieben sind? Cary wohnt noch im Ort, ich meine, der hat eine kleine Wohnung im Plattenbau. Das ist wohl der Älteste. Na, viel los ist mit dem nicht. Aber Grace Bauer, die hat was aus sich gemacht. Sieht jedenfalls ganz ordentlich aus. Wo wohnt die jetzt eigentlich?«

Ihr Tischnachbar zuckt mit den Schultern. »Keine Ahnung. Kim spricht nie über ihre Geschwister. Ich glaube, die haben alle keinen Kontakt miteinander. Na, wie auch immer, ich zahle jetzt. Ich muss morgen wieder früh raus.«

Als er sich auf den Heimweg macht, wirkt der Mann viel ruhiger als bei seiner Ankunft.

Freitag, 14. Februar

Die junge Frau sieht sich suchend um, dann ruft sie durch die geschlossene Badezimmertür: »Ich finde den Autoschlüssel nicht, hast du ihn wieder stecken gelassen?«

»Ja, kann sein«, kommt es zurück. »Ich dachte, du wolltest noch zu deiner Mutter fahren.«

»Es ist doch immer dasselbe mit dir«, ruft sie ärgerlich. »Irgendwann ist das Auto mal verschwunden.«

»Ach was, es weiß doch keiner, dass der Schlüssel steckt.«

»Das weiß halb Bansin, nachdem du es dauernd in der Kneipe herumerzählst.«

»Ach, wer klaut schon einen verbeulten alten Golf.«

Das weiß die Frau auch nicht, trotzdem ist sie erleichtert, als sie das dunkelblaue Auto an seinem üblichen Platz im Buchenpark hinter dem Haus stehen sieht.

Das Haus, in dem Kim Bauers Mutter wohnt, steht etwas abseits, am Ende des Dorfes. Von dem Zaun, der das Grundstück einmal umgeben hat, sind nur noch Fragmente vorhanden, es gibt auch nichts, was sich einzugrenzen lohnte. Zwischen uralten Obstbäumen steht und liegt vermodertes Gras. Im Sommer reicht das Unkraut der Bewohnerin bis zum Bauch, was sie nicht daran hindert, ihre Wäsche auf die Leine, die sie von einem Baum zum anderen gespannt hat, aufzuhängen. Das Obst liegt da, wo es heruntergefallen ist und verfault. Auch der ehemalige Gemüsegarten ist völlig verwildert.

Das Rohrdach ist alt, bemoost und schadhaft. Auf dem Hof stehen noch einige Rohrbündel, aber auch die sind bereits verfault und wohl nicht mehr zu gebrauchen. Das interessiert die Eigentümerin nicht, sie hat ohnehin nicht vor, das Dach reparieren zu lassen. Vor einiger Zeit hat eines ihrer Kinder Wannen und Schüsseln in den oberen Räumen aufgestellt, um das Regenwasser aufzufangen. Sie selbst ist schon seit Jahren nicht mehr dort oben gewesen.

Die Fenster des Hauses sind klein und so schmutzig, dass niemand hineinsehen kann, obwohl keine Gardinen vorhanden sind. Die Frau kann auch nicht hinaussehen, was sie nicht stört, es interessiert sie einfach nicht, was draußen geschieht. Sie lebt nur noch in einem kleinen Zimmer und in ihrer Küche, die anderen Räume braucht sie nicht. Ihr Leben besteht aus Essen, Schlafen und Fernsehen, in genau dieser Reihenfolge. An jedem Montagnachmittag fährt ihr ältester Sohn Cary mit ihr zum Aldi, der Lebensmitteleinkauf ist für sie der Höhepunkt der Woche. Hedwig Bauer ist inzwischen so fett, dass sie sich keine Schuhe anziehen kann, wahrscheinlich hat sie gar keine passenden mehr. Deswegen trägt sie ihre alten, ausgelatschten Hausschlappen auch zum Einkaufen. Es ist ihr egal, was die Leute denken, auch, dass diese einen Bogen um sie machen, weil sie schmutzig ist und stinkt.

Es ist elf Uhr vormittags und die Frau sitzt, bekleidet mit einem fleckigen Nachthemd und einem schmutzstarrenden Bademantel, auf ihrer Couch. In einen Sessel passt sie schon lange nicht mehr hinein. Vor ihr auf dem Tisch steht ein großer Teller mit belegten Brötchen, nach denen sie, ohne hinzusehen, greift und sich eines nach dem anderen in den Mund schiebt. Zwischendurch nippt sie an einer schmierigen Kaffeetasse. Den Blick hat sie auf den Bildschirm gerichtet. Als sie die Haustür hört, sieht sie unwillig auf.

»Cary? Was ist los? Heute ist doch nicht Montag, oder?« Plötzlich wird ihre Stimme freundlich und sie strahlt über das ganze feiste Gesicht. »Hast mir einen Döner mitgebracht? Bist doch ein guter Junge. Willst ein Brötchen?«

»Nee, lass mal. Ich werd dir doch nichts wegessen.« Der Mann grinst und lässt sich in einen Sessel fallen. Der Schmutz und die Unordnung stören ihn nicht. Er blickt zum Fernseher. »Was guckst du denn da? ›Marnie‹? Den Film musst du doch auswendig kennen.«

Von seinen Worten unbeeindruckt, drückt seine Mutter mit fettigen Fingern die Stopptaste auf der Fernbedienung. »Macht nichts. Ich mag Hitchcock. Was jetzt im Fernsehen läuft, mag ich nicht.«

Diese Antwort hat Cary schon mindestens hundertmal in seinem Leben gehört. Seit frühester Kindheit ist ihm das Faible seiner Mutter für diese amerikanischen Filme bekannt. Alle ihre Kinder tragen die Namen ihrer Lieblingsschauspieler, wobei ihre Jüngste das Glück hatte, dass »Tippi« nicht zugelassen und sie daher nach Kim Novak benannt wurde.

Er lehnt sich zurück. »Kim hatte gestern einen Unfall. Sie wurde von einem Auto angefahren, als sie mit dem Rad unterwegs war. Jetzt ist sie im Krankenhaus, in Wolgast. Die Lütte auch.«

Die fette Frau sieht ihn über den Döner hinweg misstrauisch an. »Ich soll da jetzt aber nicht hinfahren, oder?«

»Nein, was sollst du da. Ich wollte es dir bloß sagen. Das Problem ist, dass ihr Stecher sie rausgeschmissen hat und nun sitzt sie auf der Straße. Tja, ich vermute, sie wollte zu dir. Wahrscheinlich will sie hier erst mal wohnen.«

»Hat sie das gesagt? Kommt gar nicht in Frage! Ich hab keinen Platz und ich will sie hier auch nicht haben. Die mit ihrer frechen Klappe! Und dann noch das Gör. Ich bin froh, dass ich euch alle groß habe, ich mag keine Kinder mehr.«

»Ich weiß. Interessiert es dich eigentlich nicht, wer sie angefahren hat?«

»Nein.«

»Man weiß es auch nicht. Der Fahrer ist abgehauen. Ich habe mir so meine Gedanken gemacht. Vielleicht war es ja gar kein Unfall, sondern Absicht. Was glaubst du, wer möchte Kim wohl gern los werden?«

Sie wird so ärgerlich, dass sie sogar das Essen aus der Hand legt. »Ich weiß, was du dir in deinem kranken Hirn zusammenspinnst! Das ist Unsinn! Warum sollte er das machen? Jetzt, nach fünfundzwanzig Jahren.«

»Vielleicht, weil sie ihn immer noch zweihundert Euro im Monat kostet.«

»Die du versäufst.«

»Dafür fahre ich schließlich mit dir einkaufen, jede Woche, bei jedem Wetter.«

»Ist ja gut, ich brauche das Geld ja auch gar nicht.« Dass sie monatlich sogar 300 Euro bekommt und 100 für sich behält, muss ihr Sohn nicht wissen. »Aber wenn du Kim oder irgendjemand anderem davon erzählst, ist Schluss. Dann kriegen wir gar nichts mehr.«

»Ich sag schon nichts, da wäre ich ja schön blöd. Ich wüsste trotzdem gern, wer es ist. Nur, falls dir mal was passiert, verstehst du? Dann weiß niemand von uns, wer Kims Vater ist. Und er ist fein raus und braucht nicht mehr zahlen.«

Die widerlich ungepflegte Frau grinst hämisch. »Keine Angst, da habe ich schon vorgesorgt. In meinem Testament steht der Name. Mein Sohn, du wirst dich wundern, wer das ist. Deine Schwester könnte mal richtig reich werden, wenn sie nämlich erbt.« Sie überlegt kurz. »Übrigens könnte es sein, dass er auch der Vater von Grace ist. Aber da bin ich mir nicht sicher. Und nachdem diese undankbare Zicke auf der Straße einen Bogen um mich macht, will ich es auch gar nicht wissen.«

Mit dem letzten Rest des weichen Brotes nimmt sie die Soße vom Papier auf, schiebt es sich in den Mund und rülpst laut und zufrieden. Dann wirft sie ihrem Sohn einen Blick zu und lächelt beinahe freundlich.

»Brauchst dich nicht umzugucken, mein Testament ist beim Notar hinterlegt. Ich habe den Namen aufgeschrieben. Irgendwo hier liegt seine Karte. Ich weiß im Moment nicht wo, aber ihr werdet sie schon finden, wenn es nötig ist.«

»Na schön.« Cary sieht ein, dass er heute nichts mehr erfahren wird. Er beschließt, demnächst mal mit einer Flasche Likör wiederzukommen. Seine Mutter verträgt nicht viel und wird schon nach zwei, drei Gläschen redselig. Jetzt kommt er erst einmal auf den Unfall seiner jüngsten Schwester zurück. »Mir tut sie schon ein bisschen leid. Meinst du nicht, wir könnten ein Zimmer aufräumen? Sie könnte dir im Haushalt helfen. Es wäre doch nur vorübergehend.«

»Mir braucht keiner im Haushalt zu helfen und ich will sie nicht hier haben. Basta! Kümmere du dich doch um sie, ihr habt doch früher auch immer zusammengesteckt. Und zusammen gesoffen«, fügt sie boshaft hinzu.

»In meiner Ein-Zimmer-Wohnung habe ich echt keinen Platz für die beiden.« Er überlegt. »Notfalls muss Kim eben erst mal meine Wohnung nehmen und ich mache mir hier ein Zimmer fertig. Da wirst du ja wohl nichts gegen haben.«

Die Frau brummt unwillig und drückt auf die Fernbedienung, um den Film weiterlaufen zu lassen. Mit der anderen Hand schiebt sie ein Brötchen in den Mund.

Berta lässt sich seufzend in einen Sessel fallen und sieht sich zufrieden in dem etwas zu vollen, aber gemütlichen Zimmer um. Sie hat den ganzen Nippes, Vasen, Schalen und Bilder abgestaubt, den dicken Teppich gesaugt und überlegt jetzt, ob sie vielleicht noch die Fenster putzen solle. ›Nein, nicht nötig‹, entscheidet sie. Außerdem kann Maria jeden Moment nach Hause kommen.

Maria Winter ist Bertas beste Freundin. Nach dem Krieg kam sie mit ihrer Mutter von weither aus dem Osten nach Bansin. Die kleine Familie wurde im Kehr wieder einquartiert, wo sie dann noch einige Jahre wohnten, auch als der Vater dazu kam. Berta hatte sich schnell mit dem gleichaltrigen, stillen Mädchen angefreundet. Über Jahrzehnte hinweg hielt diese Freundschaft, mal mehr, mal weniger eng. Die Frauen haben ganz unterschiedliche Charaktere, die eine kontaktfreudig, neugierig und äußerst empathisch, die andere eher introvertiert. Und wenn auch die Lebensläufe ganz unterschiedlich waren, immer konnten sie sich aufeinander verlassen.

Berta, die unverheiratet und kinderlos blieb, hat ihr ganzes Leben lang im Kehr wieder gewohnt. Aber als ihre Nichte die Pension übernahm und umbauen ließ, zog sie zu ihrer Freundin Maria Winter. Die besitzt ein Eigenheim am Ortsrand, unweit vom Strand. Das Haus ist nicht groß, doch für die beiden Frauen reicht es gut. Maria ist froh, dass sie nicht mehr allein wohnen muss. Ihr Mann ist vor vielen Jahren gestorben und ihr einziger Sohn Karl lebt mit seiner Frau in Hannover.

Vor zwei Wochen ist die Hausbesitzerin gestürzt und hat sich ein Bein gebrochen. Heute wird sie aus dem Krankenhaus entlassen, aber sie kann immer noch nicht laufen und braucht Pflege. Berta hatte sich natürlich sofort angeboten, doch dann hat Maria ihr ganz aufgeregt mitgeteilt, dass Karl kommen und sich um sie kümmern will. Auch Berta freut sich, sie mag den freundlichen, ruhigen Mann. Vor allem freut sie sich für ihre Freundin, sie weiß, wie glücklich die ist, ihren Sohn bei sich zu haben.

Die kleine, vollschlanke Frau geht noch einmal in Karls Zimmer, schließt das Fenster, dann wirft sie einen Blick in Marias Schlafzimmer und streicht die frisch bezogene Bettdecke glatt. Ungeduldig blickt sie aus dem Fenster. Endlich sieht sie das Taxi kommen und läuft hinaus, um ihre Freundin in Empfang zu nehmen.

Sophie und Anne haben heute gar nicht mit ihrer Tante gerechnet und allein Kaffee getrunken. Erstaunt blicken sie Berta an, als die an den Stammtisch tritt. »Ist Maria nicht heute aus dem Krankenhaus gekommen?«, fragt ihre Nichte. »Du lässt sie doch wohl nicht allein zu Hause?«

»Natürlich nicht, was denkst du denn? Karl ist da. Er ist gerade gekommen und die beiden haben sich bestimmt eine Menge zu erzählen. Außerdem muss ich doch hier sein, falls Gäste kommen, die essen wollen.«

»Na ja, Fremde sind sowieso nicht da und für Einheimische hätten Anne und ich notfalls was machen können.« Sophie seufzt. »Es ist wirklich absolut nichts los im Moment. Ich überlege, ob ich vorläufig nur am Wochenende aufmache und dann auch nur abends. Ich hab ohnehin genug zu tun im Haus. Die Maler sind nächste Woche fertig, dann muss alles geputzt werden.«

»Ich kann dir ja helfen«, bietet Anne halbherzig an. »Zeit habe ich auch genug.«

Anne arbeitet als Reiseleiterin. Sie begleitet Gruppen, die mit dem Bus über die Insel fahren, informiert die Gäste launig über die Geschichte, die Gegenwart und die Besonderheiten Usedoms. »Was ich Ihnen über die Insel nicht erzähle, müssen Sie nicht wissen«, pflegt sie zu sagen und meint das völlig ernst. Aber jetzt im Winter sind nicht allzu viele Reisegruppen da.

Berta ist von Sophies Vorschlag wenig begeistert. »Was soll ich denn jeden Abend machen, wenn hier zu ist?«, überlegt sie laut. »Und wo soll Bruno hin? Der muss doch auch einmal am Tag was Warmes essen, nicht?« Herausfordernd nimmt sie den hageren, älteren Mann ins Visier, der sich gerade an den Tisch setzt.

»Was ist los?« Der Neuankömmling sieht Sophie entsetzt an. »Du willst doch wohl nicht die Gaststätte zumachen? Wenn du in Urlaub fahren willst, kann Berta dich doch solange vertreten.«

»Ist ja schon gut. War ja nur so eine Idee. Aber im nächsten Jahr muss ich wirklich mal hier raus. Dann fahre ich vier Wochen lang in den Urlaub und solange bleibt die Hütte hier geschlossen.«

»Das sehen wir dann mal.« Beruhigt streicht sich Bruno Kerr seine langen Haare aus dem Gesicht und lehnt sich zurück. »Jetzt lass mir erst mal ein Bier ein. Und was gibt es sonst so Neues?«

Berta erzählt von Heikos gestrigem Besuch. »Hat aber auch Pech, das Mädchen«, bedauert sie Kim und meint dabei weniger den Unfall als die Trennung. »Die kommt einfach nicht zur Ruhe. Nachdem sie schon so eine besch…eidene Kindheit hatte, würde man ihr doch wünschen, dass sie jetzt mit ihrem Kind ein friedliches, solides Leben führen kann.«

»Na, nun komm«, protestiert Anne. »Als ob die ein solides Leben haben will. Du lässt dich von ihr täuschen, genau wie Heiko es vermutet hat. Ich glaube, dieses stille Wasser ist ganz schön tief und dreckig.«

»Ich hab sie mal unterrichtet«, erzählt Bruno. »Sie ist ein intelligentes Mädchen. Aber schon in der Schule war sie sehr verschlossen. Und immer in der Defensive. Ich hatte den Eindruck, sie wartet ständig darauf, dass jemand sie oder ihre Familie beleidigt, um sofort zuzuschlagen. Also rhetorisch«, fügt er schnell hinzu. »Nicht, dass sie sich geprügelt hätte. Aber wortgewandt war sie. Und Ausdrücke kannte sie – na ja, sie wurde wohl mehr oder weniger von ihren älteren Brüdern erzogen, die durchweg Strolche waren.«

»Einer von deren Freunden wird auch wohl der Vater von ihrer Tochter sein«, vermutet Anne. »Wahrscheinlich weiß sie selbst nicht, wer. Allerdings war sie schon immer ziemlich umtriebig. Ich glaube, das eine Jahr mit Heiko war ihre erste längere Beziehung. Ihre anderen Verhältnisse – da hat ja mein Make-up länger gehalten.«

»Anne sei nicht immer so bösartig«, schimpft Berta. »Du gehst nur nach Äußerlichkeiten. Hast du schon mal mit dem Mädchen gesprochen? Nein. Also kannst du dir gar kein Urteil erlauben. Ich mag sie jedenfalls«, fügt sie fast trotzig hinzu.

»Oh, oh«, stöhnt Sophie leise und wirft ihrer Freundin einen vielsagenden Blick zu.

Sonnabend, 15. Februar

Berta schlendert schon zum dritten Mal durch die ruhige Seitenstraße an den Mehrfamilienhäusern vorbei, die aus alten Villen entstanden sind. Von den gepflegten Anlagen, die die Gebäude umgeben, ist in dieser Jahreszeit nicht viel zu erkennen, was die alte Frau sehr bedauert. Im Sommer hätte sie sich weitaus länger vor dem Haus aufhalten können, ohne aufzufallen. Aber sie findet die liebevoll restaurierten Stuckverzierungen ohnehin interessanter, als irgendwelche exotischen Pflanzen und lächelt über zwei Putten, die den Eingang bewachen. Sie überlegt gerade, was so eine Eigentumswohnung in dieser sanierten, denkmalsgeschützten Villa kosten mag, als erst ein Arzt- und dann ein Krankenwagen laut heulend mit Blaulicht um die Ecke biegen. Sie bleiben genau vor dem Haus stehen, für das Berta sich interessiert, der Arzt und ein Sanitäter laufen hinein.

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