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Frivolität, Verderbtheit, Lebenslust. Bei den „Tolldreisten Geschichten“ von Honoré de Balzac handelt es sich um eine Sammlung von Erzählungen, die die Scheinmoral und Unsittlichkeit der hohen französischen Gesellschaft des Spämittelalters vorführen. Es ist der gelungene Versuch Balzacs, ein neues „Decamerone“ zu erschaffen. In den drei Mal zehn deftigen Geschichten porträtiert Balzac die französische Gesellschaft des späten Mittelalters als lüsternes Völkchen. Ehrenhafte Ritter und bodenständige Bauern, tugendhafte Edelfrauen und sittsame Nonnen, verführerische Schönheiten und hartgesottene Raufbolde – alle suchen das erotische Vergnügen und achten dabei keinerlei Standesgrenzen. »Das ist ein stark gepfeffertes Buch, ein Buch für die Kenner kräftiger und saftiger Bissen.« Dies ist der dritte Band. Die Ausgabe ist geschmückt mit zahlreichen Illustrationen von Gustave Doré.
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Seitenzahl: 321
BAND DREI
Illustrationen von
Gustave Doré
TOLLDREISTE GESCHICHTEN wurden in der französischen Fassung zuerst veröffentlicht von Charles Gosselin und Edmond Werdet, Paris 1832-37.
Diese Ausgabe wurde aufbereitet und herausgegeben von
© apebook Verlag, Essen (Germany)
www.apebook.de
1. Auflage 2022
V 1.0
Mit vielen Illustrationen von Gustave Doré.
In der Übersetzung von Benno Rüttenauer.
Anmerkungen zur Transkription: Schreibweise und Interpunktion des Originaltextes wurden übernommen; lediglich offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.d-nb.de abrufbar.
Band 3
ISBN 978-3-96130-490-5
Buchgestaltung: SKRIPTART, www.skriptart.de
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Inhaltsverzeichnis
Tolldreiste Geschichten
Impressum
Biographische Übersicht
Dritter Band
Prolog
Ausdauernde Liebe
Von einem Justizerich, der kein Gedächtnis hatte für das ›Ding an sich‹
Von dem Mönch Amador, der nachher glorreicher Abt von Turpenay wurde
Die reuige Berthe
Wie das schöne Mädchen von Portillon seinen Richter überführte
Eine Historie, durch die bewiesen wird, dass das Glück immer ein Weibsen ist
Der Vagabund von Rouen
Mißliche Unterhaltungen dreier Pilger
Kindermund
Die Heirat der schönen Imperia
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Zu guter Letzt
1799 Honoré Balzac (das Adelsprädikat de legt er sich erst 1831 zu) wird am 20. Mai in Tours geboren. Sein Vater, einer Landarbeiterfamilie entstammend und durch Spekulationen zu Vermögen gelangt, leitet ein Proviantamt der Armee.
1807-1813 Zögling im Collège der Oratorianer in Vendôme.
1813 Rückkehr ins Elternhaus, Besuch des Gymnasiums in Tours.
1814 Übersiedlung der Familie nach Paris (Versetzung des Vaters).
1814-1816 Zögling im Institut Lepître und im Institut Ganser et Beuzelin, Paris, Besuch des Lycée Charlemagne.
1816-1819 Jurastudium an der École de droit, zugleich Ausbildung bei zwei Anwälten. Hört auch Literaturvorlesungen.
1819 Erstes Examen für das Baccalauréat du droit. Pensionierung des Vaters, Übersiedlung der Familie nach Villeparisis. Balzac will Schriftsteller werden, bezieht in Paris eine Dachkammer. ›Sylla‹ und ›Cromwell‹, Tragödien, u. a. erste Arbeiten.
1820-1824 Schreibt, z.T. gemeinsam mit Auguste Le Poitevin de l'Egreville und Etienne Arago, Kolportageromane, die unter den Pseudonymen Auguste de Viellerglé, Lord R'Hoone und Horace de Saint-Aubin erscheinen.
1821 Bekanntschaft mit Madame de Berny (1777-1836), die seine erste große Liebe wird und der er bis zu ihrem Tod in herzlicher Freundschaft verbunden bleibt.
1823 Im Sommer Besuch der heimatlichen Touraine.
1825-1828 Zusammenarbeit mit dem Journalisten Horace Raisson an einer Serie ›Codes‹ (Gesetzbücher), Betrachtungen über die Sitten der Zeitgenossen. Mit geliehenem Geld wirtschaftliche Unternehmungen – Verlagswesen, Druckereigewerbe –, die scheitern und ihn lebenslang hoch verschulden.
1826 Bekanntschaft mit der Herzogin von Abrantès.
1829 Tod des Vaters. Bekanntschaft mit Zulma Carraud. Der erste gewichtige Roman, ›Der letzte Chouan‹ (später: ›Die Chouans‹), erscheint unter eigenem Namen. ›Die Physiologie der Ehe‹ erweckt jedoch größere Aufmerksamkeit.
1830 Findet Zugang zu den Pariser Salons. Wird Mitarbeiter verschiedener Zeitungen und Zeitschriften, ›Gobseck‹. ›Das Haus mit der ballspielenden Katze‹.
1831 Großer Erfolg des Romans ›Das Chagrinleder‹, ›ein vortreffliches Werk neuester Art‹ (Goethe). ›Das unbekannte Meisterwerke ›Christus in Flandern‹, ›Die rote Herberge‹.
1832 Kurze Beziehung zur Marquise de Castries. Am 7. November erhält er den ersten Brief der Gräfin Hanska, der die Unterschrift ›l'Etrangere‹ (die Fremde) trägt. Das ›erste Zehent‹ der auf 100 Geschichten geplanten ›Tolldreisten Geschichten‹. ›Der Oberst Chabert‹, ›Louis Lambert‹. ›Die Frau von dreißig Jahren‹ (vollständig 1844).
1833 Im September erstes Zusammentreffen mit Eva von Hanska in Neuchätel, im Dezember Begegnung in Genf. Das ›zweite Zehent‹ der ›Tolldreisten Geschichten‹, ›Eugenie Grandet‹. ›Der Landarzt‹, ›Der berühmte Gaudissart‹.
1834 Entzieht sich seinen Gläubigern, wohnt unter falschem Namen in Paris. Besucht im Mai/Juni Eva von Hanska in Wien. Im Dezember Brand in Balzacs Wohnung, Verlust eines Teil der ›Tolldreisten Geschichten‹, ›Die Suche nach dem Absoluten‹, ›Die Herzogin von Langeais‹.
1835 ›Vater Goriot‹, ein Hauptwerk der 1833 geplanten ›Comedie humaine‹ (Menschliche Komödie), die bereits erschienene und künftige Werke, auch hinsichtlich der Personen, miteinander vereinen soll. ›Seraphita‹, ›Der Ehevertrag‹, ›Das Mädchen mit den Goldaugen‹, ›Die Lilie im Tal‹.
1836 Gründet die Zeitschrift ›Chronique de Paris‹, die im Jahr darauf ihr Erscheinen einstellt. Reist im Auftrag der Familie Visconti in Erbschaftsangelegenheiten nach Italien, begleitet von der als Page verkleideten Madame Caroline Marbuty.
1837 Erneut im Auftrag der Viscontis in Italien (Mailand, Venedig, Florenz). Konkurs seines Verlegers Werdet, Balzac ist mit betroffen. Erwirbt den zwischen Sevres und Ville-de'Avray gelegenen Landsitz Les Jardies; Landaufkäufe und Bauvorhaben stürzen ihn in zusätzliche Geldnöte. Das ›dritte Zehent‹ der ›Tolldreisten Geschichten‹, das Gesamtwerk – es bleibt bei 30 Geschichten – erscheint 1855, illustriert von Gustave Dore (1832-1883). ›Die alte Jungfer‹. ›Cesar Birotteau‹.
1838 Reise nach Sardinien. ›Das Haus Nucingen‹.
1839 Setzt sich vergeblich für den zum Tode verurteilten Notar Peytel ein. ›Das Antiquitätenkabinett‹.
1840 Verkauf seines Landsitzes mit großem finanziellem Verlust. Zieht in den Pariser Stadtteil Passy, Rue Basse 19 (heute: Rue Raynouard), jetzt Museum. Gründung der ›Revue parisienne‹, nur drei Nummern. Premiere des ›Vautrin‹.
1841 Angesichts von Raubdrucken Eingabe zu einem Gesetz über das Urheberrecht. Erschütterte Gesundheit durch ständige Nachtarbeit. ›Der Landpfarrer‹. ›Die Junggesellenwirtschaft‹.
1842 Schließt einen Verlagsvertrag über die Gesamtausgabe seiner ›Comédie humaine‹, dazu neues Vorwort. Erfährt vom Tod des im Vorjahr verstorbenen Grafen Hanski, sein Ziel ist die Heirat mit Eva von Hanska. ›Ursule Mirouet‹.
1843 Reise nach Sankt Petersburg zu Eva von Hanska. Rückreise über Berlin, Potsdam, Leipzig, Dresden, Brüssel. Kandidiert für die Académie Française. Hirnhautentzündung. ›Die Muse der Provinz‹. ›Eine dunkle Affäre‹.
1844 Schwere Gelbsucht. ›Glanz und Elend der Kurtisanen‹ Teil 1 (bereits 1838 unter dem Titel ›La Torpille‹) und Teil 2 - Teil 3 erscheint 1847. ›Die Bauern‹. ›Modeste Mignon‹.
1845 Im Mai Begegnung mit Eva von Hanska und ihrer Tochter in Dresden. Gemeinsame Reise nach Cannstatt, Paris, Belgien und Holland; im Herbst Reise nach Italien.
1846 Erneute Italienreise mit Eva von Hanska. Audienz beim Papst. Erwirbt für Eva den Pavillon Beaujon in der Rue Fortunée (heute: Rue Balzac).
1847 Februar bis April Eva von Hanska in Paris. Balzacs Gesundheitszustand verschlechtert sich. Im Oktober Reise zu Eva auf das Schloß Wierzchownia in der Ukraine. Besuch in Kiew. ›Vetter Pons‹. ›Die Base Lisbeth‹.
1848 Februar Rückkehr nach Paris. Erlebt die Februarrevolution. Im Herbst erneut Reise nach Wierzchownia.
1849 Verbringt das ganze Jahr kränkelnd in Wierzchownia. Die Académie Française lehnt seine Aufnahme ab, nur Hugo und Lamartine stimmen für ihn.
1850 Sein Befinden verschlechtert sich. Am 14. März Trauung mit Eva von Hanska in Berditschew bei Kiew. Im April Abreise der beiden nach Paris. Balzac wird bettlägerig, stirbt am 18. August. Bestattung am 21. August auf dem Friedhof Pére-Lachaise, die Grabrede hält Victor Hugo.
Einige haben den Autor darüber zur Rede gestellt, warum er gar soviel Tollheiten in diese Geschichten gebracht und ob er denn kein Jahr vergehen lassen könne, ohne einen Sack voll Bosheiten auszuschütten, kurz, was es überhaupt für einen Zweck habe, weißes Papier voller Beistriche zu malen, mit nichtsnutzigen Wörtern dazwischen, bei denen die Damen in der Öffentlichkeit erröten müssen, und was dergleichen dummes Geträtsch mehr ist.
Der Autor erklärt hiermit: daß solche heuchlerische Reden, die ihm wie Steine auf seinen Weg geworfen werden, ihn in tiefster Seele gerührt haben. Er kennt genügend seine Pflicht und will gern in diesem Prolog dieser absonderlichen Art von Lesern, obwohl er es wiederholt getan, von neuem seine Gründe auseinandersetzen, da man sich nie die Mühe verdrießen lassen darf, den Kindern so lange Vernunft zu predigen und zu wiederholen, bis sie größer geworden sind und euch in Ruhe lassen, weil sie endlich begreifen. Und wahrlich, es sind eine Menge dummer Buben unter den Leuten, die da ihr Geschrei erheben und die so tun, als ob sie nicht begriffen, worum es sich in diesen Geschichten handelt.
Zunächst sage ich euch das: Wenn einige tugendhafte Damen, ich sage tugendhafte, weil die liederlichen und nichtsnutzigen viel lieber neue und ungedruckte Geschichten selber machen, als daß sie die meinigen lesen, während im Gegenteil die tugendhaften, frommen und zurückhaltenden Damen, als welche, daran ist kein Zweifel, vor den hier behandelten Dingen im Leben und in der Wirklichkeit einen großen Ekel haben, sie fleißig und aufmerksam lesen, um dem Geist der Neugierde in sich genugzutun und dann im Leben um so strenger zu sein. Versteht ihr mich, ihr Anwärter der Hahnreischaft? Besser ist es, durch den Inhalt eines Buches Hahnrei zu werden als durch die Machenschaft eines Junkers. Ihr könnt nur Vorteil daraus haben, ihr guten Knickebeineriche, abgesehen davon, daß eure verliebte Dame es manchmal doch auch euch zugute kommen läßt, was durch dieses Buch in ihr angeregt und aufgeregt worden ist. Und also müssen diese Geschichten notwendig dazu beitragen, die Fruchtbarkeit, die Freude, die Ehre und die Gesundheit des Landes zu erhöhen. Ich sage die Freude, weil jeder daran seine Freude haben muß; ich sage die Ehre, weil dies Buch ein Talisman ist gegen die Klauen jenes Dämons, dessen Name auf gut altdeutsch ›Hahnreitum‹ lautet. Ich sage die Gesundheit, weil diese Geschichten großen Anreiz geben zu jenem Tränklein oder Filter, das von der infalliblen medizinalen Fakultät von Salerno unter Androhung der Plethora cerebralis allen Gläubigen vorgeschrieben ist. Und nun sagt, ob ihr je in andern typographisch geschwärzten Heften solche Vorteile gefunden habt? Es ist zum Lachen. Wo sind denn die Bücher, durch die Kinder gemacht werden? Ihr werdet umsonst danach suchen. Um so mehr werdet ihr Kinder finden, die langweilige Bücher machen.
Ich nehme meine unterbrochene Rede wieder auf. Wenn also wirklich einige Damen mit tugendhaftem Herzen und ausschweifendem Geist öffentlich über mein Buch Beschwerde geführt haben, so wisset, daß eine ganze Anzahl derselben, weit davon entfernt, den Autor mit Vorwürfen zu überhäufen, ihm allzeit ihre Liebe und Verehrung an den Tag gelegt, ihn für einen tapfern und furchtlosen Mann, ja für würdig erklärt haben, ein Mönch im Kloster Thelesma zu werden. Und mit soviel Gründen, als es Sterne am Himmel gibt, haben sie ihn bestärkt und ermuntert, seine lustigen Geschichten weiter zu erzählen, seine Tadler zu verachten und mutig auf sein Ziel loszugehen, da die Welt ein Weibsen ist, die sich sträubt, wenn man, ihr wißt schon was, von ihr will, ein Geschrei macht, mit allen vieren um sich schlägt, mit Redensarten um sich wirft wie: »Nein, nein, nie. Was fällt Euch ein, mein Herr! Geht doch, Ihr werdet unverschämt ...«, aber, wenn das Zehent fix und fertig ist, sich plötzlich voller Liebenswürdigkeit zeigt und sagt: »Wie schön, mein Herr und Meister, habt Ihr noch andere von der Sorte?«
Vor allem aber seid überzeugt, daß der Autor als ein Hans Gutgesell und Bruder Leichtfuß jener andern Dame, die ihr Mode, Weltgunst oder Frau Fama nennt, ein Schnippchen schlägt und sich den Kuckuck schert um ihr Geschrei, Geheul und Gestrampel, denn er weiß, daß dieses Frauenzimmer im Grund eine große Hure ist, die sich mit Vergnügen notzüchtigen läßt. Die Parole dieser Welt ist dem Autor sehr wohl bekannt. Sie lautet: Es lebe das Leben! Ein schönes Wort, bei Gott. Aber einige Skribler haben seinen Sinn verkehrt, als welcher kein anderer sein kann als das: Das ist das Leben, packt es am Schopf, wenn es euch nicht entwischen soll! Diesen Sinn hat Meister Rabelais dem Autor verraten. Also hinweg, Philisterpack! Einen Tusch, Musikanten! Und still da, ihr Griesgrame! Ihr lustigen Gesellen aber, herbei! Herbei, ihr verliebten Pagen, gebt der Dame die Hand, nicht ohne sie zu kitzeln, wo sie hohl ist. Die Hand natürlich. Ihr lacht? Ja, das ist scholastische und peripatetische Philosophie, oder der Autor hat niemals seinen Aristoteles gelesen. Auf seiner Seite steht Frankreich mit der königlichen Standarte, auf seiner Seite der Patron des Landes, der große heilige Dionysius, der mit abgeschlagenem Kopf noch ausgerufen hat: »Es lebe das Leben!« Wollt ihr behaupten, ihr Rhinozerösser, dies sei eine Fälschung? Ihr werdet euch hüten! Viele zu jener Zeit haben das Wort gehört; aber wer glaubt noch an die Heiligen in unsern traurigen Tagen?«
Der Autor hat noch lange nicht alles gesagt. Wisset also, die ihr diese Geschichten lest mit Händen und Augen und auch mit dem Verstand und sie liebt, weil sie euch eine Lust und Freude sind, wisset, daß der Autor eines schlimmen Tags seine Axt, id est seine Erbschaft, verloren hatte und, da er sie nicht wiederfinden konnte, sich in großer Not und Bedrängnis sah. Er tat also wie jener Holzhacker in dem Prolog seines verehrten Meisters Rabelais und sandte seine flehenden Schreie zum Himmel, um von Dem dort oben, der der Herr über alle Dinge ist, gehört zu werden und eine neue Axt zu erhalten. Hatte aber der Allerhöchste gerade alle Hände voll zu tun mit den Kongressen und Konzilien der Zeit und ließ darum in der Eile dem Autor von dem Herrn Merkur ein doppeltes Tintenfaß herunterschmeißen, auf dem nach der Art der Devisen folgende drei Buchstaben eingegraben waren: AVE. Da war der arme Kerl erst recht übel daran; denn er konnte sich nicht denken, zu was Rat und Hilfe das Ding gut sein könnte. Drehte er also das seltsame Zwillingsfäßlein um und um, ob er hinter seinen geheimen Sinn gelangen und in den geheimnisvollen Buchstaben eine Seele zu finden vermöchte. Er erkannte aus dem Geschenk so viel, daß Gott ein höflicher Mann ist, wie die großen Herren zu sein pflegen, um wieviel mehr Er, der Fürst der Welt, der König aller Könige. Aber indem der Autor nun seine Jugend überdachte, konnte er nicht finden, dem lieben Gott je einen besonderen Gefallen getan zu haben, also daß er nicht ohne Grund den Verdacht hegte, es möchte auch hinter der göttlichen Höflichkeit nicht viel versteckt sein. Wenigstens strengte er sich vergeblich an, in dem himmlischen Werkzeug irgendeine Nützlichkeit zu entdecken. Aber wie er das genannte doppelte Tintenfaß immer wieder um und um drehte, betrachtete und betastete von allen Seiten, mit dem Fingerknöchel dran pochte, ob es ihm Antwort geben möchte, es füllte und wieder ausleerte, es bald auf die eine, bald auf die andre Seite legte, bald auf den Fuß, bald auf den Kopf stellte: da las er einmal zufällig die drei Buchstaben in umgekehrter Folge. Er las EVA.
Was will aber Eva anders heißen als alle Frauen, vorgestellt in einer einzigen Frau, alle Weiber in einem einzigen Weibe. Es war demnach durch die göttliche Stimme dem Autor gesagt worden: »Denk an das Weib; das Weib wird deine Wunde heilen und deine leeren Taschen füllen, das Weib ist dein Gut, dein Vermögen. Habe nur eine Frau, hätschle und tätschle sie, ziehe sie schön an, um sie noch schöner auszuziehen, treibe einen Kultus mit dieser Frau. Das Weib ist alles, sie ist ein Abgrund, schöpfe aus diesem Abgrund. Das Weib liebt die Liebe, gib ihm Liebe aus deinem Tintenfaß, schmeichle seinen Phantasien und male ihm die tausend Gestalten der Liebe in ebenso vielen reizenden Bildern. Die Frauen sind großmütig, sie stehen eine für alle und alle für eine, sie werden dir deine Gemälde lohnen und dafür sorgen, daß dein Pinsel nicht kahl wird. Und also verstehe, was geschrieben steht: Ave, das heißt Heil; Eva, das heißt das Weib; also: dein Heil im Weibe. In der Tat ist das Weib zugleich unser Heil und unser Unheil.
So sei mir willkommen, Tintenfaß. Was liebt aber das Weib am meisten? Was will das Weib? Alle Dinge, die mit der Liebe zusammenhängen, und so ist es recht. Das Weib ist das Symbol der Natur. Fruchtbarkeit ist ihr Beruf. Lieben, zeugen, hervorbringen ist ihre dreieinige Aufgabe. Und also willkommen mir, Weib; willkommen mir, Eva!
Und dann begann der Autor, sein Tintenfaß zu brauchen und daraus zu schöpfen. Ein fruchtbares Tintenfaß war das und war gefüllt mit einer zerebralen Substanz, mit einem Gebräu aus Gottes Küche voll übernatürlicher Kräfte. Mit der schwarzen Tinte aus dem einen Halse schrieb er ernste Dinge; lustige Narrheiten quollen aus der andern Hälfte in roter Tinte. Manchmal aber hat der Autor aus Achtlosigkeit die beiden Tinten vermengt, daß es ganz buntscheckig wurde auf den Seiten seines Hefts. Oft, wenn er ein schweres Werk nach dem Geschmack dieser Zeit vollendet, in einem Stil, den zu hobeln und zu glätten, zu bügeln und polieren ihm unendliche Mühe gemacht, hatte er Lust nach vergnüglicherem Tun, und ungeachtet des geringen Vorrats der lustigen Tinte auf der linken Seite, tunkte er herzhaft ein und schrieb diese sehr lustigen und tolldreisten Geschichten, deren Autorität und Würde niemand anzweifeln wird, da sie aus göttlicher Quelle flössen, wie es die einfache Erzählung des Autors unumstößlich beweist.
Freilich, einige Lumpenkerle werden wegen dieser Parabel ein neues Geschrei anheben. Und darüber braucht man sich nicht zu wundern, da bekanntlich auf diesem Kotspritzer des Kosmos, den man die Erde nennt, nicht ein einziger Mensch, nicht ein Stumpen von Mensch zu finden ist, der damit vollkommen zufrieden wäre. So ist der Autor in keiner schlimmeren Lage als Gott selber. Er schafft einzig und allein in Nachahmung Gottes und beweist dies durch at qui. Denn nicht wahr, durch die Gelehrten ist bewiesen und in voller Klarheit dargetan, daß Gott der Herr nicht nur die großen Welten, sozusagen die großen Maschinen erschaffen hat, mit gewaltigem Ketten- und Räderwerk, mit ungeheuren Gewichten und schrecklichem Getöse, also daß das Spiel ihrer Kräfte fast furchtbar anzusehen ist, sondern daß ihn manchmal auch die Laune ankam, kleinere und unbedeutendere Sachen zu machen, närrische und groteske Gebilde, worüber man wohl lachen und seine Lust daran haben darf. Oder ist es nicht so? Und ebenso verhält es sich auch mit jedem bedeutenden Werk und insbesondere mit dem gewaltigen Bau, den der Autor aufzuführen unternommen hat. Diese fast übermenschliche Aufgabe, dieses langatmige, groß angelegte Werk, das seine Kräfte zu übersteigen droht, konnte er nur zu Ende führen, indem er nach dem Beispiel des Weltenschöpfers sich von Zeit zu Zeit an leichteren Sachen erlustigte, an der Bildung zierlicher Insekten und lächerlicher kleiner Ungetüme, die er dann mit bunten Farben schmückte und mit goldenen Panzern bekleidete, obwohl er meistens Mangel an Gold hatte. Und so mag es denn herumkribbeln und -krabbeln am Fuß der ragenden Felsen, hohen Schneeberge und andrer griesgrämiger Philosophien, dieser ernsten und dickleibigen Werke, dieser marmornen Kolonnaden und wahrhaft großartigen, in Porphyr ausgehauenen Gedankendenkmäler der Menschheit. Heda, ihr aasgierigen Geier, werdet ihr es nicht endlich satt bekommen, meine lustige Muse zu beschmutzen und zu beschmeißen, deren phantastische Musik und tolle Sarabanden, deren Juchzer und Sprünge und Purzelbäume euch Bauchgrimmen machen; wollt ihr euch nicht die Krallen ein wenig stumpf nagen, um ihre weiße Haut mit dem blauen Geäder, ihren wollüstigen Rücken, ihre schlanken Hüften, ihre Füße, die das Bett dem Boden vorziehen, ihr sanftes Gesichtchen, ihr Herz ohne Galle nicht mehr so unbarmherzig zu zerfleischen? Was sagt ihr dazu, ihr Querköpfe, wenn ihr erfahret, daß dieses gute Geschöpf, das aus dem Herzen des Volks hervorgegangen und von den Engeln des Himmels durch die Person des Boten Merkurius mit einem Ave begrüßt worden? Was sagt ihr dazu, wenn ihr hört, daß es sich hier um die Quintessenz der Kunst handelt, da alles in dieser Schöpfung ist: Notwendigkeit, Tugend, Phantasie, weiblicher Geschmack und Geschmack des Pantagruelismus im Quadrat. Mit einem Wort, alles. Schweigt also, und feiert und lobpreist den Autor, der im besten Zug ist, aus seinem zweimäuligen Tintenfaß seine hundert glorreichen, tolldreisten Geschichten zu schöpfen und damit die fröhliche Wissenschaft zu bereichern.
Also zurück, ihr Hunde! Einen Tusch, ihr Herren Musikanten! Maul halten, ihr Heuchler! Hinaus mit euch, ihr Dunkelmänner! Macht Platz meinen lustigen Gesellen und Kameraden! Und ihr, meine kleinen lieben Pagen, gebt den Damen eure zierliche Hand, kitzelt sie ihnen sanft und sagt ihnen: »Lest, um zu lachen!« Danach flüstert ihnen noch ein andres Wort ins Ohr, denn wenn die Frauen lachen, sind sie gut aufgelegt, und daß eine schöne Frau gut aufgelegt sei, daran, das brauche ich euch nicht erst auszulegen, ist alles gelegen.
In den ersten Jahren des dreizehnten Jahrhunderts nach der Geburt unsres Herrn und Heilands ereignete sich in der Stadt Paris, und zwar durch einen Mann aus Tours, eine Liebesgeschichte, durch welche die ganze Stadt und auch der königliche Hof in das höchste Erstaunen versetzt wurden. Was die Geistlichkeit anlangt, so wird aus dem, was hier erzählt werden soll, klar, welchen Teil sie an der Geschichte hat, deren Akten und Urkunden durch diese selbe Geistlichkeit auf uns gekommen sind.
Der genannte Mann, von dem gemeinen Volk nur ›der Tourainer‹ genannt, eben weil er aus dieser lustigen Stadt gebürtig war, hieß mit seinem wahren Namen Anselm. Er kehrte auch in seinen alten Tagen in seine Geburtsstadt zurück und wurde Bürgermeister der Gemeinde von Saint-Martin, wie es in den Chroniken der Stadt und der Abtei bezeugt ist; aber zu Paris war er ein edler Goldschmied. Schon in früher Jugend wurde er durch seine Rechtschaffenheit, seinen Fleiß und seine andern Tugenden Bürger der Stadt Paris und Untertan des Königs, dessen Schutz er sich unterstellte nach der Sitte der Zeit.
Er besaß in der Nähe der Kirche von Saint-Leu, an der Straße zum heiligen Dionys ein selbstgebautes Haus frei von aller Zinsbarkeit, wo sich auch seine Werkstatt befand, die von allen Liebhabern schöner Kleinodien viel besucht wurde. Obwohl der Mann ein Tourainer war, was etwas heißen will, und Jugend und Gesundheit nur so zum Verkaufen hatte, hatte er dennoch ein Leben geführt wie ein Heiliger, allen Verführungen dieser Stadt zum Trotz, und hatte all die Tage seiner blühenden Jugend dahingehen lassen, ohne auch nur ein einziges Mal in die bekannte verbotene Frucht zu beißen. Viele werden sagen, dies zu glauben übersteige die Glaubensfähigkeit, die der Mensch von Gott erhalten hat und die es uns ermöglicht, an die heiligen Mysterien der Religion zu glauben, wie es uns befohlen ist. Darum wird es nötig sein, die verborgenen Ursachen dieses keuschen Lebens eines Goldschmieds etwas näher zu beleuchten.
Zunächst müßt ihr bedenken, daß der Mann zu Fuß nach Paris kam, ärmer als Hiob, wie seine alten Freunde zu sagen pflegten, und daß er im Gegensatz zu seinen Landsleuten, die mehr feurig als ausdauernd sind, einen wahrhaft eisernen Charakter besaß und einen Weg, den er einmal eingeschlagen hatte, mit einer Hartnäckigkeit verfolgte wie nur ein Korse seine Rache. Er war Gesell und arbeitete Tag und Nacht; er wurde Meister und arbeitete mehr als je: immer auf der Suche nach neuen Rezepten, nach den verborgensten Geheimnissen seiner Kunst, immer von einer Erfindung zu einer andern Erfindung fortschreitend. Die guten Leute, die nach Feierabend noch einen Gang zu tun hatten, oder Diebe und sonstiges Nachtgevögel sahen hinter dem Fenster des Goldschmieds immer die Lampe brennen und sahen in deren Schein den Goldschmied, der bei verschlossener Tür in Gesellschaft irgendeines Lehrbuben eifriger Beschäftigung oblag. Sie sahen ihn hämmern und meißeln, feilen und ziselieren, löten und schmelzen. Seine Armut hatte ihn fleißig gemacht, sein Fleiß machte ihn weise, seine Weisheit machte ihn reich. Bedenket das wohl, ihr Kinder Adams, die ihr an nichts denkt, als wie ihr euch die unsauberen Gedärme füllen mögt.
Wenn in dem guten Goldschmied sich wohl auch einmal gewisse phantastische Wünsche regten, wie sie von Zeit zu Zeit den armen Menschen, der allein lebt, zu zwicken und zu zwacken pflegen, daß er meint, der Teufel müsse ihn lebendig holen, da hämmerte der Tourainer nur um so wütender auf sein Metall los und hämmerte damit nicht nur die bösen Geister zum Haus hinaus, nämlich aus seinem Körper, der Wohnung seiner Seele, es entstanden zugleich unter seinen Händen die wundervollsten Bildwerke und Figuren in Gold und Silber wie auch schmuckreiche Gefäße in so schönen Formen, daß er die schönen Formen der Frau Venus ganz und gar darüber vergaß. Außerdem war dieser Tourainer ein einfacher Mann, eine Art großes Kind, der vor allem Gott, noch mehr aber die Diebe fürchtete, ja vielleicht noch mehr als diese die großen Herren, über alles aber jede Art Tumult und Unordnung.
Obwohl er zwei Hände hatte, beschäftigte er sich stets nur mit einer Sache. Seine Rede war sanft wie die einer Ehefrau vor der Hochzeit. Obwohl Pfaffen und Kriegsleute seine Gelehrsamkeit nicht gelten lassen wollten, verstand er sehr gut das Latein seiner Mutter und sprach es fehlerlos, ohne sich darum bitten zu lassen. Die Pariser hatten ihn nach und nach gelehrt, geradeaus zu gehen, kein Wasser für andre Leute zu schöpfen, seine Ausgaben mit der Elle seiner Einnahmen zu messen, niemand zu erlauben, sich aus seinem Leder Riemen zu schneiden, überall seine Augen offenzuhalten, niemals dem Inhalt einer verschlossenen Kiste zu trauen, nicht leicht zu sagen, was er tat, oder zu tun, was er sagte, nichts von sich zu lassen als sein Wasser, ein besseres Gedächtnis zu haben als die Spatzen, seinen Kummer für sich zu behalten und auch sein Halleluja, auf der Straße nicht nach den Wolken zu sehen und seine Juwelen teurer zu verkaufen, als sie ihn selber gekostet hatten: lauter Dinge, deren kluge Befolgung ihm Weisheit genug eintrug, um bequem und zufrieden leben zu können.
Also tat er und war auch darauf bedacht, daß er niemand lästig falle. Die Leute aber, die sahen, wie weise er sich das Leben eingerichtet, beneideten ihn, und manch einer sagte: »Bei Gott, ich möchte dieser Goldschmied sein, und sollte ich auch dafür hundert Jahre lang bis über die Knie im Kot von Paris waten müssen.« Aber ebensogut hätte sich einer wünschen können, König von Frankreich zu sein; denn der Goldschmied hatte ein paar Arme wie nicht leicht einer, feste, nervige, haarige Arme und von so erstaunlicher Härte, daß, wenn er die Faust ballte, sein stärkster Gesell sie ihm auch mit einer Beißzange nicht zu öffnen vermocht hätte. Ihr könnt euch denken, daß er nicht leicht fahrenließ, was er einmal festhielt. Zähne hatte er, um Eisen zu kauen, einen Magen, um es zu verdauen, Gedärme, um es aufzusaugen, und einen Sphinkter, um gefahrlos die Schlacken weiterzubefördern – überdies ein paar Schultern, um sich gegen die ganze Welt zu stemmen, gleich jenem alten Heiden, der ehemals dieses Amt hatte, bis die Ankunft unsres Herrn und Heilands ihn, es war höchste Zeit, davon befreite. Die Wahrheit zu sagen, war das ein Mann so recht aus dem Groben gehauen. Das ist immer die beste Art Mensch und ist mehr wert als die, an denen die Natur allzuviel gebosselt hat und die aus allzu feinen Stücken zusammengesetzt sind. Kurz, Meister Anselm war in der Wolle gefärbt, er hatte ein Gesicht wie ein Löwe, und in seinen Augen brannte ein Feuer, worin er sein Gold hätte schmelzen können, wenn ihm die Glut auf der Esse einmal ausgegangen wäre. Aber ein Etwas in diesen Augen, von der gütigen Mutter Natur hineingelegt, milderte dieses Feuer, ansonst sie alles verbrannt hätten. Und nun sagt, ob das nicht ein Mordskerl war von einem Menschen.
Doch nach Aufzählung dieser Musterchen von Kardinaltugenden möchten einige vielleicht noch immer fragen, warum der gute Goldschmied wie eine Auster lebte, nämlich als Zölibatär und Junggesell, und also die reichen Gaben der Natur in so vielem Betracht ungenutzt ließ. Aber wissen diese hartnäckigen Frager, was es heißen will zu lieben? Hollala, sie wissen es keineswegs.
Das Amt eines Verliebten ist, zu kommen und zu gehen, zu horchen und aufzupassen, zu reden und zu schweigen, sich niederzuducken und sich hoch aufzurichten, vor allem sich klein zu machen, sich zu einem Nichts zu machen. Sein Amt ist, angenehm zu sein und Geduld zu üben, zu musizieren und verliebte Verse zu machen, Blumen unter dem Schnee zu suchen, den Mond anzuschwärmen, den Hund und die Katze des Hauses zu streicheln, der Tante über ihren Schnupfen und über ihre Gicht angenehme Sachen zu sagen, der ganzen Verwandtschaft zu schmeicheln, niemand auf die Hühneraugen zu treten, Grillen einzufangen, Mohren weiß zu waschen, Nichtigkeiten zu plappern, der Dame den Spiegel vorzuhalten und über ihren Putz in Ekstase zu geraten, alles das in tausenderlei Wiederholungen. Sein Amt ist, geschniegelt und gebügelt zu sein wie ein Höfling, klug und launig zu sein in seiner Rede, lachend alle Teufeleien hinzunehmen, all seinen Zorn hinunterzuschlucken, seinem Temperament die Zügel anzulegen und den Finger Gottes und den Schwanz des Teufels zugleich in der Hand zu haben. Sein Amt ist, die Mutter, die Base, die Zofe in guter Laune zu erhalten, unter allen Umständen, auch wenn es ihm nicht ums Herz ist, die liebenswürdigste Miene aufzustecken und trotzdem darauf gefaßt zu sein, daß das Weibsen ihm entschlüpft und ihn stehenläßt, ohne ihm einen einzigen christlichen Grund dafür anzugeben.
Hat aber ein Verliebter auch gesprochen wie ein Buch, Sprünge gemacht wie ein Floh, sich gedreht wie ein Kreisel, musiziert wie der König David, tausend Höllenqualen ausgestanden, dem Weibsen eine Säulenhalle der korinthischen Ordnung erbaut, zum Teufel noch einmal, und auch angenommen, das Mädchen sei der sanftesten eine, die Gott in einer guten Laune erschaffen hat: wenn er es nun in etwas versieht, wofür die Dame eine besondere Vorliebe hat, ohne daß es jemand weiß – sie weiß es oft selber nicht, verlangt aber, daß der Verliebte es wisse ... ihr könnt darauf schwören, daß die Schneegans ihn verlassen wird wie einen räudigen Hund. Und sie ist in ihrem Recht, da ist kein Wort zu sagen. Mancher wird dann zornmütig, ja ganz närrisch, mehr als sich sagen läßt, und viele haben sich bei solchen Gelegenheiten das Leben genommen. Darin unterscheidet sich der Mensch vom Tier; denn noch kein Tier hat den Verstand verloren aus Liebeskummer, was hinlänglich beweist, daß die Tiere keine Seele haben.
Das Amt eines Verliebten ist also das Amt eines Soldaten und Galeerensträflings, eines Marktschreiers und eines Hanswurstes, eines Fürsten und eines Lumpen, eines Königs und eines Bettlers, eines Nichtstuers und eines Vielbeschäftigten, eines Betrogenen und eines Betrügers, eines Großmauls, eines Lügners, eines Spions, eines Hohlkopfs, eines Windmachers, eines Schurken; es ist eine Sache, deren sich der Herr Jesus enthalten hat und die darum alle Menschen eines höheren Geistes verachten; eine Sache, wofür ein Mann, was er auch wert sei, alles ausgeben muß, sein Geld und seine Zeit, sein Blut und sein Leben, seine Reden und seine Gedanken, sein Herz, seine Seele, sein Gehirn. Die Weibsen sind merkwürdig lüstern nach diesen Leckerbissen, sie begnügen sich nicht mit einem Teil davon, und oft hört man sie unter sich sagen, daß sie von einem Manne so gut wie gar nichts haben, wenn sie nicht alles von ihm haben. Ja, es gibt darunter solche Luder, die auch dann noch murren und die Stirne runzeln, wenn ein Mann tausend Dinge für sie getan hat, denn sie sagen, er hätte das tausendundeinste noch tun müssen. Dergestalt sind sie vom Geist der Eroberung und Tyrannei besessen, daß, wenn sie auch alles haben, sie doch noch mehr haben wollen. Besonders in der guten Stadt Paris war das immer ein heiliges und unverbrüchliches Gesetz; denn hier, müßt ihr wissen, erhalten die Weiblein bei der Taufe mehr Salz als sonst in der Welt und sind darum bösartig von Geburt an.
Der Goldschmied aber, immer über seine Arbeit gebeugt, immer damit beschäftigt, sein Gold und sein Silber anzuglühen, fand keine Zeit, das Feuer der Liebe zu schüren und seine Phantasie daran zu entzünden und zu einem lustigen Feuerwerk oder sonst auf irgendeine Art den Kratzfüßler und Schwerenöter zu machen und vor einer Puppe auf der Lauer zu liegen. Und da in Paris keine Jungfrauen vom Himmel herunter ins Bett der Junggesellen fallen, sowenig als es in den Straßen gebratene Tauben regnet, auch wenn diese Junggesellen königliche Goldschmiede sind, so suchte der Tourainer einstweilen, so gut es ging, sich in sein Schicksal zu fügen, was ihm bei seiner Art Charakter, wie wir oben gesehen haben, leichter gelang als einem andern.
Der tugendhafte Bürger war dennoch nicht blind für die Gaben und Geschenke der Natur, womit die Damen und Bürgersfrauen, denen er seine Juwelen verkaufte, reich ausgerüstet waren und die sie keineswegs ängstlich versteckten. So geschah es wohl, daß er von manch einer Dame, die ihm nicht ohne weibliche Berechnung schöngetan und den Bart gekraut hatte, ganz aufgeregt nach Hause zurückkehrte, den Kopf voller Phantasien wie ein Dichter und ganz verzweifelt wie ein Kuckuck, der kein Nest findet; er sagte dann zu sich selber:
›Ich sollte mir doch eine Frau nehmen. Sie würde mir die Wohnung kehren, die Schüsseln warm stellen, die Wäsche fein bügeln, die Kleider in Ordnung halten, das ganze Haus mit ihrem Gesang erheitern, mich so lange quälen, bis ich ihr alles zu Gefallen täte; und wie alle zu ihren Männern sagen, wenn sie einen Schmuck haben wollen, würde sie auch tun. ›Schau, mein Schatz, mein Liebling‹, würde sie sagen, ›schau doch nur, ist das nicht reizend?‹ Und jedermann in der Nachbarschaft würde von meiner Frau träumen und würde mich beneiden und glücklich preisen.‹
Dann heiratete er, machte Hochzeit, koste die Frau Goldschmiedin, kleidete sie über alles kostbar und schön schenkte ihr eine goldene Kette, liebte sie vom Kopf bis zu den Füßen, überließ ihr das ganze Regiment im Hause, die Spartruhe ausgenommen, richtete ihr die obere Stube ein mit schönen Scheiben in den Fenstern, weichen Teppichen auf dem Boden, gewirkten Tapeten an den Wänden, mit einem breiten weiten Bett in einem entzückenden Alkoven, einem Bett mit gedrechselten Säulen und seidenen Vorhängen; er kaufte ihr tausend entzückende Kleinigkeiten, und bis er zu Hause angelangt war, hatte er von ihr ein halbes Dutzend schöner Kinder, die ihm lustig entgegensprangen.
Doch zu Hause eintretend, ging das ganze geträumte Glück in Rauch auf. Er machte aus seinen melancholischen Einbildungen wieder phantastische Zeichnungen, aus seinen Liebesgedanken entzückende Kleinodien und Juwelen, zur höchsten Lust und Verwunderung der Käufer, die nicht ahnten, wieviel wundersame Frauen und herzige Kinder in all die zarten goldigen Gebilde hineingearbeitet waren.
Je mehr aber die Kunst des guten Mannes bewundert wurde, desto mehr magerte er ab an seinem Leibe und wurde mutlos in seiner Seele; und wenn Gott nicht endlich Mitleid mit ihm gehabt hätte, wäre er sicher von dieser Welt abgereist, ohne die Liebe auch nur gekannt zu haben; aber er würde sie dann in der andern Welt kennengelernt haben, ohne die Unflätereien der fleischlichen Verhüllung, die ihr so sehr zur Verhäßlichung gereichen, wie Meister Plato autoritativen Angedenkens meint, der aber als blinder Heide und Ketzer sich sicher geirrt hat.
Genug. Diese Prologe, Vorreden und Weitschweifigkeiten sind wahrhaftig ein unnützer und überflüssiger Ballast, womit ein Erzähler der Übelwollenden wegen seine Geschichten einbündeln muß, wie man ein Kind in Windeln wickelt, das doch nackt viel schöner wäre. Möge der Teufel dieses Gesindel mit seiner dreizinkigen glühenden Gabel kitzeln! Ich will von jetzt an alles kurz und geradeheraus sagen.
Also hört, was dem Goldschmied in seinem einundvierzigsten Lebensjahre begegnet ist. Eines schönen Tages erging er sich auf dem linken Ufer des Flusses, den man dort die Seine nennt, und während er wieder allerlei kühne Heiratspläne im Kopfe herumwälzte, kam er bis zu jenen Wiesen, die später unter dem Namen der ›Studentenwiesen‹ bekannt waren, damals aber noch zur Domäne der Abtei von Saint-Germain und nicht der Universität gehörten. So fortschreitend, kam der Tourainer ins freie Feld hinaus und sah plötzlich ein armes Mädchen vor sich, das ihn, da er seine besten Sonntagskleider anhatte, ehrfurchtsvoll grüßte.
»Gott sei mit Euch, edler Herr!« sprach sie demutsvoll. Ihre Stimme klang dabei so sanft und herzlich, daß der Goldschmied wie behext wurde von dieser weiblichen Musik und plötzlich in heftiger Liebe entbrannte für das arme Ding, das in seine Heiratsphantasien und Liebesträume, mit denen er sich gerade wieder beschäftigt hatte, hineinpaßte wie ein Stöpsel in die Flasche. Aber er war bereits an ihr vorüber und wagte nicht umzukehren, denn er war schüchtern wie ein Mädchen, das lieber in seinen Röcken stirbt, als sie zu seiner Lust aufzuheben. Doch als er eine Ackerlänge gegangen, überlegte er sich, daß ein Mann, der seit zehn Jahren Goldschmiedemeister des Königs und Bürger der Stadt Paris, auch längst doppelt so alt war, als ein Hund je alt werden kann, eigentlich keine Angst haben sollte vor einer Weiberschürze, wenn ihm alle Sinne danach standen. Und der seinige stand ihm sehr danach.
Er kehrte sich also kurzerhand um, wie wenn er sich besonnen hätte, seinem Spaziergang eine andre Richtung zu geben, und kam von neuem auf das Mädchen zu, das seine arme Kuh am Stricke hielt, die an dem Grabenrand längs des Wegs das Gras abweidete.
»Ei, ei, meine Kleine, du mußt sehr arm sein, daß du dich nicht scheust, Handarbeit zu verrichten am Sonntag. Hast du keine Angst, ins Gefängnis geworfen zu werden?«
»Edler Herr«, antwortete das Mädchen, indem es die Augen niederschlug, »ich habe nichts zu befürchten, denn wir gehören zur Abtei, und der Herr Abt hat uns die Erlaubnis erteilt, die Kühe nach der Vesper auf die Weide zu führen.«
»Du liebst also deine Kuh mehr als dein Seelenheil?«
»Wahrhaftig, edler Herr, unser Vieh ist fast unser halbes Leben.«
»Ich wundre mich, mein Kind, wenn ich dich so arm sehe, angetan mit Lumpen wie eine Vogelscheuche, mit nackten Füßen am Sonntag, während du doch Schätze an dir trägst, wie sie so reich und herrlich in der ganzen Abtei nicht zu finden sind, und ich denke mir, daß die aus der Stadt dir schön nachstellen und dich mit Anträgen quälen und verfolgen werden.«
»Aber nein, edler Herr, ich gehöre der Abtei«, sprach sie, indem sie dem Goldschmied einen ledernen Riemen an ihrem linken Arm zeigte. Es war ein ähnlicher Riemen, wie ihn die Kühe auf der Weide um den Hals tragen, nur daß keine Glocke dranhing. Bei ihren Worten richtete sie einen so traurigen Blick auf den Meister, daß er diesem tief in die Seele drang. Denn oft liegt in Blicken eine magische Kraft.