Tollkirschen und Quarantäne - Wilfried Witte - E-Book

Tollkirschen und Quarantäne E-Book

Wilfried Witte

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Beschreibung

"Spanische Grippe", so hieß die verheerendste Grippe- Epidemie der Moderne (300. 000 Tote im Deutschen Reich, bis zu 50 Millionen weltweit) – und zwar, weil als einer der Ersten der spanische König an ihr erkrankte. Während die Schulen im Deutschen Reich und in Frankreich geschlossen und von der Südsee bis Afrika Quarantänen verhängt wurden, versuchten Ärzte weltweit vergeblich, dem Erreger auf die Spur zu kommen. Aderlässe und Blutegel kamen zu neuen Ehren, Heidelberger Pathologen sezierten violett und schwarz verfärbte Leichen mit blutroten Lungen (Tuberkulosekranke wie Franz Kafka traf die Grippe besonders hart), ein bulgarischer Naturheiler braute aus Tollkirschen ein Wundermittel gegen die Kopfgrippe. Und dann gab es auch damals schon infizierte Schweine und Vögel – in einem neuen Vorwort zu dieser Taschenbuchausgabe arbeitet Wilfried Witte weitere Parallelen zwischen den Grippewellen am Anfang des 20. Jahrhunderts sowie der Schweinegrippe zu Beginn unseres Jahrhunderts heraus.

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Die Originalausgabe erschien 2008 im Verlag Klaus Wagenbach in Berlin.

Bildnachweis

Frontispiz: Richard Collier: The Plague of the Spanish Lady. The Influenza Pandemic of 1918–1919, London, Basingstoke 1974, bei Seite 120; S. 4: © SV-Bilderdienst/Rue des Archives; S. 11: Pierre Lereboullet: La Grippe. Clinique – Prophylaxie – Traitement, Paris 1926, S. 58; S. 27: © Stapleton Collection/Corbis; S. 32: Edwin O. Jordan: Epidemic Influenza. A Survey, Chicago 1927, S. 358; S. 41: Klaus Wagenbach (Hg.): Franz Kafka. Bilder aus seinem Leben. 4. veränd. u. erw. Ausgabe, Berlin 2008, S.247. © Verlag Klaus Wagenbach; S. 53: Ernst Schultze: ›Ueber Paralysis agitansähnliche Krankheitsbilder (Linsenkernsyndrome) durch Encephalitis epidemica‹, in: Berliner Klinische Wochenschrift 58 (1921), S. 245–249; S. 59: aus dem Privatbesitz von Wilfried Witte; S. 86: Klaus Stuttmann, in: Cicero, 11/2005, S.16. © Klaus Stuttmann; S. 93 oben: zur Verfügung gestellt von der Studiengesellschaft für Emsländische Regionalgeschichte; S. 93 unten: Ems-Zeitung Nr. 137, 14.11.1918 bzw. Simon Dieter: ›Die »Spanische Grippe«-Pandemie von 1918/19 im nördlichen Emsland und einigen umliegenden Regionen‹, in: Emsländische Geschichte 13, 2006, S. 126.

E-Book-Ausgabe 2020

© 2008, 2010 Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin

Covergestaltung Julie August unter Verwendung einer Photographie von »Anti-Influenza-Masken« aus dem Medizinhistorischen Institut und Museum, Zürich.

Das Karnickel zeichnete Horst Rudolph. Alle Rechte vorbehalten

Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.

Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

ISBN: 9783803142825

Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 2633 7

www.wagenbach.de

Die ›Spanische Lady‹: Allegorie der Spanischen Grippe auf einer dänischen Karikatur von 1918

Vorwort

Was hat die Schweinegrippe mit der Spanischen Grippe zu tun?

Die Afghanen besitzen offiziell ein einziges Schwein. Das haben ihnen die Chinesen geschenkt, für den Zoo in Kabul. Doch im Mai 2009 halten es die Zoobesucher nicht mehr aus: Die Schweinegrippe geht um – und wenn schon Schweinegrippe, dann muss, laut Aussage einer deutschen Tageszeitung vom 8. Mai 2009, das Schwein weggeschlossen werden.

Auch die Zabbaleen, koptische Christen in Ägypten, werden so bald keine Schweine mehr zu sehen bekommen, weil es keine mehr gibt. Job der Zabbaleen ist es, den Müll der Metropole Kairo zu sammeln. Was essbar ist, bekommen ihre Schweine. Ägypten hatte vor Jahren stark unter der Vogelgrippe zu leiden, und die ›unreinen‹ Schweine in der Stadt sind schon immer ein Dorn im Auge der politisch Verantwortlichen gewesen. Bislang gibt es keinen einzigen Schweinegrippe-Fall im Land, was das ägyptische Parlament am 28. April 2009 jedoch nicht daran hindert, sich für die Tötung aller ca. 300.000 Schweine Ägyptens auszusprechen. Am folgenden Tag wird trotz internationaler Proteste mit der Massenschlachtung begonnen. Die Existenzgrundlage der Kopten erscheint als nebensächlich. Die 21-jährige Hanan Ahmed sagt der Nachrichtenagentur Reuters: »Sie haben uns die Tiere weggenommen und uns und die Schweine geschlagen.« Eine Entschädigung für die 25 Tiere habe ihre Familie nicht erhalten.

Was war passiert? Auslöser waren Meldungen Ende April 2009. So hieß es am 24. April 2009: »In Mexiko grassiert eine Schweinegrippe ungeahnten Ausmaßes. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) vom Freitag starben bisher an die 60 Personen an der Seuche. […] Die WHO berief einen Krisenstab ein.« Wie es ihr zu eigen ist, verwirrt die Grippe ihre menschlichen Beobachter: Die neue Mexiko-Grippe ist keine Vogelgrippe (H5N1), sondern eine Schweinegrippe vom Typ A/H1N1. Der mexikanische Gesundheitsminister soll in einem Fernsehinterview gesagt haben: »Es handelt sich um ein Virus, das von Schweinen auf den Menschen übertragen wurde.« Damit liegt er falsch. Das Virus weist zwar Bestandteile von Viren beim Schwein, bei Vögeln und beim Menschen auf. Es stammt jedoch nicht direkt von erkrankten Schweinen.

Eine lokale Epidemie wie diejenige in Mexiko, die sich von Mensch zu Mensch ausbreitet, zieht gemäß WHO-Pandemieplan die Warnstufe vier nach sich. Bald jedoch gibt es Kranke auch in den USA, also wird auf Stufe fünf erhöht. Am 30. April erläutert der Chef des europäischen Influenza-Programms in Stockholm: »Wenn man einmal Stufe fünf erreicht hat, geht man in Richtung Stufe sechs. Das ist unvermeidlich, nur eine Frage der Zeit.« Und ein Berliner Infektionsbiologe hat tags zuvor erklärt, die Todesrate bei Vogelgrippe liege bei 30 bis 50 Prozent, hier hingegen sei nur etwa ein Prozent der Infizierten akut lebensgefährdet. Die Krankheitsfälle jedoch häufen sich. Am 3. Mai sollen es weltweit mindestens 635 sein, nun heißt es, siebzehn Menschen seien an der Schweinegrippe gestorben. Eine Zeitung dramatisiert: »Das Virus ergreift die Welt.«

Unterdessen normalisiert sich das infolge der Grippe zusammengebrochene öffentliche Leben in Mexiko allmählich wieder. Der erste Schweinegrippe-Patient überhaupt soll ein kleiner Junge namens Edgar Hernández gewesen sein, aus dem Osten der Provinz Veracruz stammend, der am 2. April beim Arzt gewesen war. Das erste offizielle Todesopfer der Schweinegrippe war Adela María Gutiérrez, eine 39-jährige Frau aus Oaxaca im Süden Mexikos. Sie starb am 13. April. Die Menschen in dem kleinen Städtchen La Gloria in der Provinz Veracruz, wo die Spanier im 16. Jahrhundert landeten, sind sich sicher: Die riesige Schweinefarm in der Nähe des Ortes ist der Ursprungsort der neuen Grippe. 15.000 Schweine in 18 Ställen und das in direkter Windrichtung, da muss es herkommen. Doch auch sie täuschen sich, was den Ansteckungsweg anbelangt.

Solche Vorstellungen über Ansteckungsgefahren und -wege schlagen sich auch in den Namen nieder, auf die die Krankheit getauft wird. So heißt die neue Grippe in Deutschland ›Schweinegrippe‹, in den Niederlanden hingegen Mexicaanse griep, in Mexiko selbst la epidemia. In Frankreich kursieren grippe-mexicaine, grippe du cochon, grippe porcine, grippe du porc usw. Die Behörden bemühen sich zu unterstreichen, dass der Verzehr des Fleisches unbedenklich ist. Die WHO indes legt Wert darauf, dass man von »influenza A (H1N1)« spricht. In Deutschland wird daraus im offiziellen Sprachgebrauch ›Neue Influenza A (H1N1)‹, in Holland Nieuwe Influenza A (H1N1) und so fort.

Den Forschern, die sich lange Jahre mit der Grippe beschäftigen, erscheint das Virus wie ein lästiger altbekannter Mitbewohner, den man aber auch bewundert. Das Virus bekommt bei ihnen ein menschliches Antlitz. Der bekannte Grippevirologe Robert Webster aus Memphis, Tennessee, schimpft über das neue H1N1-Virus, es würde sich überhaupt nicht darum scheren, dass der Winter der nördlichen Hemisphäre vorbei sei: »Es ist zu spät in der Saison, um in Menschen vorzukommen, aber es kommt vor.« Konsterniert schließt er: »Man kann keine Gesetze über Grippeviren festlegen – sie brechen sie ständig. Es ist, als wenn das Virus sie liest und sagt: ›Ich mache das verdammte Gegenteil.‹« Ein Epidemiologe aus Michigan, der auch schon seit Jahrzehnten im Geschäft ist, orakelt: »Nichts ist vorhersagbar über Grippe außer ihre Unvorhersagbarkeit.«

Wie wir über Grippe denken, ist Produkt dessen, wie sich die verschiedenen Wissenschaften der Grippe, aber auch die Politik mit der Grippe beschäftigt haben. Die schlimmste Grippepandemie der Geschichte war die Spanische Grippe von 1918-20; von ihr handelt dieses Buch. Ein kulturelles Gedächtnis der Spanischen Grippe, das in der Zeit entstanden wäre, gibt es – von Ausnahmen abgesehen – nicht. Nahezu alles, was wir mit der Spanischen Grippe verbinden, ist im Nachhinein entstanden, vor allem seit das Virus der Grippe 1933 in die Lehrbücher eingegangen ist. Was sich 1918–20 zugetragen hat, ist genauso Gegenstand dieses Buches wie der politische, wissenschaftliche und – soweit möglich – soziale Umgang mit der Grippe seit 1918. Alles, was wir 2009 zur Grippe sagen können, ist eingefärbt durch die Wahrnehmung der Herbstwelle der Grippe vor 91 Jahren. Immer wenn die Angst obsiegt, wenn wir über Influenza reden, ist ›1918‹ im Spiel.

Dabei sind oft Gewissheiten im Schwange, die trügerisch sind. Experten der Grippe beklagen schon einmal, dass allein der Begriff ›Grippepandemie‹ unbekannt sei. Dabei beruht der heute geltende Begriff auf einer Definition der WHO von 1999. Ohne die WHO – und auch das versucht dieses Buch zu zeigen – wäre die Grippebekämpfung von vorneherein Stückwerk. Mit der WHO ist aber auch eine Letztinstanz geschaffen worden, an der vieles hängen bleibt. Man kann, wie das geschehen ist, ausschließlich epidemiologisch davon ausgehen, dass die nahezu weltweite Ausbreitung entscheidend ist, um von einer Grippepandemie sprechen zu können. So könnte man im Abstand von wenigen Jahren von Pandemien reden, die sich nur nach der Schwere der Erkrankungen unterscheiden würden. Ein anderer Weg, der eingeschlagen wurde, war der, immer dann von einer ›Grippepandemie‹ zu sprechen, wenn eine weltweite Verbreitung einer ernsten Grippe vorlag, die viele Komplikationen, vor allem in Form von Lungenentzündungen, nach sich zog. Setzt man die Mindestrate an Komplikationen indes nicht zu hoch an, so kann man ohne Weiteres alle paar Jahre wieder von Pandemien sprechen. Erst mit dem Stufenplan der WHO wird eine Influenzapandemie als ein außergewöhnliches epidemiologisches und virologisches Ereignis festgeschrieben.I Dies ist jedoch nur möglich, indem man den begrenzten Rahmen des virologischen Wissens zur Grippe anerkennt. In gewissem Sinne gilt: Grippe ist das, was wir daraus machen.

Nur ein halbes Jahr, nachdem dieses Buch erstmals erschienen ist – weshalb es jetzt schon dieses neue Vorwort benötigt –, ist es schließlich so weit: Dr. Margaret Chan, selbst ehemalige Grippeforscherin, nun Generaldirektorin der WHO, ruft am 11. Juni 2009 Warnstufe sechs aus. Jetzt ist die erste Grippepandemie nach 1968–70 amtlich. Chan betont, dass es noch nie eine Pandemie gegeben habe, die so früh festgestellt und so genau überwacht wurde, »in Echtzeit«. Global, so führt sie aus, habe man gute Gründe zu glauben, dass diese Pandemie, wenigstens in ihren frühen Tagen, moderat ausfallen werde.

Bald wird aus Schottland der erste europäische Grippetote gemeldet, der eine Grunderkrankung gehabt haben soll. Anfang Juli ist Großbritannien in Europa anscheinend am stärksten von der neuen Grippe betroffen. Am 3. Juli sind 7447 Fälle im Vereinigten Königreich durch Labortests bestätigt, die meisten aus den West Midlands, London und Schottland. Im Juli und August steigt die Zahl der Erkrankungsfälle in Deutschland. Die meisten hängen mit Auslandsreisen zusammen; die meisten deutschen Urlauber stecken sich in Spanien an. Am 6. August werden in Deutschland 9213 Fälle gezählt, Anfang Oktober werden bundesweit mehr als 22.000 Erkrankungen verzeichnet. Am 25. September stirbt in der Essener Universitätsklinik eine 36-jährige, stark übergewichtige Patientin an Schweinegrippe. Es scheint sich um das erste Todesopfer der Schweinegrippe in Deutschland zu handeln. Ende Oktober sind drei weitere deutsche Grippeopfer der Infektion erlegen, darunter ein fünfjähriger Junge aus dem Saarland. Zu diesem Zeitpunkt gibt es in den USA bereits 1000 Tote, darunter knapp 100 Kinder. In 46 der 50 Bundesstaaten wird die Schweinegrippe nachgewiesen. 20.000 Menschen mussten schon ins Krankenhaus wegen der Grippe.

Die Zahlen steigen weiter an, Anfang November werden in Deutschland in einer Woche 3075 neue Grippefälle registriert. Bayern und Rheinland-Pfalz weisen die höchsten Steigerungsraten auf. In Deutschland werden 11, in Mexiko 398, in Großbritannien 151 Tote vermeldet. Am stärksten breitet sich die Schweinegrippe jetzt in Osteuropa und Zentralasien aus. Außer in tropischen Ländern wie Singapur gilt zu diesem Zeitpunkt: Wer jetzt unter Grippe leidet, hat aller Wahrscheinlichkeit nach eine Schweinegrippe.

In den USA sind am 25. November mit einem Mal 4440 Grippeopfer zu verzeichnen. Grund ist kein explosionsartiger Anstieg der Erkrankungsfälle, sondern eine neue Zählung der Toten. Ab jetzt werden in den USA Todesfälle durch Zweitinfektionen und klinische Verdachtsfälle hinzugezählt. Am 27. November werden weltweit 11.634 Tote verzeichnet. In Indien sind 560 Opfer gezählt worden, in Südafrika 91, in Großbritannien 245, in Frankreich mitsamt überseeischen Regionen 85, in Deutschland 59. Am 2. Dezember vermeldet der Präsident des Robert-Koch-Instituts auf einer Sitzung des Gesundheitsausschusses des deutschen Bundestages, dass hierzulande bislang insgesamt 172.000 Erkrankungen durch H1N1 zu verzeichen seien. In der vergangenen Woche seien 23.000 Fälle aufgetreten, in der davorliegenden Woche 33.000. Möglicherweise sei der »Gipfel des Geschehens« erreicht. Entwarnung wird allerdings nicht gegeben. Keiner ist sich sicher, ob nicht doch noch eine weitere Welle auftritt.

Die Gefährlichkeit der Grippe ist seit 1918 mit ihrem Auftreten in ›Wellen‹ verbunden. Eines der Anliegen dieses Buches ist es, das darzustellen. Solange die Grippepandemie, die im Sommer 2009 begann, noch nicht zu Ende ist, kann niemand ausschließen, dass es nicht doch noch zu einer neuen, gefährlicheren Welle kommt. Auffällig ist, dass auch 2009 häufig junge Menschen von der Grippe ernste Folgen davontragen. Im Vergleich zur Spanischen Grippe sterben sie diesmal aber seltener daran als alte Menschen, die mit denselben Komplikationen zu kämpfen haben.

Wie soll man sich unter diesen Umständen zur Pandemie verhalten? Monatelang wird über die Grippe geredet. Vor allem die geplante Grippeschutzimpfung treibt die Gemüter um. Zum Teil verkehrt sich die Furcht vor der Grippe in eine Furcht vor der Grippeschutzimpfung: Wer hingehen will, kann sich fühlen, als ob er sich einer Mutprobe unterziehen würde.

Ein Arbeitskollege aus der Klinik mit Namen Gennaro di Bonito, der aus Neapel stammt, teilt mir Anfang September mit, dass in seiner Heimatstadt der Verkehr zusammengebrochen ist, weil sich die Busfahrer geweigert haben, sich hinters Lenkrad zu setzen, wenn die Busse zuvor nicht von oben bis unten desinfiziert werden. Tage später findet sich die Meldung auch in deutschen Zeitungen wieder. Am 19. September soll sich – wie außerdem zu lesen ist – wie in jedem Jahr das ›Blut‹ des Märtyrerbischofs San Gennaro verflüssigen; das hoffen zumindest die gläubigen Neapolitaner. Größtes Glück verspricht es, wenn man die Reliquie küsst. Der Erzbischof überlegt, diesen Brauch angesichts der Grippe zu untersagen. Als sich später – im November – zeigt, dass die meisten italienischen Grippeopfer in der Tat in Neapel zu verzeichnen sind, machen sich die Menschen ihren eigenen Reim darauf: Das mafiöse Müllentsorgungs-Chaos verseuche die Böden mit Giften, die den Menschen zu schaffen machten.

Zum Schulbeginn im September soll auch ein Verbot in einem römischen Gymnasium greifen. Der Direktor der Schule verkündet: »Küssen verboten« – die üblichen beidseitigen Wangenküsse müssten unterbleiben, die Ansteckungsgefahr sei zu groß. Es fällt schwer zu glauben, dass sich irgendwer daran gehalten hat. Im November stellt sich eine ähnliche Frage im Rheinland: 11.11., Karnevalsbeginn. Eigentlich wäre man gut beraten, jetzt solche Großveranstaltungen zu meiden, sagt der Chefvirologe der Uniklinik Köln. Aber Schunkeln und Küsse auf die Wange will er dann doch nicht verdammen: »Ein Bützchen auf die Wange birgt wahrscheinlich kein höheres Übertragungsrisiko, als wenn man aus einem Meter Entfernung von jemandem angehustet wird.« Die Jecken benennen den Alten Markt in Köln am 11.11. um in H1N1-Zone.

Soll man Grippeschutzmasken tragen? In Deutschland sind sie ungefähr so wenig verbreitet wie schon 1918. In der Ukraine empfiehlt die Ministerpräsidentin, sich selbst welche zu basteln, da Mangel herrscht. Österreich hat ein Einsehen. Bereits 2006 hatte die Alpenrepublik acht Millionen Grippeschutzmasken gekauft. Da man ohnehin nicht weiß, wohin damit, will Österreich der Ukraine eine halbe Millionen Masken gratis zur Verfügung stellen.

Die Frage, für wie gefährlich die Schweinegrippe zu halten ist, kulminiert international in einer Auseinandersetzung über die pandemische Grippeschutzimpfung. Es hat auch damals im Zusammenhang mit der Spanischen Grippe nicht an Versuchen gemangelt, anlässlich der Grippe gegen deren hauptsächliche Komplikation, die Lungenentzündung, zu impfen. Die meisten Grippeimpfungen dieser Art fanden in den USA statt.II Die eigentliche Impfstoffentwicklung entwickelte sich jedoch erst ab den 1930er Jahren, seitdem es eine Virologie der Grippe gab – auch das wird in diesem Buch näher ausgeführt. Die Schweinegrippe-Affäre von 1976, in deren Verlauf die Furcht vor einem neuen ›1918‹ zu einer Massenimpfung in den USA führte, klingt nach, wenn erneut, wie in diesem Jahr geschehen, eine Grippemassenimpfung ansteht.

In den USA wurden 1976 unter anderem Impfpistolen angewandt, mit deren Hilfe der Grippeimpfstoff in den Oberarm eingeführt wurde. Grippeschutzimpfungen firmieren in den USA auch heute noch vorrangig unter der Bezeichnung flu shot. Im Oktober erklärt ein US-amerikanischer Talk Show-Gastgeber seiner Twitter-Gemeinde, wer einen flu shot bei sich zulasse, sei ein »Idiot«. In seiner Show sagt er, man könne sich doch keine Krankheit in den Arm stechen lassen: »Ich vertraue der Regierung nicht, vor allem nicht bei meiner Gesundheit.« In Deutschland wird zur selben Zeit öffentlich gemacht, dass die Bundeswehr einen Impfstoff kauft, der anders als der für die sonstige Bevölkerung keine verstärkende Substanz, kein Adjuvans, enthält. Wenig später erklärt ein Sprecher des Bundesinnenministeriums, für die Bundesregierung sei derselbe adjuvansfreie Impfstoff bestellt worden. Das Wort von der Zweiklassenmedizin macht die Runde. Zu diesem Zeitpunkt ist die Diskussion um die Grippeschutzimpfung in Deutschland schon heillos verfahren.

Ab Ende Oktober wird in Deutschland geimpft. Doch schon im Spätsommer stehen verschiedene Positionen unterschiedlicher Experten und Funktionsträger unversöhnlich nebeneinander. Auf einer gemeinsamen Pressekonferenz des für die Impfstoffherstellung zuständigen Paul-Ehrlich-Instituts und des für die Seuchenüberwachung und -bekämpfung zuständigen Robert-Koch-Instituts in Berlin betonen die Behördenvertreter, dass man sich in Europa schon zu Zeiten der Diskussion um die Vogelgrippe dazu entschieden habe, als pandemischen Impfstoff ein Modell einzusetzen, das sich in einigen Punkten von dem der saisonalen Grippeimpfstoffe unterscheide. Der entsprechende Impfstoff trägt die Firmenbezeichnung Pandemrix. Durch die Verwendung eines Adjuvans komme man mit weniger Antigen (Wirkstoff) aus, sodass man genug Impfstoff produzieren könne. Sie verweisen auf die Notwendigkeit der zweimaligen Impfung – eine Aussage, die später, im Verlauf der Impfaktion, revidiert wird.

Der Herausgeber des pharmakritischen Arznei-Telegramms polemisiert gegen die Impfaktion: »Was wir hier erleben, ist ein Großversuch an der deutschen Bevölkerung.« Bei 25 Millionen Deutschen, die ab Herbst geimpft werden, könnten fast 250.000 heftige Impfreaktionen erleiden, ohne dass dies in vorhergehenden Studien aufgefallen wäre. Die deutsche Vizepräsidentin des EU-Parlaments hält die Schweinegrippe »sicher« für eine »gefährliche Infektion«, will aber keine Panik schüren. Der deutsche Vorsitzende des Gesundheitsausschusses im Europaparlament warnt, im Herbst könnte es mindestens eine Million Schweinegrippefälle in der EU geben. Ein Virologe aus Halle, der oft in den Medien auftaucht, meint: »Wenn Sie Millionen von Menschen mit einem neuen Impfstoff impfen, ist das immer ein Massenversuch.« Man brauche das Guillain-Barré-Syndrom, eine diffuse Nervenkrankheit, die 1976 im Zusammenhang mit der Impfung öfters auftrat, nicht zu fürchten.

Im Herbst erhitzt sich die Diskussion weiter. Den Zeitungen kann man jetzt entnehmen, dass der Vorsitzende der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft von einem »Skandal« spricht. Die Gesundheitsbehörden seien auf eine »Kampagne der Pharmakonzerne« hereingefallen. Der Staatssekretär im Bundesgesundheitsministerium sagt, man versuche, nichtadjuvantierten Impfstoff für Schwangere aufzutreiben. Der Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte wirft der Bundesregierung »wissenschaftliche Falschaussage« vor, bei Kindern sei der Impfstoff überhaupt nicht getestet, außerdem enthalte der Impfstoff noch einen quecksilberhaltigen Konservierungsstoff. Der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Jugendmedizin urteilt über die Impfung mit Pandemrix: »Das Schadensrisiko überwiegt den Nutzen.«

Als die Impfaktion schließlich beginnt, läuft vieles nicht so wie geplant. Leserbriefschreiber der Ärzte-Zeitung teilen mit, dass an vielen Orten Baden-Württembergs und Bayerns kein Impfstoff angekommen ist. In Hessen und dem Saarland scheint das Impfen hingegen reibungslos zu klappen. Das thüringische Gesundheitsministerium bestätigt Lieferschwierigkeiten. Der neue Bundesgesundheitsminister bittet um Geduld und will Mut zusprechen: »Die Industrie gibt sich Mühe und die Länder sind stark vor Ort.« In Berlin können die Kassenärztliche Vereinigung und der Senat sich nicht einmal über die Entlohnung verständigen. Da infolgedessen Einzelverträge mit Ärzten abgeschlossen werden, weiß keiner, wer wo wann eigentlich impft. Der Verbandsvorsitzende der Berliner Frauenärzte ist frustriert: »Ich kann nur hoffen, dass hier niemals die Pest ausbricht.« Die Furcht vor der Pest als dem jahrhundertealten Inbegriff einer desaströsen Epidemie beherrschte übrigens 1918–20 die Szenerie. Pest – das ist die Anspielung auf eine monströse Pandemie.

Einstweilen wird die neue Grippe – zum Glück – genau das nicht. Wie 1918 die politische Zensur Nachrichten über die Grippe unterband, wird in diesem Buch beschrieben. Wie ist es aber heute, wenn Probleme im Umgang mit der pandemischen Grippe auf die Tagesordnung öffentlicher Debatten gelangen müssten? Im Mai 2009 begrüßt der 112. Deutsche Ärztetag in Mainz »die länderübergreifende Krisenmanagement ›Excercises‹ (LÜKEX) ›Influenzapandemie‹ im November 2007, bei der Einrichtungen des Bundes und der Länder zusammenarbeiteten. So konnten Schnittstellen- und logistische Probleme identifiziert werden.« Doch was steht eigentlich in dem Abschlussbericht der Grippeübung, die schon in der ersten Ausgabe dieses Buches Erwähnung fand? Das erfährt die Öffentlichkeit nicht. Der Leiter des zuständigen Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe erklärt stattdessen laut Medien: »Bei der Übung aufgetretene Fehler lassen sich am besten beheben, wenn sie intern analysiert und aufgearbeitet werden.« Das hinterlässt den unangenehmen Beigeschmack, man wolle Probleme der föderalen Organisation in der Seuchenabwehr einfach nicht öffentlich machen.

Anfang Oktober veröffentlicht die Harvard School of Public Health in Boston eine Studie zur Frage, wie Massenimpfungs-Kampagnen in der Öffentlichkeit kommuniziert werden können. Das Fazit lautet: Es komme zwar vor, dass Impfgegner Verschwörungstheorien, die im Internet kursierten, bedienten. Aber weit häufiger spiegele sich darin eine persönliche rationale Kosten-Nutzen-Analyse, was die öffentlichen Kampagnen zur Grippeimpfung berücksichtigen müssten.III

Das Guillain-Barré-Syndrom, das 1976 so häufig auftrat, dass die Impfkampagne in den USA beendet werden musste, trat bis Dezember 2009 nicht oder kaum in Erscheinung. Im November wird aus Frankreich ein Fall gemeldet, bei dem sich eine 37-jährige Frau »vermutlich« infolge der Impfung mit dem Impfstoff Pandemrix ein Guillain-Barré-Syndrom zugezogen habe. Hingegen tauchen andere Probleme auf. In Deutschland erleidet ein ungefähr 30-jähriger gesunder Mann nach der Grippeimpfung eine lebensgefährliche Unverträglichkeitsreaktion (Anaphylaxie), die er aber durch die Notfallbehandlung unbeschadet überstanden hat: Wenn geimpft wird, gibt es Unverträglichkeiten. In der Nacht zum 13. November stirbt schließlich ein 55-jähriger Mann aus dem thüringischen Eichsfeld nach einer Grippeimpfung. Am 17. November ist der Zeitung zu entnehmen, die Amtsärztin habe dem Obduktionsbericht die Todesursache Herzinfarkt entnommen, was das Erfurter Gesundheitsministerium bestätigt hat. Man liest nichts davon, dass ein Herzinfarkt auch als Folge einer Impfunverträglichkeit denkbar ist. Die statistische Wahrscheinlichkeit spricht dagegen, aber wäre es nicht doch angebrachter, den Punkt zumindest zu erläutern?

Der Zusammenhang der Grippe bei Menschen und Tieren ist derart eng, dass man davon ausgeht, dass es sich um eine sogenannte ›Zoonose‹ handelt: Die Grippeviren pendeln zwischen Tier und Mensch und wandeln sich dabei, mal stärker (shift), mal weniger stark (drift) – nur weiß inzwischen niemand mehr genau zu sagen, ob nicht vielleicht doch auch kleinere Änderungen oder lediglich Variationen von Erreger-Subtypen das Zeug zu einer Pandemie haben.IV Dieser Tier-Mensch-Zusammenhang wurde schon 1918 erahnt, auch darüber gibt dieses Buch Auskunft. Doch im Jahr 2009 verhält sich die Sache nicht nach dem klassischen Muster: Während viele Menschen die Schweinegrippe haben, hat lange Zeit kein Schwein die Grippe. Truthähne sind – soweit das den Medien zu entnehmen ist – die Ersten, die sich am Menschen anstecken. Auf einer Truthahn-Farm in der kanadischen Provinz Ontario bricht im Oktober die Schweinegrippe bei Truthähnen aus. Etwa die Hälfte der insgesamt 7000 Vögel wird unter Quarantäne gestellt. Im August soll dasselbe in Chile passiert sein.