Unerhörte Leiden - Wilfried Witte - E-Book

Unerhörte Leiden E-Book

Wilfried Witte

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Beschreibung

Frauen mussten unter Schmerzen gebären, Kleinkindern wurde die Schmerzempfindung abgesprochen, Männlichkeit zeichnete sich durch Gleichmut gegen Schmerzen aus - das galt in weiten Teilen Europas noch bis ins 20. Jahrhundert. Heute hat sich das Bild gewandelt: Die Akzeptanz, Schmerzen ertragen zu müssen, ist geschwunden, in Deutschland, aber auch in anderen Ländern. Wie ging dieser Prozess vonstatten? Wie war er in Einklang zu bringen mit den Erwartungen derjenigen, die unter den Schmerzen litten, der Patientinnen und Patienten? Wilfried Witte spürt den historischen Entwicklungen im Umgang mit chronischen Schmerzen in Deutschland im 20. Jahrhundert nach. In seiner Geschichte der Schmerztherapie zeigt er anhand eindrücklicher Beispiele, wie medizinischer Fortschritt und gesellschaftliche Änderungen miteinander korrespondierten.

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Wilfried Witte

Unerhörte Leiden

Die Geschichte der Schmerztherapie in Deutschland im 20. Jahrhundert

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Frauen mussten unter Schmerzen gebären, Kleinkindern wurde die Schmerzempfindung abgesprochen, Männlichkeit zeichnete sich durch Gleichmut gegen Schmerzen aus - das galt in weiten Teilen Europas noch bis ins 20. Jahrhundert. Heute hat sich das Bild gewandelt: Die Akzeptanz, Schmerzen ertragen zu müssen, ist geschwunden, in Deutschland, aber auch in anderen Ländern. Wie ging dieser Prozess vonstatten? Wie war er in Einklang zu bringen mit den Erwartungen derjenigen, die unter den Schmerzen litten, der Patientinnen und Patienten? Wilfried Witte spürt den historischen Entwicklungen im Umgang mit chronischen Schmerzen in Deutschland im 20. Jahrhundert nach. In seiner Geschichte der Schmerztherapie zeigt er anhand eindrücklicher Beispiele, wie medizinischer Fortschritt und gesellschaftliche Änderungen miteinander korrespondierten.

Vita

PD Dr. Wilfried Witte, M.A., ist Historiker und Arzt; er arbeitet als Oberarzt für Anästhesie und Intensivmedizin an der Charité in Berlin.

Inhalt

1.Einführung

1.1Schmerztherapie als Therapie aus den USA

1.2Translation, Biomedizin und Übertragung in der Geschichte der Emotionen

1.3Kybernetik und vegetatives Nervensystem

2.Heroismus, Pessimismus und Subjektivität

2.1Schmerz und Spiel: das Beispiel des Handballs

2.2Helden des Krieges: Ernst Jünger

2.3Titanen des Schmerzes: Carl Fervers

2.4Patienten mit Schmerzen: Ferdinand Sauerbruch

2.5Katholischer Schmerzheroismus und Anästhesie

2.6Kulturpessimismus des Schmerzes

2.7Subjektivität des Schmerzes: Henry Beecher und George Engel

3.Vegetativum und Neuraltherapie bis etwa 1970

3.1Kopfschmerzen

3.2Impletol als Wunderwaffe

3.3Leriche und der Sympathicusschmerz

3.4Nonnenbruch, Dieter Gross und die Bayer-Werke

3.5Speransky und von Roques

3.6Theorie über das Nervensystem

3.7Anästhesiologie und Anästhesietherapie

3.8Akupunktur in der frühen Bundesrepublik

4.Die neurochirurgische Schmerztherapie

4.1Otfrid Foerster

4.2Lobotomie als Operation und als Metapher

4.3Stereotaxis und »Gate Control«-Theorie

5.Bedeutungswandel des Schmerzes: Phantomschmerz in der Bundesrepublik

5.1Kriegsversehrtheit

5.2Das Bundesarbeitsministerium

5.3VdK-Lobbyismus und die Empfehlungen des Unterausschusses

5.4Der Forschungsauftrag

5.5Phantomschmerz in den 1980er Jahren

6.Die Asiatische Reise: der Akupunktur-Boom in den 1970er Jahren

6.1Die Traditionelle Chinesische Medizin

6.2China und der Westen

6.3Endorphine und elektrisch verstärkte Akupunktur

6.4Die Reise gen Osten

6.5Mildred Scheel und die Akupunktur

6.6Explosion an Meldungen

6.7Johannes Bischko

6.8Akupunktur und Anästhesiologie

6.9Horst Ferdinand Herget

6.10Akupunktur und Markt

6.11Manfred Köhnlechner

6.12Die Bewertung elektrisch verstärkter Akupunktur

6.13Die Rezeption der Akupunktur

7.Krebsschmerz in der Bundesrepublik

7.1Tumorschmerz-Therapie in Großbritannien

7.2Der Film über St. Christopher’s

7.3Onkologie in Heidelberg

7.4Die »Deutsche Krebshilfe«

7.5Therapie mit Opioiden

7.6Die WHO-Dreistufenleiter

8.Therapie chronischer Schmerzen: die Schmerzklinik als Institution

8.1Rudolf Frey

8.2Institutionalisierung der Schmerzklinik

8.3Die Schmerzklinik in Mainz

8.4Öffentlichkeit für die Schmerzklinik

8.5Das Deutsche Schmerzforschungszentrum

8.6Frey und die rheinland-pfälzische Politik

8.7Die Herausforderung des Terrorismus

8.8Popularisierung des Konzepts

8.9Das Schmerzzentrum Mainz

9.Exkurs: Therapie chronischer Schmerzen in der DDR

9.1Physiotherapie in der DDR

9.2Bioklimatologie

9.3Ivan Petrowič Pavlov

9.4Bandscheibenvorfall und manuelle Therapie

9.5Manuelle Therapie nach tschechischem Vorbild

9.6Russische Reflextherapie

9.7Elektrotherapie

9.8Akupunktur in der DDR

9.9Schmerz und Anästhesiologie in der DDR

9.10Schmerztherapie an der Charité

9.11Die Sektion Schmerztherapie

9.12Krebsschmerztherapie, Rückenschmerzen und die Bilanz der DDR-Schmerztherapie

10.Rückenschmerz, Psychologie und die Versorgung von Schmerzpatienten in den 1980er Jahren

10.1Rheumatismus

10.2Der Bandscheibenvorfall

10.3Failed back surgery syndrome

10.4Verhaltenstherapie

10.5Functional restoration

10.6Psychologische Schmerztherapie

10.7»Schmerz – Chronik einer Krankheit«

10.8Versorgungsstrukturen in der Bundesrepublik

10.9Schmerz als Forschungsthema

10.10Die »Deutsche Schmerzhilfe«

10.11Das SCHMERZtherapeutische Kolloquium

11.Zusammenfassung

Abkürzungen

Abbildungsnachweis

Verzeichnis verwendeter Archivalien, Literatur, Medien und Interviews

A.Archive

B.Zeitschriften, Periodika (Jahrgänge)

C.Filme

D.Hörbuch

E.Interviews (unveröffentlicht)

Persönlich geführte Interviews

Telefon-Interviews

E-Mail-Auskünfte

F.Privatarchive, Vorlässe und Nachlässe zur Geschichte der Schmerztherapie

G.Gedruckte Sekundärliteratur sowie Online-Quellen

Sachregister

Personenregister

1.Einführung

Frauen mussten unter Schmerzen gebären, Kleinkindern wurde die Schmerzempfindung abgesprochen, Männlichkeit zeichnete sich durch Gleichmut gegen Schmerzen aus – das galt in weiten Teilen noch bis zum Ende des 20. Jahrhunderts. Solche Auffassungen sind aber nicht mehr en vogue, es hat sich etwas geändert. Deren Akzeptanz ist geschwunden, in Deutschland wie in anderen Ländern. Die Auffassungen über Schmerzen sind nicht immer deckungsgleich mit dem, was »Experten« über Schmerz sagen. Wie haben sich Experten in diesem Wandlungsprozess des Schmerzes angenommen und wie war dies in Einklang zu bringen mit den Erwartungen derjenigen, die unter den Schmerzen litten, den Patientinnen und Patienten? Verortet wird die Expertenschaft allgemein bei der Medizin oder den Natur- und Kulturwissenschaften, wobei das letzte Wort viele für sich reklamieren.

Das 20. Jahrhundert zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass die Deutungshoheit darüber, was Wissen ist und was dann zu wissen war, wenn nicht ideologische Bevormundung griff, zu einem großen Teil den Wissenschaften zugesprochen wurde [114]1. Auf die eine oder andere Weise gerieten Debatten, die in den Wissenschaften geführt wurden, auch in breitere Kreise der Bevölkerung, ohne dass ursprüngliche theoretische Ansätze dann noch aufzuspüren sein mussten. So verhält es sich beispielsweise mit einer Studie der US-amerikanischen Literaturwissenschaftlerin Elaine Scarry [681], die in den Kulturwissenschaften seit 1985 weite Kreise zog, während sie durch die Radikalität ihres Ansatzes seither das Potential hat, außerhalb von fachwissenschaftlichen Erörterungen Verwirrung zu stiften. Ohne religiöse Auslegungen bemühen zu müssen, betrachtete Scarry Schmerz und das Zufügen von Schmerzen in einem Zusammenhang. Im Extrem der Folter oder des Krieges würde die Welt des Opfers zerstört. Kulturelle Schöpfungen seien in der Lage, gerade das Gegenteil zu bewirken – indem der menschliche Körper nämlich befähigt würde, sich durch ihre Anwendung der zerstörerischen Kraft des Schmerzes zu widersetzen und ihn zu überwinden. Scarrys universell angelegter Erklärungsansatz wirft auch ein Schlaglicht darauf, dass das Streben nach dem ganz großen Wurf – was ist das Wesen des Schmerzes, lautet hier die Gretchenfrage – unendlich viel Platz lässt für Details, Interpretationen, subtile Differenzierungen, aber auch für prätentiöses Auftreten, wie es sich in anderen Publikationen niedergeschlagen hat. Denn es gibt keine Begriffe in den Kulturwissenschaften, die noch universeller angelegt sein können als die Begriffe »Kultur« und »Schmerz«. Zum anderen ist Scarrys Monografie The Body in Pain (Der Körper im Schmerz) aus dem Jahr 1985 selbst schon ein (zeit-)historisches Dokument, indem es die politischen Bedingungen der Reagan-Ära in den USA widerspiegelt. Ab 1981 wurden Patienten, die unter chronischem Schmerz litten, im konservativen politischen Klima der USA argwöhnisch beäugt, da man »gelernte Hilflosigkeit« als gängigen verursachenden Faktor ansah und diejenigen, die darunter litten, wegen ihrer Schwäche anklagte [850]. Scarrys Studie kann als Stellungnahme gelesen werden, die Bestrebungen, lang andauernden, chronischen Schmerzen medizinisch zu Leibe zu rücken (»management of pain«), nicht zu unterbinden. Sie ist selbst politisch, was zugleich ein Schlaglicht darauf wirft, dass die Geschichte der Schmerztherapie immer auch Politikgeschichte ist.

Schmerzen sind eine Empfindung, Schmerz ist aber auch ein Gefühl. Die Beschäftigung mit Gefühlen ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts in der Philosophie und in den Kognitionswissenschaften in den Vordergrund gerückt. Dabei herrscht kein Konsens bei der Beantwortung der Frage, ob und wie »Emotion« und »Gefühl« voneinander abzugrenzen sind. Der Neurowissenschaftler António Damásio beispielsweise hat in seinem Buch Self comes to mind eine Theorie entwickelt, in der er »Gefühl« zum Derivat von »Emotion« erklärt [137]. In einem großangelegten »Philosophy of Mind«-Projekt haben Bennett und Hacker 2003 sprachphilosophische Klarheit im Begriffsrepertoire der Neurowissenschaften angestrebt. Emotionen sind demnach als Unterklasse der Affektionen anzusehen, und Affektionen könnten allgemein in Emotionen, Erregungen und Stimmungen eingeteilt werden. Weiter heißt es: »Affektionen sind Gefühle, kategorial aber von solchen Gefühlen zu unterscheiden, die Empfindungen, taktile Wahrnehmungen oder Triebe sind« [56].

Geschichtswissenschaftler wiederum haben darauf hingewiesen, dass landessprachliche Unterschiede bei der Etablierung des Begriffs »Emotion« eine Rolle gespielt haben. Dieser ist – im Unterschied zum »Gefühl« – neueren Datums. Um 1900 sprach man beispielsweise im Deutschen von »Gefühlen«, »Empfindungen« oder »seelischen Regungen«, im Französischen von »sentiments«, während der Begriff »emotion« im Englischen in den 1880er Jahren von William James und Carl Lange eingeführt worden war [766]. Die Rede von Gefühlen, Affekten oder Stimmungen begann sich diskursiv auf den Begriff der Emotion zu konzentrieren [680]. Dies scheint auch Ausdruck des Bestrebens gewesen zu sein, den entsprechenden Gegenstandsbereich in der naturwissenschaftlichen Forschung besser bestimmen zu können.

Das »Labor« der naturwissenschaftlich ausgerichteten Forscher sollte demgegenüber bewusst rational sein. Folgt man den Ergebnissen der historischen Labor-Studien (Experimentalsystem-Analysen) des israelischen Medizinhistorikers Otniel E. Dror, entsprach es bis in die 1920er Jahre, der Zeit der Klassischen Moderne [593], sowohl dem Denkstil der Physiologie wie auch jenem der Psychologie, dass Emotionen im emotional neutralen Labor gezielt und isoliert hervorgebracht werden sollten [176]. Im »Maschinenmodell« des menschlichen Körpers, wonach der Körper als berechenbare Maschine interpretiert wurde, waren es jedoch gerade die Störungen im experimentellen Ablauf des Labors, die als Emotion imponierten. Sie repräsentierten das Nicht-Mechanistische, Vitalistische [175]. In seiner Analyse der Schmerzforschung im 19. Jahrhundert beschäftigt sich Dror mit viszeralen Emotionen (Emotionen, ausgedrückt in Vorgängen innerer Organe), die indirekt experimentell ›gemessen‹ wurden. Er nimmt dabei Bezug auf die Methodik naturwissenschaftlichen Arbeitens im Labor: »The turn to the viscera in the study of emotions and the construction of visceral emotions partly drew on and grew out of the physiology of pain« [177]. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts konzentrierten sich die Physiologen laut Dror dann auf adrenalin-gesteuerte emotionale Regungen, die im Labor erzeugt und untersucht wurden [178].

Das vorliegende Buch ist jedoch keine Experimentalsystem-Analyse, und es geht in ihm auch nicht um die Schmerzforschung als solche. Menschen mit chronischen Schmerzen wandten sich hilfesuchend an Therapeuten, deren Aufgabe es war, (Ab-)Hilfe zu leisten. Ihr Repertoire gründete auf die eine oder andere Weise auf Theorien, die allgemein vertreten wurden. Diese theoretischen Einflüsse werden zwar genannt und erläutert, aber der Schwerpunkt liegt auf der praktischen Tätigkeit der Therapeuten. Der Grund für diese Fokussierung ist folgender. Auf den ersten Blick erscheint es als paradox, dass einerseits so viel über Schmerz geschrieben werden kann, als sei das Phänomen Schmerz konturlos oder in seiner Bedeutung uferlos. Andererseits hat schon Elaine Scarry erläutert, dass die Erfahrung des Schmerzes in letzter Konsequenz nicht mitteilbar ist. Der vorliegenden Untersuchung liegt die Annahme zugrunde, dass es eine sinnvolle Vorgehensweise sein kann, diese Klippe zu umschiffen, indem historische Entwicklungen des Umgangs mit chronischen Schmerzen in therapeutischen Zusammenhängen erörtert werden. Dabei ist das Spezifikum des 20. Jahrhunderts in dem Umstand zu sehen, dass sich die Rede vom chronischen Schmerz erst zu etablieren begann.

Wer von Schmerztherapie redet, meint zumeist die Therapie chronischer Schmerzen. Dem spanischen Wissenschaftshistoriker Javier Moscoso ist es in seiner umfassenden, im essayistischen Stil verfassten Monografie zur Geschichte des Schmerzes in der westlichen Welt gelungen, eine Antwort auf die Frage zu geben, wie Menschen in vorvergangenen Jahrhunderten das empfunden haben, was seit dem 20. Jahrhundert als »chronischer Schmerz« verstanden wird: »Although we may be tempted to think that the chronic nature of pain has affected humanity as a whole throughout history, it is not necessary true that those who suffered from chronic ailments were always considered sick with them.« [547]. Es war also auch dann von einer vorhandenen Instanz auszugehen, wenn nicht oder kaum von »chronischen Schmerzen« die Rede war. Aber Schmerztherapie verstanden als Therapie chronischer Schmerzen hat es in einem nennenswerten Umfang vor dem 20. Jahrhundert nicht gegeben. Im 21. Jahrhundert dagegen beginnt es sich einzubürgern, von Schmerzmedizin zu sprechen: nicht nur, um zu betonen, dass der Diagnostik ein großer Stellenwert zukommt, sondern auch, um zu verdeutlichen, dass die Therapie selten darauf abzielen kann, den Schmerz in Gänze zu beseitigen.

1.1Schmerztherapie als Therapie aus den USA

Schmerztherapie ist nicht gleichbedeutend mit Schmerzbekämpfung, wird jedoch häufig damit in eins gesetzt. Mit Schmerztherapie ist in dieser Studie die Therapie chronischer Schmerzen gemeint, wenn dies nicht anders gekennzeichnet ist. Chronischer Schmerz als eigenständiges Krankheitsbild, nicht allein als Symptom einer Grunderkrankung, ist erst vor vergleichsweise kurzer Zeit wahrgenommen worden.

Der sogenannte Äthertag am 16. Oktober 1846, an dem in Boston die erste gelungene Inhalationsnarkose über eine mit einem Schwamm gefüllte Glaskugel öffentlich demonstriert wurde, gilt als der Beginn der modernen Schmerzbekämpfung [2, 186, 503].2 Besonders im späten 19. Jahrhundert wurden die neuen Möglichkeiten, unter Schmerzausschaltung chirurgische Operationen vorzunehmen, als Sieg über den Schmerz gefeiert (Anästhesie-Narrativ des Schmerzes) [508, 703]. Sie legten den Grundstein für die Entwicklung der modernen Chirurgie. Zur Allgemeinanästhesie (Narkose) kam in den 1880er Jahren die Lokalanästhesie hinzu. Erlangte die Narkose gegen Ende des 19. Jahrhunderts den Nimbus, den Schmerz besiegt zu haben, so entwickelte sich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts gerade die Lokalanästhesie (Regionalanästhesie) zu demjenigen Betätigungsfeld der Anästhesie, das auch bei chronifizierten Schmerzprozessen zur Anwendung kommen konnte.

Die Regionalanästhesie bildete einen Grundstock für die zum Ende des Zweiten Weltkriegs in den Vereinigten Staaten begründete Schmerztherapie [106]. Dabei ging es vorrangig um chronische Schmerzen, die sich nicht mehr auf ein Warnsymptom einer Grunderkrankung des Patienten reduzieren ließen, sondern eine eigenständige Krankheit, die Schmerzkrankheit, bezeichneten [42].

Gleichzeitig begann jedoch auch die Grundlagenforschung rund um die Schmerztherapie, die keine reine Laborforschung mehr war und sich vor allem pharmakologisch orientierte. Die damalige experimentelle Anästhesiologie geht vorrangig auf Henry Beecher (Boston) [496] zurück, die klinische Schmerztherapie auf John Bonica (Seattle). Zwischen Bonica und Beecher hat es zwar in den frühen 1950er Jahren einen persönlichen Kontakt gegeben [86], zu einem näheren fachlichen Austausch oder einer professionellen Zusammenarbeit kam es jedoch nicht [762]. In der Regel werden die Anfänge in der Entwicklung der Schmerztherapie an der Person Bonicas festgemacht, da sein Zugang, das »management of pain« (Schmerzmanagement), von vornherein therapeutisch gewesen ist. Konfrontiert mit einer übergroßen Anzahl an schmerzgeplagten Patienten im pazifischen Kriegsgebiet hat Bonica als Militärarzt gegen Ende des Zweiten Weltkriegs damit begonnen, verschiedene Methoden der Regionalanästhesie zu verwenden. Davon ausgehend machte er sich daran, alle bekannten medizinischen Möglichkeiten zur Schmerzbekämpfung schriftlich zusammenzustellen. Es handelte sich um einen rein pragmatischen Ansatz. Theoretische Ansätze, die schließlich dem »Schmerzmanagement« zugerechnet wurden, sind erst später integriert worden [81, 86, 87, 88].

Die weitere Entwicklung hin zur interdisziplinären Schmerztherapie wird anästhesiehistorisch als Erweiterung der auf regionalanästhetischen Methoden beruhenden Schmerztherapie verstanden. Im Zentrum steht dabei die »Gate Control Theory« (Kontrollschranken-Theorie) von 1965, deren Rezeption einen Ausgangspunkt dafür bildete, physiologische und psychologische Überlegungen zu vereinen und Vorstellungen über ein komplexeres Zusammenspiel von Umweltfaktoren beim jeweiligen Schmerzerleben zu entwickeln. Davon ausgehend sind numerische und andere eindimensionale Schmerzskalen sowie schmerzbeschreibende Inventare in den 1970er Jahren in die Schmerztherapie eingeführt worden, um neben der laborgestützten Messung von Schmerzen an gesunden Probanden auch den subjektiven Ausdruck von Schmerzpatienten abschätzen zu können [788, 789]. Einflüsse aus der Psychiatrie, der Psychosomatik und der Verhaltensmedizin waren maßgeblich bei der Begründung des »biopsychosozialen Modells« in der Schmerztherapie [202, 244, 468].

In der Geschichte der Schmerztherapie markiert die Betonung des substantiellen Charakters von Emotionen in der Schmerzwahrnehmung, d. h. von Schmerz als Emotion und von Schmerzempfindung als »Embodiment« (Verkörperlichung), jenen Wandel, den die Therapie chronischer Schmerzen seit den 1970er Jahren anstrebte: Der multi- bzw. interdisziplinäre Ansatz drückte ein neues Konzept von »mind-body medicine« aus [344], deren Leitvorstellung das sogenannte »biopsychosoziale Modell« wurde. Neben biologischen Ursachen sollten im therapeutischen Prozess nun auch psychologische und soziale Bedingungsfaktoren der Schmerzentstehung und -unterhaltung konsequent berücksichtigt werden. Das Modell war zuerst von dem US-amerikanischen Psychiater George Engel formuliert worden, der dies in bewusster Abgrenzung vom biomedizinischen Modell des Schmerzes tat, das seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs begonnen hatte, die Medizin anzuleiten [110, 202, 876].

1.2Translation, Biomedizin und Übertragung in der Geschichte der Emotionen

Therapeuten – vor allem Ärzte – sind Gegenstand dieses Buches. Der dabei gewählte Zugang zur Geschichte der Schmerztherapie in Deutschland richtet sich an der Vorstellung der Übertragung, der Translation, aus. Für die Übertragung medizinischen Wissens hat sich der Begriff der »translational medicine« etabliert, der zu Beginn der 1970er Jahre in die Medizin eingeführt wurde, um das Bestreben zu kennzeichnen, biomedizinische Forschungsergebnisse schneller in die klinische Versorgung von Patienten zu integrieren: »from bench to bedside«, von der Werkbank (also dem Labor) zum Krankenbett [879]. Der Anspruch, im Sinne einer »translational medicine« vermehrt klinische Forschung wie auch Grundlagenforschung in die klinische Praxis zu integrieren, ist in der biomedizinischen Debatte mittlerweile sehr verbreitet [536, 569, 730].

Damit einher gingen auch die Anfänge der sogenannten evidenzbasierten Medizin, die sich darum bemühte, die Lücke zwischen »evidence«3 und Praxis vorrangig mittels geeigneter klinischer Studien zu schließen [485]. In den 1960er und 1970er Jahren erlangten die sogenannten randomisierten, doppelt-verblindeten Studien4 – zunächst in den USA, dann in Europa – den Ruf, das höchste Maß an Objektivität zu repräsentieren [645]. Dies war von zentraler Bedeutung, denn Objektivität galt seit dem 18. Jahrhundert als übergeordnetes Ziel wissenschaftlicher Bestrebungen [143, 868]. Im Jahr 1976 ist schließlich das Instrument der Meta-Analyse von klinischen Studien begründet worden [570], d. h. von wissenschaftlichen Analysen, die mit statistischen Methoden die Ergebnisse vieler anderer Untersuchungen zu einem bestimmten Thema bündeln. Das Konzept der »translational medicine« ist aber auch in der Wissenschaftsgeschichtsschreibung herangezogen worden, um – im Rahmen der »science studies« – die Begründung der biomedizinischen Forschung [423] nach dem Zweiten Weltkrieg zu kennzeichnen, die ganze Forschungslandschaften überhaupt erst entstehen ließ, die vorher nicht denkbar gewesen waren [810]. Ilana Löwy hat dies zum Beispiel für die Immunologie (Interleukin-2 in der Krebstherapie) ausgeführt [497].

»Tatsachen« sind nicht in Stein gemeißelt, sie entstehen und existieren in einem bestimmten Kontext. Wissenschaftsphilosophisch ist, nach Ludwik Fleck, die Übertragung von »Wissen« (Labor) in »Praktiken« (Klinik) auf den gemeinsamen Bezugspunkt der wissenschaftlichen Tatsache zurückzuführen [226]. Die Schmerzempfindung als (patho-)physiologischen Prozess zu verstehen, bedingte die »Tatsache«, dass der Körper und seine Empfindungen substantiell seien, wenn es um Schmerz geht. Emotion hingegen erschien tendenziell als zufällig oder beliebig. Der französische Wissensschaftshistoriker Georges Canguilhem hat für die westliche Medizin des 19. Jahrhunderts herausgearbeitet, dass das Pathologische lediglich als eine Erweiterung des Normalen [118] gegolten habe. Das heißt, dass Krankheit und Gesundheit nur als graduelle Unterschiede ein und desselben Phänomens galten. Laut Keating und Cambrosio ist diese Überzeugung konstitutiv für die Biomedizin, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstand [423]. Die Praxis der Therapie chronischer Schmerzen in den ersten Nachkriegsjahrzehnten widersprach dem jedoch immer mehr. Die Ineinssetzung des Normalen mit dem Pathologischen beim Schmerzempfinden überzeugte nicht, da sich chronische Schmerzen als etwas darstellten, was nicht allein physiologisch zu bestimmen, zu erklären und entsprechend zu therapieren war. Damit überschritt das Phänomen des chronischen Schmerzes den Bereich der Sinnesphysiologie und überschnitt sich mit dem Psychischen und dem Emotionalen [280]. Dies findet inzwischen auch Widerhall in der analytischen Philosophie, wo Schmerz als Widerpart von Lust aufgefasst wird. Schmerz ist dort das, was man nicht anstrebt und als schlecht angesehen wird. Der New Yorker Philosoph Thomas Nagel unterscheidet »Schmerz« und den dazugehörigen »Gehirnzustand« in der Weise, dass Schmerz etwas Zusätzliches zu sein scheint, das vom Hirnzustand eher hergestellt wird, als dass es ihn ausdrückt [558].

In einem erweiterten Sinn soll der medizinische Translationsbegriff in drei Ausprägungen im vorliegenden Buch verwendet werden. Die Bedeutung des Begriffs der Translation in der Medizin wird nicht verkürzt auf die Übertragung von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen der klinischen Forschung und der Grundlagenwissenschaften in die medizinische Praxis. Neben einer Translation naturwissenschaftlicher sollen auch erfahrungsheilkundliche Ansätze in der medizinischen Praxis berücksichtigt werden (methodische Übersetzung) – ungeachtet dessen, wie man sie selbst im Einzelnen beurteilt. Einflüsse aus Tschechien, der Sowjetunion oder aus Großbritannien haben auf Entwicklungen in Deutschland ebenso eingewirkt wie diejenigen aus den USA. Deshalb ist es wichtig, Translationen über Ländergrenzen hinweg zu behandeln (transnationale Übersetzung). Schließlich sollen auch kulturelle Übersetzungsprozesse beachtet werden (kulturalistische Übersetzung).

In der Geschichtswissenschaft wird der schmerzhafte »Gehirnzustand«, der Empfindung und Gefühl zugleich ist, zunehmend im Kontext einer Geschichte der Emotionen behandelt. Die Emotionengeschichte entwickelte sich dabei zeitlich parallel zur Konzeption von »mind-body medicine«, wobei Emotionen in den Geistes- und Sozialwissenschaften allgemein ab den 1960er Jahren »zu einem populären Thema« avancierten [855]. Die »women’s history« in den 1970er Jahren legte den Grundstock für die breite historiographische Beschäftigung mit Emotionen, die ab der Mitte der 1980er Jahre einsetzte. Wegweisende Beiträge zur Emotionsgeschichte stammen von Peter Stearns, William Reddy und Barbara Rosenwein [604, 605].

Ungefähr mit dem Übergang zum 21. Jahrhundert etablierte sich der Teilbereich der Emotionsgeschichte in der Geschichtswissenschaft. Seit dem Jahr 2006 bürgerte sich die Wendung vom »emotional turn« [29] ein, womit die Hinwendung zu den Emotionen in einer kulturwissenschaftlichen Betrachtung gemeint ist. Die Historikerin Ute Frevert, die sich bereits seit längerem mit dem gesamten Gegenstand beschäftigt, spricht von einer »Geschichte der Gefühle«, in der es darum gehe, die historisch wirkmächtige Normierung und Variabilität von Gefühlen in der Geschichte im interkulturellen Vergleich zu ergründen [256, 257, 258, 259]. Synonym wird jedoch auch von Emotionsgeschichte gesprochen [604].

Bereits im Jahr 2000 hatte Frevert darauf hingewiesen, dass Liebe, Zorn oder Furcht zu den Gefühlen gehören, die in der Psychologie und Soziologie am häufigsten untersucht werden, während Schuld, Scham oder Schmerz dagegen relativ wenig Beachtung gefunden hätten [255]. Das grundlegende Verhältnis von Kultur und Schmerz ist vielfältig thematisiert worden [58], so z. B. von Scarry, ebenso die Ästhetik des Schmerzes [96, 365, 506, 531, 614]. Dabei zeigte sich u. a., dass es nicht zu allen Zeiten der körperliche Schmerz war, der im Vordergrund stand, wenn das Wesen des Schmerzes erörtert wurde. Die erkenntnistheoretische Wende hin zum Körperschmerz, die im 19. Jahrhundert stattfand, hat Christians dargestellt [124].

Auch Patienten sollen Gegenstand dieser Arbeit sein. Ein emotionshistorischer Zugang erscheint dabei als ideal. Eine Emotionsgeschichte des Schmerzes unterliegt jedoch methodischen Problemen. Es stellt sich prinzipiell die Frage – darauf hat Bettina Hitzer hingewiesen –, wie Gefühle, die nicht immer ausgedrückt, sondern häufig ›nur‹ individuell gelebt werden [375], als historische Praxis freigelegt werden können. Wenn von Schmerzpatienten die Rede ist, ist es schwierig, den Wandel ihres Schmerzausdrucks, der mit der Entwicklung der Schmerztherapie korrespondierte, zu erfassen.

Einen konzeptionellen Ansatz, wie sich emotionale Übertragungen (Translationen) in der Geschichtswissenschaft verstehen und integrieren lassen, haben kürzlich die Historikerinnen Margrit Pernau und Imke Rajamani formuliert [589]. Sie unterscheiden drei Übertragungsprozesse im emotionalen Ausdrucksverhalten, die historisch wirksam werden. Die erste »emotionale Translation« drückt demnach aus, dass soziale Erfahrungen sich in Körpererfahrungen manifestieren. Ein emotionaler Ausdruck, der einem sozialen Kontext entstammt, ist im Entstehen begriffen, wird aber noch nicht explizit ausgedrückt. Dabei gilt: Die Körpererfahrung selbst ist nicht von überzeitlicher Geltung, sondern historischer Natur (»Body and Senses«). Die zweite Übertragung drückt aus, dass es einer medialen Vermittlung bedarf, um Bedeutungen im Denken und Sprechen über Emotionen generieren zu können (»Interpretation through Multimedia Sign Systems«). In der dritten Übertragung werden Emotionen und ein damit verbundener körperlicher Ausdruck zu einem vermeintlich selbstverständlichen Vorgang – sie werden praktiziert. Dabei gelte: Emotionen werden eher vollzogen, als dass man sie hat (»Bodily Practices«). Die vorliegende Untersuchung stellt den Versuch dar, diese Übertragungen, soweit die vorliegenden Quellen dies gestatten, zu identifizieren. Im Kern geht es darum, inwieweit emotionale Translationen, wie Pernau und Rajamani sie umschrieben haben, das Schmerzempfinden so veränderten, dass Schmerztherapie zum Erfordernis der Zeit wurde.

Als Bezugspunkt für die Übertragungen in der »translational medicine« stellte sich während der Recherchen wiederholt die Kybernetik heraus. Sie erschien wiederholt wie eine Art Grundrauschen, wenn menschliches Verhalten als abhängig von der »Gesellschaft« aufgefasst wurde, in der die Menschen leben. Obwohl das biopsychosoziale Modell des Schmerzes gerade nicht das Maschinenmodell des Menschen reformulieren wollte, waren es doch gerade technische Fragen, die im therapeutischen Kontext kybernetisch relevant erschienen. Was ist unter Kybernetik zu verstehen? Als Begriff kursierte sie im 20. Jahrhundert lange Zeit, bevor gegen Ende des 20. Jahrhunderts die Faszination für diese Leitwissenschaft verblasste. Inzwischen ist sie jedoch wieder im Kommen.

1.3Kybernetik und vegetatives Nervensystem

»Das Wort ›Kybernetik‹ löst sowohl bei Fachleuten als auch bei Laien die verschiedensten Vorstellungen aus. Während jedoch die Fachleute lediglich verschiedener Meinung darüber sind, welche Bereiche eines immer umfassender werdenden wissenschaftlichen und technischen Sachverhalts als Kybernetik bezeichnet werden sollen, verbindet der Laie mit dem Wort ›Kybernetik‹ oft recht vage und mystische Vorstellungen.« [829]

Während sich in dieser Stellungnahme, verfasst zu Beginn der 1970er Jahre, einerseits das Selbstbewusstsein des Experten der sich entwickelnden Wissensgesellschaft ausdrückt, bezeichnet sie andererseits die Verwirrung, die von dem Begriff der Kybernetik ausging.

Als Wissenschaft der Regelung und Nachrichtenübertragung in Lebewesen und in Maschinen war die Kybernetik im und nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA und Großbritannien entstanden [349, 354, 442, 751, 870]. Im direkten Zusammenhang damit standen die System- und die Informationstheorie. In der Psychologie griff der Behaviorismus kybernetische Vorstellungen der »Informationsverarbeitung« auf [225]. In der Soziologie wurde es nun möglich, gesellschaftliche Entwicklungen nicht ausschließlich als Resultat von Entwicklungen zu sehen, die durch die zugrundeliegenden Bedingungen zwangsläufig vonstatten gingen [546]. Die Kybernetik ist auch in der Sowjetunion bereits in den 1950er Jahren kontrovers diskutiert worden [289].

Durch ihren weitgesteckten Rahmen unterlag Kybernetik stets der Gefahr, als Theorie sämtliche menschlichen und technischen Wirkmechanismen zu verwässern: »Cybernetics as a Theory of Everything« [602]. Inzwischen ist sie auf einer Meta-Ebene jedoch auch scharf akzentuiert worden. In der postmodernen Wissenschaftstheorie dominiert der Mensch-Maschine-Zusammenhang, für den die schillernde Bezeichnung »Cyborg« kreiert worden ist. Nach Donna Haraway sind Cyborgs »kybernetische Organismen, Hybride aus Maschine und Organismus«. Maschinen können demnach in Abgrenzung zu Tier und Mensch (Organismus) nicht mehr als Objekt gedeutet werden, in dem ›Geister‹ obwalteten. Im späten 20. Jahrhundert sei die »Differenz von natürlich und künstlich, Körper und Geist, selbstgelenkter und außengesteuerter Entwicklung« höchst zweideutig geworden [340]. Bezeichnet ist damit auch der Umstand, dass Kybernetik bald auf biologische Phänomene übertragen wurde, wofür sich die Bezeichnung Biokybernetik einbürgerte.

Erste Kybernetik-Tagungen fanden in West- und Ostdeutschland 1954 in Darmstadt, 1958 in Essen und 1962 in Ost-Berlin statt [769]. Das Denkmodell der Rückkopplung oder, bezogen auf das Nervensystem, der Reafferenz in der Biologie wurde dabei thematisiert. Zu dem sogenannten vermaschten Regelkreis in den Technikwissenschaften, bei dem Netzwerkknoten miteinander verbunden wurden (Parallelschaltung mehrerer einfacher Regelkreise), gesellte sich der biologische Regelkreis [849].

Abbildung 1: Vereinfachtes Modell eines biologischen Regelkreises aus dem Jahr 1954: der quergestreifte Muskel

Ende der 1960er Jahre und im Verlauf der 1970er Jahre wurden in der ärztlichen Presse der Bundesrepublik kybernetische Denkmodelle regelrecht populär. Im Juni 1968 informierte die ärztliche Wochenzeitung Selecta beispielsweise ihre Leser über einen Kybernetik-Kongress, der im April 1968 in München stattgefunden hatte. Der Bericht vermittelt ein Bild davon, dass die zunehmende Verbreitung der Computertechnologie in einer kybernetisch verstandenen Gesellschaft auch Ohnmachtsgefühle vermitteln konnte. So hieß es etwa: »Inmitten einer Welt bedrohlicher Denkmaschinen, propagiert durch die sensationssüchtige Boulevardpresse, fühlt sich der Zeitgenosse mit seinen körperlichen und geistigen Attributen ziemlich hilflos und der kybernetischen Technik weit unterlegen.«5 In einer Artikelserie im Deutschen Ärzteblatt im Jahr 1969 erörterten zwei Strahlenbiologen die Perspektiven von »Futurologie und Medizin«, wobei sie versuchten, Systemtheorie, Informatik und Kybernetik systematisch zu verbinden.6 Im Jahr 1977 stellte ein Autor im Ärzteblatt »Untersuchungen über ein kybernetisches Modell der sozio-ökonomischen Beziehungen« an, in denen Wirtschaft, Bevölkerungsentwicklung, Verkehr und nunmehr auch die Ökologie als Regelkreise präsentiert wurden. Auch hier bereitete die Mensch-Maschine-Analogie ein latentes Unbehagen.7 In einer naturheilkundlichen Zeitschrift wurden im Jahr 1980 die Wirkprinzipien von Akupunktur und Neuraltherapie, die Gegenstand des vorliegenden Buches sein werden, als verwandt angesehen und »biokybernetisch« gedeutet, und zwar »als gezielte Regulationstherapie«.8

Die Kybernetik schuf ein eigenes Bild vom Menschen. Bezeichnend für die kybernetische Anthropologie sind laut Stefan Rieger:

die technische Regelungslehre als Entwurf eines Weges, »den Menschen wieder zu sich selbst zu bringen« (in Fremdtechniken und Techniken des Selbst),

Rückbezüglichkeit und Nichtlinearität,

ein »rekursives Mandat moderner Individualität« [643].

In der gegenwärtigen Diskussion über die Geschichte der 1970er Jahre in der Bundesrepublik erfährt die Kybernetik große Aufmerksamkeit. Debattiert wird dabei u. a. die These, Systemtheorie und Kybernetik seien die zentralen Begriffe gewesen, die die »semantischen Transformationen in den 1970er Jahren« in vielen Bereichen angeleitet hätten.9

In dieser Studie wird Biokybernetik verstanden als Konzept zur Steuerung menschlichen Lebens, das sich als neues Denkmodell nach dem Zweiten Weltkrieg ausbreitete. Der Kerngedanke von »cybernetics as a postwar science« war die Adaption des Gehirns an Umweltbedingungen im weitesten Sinne (»adaptive brain«). Nach Andrew Pickering war das kybernetische Gehirn »not representational but performative, […] and its role in performance was adaptation.« [602] Dieser adaptive Steuerungsgedanke wird in der Medizin auf Überlegungen neurophysiologischen Ursprungs angewendet, wenn sie sich dem chronischen Schmerz widmete. Technische Rückkopplungen in der Therapie chronischer Schmerzen spielen zum Beispiel eine Rolle bei der Anwendung von Transistorgeräten10 als therapeutischen Apparaten. Transistorgeräte fungierten dabei als Indikatoren biokybernetischer Regelung [752]. Der behauptete Zusammenhang von adaptiver Steuerung und chronischem Schmerz trat aber auch im Hinblick auf das vegetative Nervensystem auf.

Das vegetative Nervensystem war in Deutschland zwar schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts Gegenstand physiologischer Untersuchungen,11 ist aber erst in den 1920er Jahren – hier noch mit der vitalistischen Vorstellung vom »Lebensnervensystem« – in der deutschen Medizin erörtert worden [554]. Seine Pathologie wurde dann ausführlich in den 1930er Jahren nach dem damaligen Stand des Wissens dargestellt [247]. Funktionsstörungen im Bereich des vegetativen Systems wurden jedoch gerade in der deutschen Medizin bis in die 1980er Jahre naturwissenschaftlich häufig vage und unsystematisch eingeordnet [690, 698].12 Gängig war seit den 1950er Jahren beispielsweise die Rede von der sogenannten »vegetativen Dystonie«.13

Als »basic neural networks« biokybernetischer Regelung wurden im westlichen Schrifttum Sympathicus und Parasympathicus identifiziert [751]. Konkurrierend orientierte man sich in der östlichen Literatur an der Neurophysiologie von Ivan Pavlov »und seinen Schülern«, um vegetative Phänomene systematisch zu ergründen [100]. Die Frage, ob und in welcher Weise die biokybernetische Steuerung des Vegetativums im Begründungsprozess der Schmerztherapie nach dem Zweiten Weltkrieg die wissenschaftliche Wahrnehmung des chronischen Schmerzes bestimmt hat, wird an verschiedenen Stellen des Buches wieder aufgegriffen.

Die Fragestellung, die dem Buch zugrunde liegt, kann grundsätzlich kurz in zwei Bedingungssätzen benannt werden. 1) Wenn man annimmt, dass es zwar schon immer Menschen gegeben hat, die an chronischen Schmerzen litten, diese aber bis ins 20. Jahrhundert oder zumindest über längere Zeiträume in der Geschichte als solche ignoriert wurden, was waren dann die entscheidenden Bedingungen, die es ermöglichten, diejenigen, die darunter litten, als Patienten mit einer Schmerzkrankheit zu identifizieren? B) Wenn es zutrifft, dass es für die Biomedizin nach dem Zweiten Weltkrieg kennzeichnend war, dass das Pathologische lediglich eine Ausdehnung des Normalen war, wie konnte sich dann die Schmerztherapie entwickeln, für die diese Annahme nicht zutrifft?

Die Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland bilden den Kern der Darstellung. Der Umstand, das keine vergleichende Studie zwischen den Verhältnissen in der Bundesrepublik und in der DDR erarbeitet wurde, erklärt sich daraus, dass die vorhandenen Quellen zu den beiden deutschen Staaten im Zeitraum von 1945 (1949) bis 1989/90 sehr verschiedenartig sind. Vergleiche anzustellen war gleichwohl zum Teil möglich. Dies gilt insbesondere für die Geschichte der Akupunktur-Rezeption. Der Geschichte der Schmerztherapie in der DDR ist, als Exkurs gekennzeichnet, ein eigenes Kapitel gewidmet. Als Quellengrundlage des Buches dienen unveröffentlichte Quellen aus öffentlichen und Privatarchiven, ebenso wie Mitteilungen von Zeitzeugen, Filme und die breit rezipierte Sekundärliteratur.14

2.Heroismus, Pessimismus und Subjektivität

Für die Nachkriegszeit und die Jahre bis ca. 1970 war das Erbe des Nationalsozialismus von zentraler Bedeutung. Die Therapie langanhaltender Schmerzen hatte in der Medizin in Deutschland und anderen Ländern lange Zeit allgemein keinen hohen Stellenwert. In Deutschland spielte dabei der Nationalsozialismus eine tragende Rolle. Der faschistischen Ideologie zufolge galt der soldatische, gestählte Körper als Ideal, das es ermöglichte, den Schmerz gering zu achten, so dass jegliches Schmerzempfinden relativiert wurde. Maximal leistungsfähige Körper wurden kultisch überhöht, wobei das Körperideal stets männlich war [158, 185, 772]. Das Erziehungsideal, das in der Tradition der »Schwarzen Pädagogik« stand [660], war von emotionaler Härte als Handlungsprinzip geprägt. Gegen Schmerzen sollte man abgehärtet sein oder abgehärtet werden [122, 330, 331, 507]. Für »Knaben« wie für »Mädchen« galt der Grundsatz, dass die »körperliche Ausbildung« (im Sinne einer Wehrerziehung) höchste Priorität haben sollte. Nachrangig waren die »Förderung der seelischen und zuletzt der geistigen Werte« [346]. Psychische Beeinträchtigungen, wie der oft apostrophierte »Nervenzusammenbruch«, waren etwas für schwache Naturen, die sich ihn »leisten« konnten.15 Die allgemeine Annahme, dass »Nervosität« als Ausdruck gelebter Psychopathie zu gelten habe [544], stand dabei in einer langen Diskurstradition des 19. Jahrhunderts [183, 623, 648].

Gleichwohl kann die reine Plausibilität gedachter Folgen ideologisierter Erziehung und Werteorientierung nicht als Beleg dafür dienen, wie mit chronifizierten Schmerzen tatsächlich umgegangen wurde. Dies gilt umso mehr für ihre Therapie, die ungeachtet des hohen Organisationsgrades der deutschen Ärzteschaft im Nationalsozialismus [722] nicht einfach als Umsetzung einer politischen Ideologie betrachtet werden kann. Die Selbstzuschreibungen zeitgenössischer Theorien vom ›guten Arzt‹ führen dabei auch nicht weiter, da sie den Patienten in der Arzt-Patient-Beziehung als vollständig abhängige, passive Person auffassten. Man erfährt durch sie nichts vom Patienten selbst, außer das, was der Interpretation des jeweiligen Verfassers entsprang. Das Arztbild der Zeit, das das Künstlertum des Arztes (nämlich von Leiden befreien zu können) pathetisch überhöhte [303], war dadurch geprägt, dass der wahre Arzt den Typus des Kranken erkannte und ihn lenkte, wobei Schmerz nichtsdestotrotz als diagnostisches Kriterium »des Arztes mächtigster Helfer« war, wie es beispielsweise zwei nationalsozialistische Medizinhistoriker hervorhoben [112, 545]. Die Rolle des Schmerzes war dabei zumeist diejenige des »Warners«, des »lebenslänglich wachen Hüters«. Doch auch jemand wie der Psychiater Alfred Hoche, ein Vordenker des nationalsozialistischen Patientenmords [335], konstatierte, dass es daneben Schmerzen gab, die nur »quälende Beigabe« und »grausamer Peiniger« waren, etwa im Fall von Krebs oder bei Tabes dorsalis (einem Spätstadium der Neurolues) [377].

Den verschiedenen Auffassungen über den Schmerz lagen Überlegungen über die Unterschiedlichkeit und Wandlung des Schmerzempfindens zugrunde. Die erste Ausgabe der Deutschen Zeitschrift zur Erforschung des Schmerzes und seiner Bekämpfung firmierte 1928 unter dem Titel »Schmerz« und änderte ihren Namen nach ihrer Vereinigung mit dem Konkurrenzblatt Narkose und Anaesthesie 1929 in Schmerz – Narkose – Anästhesie [296]. Darin ging es in erster Linie um praktische Fragen der Schmerzausschaltung bei Operationen. Wenn die Frage der Schmerzempfindung in der Bevölkerung erörtert wurde, stellte sich aber rasch eine Kritik ein, die sich auf den Typus des »Hysterischen« fokussierte. Im ersten Jahrgang kritisierte ein Gerichtsmediziner, dass es »nicht so selten« zu Darmoperationen komme »auf Grund übertriebener Schmerzbehauptungen von Hysterischen«.16 Im achten Band von 1935/36 beschwerte sich ein Internist und Medizinhistoriker darüber, dass die »hysterische Schmerzempfindlichkeit« lawinenartig zugenommen habe. Die hysterischen Schmerzen seien von den körperlichen Schmerzen zu unterscheiden und »durch geistige Ansteckungen« zustande gekommen [755]. Positionen wie diese erinnerten an die pessimistische Kulturkritik des ausgehenden 19. Jahrhunderts [648]. Sie sind für den heutigen Leser offenkundig ideologisch motiviert. Beim Versuch, die Ebene der deklamatorischen Ideologie wieder zu verlassen, stellt sich freilich die Frage, ob es tatsächlich Lebensbereiche (außerhalb der Medizin) gab, in denen ein positiver Schmerzbegriff obwaltete.

2.1Schmerz und Spiel: das Beispiel des Handballs

Positiv aufgefasst wird Schmerz von den meisten Menschen bis zur Gegenwart im Sport. Somit scheint sich Sport gut zu eignen, um das Problem der Bewertung von Schmerz zu betrachten, der durch spielerische Gewalteinwirkung zustande kommt und im ungünstigen Fall von dauerhafter Wirkung ist.

Sport genießt bestimmte positive Bedeutungszuschreibungen: Sport befindet sich ›in der Mitte‹ der Gesellschaft, Sport ist gesund, Sport ist Leidenschaft. Gehört der Schmerz dazu? »Schmerz bringt mich nicht um, ich besiege den Schmerz.«17 Wenn heutzutage eine Berufs-Tennisspielerin ihren vermeintlichen Stoizismus dem Schmerz gegenüber durch eine Tätowierung dieses Wortlauts zu Markte trägt, ist das Ausdruck des »mentalen Kapitalismus« (Georg Franck): In diesem ist Aufmerksamkeit die Währung, mit der bezahlt wird. Es zeigt aber auch eine Geisteshaltung, die in abgeklärterer Weise ein ehemaliger Profi-Tennisspieler kundtut, wenn er sagt: »Es ist ja nicht so, dass jemand sagt: Ich liebe Schmerz! Bei Sportlern geht es darum, sich höhere Schmerzgrenzen zu erarbeiten. Sind sie da, spiegelt sich das in wichtigen Situationen wider. Wer geht einen Schritt weiter? Wer beißt mehr? Wer will mehr?«18 Kann das noch gesund sein? Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt wöchentlich wenigstens 150 Minuten »körperliche Aktivität« (mäßig bis anstrengend) für 18- bis 64-Jährige als gesund [530]. Skaliert wird die körperliche Aktivität in sogenannten metabolischen Äquivalenten, das heißt im Hinblick auf ihre stimulierende Wirkung auf den Stoffwechsel. »Physical Activity« ist aber nicht dasselbe wie »Sport«, der sich vielmehr durch den Leistungsgedanken und den Wettkampf auszeichnet.19 »Physical Activity« verweist auf »Lifestyle public health« [64]. Ist es also vor allem ein Charakteristikum des Leistungssports, wenn Schmerz mit Sport assoziiert wird? An die Sportmedizin der Gegenwart wird die Forderung gerichtet, die Leidensfähigkeit der Sportler nicht auszureizen. Sportmediziner sind angehalten, dauerhafte Überbelastung abzulehnen: »Die Unterdrückung des biologisch sinnvollen Warnsignals Schmerz kann nicht Aufgabe einer sportmedizinischen Schmerztherapie sein.« [749] Sportverletzungen spielen gleichwohl nicht nur im Leistungssport eine große Rolle. Ende des 20. Jahrhunderts zogen sich in Deutschland jährlich 1 bis 1,5 Millionen Menschen Verletzungen durch Sport zu [473, 633].

Das sehr körperbetonte Handballspiel steht nicht nur in dem Ruf, den Teamgeist im Spiel im besonderen Maße einzufordern [352], sondern auch wesentlich robustere Spieler heranzubilden, als es zum Beispiel im Fußball üblich ist. Für die Handballer sind, so ist zu lesen, Schmerzen zwar das »Schlimmste« an ihrem Sport.20 Wenn sie sich auszeichnen im Sport, tun sie dies aber gerade dadurch, dass sie dahin vordringen, »wo es wehtut« – was nicht bildhaft gemeint ist.21 Damit sie das aushalten, ist es gängige Praxis, Schmerzmedikamente einzunehmen.22 Profi-Handballspieler, die mit Mitte 30 öffentlich eine abschließende sportliche Lebensbilanz ziehen, bewerten ihr Sportlerleben gemeinhin als positiv, auch wenn sie zum Beispiel gestehen: »Mein Knie fleht mich an«, aufzuhören: »Allein im rechten Knie hatte ich fünf Operationen. […] Ich habe eine chronische Arthrose. Und nach Spielen hab ich oft das Gefühl, dass das Knie platzt.«23

Gerade die Kontaktsportarten wie Handball, Boxen, Hockey oder Fußball sind dazu angetan, in der historischen Betrachtung als gewalttätig zu erscheinen. Sport, der mit Körperkontakt einherging, galt lange als unkultiviert und gar als »un-deutsch«. Sport war englischen oder, wenn er olympisch war, französischen Ursprungs [6]. Die »rational organisierte Konkurrenz« [196], die der britische Sport für sich in Anspruch nahm, stand im deutschsprachigen Raum nicht hoch im Kurs. Der Internationalismus der Sportbewegung war in Deutschland um die Jahrhundertwende eher verdächtig, und die sozioökonomischen Gegebenheiten der Industriegesellschaft wurden noch nicht auf das Phantasiegebilde des edlen antiken griechischen Sports projiziert. Die organisierte deutsche Sportbewegung begann sich erst in den 1890er Jahren zu entwickeln [659].

Die Sportmedizin orientierte sich seit der Dresdener Hygiene-Ausstellung 1911 zusehends physiologisch [162, 599, 800]. Dies geschah zu einer Zeit, als Sport noch als individualistisch, einseitig auf Rekorde hin ausgerichtet, potentiell herz-kreislauf-, leber- oder nierenschädlich sowie zum Beispiel durch Muskel-Disproportionen als verunstaltend galt, wie es noch auf dem »Ersten Kongreß zur wissenschaftlichen Erforschung des Sportes und der Leibesübungen« im Golf-Club-Hotel im thüringischen Oberhof im September 1912 hieß. »Leibesübungen« war ein Begriff, der alle Arten von Körperschulung umfasste, in den Augen vieler aber noch vor allem auf das (deutsche) Turnen, das der Volksgesundheit diene, abzielte. Das Verhältnis war ein hierarchisches: Der Vorturner zeigte, wie es ging, das Volk sollte in Scharen zusammenströmen und es ihm, in Formation stehend oder zumindest regelgerecht, nachtun. Dies geschah vorzugsweise im Freien. Noch im Jahr 1925, als der Wettkampfgedanke bei den Turnern schon Anklang gefunden hatte, hieß es in einer Handball-Zeitschrift: »Freie Luft und heller Sonnenschein sind an sich schon Lebenswecker und -erhalter, Freudesbringer und -förderer.«24 »Sportübertreibungen« galten – nach der in Oberhof im Jahr 1912 geäußerten Meinung der Experten – als gefährlich, gerade für das Herz. Ein großes Herz galt per se als krankhaft. Sport sollten in erster Linie jene treiben, die dazu im besonderen Maße taugten. »Blutarme« und Menschen mit schwachen Nerven sollten sich besser auf das Turnen verlegen, d. h. Sport eignete sich zum Beispiel nicht für Intellektuelle, insofern diese dem Bild entsprachen, das andere sich gemeinhin von ihnen machten. Radfahren galt als gefährlich, Golf als vorzeigenswert [108, 383, 699]. Die sich formierende Sportmedizin geißelte die Rücksichtslosigkeit gegenüber dem eigenen Körper. (Vor-)Militärische Übungen jedoch standen stets in dem Ruf, den Charakter in günstiger Weise zu formen.

Als die »Deutsche Hochschule für Leibesübungen« in Berlin 1920 gegründet wurde, zogen Sport- und Turnfunktionäre meist am selben Strick [427]. Ende 1922 jedoch flammte der Konkurrenzkampf wieder auf. Die Deutsche Turnerschaft verkündete, dass Turnen und Sport »reinlich« geschieden werden müssten – keine Spielabteilung durfte der Deutschen Turnerschaft und zugleich den Sportverbänden angehören [353, 583]. Zu diesem Zeitpunkt changierte Handball noch zwischen Turnen und Sport. Mit Bestimmtheit wurde jedoch die Ansicht vertreten, dass es sich um ein deutsches Spiel handelte. Es gab zwar diverse Vorläufer im In- und Ausland. Schon vor dem Ersten Weltkrieg wurde in Tschechien ein Handballspiel gleichen Namens, »Házená«, praktiziert. In Deutschland spielte der Regionalismus eine Rolle: Verbreitet waren zum Beispiel das »Wiesbadener Torballspiel« für Männer und der »Königsberger Ball« für Frauen. Das dänische Handball-Spiel (»Haandbold«) spielten während des Ersten Weltkriegs auch deutsche Soldaten [644]. Sportliche Übungen begannen dem Turnen und dem daran ausgerichteten Exerzieren den Rang abzulaufen [767].

Von 1917 bis 1920 befand sich Handball aber noch im Rang eines Turnspiels, nicht einer Sportart [535]. »Handball« (als Feld-Handballspiel) entstand unter diesem Namen in Berlin in der Zeit des Ersten Weltkriegs und war zunächst gar nicht dazu angetan, sich in die vormilitärische Tradition der Turnbewegung [301] einzureihen, da er als reines Frauenspiel konzipiert war. Die Männer gingen an die Front, Frauen hingegen übernahmen Arbeiten, die zuvor Männern vorbehalten waren. Der Grundgedanke des körperlichen Ausgleichs für die Frauen, die schwere körperliche Arbeit verrichteten, war leitend beim neuen Spiel [190]. Jeder »Kampf um den Ball« war beim Frauen-Handball allerdings ebenso verboten wie »jedes Laufen mit dem Ball«. Nach zweimal zwanzig Minuten war ein Spiel beendet. Als die Männer aus dem Krieg zurückkehrten, hielt es der Sportfunktionär Carl Diem für angebracht, das Handballspiel den Männern zuzuweisen. Der Geschlechtsstereotypie entsprechend bedeutete dies, dass Körperkontakt, der zuvor peinlich gemieden werden musste, zum Kernbestandteil der Sportart wurde: »Im Jahre 1919 begannen im alten Deutschen Stadion zu Berlin-Charlottenburg die ersten Versuche, dem neuen deutschen Kampfspiel ›Handball‹ Form und Inhalt zu geben.« [688] Auch dieses neue Handball-Spiel war Frauen nicht vollkommen verschlossen. Bis 1927 unterschieden sich die Regelwerke des Männer- und Frauenhandballs jedoch [212].

Handball steht in dem Ruf, schon in seiner Begründungsphase eine »ruppige« Sportart gewesen zu sein [195]. Der Schmerz-Diskurs des Handballs ist ein Gewalt-Diskurs, und die Behauptung, Handball sei besonders gewalttätig, zieht sich wie ein roter Faden durch seine Geschichte: Der Sporthistoriker Erik Eggers spricht von einer »Konstante der Handballgeschichte« [190]. Lässt sich daran also ablesen, wie sich das Verhältnis von Sport und Schmerz entwickelt hat? Zunächst lag nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg die Betonung auf dem Militärischen. In neueren sporthistorischen Untersuchungen, die sich mit den ersten Nachkriegsjahren und der Zeit der Weimarer Republik beschäftigen, wird der Aspekt von Sport als Wehrsport stets hervorgehoben: Als Ersatz für das mengenmäßig dezimierte Militär erhielt der Sport eine manchmal unterschwellige, zuweilen offen paramilitärische Bedeutung [163]. Die Rhetorik richtete sich danach aus. Durch die besondere Betonung des Kampfes im Sport wurde die Aggression ideologisch eingepflanzt in das, was dem Sachgehalt nach nichts anderes war als der Wettkampf, der den Sport definierte. Analog zum Fußball wurden auch im Feld-Handball mindestens seit Mitte der 1930er Jahren Bälle rhetorisch sogar »geschossen«.25 Unter den Augen der nationalsozialistischen Leistungsfanatiker galt es in der Zeit auch nicht mehr als unschicklich, wenn Frauen sich dem »Kampf« im Handballspiel hingaben.26 Handball wurde durch Gewalt-Metaphorik im Sinne der mythisierenden und menschenverachtenden NS-Ideologie ästhetisiert: Männliche »Härte« wurde als Ausdruck des männlichen Prinzips im Sport verklärt [7, 38, 97, 113].

Als Feld-Handball, anlässlich der Sommer-Olympiade in Berlin 1936, zum ersten (und einzigen) Mal zur olympischen Disziplin erklärt wurde, lief alles nach Plan: Handball als deutsches Kampfspiel, als nationalsozialistisches Spiel. Die deutsche Herren-Olympiamannschaft besiegte die USA mit 29:1 (am 8.8.1936 im Berliner Post-Stadion). Hitler interessierte sich nicht für Sport als Spiel, sondern für den Sieg am Ende eines Kampfspiels. Am 12. August 1936 fand, in der Endrunde des olympischen Turniers, das erste Handball-Spiel im restlos ausverkauften Berliner Olympia-Stadion statt: Österreich – Ungarn 11:7: »Zum ersten Mal vor 100 000« (Zuschauern), und der »Führer« sah »sein erstes Handballspiel«. Am 12. August besiegte die deutsche Mannschaft die Schweiz mit 16:6, wieder vor 100.000 Zuschauern und erneut unter den Augen Hitlers.27 Der »Führer« war zufrieden, die deutsche Handball-Mannschaft der Herren holte schließlich die Goldmedaille (nach dem letzten Spiel gegen Österreich, das mit 10:6 endete) und wurde, zwei Jahre später, auch Weltmeister in der Halle und auf dem Feld. Sie war das Maß der Dinge im Handball [190, 422, 535].

Ob der Handball-Sport unter den Nationalsozialisten, getreu ihrer gewalttriefenden Ideologie, aber »offensichtlich brutaler« [190] wurde, ist dagegen weniger eindeutig zu beantworten als die Frage, ob die Fairness im Sport, die damals häufig als »Ritterlichkeit« tituliert wurde, gelitten hat. Das betraf den Kern des Handball-Spiels, das von vornherein auf klar abgemessenen Fußballfeldern mit einem eindeutigen Regelkorsett eingefriedet gewesen war.28 Der erste Handball-Lehrer an der Deutschen Hochschule für Leibesübungen, Carl Schelenz, verkündete noch im Jahr 1941 trotzig: »Handball kann nicht primitiv-robust gespielt werden.«29 Die Regeln schienen aber ihre Verbindlichkeit einzubüßen. Im Endspiel um die deutsche Herrenmeisterschaft im Feldhandball 1939 (MTSA Leipzig – TuS Lintfort 6:4), wurde – so ein Chronist im Jahr 1960 – »Catchen« neuer »Handball-›Stil‹« [306]. Die hohe Frequenz von Fouls fiel in den 1940er Jahren auf:

»Unser Spiel, das wir stolz ein deutsches Kampfspiel nennen, wollen wir unbedingt von allen Auswüchsen freihalten. Da beim Handballspiel kleine versteckte Fouls wegen der Geschicklichkeit der Hand viel leichter als beim Fußballspiel unauffällig angebracht werden können, verlangt das Spiel in besonderem Maße von seinen Aktiven einen lauteren Charakter und eine sich auch auf den Gegner erstreckende aufrichtige Kameradschaftlichkeit.«30

Die Zunahme an Fouls wurde aber auch darauf zurückgeführt, dass die Stürmer angesichts der Entwicklung des Spiels inzwischen einfacher zum Torabschluss kämen, so dass die Abwehr häufig zu »verbotenen« Mitteln greife, was wiederum zu mehr Freiwürfen führe.31 Der Gewalt-Diskurs des Handballs ebbte jedoch nach der NS-Zeit nicht ab, allerdings wandelte sich der ideologische Hintergrund.

Die ideologische Verortung des Handballs wurde (weniger offen als unterschwellig propagandistisch) reformuliert – im Lichte des Kalten Krieges. Streitigkeiten zwischen den beiden deutschen Sportverbänden der DDR und der BRD bestimmten schon die Phase der gesamtdeutschen Olympiamannschaft von 1956 bis 1964. Feldhandball war zu diesem Zeitpunkt nicht olympisch, Hallenhandball wurde es erst 1972. Bei den Handball-Weltmeisterschaften ging jedoch von 1956 bis 1961 eine paritätisch besetzte gemeinsame deutsche Handballmannschaft an den Start [190]. Ungefähr ab 1965 löste der Hallenhandball den Feldhandball ab. Die deutschen Mannschaften verloren zunächst an Bedeutung, während Handballspiele, ausgetragen zwischen westdeutschen und ostdeutschen Vereinen, zunehmend zu einem ideologischen Stellvertreterkampf wurden – insbesondere in den 1970er Jahren [189, 190]. Die Fremdheit untereinander nahm zu: »Zwar sprachen wir dieselbe Sprache, aber dennoch konnten wir uns kaum ferner sein.« [101] Spiegelte sich nun in der Verbissenheit der damaligen deutsch-deutschen Partien eine Zunahme an Brutalität im Handball nach dem Zweiten Weltkrieg? Auf jeden Fall wurde Klage geführt über die übermäßige Härte, die das Spiel auszeichne. Dies lässt sich exemplarisch am Beispiel eines Handballers aufzeigen, des aus dem Banat stammenden schwäbischen Handballspielers Hans-Günther (»Hansi«) Schmidt (geb. 1942).

Die rumänischen Mannschaften entwickelten sich in den 1960er Jahren im Hallenhandball zu den bestimmenden Teams. Wiederholt, in den Jahren 1961, 1964, 1970 und 1974, wurde die rumänische Herren-Nationalmannschaft Hallenhandball-Weltmeister [869]. Der 195 Zentimeter große Hansi Schmidt [753], der zunächst rumänischer, dann ab 1965 – nach seiner Flucht aus dem Land im Jahr 1963 – westdeutscher Handballnationalspieler war, ist in Fachkreisen heute noch bekannt für seinen verzögerten Sprungwurf aus dem Rückraum, den er bei seinem Verein, dem damals in Westdeutschland tonangebenden VfL Gummersbach, anwandte. Ganz offensichtlich war Schmidt jemand, der in seiner Glanzzeit durch seine physische Präsenz die Gegner das Fürchten lehren konnte. Den Kommunismus verabscheute Schmidt. Charakterlich wird er als eigensinnig beschrieben. Im Spiel war er es gewohnt, den Ton anzugeben. Berufsmäßige Handballspieler waren damals noch Amateure, Schmidt war deshalb als Hauptschullehrer berufstätig [65, 753].

Ausgerechnet Hansi Schmidt, dem das kraftvolle, dominante Spiel zu eigen war, war es, der in der Hochzeit der westdeutschen Friedensbewegung im Jahr 1982 einen Aufsatz veröffentlichte, in dem er den Handball wegen seiner »grenzenlosen« Brutalität, die ihn inzwischen charakterisiere, brandmarkte. Handball sei nicht nur unfair geworden:

»Schläge ins Gesicht, Tritte auf die Füße, Hiebe in die Rippen, Stöße in den Magen oder in die Hoden, blitzschnell mit den Ellbogen oder mit der Handkante ausgeführt, Pferdeküsse und Stiche mit den Fingern, all diese Fouls kommen in einem Spiel immer wieder vor.«

Hallenhandball sei zu einem »Kampf der Giganten« geworden, »in dem nur noch Zweizentnerbrocken aufeinanderprallen, die weit weniger wendig sind, Körperkraft und -gewicht nicht mehr unter Kontrolle behalten können, wodurch schwerste Verletzungen heraufbeschworen werden.« Zu seiner Polemik motiviert hatte ihn die eigene Erfahrung im Handball:

»Ich habe kein einziges intaktes Fingergelenk mehr, das Nasenbein ist nach mehreren Brüchen verkrüppelt, Kapselerweiterungen in den Schultergelenken machen mir zu schaffen, die Platzwunden am Kopf habe ich schließlich gar nicht mehr gezählt, und Bänderdehnungen sowie Muskelfaseranrisse sind selbstverständlich geworden. Zu meinen schwersten Verletzungen zählt eine Hodenquetschung und zuletzt ein Wirbelsäulenschaden, der operiert werden mußte. Nur knapp kam ich an einer Querschnittslähmung vorbei, und schmerzfrei bin ich eigentlich an keinem Tag.« [700]

In Hinblick auf den historischen Zusammenhang von Gewalt und Sport ist weit weniger klar, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Das anthropologische Modell von Norbert Elias, das eine Abnahme der Gewalt im Prozess der Zivilisation postulierte, ist vor einigen Jahrzehnten auf das Verhältnis von Sport und Gewalt angewandt worden [200]. In der Kulturtheorie ist die Zivilisationsthese kürzlich reformuliert worden, ohne dass erneut auf den Bereich des Sports Bezug genommen worden wäre [603]. Auch der konkrete historische Bezug ist nicht unbedingt so eindeutig, wie es zunächst erscheint. Im Nationalsozialismus wurde Gewalt kultisch verehrt. Schmerz wurde in Assoziation mit Härte und Brutalität symbolisch uneingeschränkt positiv eingestuft. Damit ist ein ideologischer Anspruch formuliert worden, der nicht Ausdruck der eigenen erlebten Lebensgeschichte sein musste. Zum einen ist es etwas anderes, ideologisch verbrämt Schmerz zuzufügen, als Schmerzen zu ertragen. Zum anderen bestimmte die widerwärtige ausufernde und moralisch entkoppelte Gewalt im Nationalsozialismus nicht per se alle Aktivitäten im täglichen Leben. Das Beispiel des Handballspiels im Nationalsozialismus kann nicht als Beleg dafür herangezogen werden, dass in seiner Ausübung schmerzender und mit bedingungsloserer Härte spielerisch Gewalt gegeneinander eingeübt worden wäre als zuvor oder danach. Aus der Geschichte der Klage über die Brutalität der Kontaktsportart Handball lässt sich – zumindest beim gegenwärtigen Forschungsstand – nicht ablesen, ob die spielerische Brutalität linear oder ab dem Beginn der Hallenhandball-Ära explosionsartig zugenommen hat oder einen Höhepunkt in der NS-Zeit aufwies.

Die Idealisierung des Krieges als »ritterlicher Sport« fügte sich in die vorherrschende Ideenwelt der NS-Zeit jedoch gut ein. Unter den Stichwortgebern für die gedankliche Verquickung von Sport, Fairness und Krieg stach der ehemalige Soldat, Träger des preußischen militärischen Ordens »Pour le Mérite« und Schriftsteller Ernst Jünger hervor [151]. Für Jünger lag das Ideal der Ausübung des Krieges im Nahkampf, für den der »Sportssinn« geweckt werden müsse [908].

2.2Helden des Krieges: Ernst Jünger

In einer sich als postheroisch verstehenden Gesellschaft wie der deutschen des frühen 21. Jahrhunderts wirkt die mentale Orientierung am »Heldentum«, die in den 1930er Jahren gang und gäbe war, befremdlich [556]. Damals konnte man sich, von Helden schreibend, eines zustimmenden Publikums gewiss sein. Der »Held« des Ersten Weltkriegs Ernst Jünger stilisierte den Typus des »Arbeiters« zum Helden des industrialisierten Krieges, dessen Zeitalter angebrochen war. Hatte er zunächst einige Sympathie übrig für die Nationalsozialisten als Verkünder einer antibürgerlichen »Konservativen Revolution«, die sich einer heroisierenden Sprache befleißigten, so wandte sich Jünger im Jahr 1934 von der nationalsozialistischen Politik ab. Er lehnte auch die Praxis der nationalsozialistischen Kriegführung ab. Im Jahr 1934 revidierte er gleichzeitig seinen Schmerz-Begriff, stellte ihn in den Mittelpunkt seines Denkens und stilisierte Schmerz zur »negativen Utopie« [565]. Schmerz wurde zum Zentralbegriff seines heroischen Realismus, der in einer »Rhetorik der Kälte« [123] deklamiert wurde: Schmerz als »metaphysisches Äquivalent der aufgeklärt-hygienischen Wohlstandswelt« [76] symbolisierte den antibürgerlichen Gestus.

Ernst Jüngers Schrift Über den Schmerz von 1934 wird bis auf den heutigen Tag immer wieder zitiert, um die positive Wertung des Schmerzes als etwas, das bewusst akzeptiert werden müsse, herauszustellen [414]. In diesem Essay wird eine angeblich seit 150 Jahren zunehmende »Empfindsamkeit« dafür verantwortlich gemacht, dass die Menschen Schmerz und Leid in jedem Fall meiden wollen [124, 531]. Der Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke hat Jüngers Position von der Narkose als Gegenstück abgegrenzt: »Wenn die Narkose den Inbegriff der zivilen Schmerzvermeidung darstellt, dann errichtet Jünger das Ideal einer männlichen Apathie.« [455] Jüngers Ideal zielte darauf ab, dass der Schmerz geduldig ertragen werden müsste: »Jüngers Sicht auf die Rolle des Schmerzes als eine schlicht hinzunehmende Begleiterscheinung der totalen Mobilmachung und des Lebens in der technologischen Ära ist die Klimax der heroisch-immanenten Leidensdeutungen […].« [614] Wiederum ist der »Held« in seiner maximalen körperlichen und mentalen Härte männlich.

Bei dieser Perspektive auf die Position Jüngers gerät jedoch leicht aus dem Blick, dass Jünger in seinem Essay von 1934 den neuen Menschen, den er auch »Typus oder Rasse des Arbeiters« nennt, nicht nur als einen »härteren und unangreifbareren soldatischen Typus« darstellte, der den Schmerz, der ihn selbst betraf, gering achtete. So wie die Psychologie laut Jünger als Gegenstand der Betrachtung den »empfindsamen Menschen« hatte, bildete der »Arbeiter« ein »zweites Bewußtsein« aus, gerichtet auf einen Menschen, »der außerhalb der Zone des Schmerzes steht«. Das wird verbunden mit der totalen Mobilmachung des Einzelnen im Krieg – technisiert, diszipliniert, uniformiert, als Masse –, deren Machtinstanz von jeher durch den »Feldherren« repräsentiert werde. Über diesen sagte Jünger 1934: »Der hohe Sinn des Feldherrn erblickt die Dinge, unberührt von den Ausstrahlungen des Schmerzes und der Leidenschaft.« Diese Figur des Feldherren kann aber unmöglich die Vorstellung eigenen körperlichen Leidens repräsentieren. Vielmehr ist damit das ungerührte massenhafte Zufügen körperlichen Leids bezeichnet. Da die Gewalt im Krieg zuallererst dem Gegner gilt, lebt nach Jünger der »Arbeiter«, der Inbegriff des soldatischen Typus, das »zweite Bewußtsein« auch in der Weise aus, dass ihn der Schmerz der anderen nicht kümmert. Den Schmerz des Gegners zu achten, konnte als Inbegriff vergehender und abzulehnender Empfindsamkeit gelten [414]. Die kalte Mitleidlosigkeit stellte demnach ein Reifezeichen dar.

Jünger, der kein Parteigänger war, kündete erwartungsvoll vom Typus des aufkommenden Gewalttäters des Zweiten Weltkrieges, der die »Ausstrahlungen des Schmerzes« seiner Opfer ignoriert. Im Angesicht der tatsächlichen Gewaltverbrechen der Nationalsozialisten stieß ihn deren Amoralität in den 1940er Jahren ab, da sie seinen Vorstellungen vom ritterlichen Soldatentum widersprach [871]. Veränderungen in Jüngers ästhetisch-literarischer Einstellung zu Gewalt und Schmerz, die die Jünger-Forschung beschäftigen, ändern aber nichts an der in der historischen Situation getätigten »Botschaft« in Jüngers Essay aus dem Jahr 1934. Dass sein literarisches Manifest jedoch einen prinzipiellen Wandel der eigenen Schmerzempfindlichkeit von (nationalsozialistischen) Tätern im Weltkrieg angekündigt hat, kann bezweifelt werden.

2.3Titanen des Schmerzes: Carl Fervers

Suchte die damalige Medizin nach Helden als Patienten oder nach Patienten als Helden, die sich um Schmerzen nicht bekümmerten und sie stoisch ertrugen? Zur Beantwortung dieser Frage lohnt es sich, Leben und Werk des heute weitgehend in Vergessenheit geratenen Arztes und Psychologen Carl Fervers näher zu betrachten. Sein beruflicher Werdegang war für die damalige Zeit nicht ungewöhnlich. Carl Fervers (1898–1972) war 1928 als Assistenzarzt im Städtischen Krankenhaus Solingen im Stadtteil Ohligs angestellt worden, wo er bis zu dessen Schließung 1934 – zuletzt in oberärztlicher Funktion – verblieb. An der Universität Bonn hatte er ein Jahr lang als Assistent am Psychologischen Institut gearbeitet, als er 1934 in Ohligs seine eigene Privatklinik begründete, die im Krieg als Unfallkrankenhaus fungierte. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die »Fervers-Klinik«, die 1952 in katholische Trägerschaft überging, in St. Lukas-Klinik umbenannt. Fervers hat offenkundig parallel am Psychologischen Institut der Universität Bonn gearbeitet; er verfügte über einen Zweitwohnsitz in Bad Godesberg. Promoviert als Mediziner und Psychologe und seit 1936 in Medizinischer Psychologie habilitiert [282], wurde er 1950 in Bonn zum außerplanmäßigen Professor ernannt und mit der Leitung der Abteilung für medizinische Psychologie an der Philosophischen Fakultät betraut, an der er spätestens seit 1945 gelehrt hatte. In Bonn eröffnete er außerdem eine psychotherapeutische Praxis.32 In der Medizinischen Fakultät der Universität Bonn ist er nicht tätig gewesen [245, 708].

Der Mediziner Fervers war also Arzt mit eigener Klinik und medizinischer Psychologe. Er verfügte über Erfahrungen als praktischer Arzt, Chirurg und Psychologe sowie als Psychotherapeut. Als Chirurg war er auch mit Fragen der Anästhesie beschäftigt. Eigenständige Anästhesisten gab es zu diesem Zeitpunkt in Deutschland nicht [295, 606]. Fervers veröffentlichte Beiträge zu diversen Fragen und Gegenständen der Bereiche, in denen er tätig war [214, 215, 216, 218]. Bezogen auf die Schmerztherapie ist vor allem eine Monographie aus dem Jahre 1940 von Interesse, die unter dem Titel Schmerzbetäubung und seelische Schonung erschien [217]. Dort gibt Fervers Antworten auf die Frage, ob und unter welchen Vorzeichen das Arzt-Patient-Verhältnis im Hinblick auf Schmerzen erfolgreich sein kann, indem er eine Typologie des Umgangs mit Schmerzen entwickelt. Abhängig vom jeweiligen Typus bestimmt er in einem zweiten Schritt, welche Verfahren der Schmerzausschaltung für welchen Patiententyp indiziert sind. Diese Vorgehensweise erschien ihm als evident. Nach Fervers’ Auffassung weiß der umsichtige Arzt um die Charakter-Typen unter seinen Patienten, so dass er sich sinnvollerweise entsprechend seiner »Typenkonstitutionslehre« (Elisa Primavera-Lévy) verhält und nicht wie ein »reiner Naturwissenschaftler«. Grundsätzlich unterscheidet er einen »pathischen« von einem »tetanischen Typ« des Umgangs mit Schmerz. Der pathische Typ, der wie der tetanische noch in einen »beherrschten« und einen »unbeherrschten« unterteilt wird, ergeht sich im Schmerz und wendet sich hilfe- und verständnissuchend an den Arzt. Der tetanische Typ achtet den Schmerz gering und kontrolliert ihn durch muskuläre Anspannung.

Laut der Literaturwissenschaftlerin Elisa Primavera-Lévy spiegelt sich in Fervers’ Typenlehre der »tiefe Graben« zwischen der Bestimmung von Schmerz als »absolut nutzlosem Krankheitsschmerz und lebenswichtigem Stimulationsschmerz«. Weiter heißt es bei ihr:

»Die deutsche Wendung zum Schmerz zwischen 1870 und 1945 ist dann in erster Linie eine Wendung zur immanent-vitalistischen Schmerzdeutung. Nur dem zum Wachstum und zu mehr Vitalität führenden Schmerz, nur dem Schmerz, der als Warner auftritt und Regsamkeit auslöst, wurde in Harmonie mit dem stark am Darwinismus orientierten Wissenschaftsklima des ausgehenden 19. Jahrhunderts eine evolutionär tragende Rolle zugestanden« [614].

Fervers’ »tetanischer Typ« entsprach somit dem Ideal des durchsetzungsfähigen, maximal belastbaren Körpers. Beachtenswert ist daran, dass dann, wenn es nur um den Schmerz als Warner geht, nichts anderes gemeint sein kann als Akutschmerz. Fervers selbst unterscheidet 1940 zwischen Unfall- und Operationsschmerz, Neuralgieschmerz und »chronischem Schmerz«. Auch wenn der Neuralgieschmerz »rasend« in Erscheinung trete, zeichne er sich – beispielsweise nach erfolgter neurochirurgischer Operation – laut Fervers doch als »zweckvoll« aus (wobei er den Erfolg neurochirurgischer Operationen im jeweiligen Fall unterstellt). Der »chronische Schmerz« ist dagegen völlig randständig. Unter »chronischem Schmerz« versteht Fervers in erster Linie den Schmerz, der mit einem »unheilbaren Leiden« verbunden ist, also vorrangig den Krebsschmerz. Dieser wird verstanden als prognostisch infaust, als Schmerz, »wo das Grauen des Todes sich im Krankenzimmer festgesetzt hat«. Diese Gruppe von Patienten ist für ihn diejenige, der das Morphium nicht vorenthalten werden dürfe:

»Es ist nicht nötig, dass diese und ähnliche unheilbare Kranke unbeschreiblich leiden, damit vielleicht einige neurotische Schwächlinge mehr vor der Sucht bewahrt bleiben. Es ist gewiß ein ärztlicher Kunstfehler, Morphium ohne strenge Indikation bei suchtgefährdeten Menschen leichtsinnig zu verordnen, es sollte aber in gleicher Weise als Kunstfehler gelten, Kranken mit schmerzhaften unheilbaren Leiden die Morphiumspritze vorzuenthalten. Hier mangelt es eben an der dem Arzte unbedingt notwendigen Einfühlungsfähigkeit.« [217]

Die Praxis der Morphiumgabe beim Tumorschmerz wird nicht näher ausgeführt. Die große Gruppe von Patienten, die unter chronischem Nicht-Tumor-Schmerz litten, lag völlig außerhalb des Blickfeldes. Der Preis, der für die tendenziöse Apotheose eines »tetanischen Typs« zu zahlen war, bestand darin, dass nur jenem Patienten schmerzlindernde Massnahmen zustanden, der unter einem chronischen Schmerz litt, der unweigerlich zum unmittelbar bevorstehenden Tode führte.

Das Buch des gelernten Chirurgen Fervers von 1940 ist sieben Jahre später im Zentralblatt für Chirurgie besprochen worden. Für die Erläuterungen der psychologischen Typologie interessierte sich der Rezensent 1947 nur mittelbar. Er kam umgehend zu dem ihm relevant erscheinenden Punkt:

»Statt vieler Worte sei der eilige Leser auf die Tabelle der Seite 147 verwiesen, die für sich spricht. Daraus ergibt sich, dass z. B. die Schmerzbetäubung bei kleinen Operationen wie folgt ihre Indikationen hat: der unbeherrschte Tetanische bekommt eine Vereisung, der beherrschte Tetanische bekommt Vereisung oder Lokalanästhesie. Der unbeherrschte Pathische bekommt Chloräthylrausch oder Rausch mit intravenösen Schlafmitteln, der beherrschte Pathische bekommt (umgekehrt) Rausch mit intravenösen Schlafmitteln oder Chloräthylrausch.«

Das war nach Art jener Merksätze, wie sie für vielbeschäftigte Ärzte seit langem eine Stütze im täglichen Berufsleben darstellen. Was man sich merken sollte, drehte sich allein um den Operationsschmerz. Tumorschmerz-Therapie war in dieser Quintessenz gar nicht mehr von Belang. Im übrigen, ergänzte der Rezensent, müssten die Ausführungen von Alfred Hoche und diejenigen von Sauerbruch und Wenke »anscheinend ergänzt werden«.33 Damit war ein Urteil über Fervers’ Buch gefällt: eine interessante Ergänzung, die ein paar orientierende Hinweise enthält. Aber das eigentliche Referenzwerk blieb für den Rezensenten die einschlägige Monographie des Berliner Chirurgen Ferdinand Sauerbruch. Sie prägte bis in die 1960er Jahre die übliche Rede vom Schmerz als »Urphänomen des Lebens«.34

2.4Patienten mit Schmerzen: Ferdinand Sauerbruch

Sauerbruch war international bekannt als Begründer der modernen Thoraxchirurgie sowie als Entwickler einer willkürlich beweglichen Arm-Hand-Prothese und einer sogenannten Umkipp-Plastik zum Erhalt des Unterschenkels bei Oberschenkel-Amputation. Sein Schmerz-Buch mit dem Titel Wesen und Bedeutung des Schmerzes