Tomorrow & Tomorrow - Thomas Carl Sweterlitsch - E-Book

Tomorrow & Tomorrow E-Book

Thomas Carl Sweterlitsch

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Beschreibung

Ausgelöscht

Die nahe Zukunft. Vor zehn Jahren wurde bei einem Anschlag die Stadt Pittsburgh vollständig ausgelöscht. Mithilfe eines gewaltigen Datenarchivs konnte die Stadt jedoch als virtuelle Simulation wiederhergestellt werden. Hier ermittelt John Dominic Blaxton unaufgeklärte Verbrechen, und insbesondere ein Fall lässt ihn nicht los: Das Bild einer wunderschönen Frau, die ermordet wurde, wird offenbar aus dem Archiv und damit aus der virtuellen Realität gelöscht. Auf der Suche nach Antworten stolpert Dominic über eine grauenvolle Entdeckung …

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Das Buch

Die nahe Zukunft. Zehn Jahre sind vergangen, seitdem Pittsburgh innerhalb von Sekunden in einen Aschehaufen verwandelt wurde. Der Rest der Welt hat die Tragödie abgehakt und ist weitergegangen in eine Zukunft, in der digitale Medien alle Aspekte des Lebens bestimmen. John Dominic Blaxton ist einer der wenigen Menschen, die das nicht akzeptieren können, denn er hat seine Frau und ihr ungeborenes Kind in der Katastrophe verloren. Seitdem ist das Archiv zu seiner zweiten Heimat geworden – eine virtuell begehbare Kopie der Stadt Pittsburgh, konstruiert aus den Überwachungsvideos und privaten Fotos, Bewegungsmustern und digitalen Spuren, mit der die Erinnerung an die Opfer des Anschlags bewahrt werden soll. Hier arbeitet Dominic als Ermittler, der nach den Spuren unaufgeklärter Morde aus der Zeit vor dem Anschlag sucht. Als er den Tod einer jungen Frau untersuchen soll, bemerkt er jedoch seltsame Veränderungen im Archiv: veränderte Videosequenzen und seltsame Wiederholungen, die alle nur einen Schluss zulassen – jemand versucht, alle Spuren der Existenz dieser jungen Frau zu löschen. Je hartnäckiger Dominic die Drahtzieher dahinter ausfindig zu machen versucht, umso tiefer verfängt er sich in einem Netz aus Intrigen, Machtkämpfen und Brutalität in der realen Welt. Denn nicht alle Mörder der Stadt sind mit Pittsburgh untergegangen …

»Thomas Carl Sweterlitsch schreibt so intelligent wie William S. Burroughs, so visionär wie Philip K. Dick und so noir wie Raymond Chandler. Großartig!«  Stewart O’Nan

Der Autor

Thomas Carl Sweterlitsch hat seinen Master in Literaturwissenschaft und Kulturtheorie an der Carnegie Mellon University gemacht und danach zwölf Jahre in der Carnegie Library gearbeitet. »Tomorrow & Tomorrow« ist sein erster Roman. Er lebt mit Frau und Tochter in Pittsburgh, Pennsylvania.

Edition

Thomas Carl Sweterlitschs schonungsloser Zukunftsthriller erkundet die Nahtstelle zwischen Wirklichkeit und virtueller Realität. Auf , dem einzigartigen Portal für Visionäres in Science und Fiction, werden diese Themen fortgeführt und mit exklusiven Hintergrundinformationen und aktuellen Beiträgen weiter ausgeleuchtet.

THOMAS CARL SWETERLITSCH

TOMORROW

&

TOMORROW

ROMAN

Aus dem Amerikanischen von Friedrich Mader

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Titel der amerikanischen OriginalausgabeTOMORROW AND TOMORROWDeutsche Erstausgabe 05/2015Redaktion: Tamara RappCopyright © 2014 by Thomas Carl SweterlitschCopyright © 2015 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbHUmschlaggestaltung: Das Illustrat, MünchenSatz: Fotosatz Amann, MemmingenISBN 978-3-641-16257-3www.diezukunft.de

Für Sonja und Genevieve

Da ist ein Schmerz – so abgrundtief –

Dass er das ganze Sein verschlingt –

Mit süßem Rausch deckt er den Abgrund zu –

Und die Erinnerung betritt ihn leicht –

Tritt um ihn – über ihn hinweg –

Wie Einer – der im Traume wandelt –

Mit sichrem Schritt und stürzen würde –

Knochenschwer – wenn er erwacht.

Emily Dickinson

ERSTER TEIL

Washington, D.C.

23.8.

Ihre Leiche liegt unten in Nine Mile Run, halb begraben im Flussschlamm. Ende April, der Regen muss sie freigewaschen haben. Oder der Fluss ist durch die Niederschläge angestiegen und hat die dicke Schlickschicht weggespült, die sie bedeckt hatte. Zeitstempel 18:44 Uhr – schräg stechen Sonnenstrahlen durch die Wälder und sprenkeln den Morast in den Lichtungen. Wo sie auf Wasser treffen, glänzt es moosig grün, überall sonst rußig braun, fast schwarz. Ich denke an die Erde hier, an die Geschichte des Orts, für den brennende Hitze nichts Neues ist. Die steil zum Flussbett abfallenden Hänge waren einst Schlackehalden, rollende Lawinen aus geschmolzener Asche. Zu dem Zeitpunkt, da ich diesen Ort kennenlernte, war alles bereits von der Natur zurückerobert und begrünt. Ein Stadtpark.

Als der Zeitstempel 19:31 Uhr erreicht, ist es so dunkel, dass man nichts mehr erkennt. Ich justiere die Lichtfilter. Die Bäume und die Leiche erstrahlen im fahlen Schein digitalen Lichts. Ich sehe jetzt ihre Füße, die weiß wie Pilze aus dem Boden gequollen sind. Markiere die Leiche mit einem Lesezeichen. Dann wende ich mich ab und taste mich auf dem Joggingpfad zurück durch den stockfinsteren Wald.

Am Parkplatz, wo der Weg mündet, stelle ich erneut auf 18:15 Uhr, eine halbe Stunde bevor ich auf die Leiche stoßen werde. Die blaue Schattierung der Dämmerung kehrt wieder. Ich folge dem Joggingpfad, der sich durch den Wald windet, ehe ich durch ein Gewirr von Wurzeln und Dornensträuchern hinunterklettere. Um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, halte ich mich an dünnen Ästen fest. Ich bin nicht zum ersten Mal hier. Suche das Unterholz nach Fußabdrücken ab, nach Zeichen eines Kampfs, nach Stofffetzen, nach irgendetwas, doch ich finde keine handfesten Spuren, bis ich ein weiteres Mal den weißen Schemen ihrer Leiche bemerke – einen bleichen Bogen, den ich für ihren Rücken halte, und ein schlammiges Knäuel auf dem Kopf, das viel dunkler ist als das honigbraune Haar, das ich aus Fotografien kenne. Neben ihr kniend betrachte ich sie, um zu ergründen, was geschehen ist – um zu begreifen. Um 19:31 Uhr ist es so dunkel, dass man nichts mehr erkennt.

Ich mache mich wieder auf den Weg zum Parkplatz. Ich stelle auf 18:15 Uhr, und die Nacht weicht zurück. Dort unten wartet ihre Leiche, halb begraben im Schlamm. Ich folge dem Joggingpfad und suche den Wald nach Spuren von ihr ab. In ungefähr zwanzig Minuten werde ich sie finden.

21.10.

Die Leute fragen uns oft, wie ihre Liebsten gestorben sind. Sie erwarten außergewöhnliche Umstände und fürchten, dass sie vielleicht schrecklich gelitten haben. Das erinnert mich an Audens Gedicht »Musée des Beaux Arts«, denn bis auf seltene Ausnahmen sind die von uns untersuchten Todesfälle völlig banal. Jemand war gerade beim Essen, öffnete ein Fenster oder ging irgendwohin. Nichts Besonderes, wenngleich sich die Überlebenden oft daran erinnern, was für ein strahlender Herbsttag es war, fast wie im Sommer. Das Ende kam ganz schnell, so viel steht fest. Gelitten haben nur die, die davongekommen sind. Fünfhunderttausend Menschen starben in einem blendend weißen Blitz. Schatten verlängerten sich und verschmierten zu Holzkohleflecken, die Stadt wurde zu schneeweißer Asche und verschwand in einem einzigen Windhauch. Abgesehen von Einzelheiten beschränken sich unsere Auskünfte über ihre Liebsten darauf, dass sie wahrscheinlich nicht leiden mussten und so gestorben sind, wie sie gelebt haben. Eine schreckliche Katastrophe, die einfach ihren Lauf nahm.

Der 21. Oktober –

Genau zehn Jahre nach dem Ende.

Am Dienstag habe ich zum letzten Mal Brown Sugar genommen. Aus Höflichkeit rief ich am Morgen sogar Kucenic an, um ihm mitzuteilen, dass ich mir einen Virus eingefangen hatte und nicht zur Arbeit kommen konnte. Darauf erklärte er mir, dass ich meine Kranken- und Urlaubstage aufgebraucht habe und dass die anderen Archivassistenten keine Lust mehr haben, für mich einzuspringen. Dass ich mit einer Lohnkürzung und mit Scherereien wegen Verletzung der Bewährungsauflagen rechnen muss. Es hatte Beschwerden gegeben, sagte er. Ein paar Minuten später pingte er mich an, sein Profilbild ganz schneeweißer Bart und freundliche blaue Augen. Durch das flaumige Haar schimmert fast nackt wie ein Gitter aus silbernen Drähten die Adware auf seinem Schädel. Ich saß im Café Tryst und bekam den Anruf über das dortige WLAN. Meine minderwertige Adware läuft mit einer sprunghaften Bildfrequenz, die die Realität mit einer beschissenen Verzögerung wiedergibt. Kucenics Bild hing in meinen Augen wie eine transparente Folie über Speisekarten mit Caffè Latte, Red Eye und Mokka. Wohin ich auch blickte, überall schwebten samtige Kaffeesorten vor mir, und über jede Bohnentüte rollten Informationen zu Fair Trade und biologischem Anbau. Seine Lippen bewegten sich nicht synchron zu den Worten, als er sich erkundigte, wie es mir ging.

»Alles in Ordnung«, antwortete ich. »Meine Nebenhöhlen, glaube ich. Nur eine Nebenhöhlenentzündung …«

»Du untersuchst einen Mordfall«, mahnte er.

»Morgen geht es mir bestimmt schon besser.«

»Ich habe dir einen potenziellen Betrugs- und Mordfall anvertraut. Wir müssen einen Zeitrahmen einhalten und Berichte …«

»Ihre Leiche wurde manipuliert …«

Es machte mich verlegen, in einem dicht besetzten Café über eine Tote zu sprechen, doch alle Gäste an den Tischen in der Nähe waren in ihre eigenen Adware-Streams vertieft, plauderten mit unsichtbaren Gegenübern und folgten zusammengesunken ihren privaten Fantasien. Niemand schenkte mir Beachtung.

»Anfrage 14502 – Hannah Massey«, sagte Kucenic. »Du schreibst, dass das Archiv um sie herum beschädigt ist.«

»Irgendjemand hat versucht, den Mord zu vertuschen«, erwiderte ich. »Wenn auch ziemlich schlampig. Diese Verfälschungen im Archiv sind wie Fingerabdrücke. Allerdings sind es Millionen von Fingerabdrücken, und es dauert einfach eine Weile, das alles zu sortieren.«

»Du reibst dich auf. Du machst gerade eine schwere Zeit durch, das ist mir völlig klar, trotzdem muss ich einfach wissen, ob du diesen Bericht hinkriegst. Es ist jetzt schon Monate her, dass du die Tote gefunden hast. Du musst die Sache endlich abschließen. Brauchst du Hilfe? Möchtest du vielleicht unbezahlten Urlaub nehmen? Wir können deine Fälle an andere vergeben.«

»Ich will keinen unbezahlten Urlaub«, antwortete ich. »Das kann ich mir nicht leisten.«

»Was meint dein Arzt dazu?«

»Lass diesen privaten Scheiß aus dem Spiel. Das hat überhaupt nichts mit meinen …«

»Deine Arbeit ist anstrengend.« Sein Ton wurde vorsichtiger. »Du bist immer gründlich in deinem Vorgehen, Dominic, aber in dieser Präsentation sind Lücken. Bedeutende Lücken. Was ist mit den Eltern der Toten? Und mit ihren Freunden? Nicht mal ihre letzten Stunden hast du beschrieben.«

»Es gibt keine letzten Stunden, zumindest noch nicht«, erklärte ich. »Ich habe ihre Spur bis zu ihrem Verschwinden verfolgt, doch das ist nicht der Zeitpunkt ihres Todes. Sie war in der Uni, bei einer Psychologievorlesung … Interaktion von Mensch und Computer. Danach hat sie den Campus überquert und ist ins unterste Stockwerk einer Parkgarage an der Forbes Avenue gegangen. Dort gab es keine Überwachungskameras. Wahrscheinlich wurde sie dort entführt.«

Ich minimierte Kucenic und starrte auf die Nährwertangaben, die wie lesbare Lichtreflexe in meiner Kaffeetasse erschienen. Ab dem Zeitpunkt, als sie die Parkgarage betrat, bis zu meiner Entdeckung ihrer Leiche am Fluss ist eine Lücke im Archiv. Erst kurz nach ihrem Verschwinden wurden in dieser Garage Überwachungskameras installiert – es gibt haufenweise Filmmaterial von den unteren Geschossen und von Wachleuten, die auf Golfmobilen ihre Runden drehen, aber eben erst aus den Wochen und Monaten, nachdem man sie zum letzten Mal gesehen hatte.

»Wir müssen den Umfang deiner Arbeit eingrenzen. Die Versicherung State Farm will nur einen Beleg dafür, wie sie gestorben ist«, erklärte Kucenic. »Eine dokumentierte Todesursache, das ist alles. Eine kurze Zusammenfassung auf einer Seite. Und falls wir sicher sind, dass es sich um einen Mord handelt, muss ich ihren Tod beim FBI anzeigen. Wenn wir das nicht angemessen handhaben, drohen rechtliche Konsequenzen. Wir müssen uns an die Zeitvorgaben der Versicherung halten. Es geht nicht, dass ich Tage und Wochen nichts von dir höre.«

»Ich habe ihre Leiche gefunden.« Ich dachte an den Frühjahrsregen, der ihr flaches Grab freigespült hatte. »Kein anderer hätte …«

»Hör zu, Dominic«, unterbrach er mich. »Wenn du in dieser Branche arbeiten willst, musst du den Gesamtzusammenhang berücksichtigen. Du kannst dich nicht einfach in deiner Recherche festbeißen und alles andere verdrängen. Sicher, die Vertreter von State Farm werden begeistert sein, wenn ich ihnen erzähle, was mein Mitarbeiter dank seiner Sorgfalt entdeckt hat, aber als Erstes werden sie fragen: Warum haben Sie uns nicht gesagt, wie die Frau gestorben ist? Diese Information bedeutet Geld für sie, und ihnen kommt es auf das Geld an, nicht auf das Mädchen. Wenn du Erfolg haben willst, musst du denken wie diese Leute.«

»Denen ist egal, wer Hannah auf dem Gewissen hat. Für die zählt doch bloß, dass sie umgebracht wurde«, sagte ich. »Habe ich recht? Soll ich einfach ignorieren, was mit ihr passiert ist? Das kann ich nicht, Kucenic. Wenn ich die Augen zumache, sehe ich sie vor mir, schon seit Wochen.«

»Diese Bilder sind nicht real. Du tauchst ständig ins Archiv ein, und wenn du nicht aufpasst, vergisst du irgendwann, dass es nicht die Realität ist. Du siehst zu viele Menschen sterben, und das macht dich fertig. Kein Wunder, wenn dir das über den Kopf wächst und du nicht weiterarbeiten kannst.«

»Was soll das heißen, es ist nicht die Realität? Das war alles real …«

Er schnitt mir das Wort ab. »Häng dich ein paar Stunden rein, bring es hinter dich. Bis heute Nachmittag will ich von dir hören.«

»Schön, schön.«

Trotz meiner Zusicherung ließ ich die Arbeit an diesem Tag ausfallen. Stattdessen ging ich in den Saal für Regierungsdokumente der Mount Pleasant Library und zog mich in einen Lehnsessel zurück, der von der Auskunftstheke nicht einzusehen ist. Dann griff ich auf das öffentliche WLAN zu und tauchte ein. Abgeschieden und ungestört dort hinten. Brown Sugar ist in Blisterpackungen in Umlauf: sechseckige, maulwurfgraue Plättchen als Lernhilfe für Studenten. Ich schluckte die Pille trocken hinunter. Als die Wirkung eintrat, schloss ich die Augen, und meine Atemzüge wurden tiefer. Ich lud die City von Pittsburgh. Und war mit meiner Frau zusammen. Mindestens zehn Stunden lang war ich bei ihr. Als sie schlossen, warfen mich die Bibliothekare raus, und ich schlief die Nacht auf dem Parkplatz halb verborgen hinter einer Hecke. Beim Aufwachen war ich noch immer verbunden, doch die City-Zeit war abgelaufen. Reißerische Morgen-Feeds plärrten mir entgegen: Cash Amateurs, geloopte Promos für Staffel 4 von Weg zur Hölle, die Bezahl-Streams von Voyeur Cam, Real Swingers of DCund tolle Sparangebote, falls ich meine Meinung dazu abgab, wer von den beiden ermordeten Pelzgirls auf Crime Scene Superstar, deren Leichen in Tatort-Streams gezeigt wurden, die schärfere war, die Blonde oder die Rothaarige, – hier können Sie abstimmen!

Dr. Simka hat bei mir eine schwere depressive Störung, eine Suchterkrankung und eine sekundäre Traumatisierung festgestellt. Er hat mir Zoloft verschrieben und angedeutet, dass ich mich mehr bewegen soll. Joggen durch den Rock Creek Park bei schönem Wetter oder Trainieren für den National Half Marathon soll meinen Kreislauf entgiften. Es macht ihm Sorgen, dass ich zunehme.

»Vielleicht können wir zusammen was gegen die überflüssigen Pfunde unternehmen«, sagte ich darauf, doch er klopfte sich nur lachend auf den Bauch.

Simkas Praxis liegt drüben in Kalorama, in der Nähe der 21st Street und der Florida Avenue, in dem Haus mit der knallroten Tür. Er hat sein Wartezimmer mit selbst gebauten Möbeln eingerichtet: Kirschholzstühle im Missionsstil, ein Zeitschriftentisch, ein dazu passendes Bücherregal, gefüllt mit seinen frühen Ausgaben von Lacan. Nach unseren einstündigen Sitzungen alle vierzehn Tage komme ich mir jedes Mal vor, als hätte ich ihm schadhafte Waren angedreht; sicher ist mein Fall schlecht für seine Erfolgsquote. Ich machte eine entsprechende Andeutung, als er das Formular für den Arbeitgeber unterschrieb, doch er nickte bloß und strich sich lächelnd über seinen buschigen Schnurrbart. »Sie brauchen keine guten Haltungsnoten, um zu gewinnen.«

Ich habe gelernt, Dr. Simka zu vertrauen. Ich spreche mit ihm über Theresa, über meine Erinnerungen. Wir diskutieren darüber, wie viel Zeit ich im Archiv von Pittsburgh verbringe, um sie zu besuchen. Wir bemühen uns, Grenzen zu ziehen und Ziele zu setzen. Simka glaubt nicht an eine Therapie mit Virtueller Realität. Er bevorzugt den direkten Kontakt zu seinen Patienten, also entspanne ich mich auf seiner gemütlichen Ledercouch und führe Unterhaltungen mit ihm – über Gott und die Welt, über alles, was mir durch den Kopf geht, über Geister, die ich verscheuchen möchte. Ich rede über meine Arbeit bei Kucenic, über meine Recherchen im Archiv. Diese Informationen sind vertraulich, trotzdem schütte ich Simka mein Herz aus. Auch von der Anfrage 14502 habe ich ihm erzählt, von der Frau, deren Leiche ich entdeckt habe.

»Es gab einen Streit«, erklärte ich ihm. »Eine Frau in Akron machte Ansprüche aus einer Lebensversicherung für ihre Schwester und deren drei Kinder geltend, aber State Farm lehnte mit der Begründung ab, dass der Tod als direkte Folge der Bombe nur bei zwei Kindern verbürgt ist.«

»Also wurde Ihre Firma eingeschaltet, um die Todesfälle zu untersuchen«, warf Simka ein.

»Kucenic hat den Zuschlag im Rahmen einer Gruppenausschreibung bekommen und den Fall mir übertragen«, erwiderte ich. »Wir erhielten den Auftrag, Beweise zugunsten der Auffassung von State Farm zu suchen oder, falls doch alle drei Kinder bei der Explosion gestorben sind, Empfehlungen für einen Vergleich zu erarbeiten.«

»Demnach suchen Sie nach einem toten Kind.«

»Den ersten Toten fand ich ganz leicht«, erzählte ich. »Ein Junge von der Harrison Middle School. Haufenweise Überwachungskameras in der Schule, reichlich Filmmaterial, um sein Leben zu rekonstruieren. Ich habe mich zu ihm ins Klassenzimmer gesetzt, als er starb, und notiert, wann das weiße Licht durch die Fenster schoss und wann er verbrannte. Das zweite Kind war erst wenige Monate alt. Auch ein Junge. Ich verbrachte mehrere Stunden zusammen mit der Versicherungsnehmerin in ihrem Haus, mit der Mutter. Sie schaute fast jeden Nachmittag die Sendung The Price Is Right und ließ ihren Sohn in der Wiege schreien. Manchmal habe ich den Jungen hochgenommen, um ihn zu trösten – warum, weiß ich auch nicht. Mir war klar, dass der Junge schon lange nicht mehr lebt und dass das Weinen nur eine Webcamaufzeichnung ist. Ich habe ihn gehalten und ihm vorgesungen, bis er sich beruhigt hat. Doch kaum ließ ich die Arme sinken, machte das Archiv einen Reset, und er lag wieder weinend in der Wiege. Auch bei seinem Tod hat er geweint. Jedes Kind bekam einen eigenen Bericht.«

»Und das dritte?«, fragte Simka.

»Hannah. Neunzehn Jahre alt. Ihre Daten im Archiv wurden manipuliert, große Teile ihres Lebens sind einfach gelöscht. Bei der ersten Prüfung der Ansprüche sind State Farm diese Lücken aufgefallen, und sie haben Nachforschungen angestellt. Aber sie konnten sie nicht finden.«

»Und Sie haben sie gefunden?«

»Ich kann mich in eine Recherche richtig reinknien. State Farm hat gar nicht genug Personal für so was. Wenn etwas aus dem Archiv gelöscht wird, erzeugt das Ausnahmemeldungen, weil der Code ins Stocken gerät. Sobald man bestimmte Zeitfenster isoliert hat, kann man Tausende von Seiten mit Ausnahmemeldungen ausdrucken und sie mühsam durcharbeiten, um das wahre Geschehen wieder zusammenzuflicken. Clevere Hacker ersetzen das, was sie gelöscht haben, durch etwas anderes, am besten was Ähnliches. Wenn man das sorgfältig macht, kann man etwas löschen und eine Fälschung einfügen, ohne eine Fehlermeldung auszulösen. Doch die Leute, die Hannah gelöscht haben, waren weder geschickt noch sorgfältig. Ich musste nur den Ausnahmemeldungen folgen und den Code lesen, um ihr Leben zu rekonstruieren. Natürlich war das zeitaufwendig. Bisschen so, als würde man einem Eber nachstellen, nachdem er krachend durchs Unterholz geflohen ist …«

»Wo haben Sie sie gefunden?«

»Ich habe ihre schlammbedeckte Leiche auf einer begrünten Schlackenhalde in Nine Mile Run entdeckt. Aufnahmen des Fachbereichs Umweltwissenschaften an der Carnegie Mellon University. Ihre Leiche war dort vergraben worden, aber der Regen hat sie freigespült. Die Leute, die sie gelöscht haben, haben nicht daran gedacht, auch das JSTOR-Material zu löschen, oder sie wussten nicht, dass es als Teil des Archivs existiert. Als ich auf sie stieß, war die Leiche aufgeschwemmt. Kaum mehr zu erkennen …«

»Hannahs Tod scheint Sie besonders zu berühren. Bei Ihrer Arbeit haben Sie doch regelmäßig mit solchen Dingen zu tun.«

»Sie hätte Ihnen gefallen«, sagte ich. »Sie hat Psychologie im Hauptfach studiert. War Schauspielerin in einer Theatertruppe namens Scotch ’n’ Soda. Sie war hinreißend, sprühte vor Leben. Als ich sie in dem Filmmaterial fand, war nicht mehr viel davon übrig. Bloß ein weißer Klecks im Schlamm, ein Teil ihres Rückens und die Füße. Erst anhand der Ausnahmemeldungen konnte ich beweisen, dass sie es ist.«

Fast alle Ansprüche aus Lebens- oder Sachschadenversicherungen werden angefochten. Es sind Milliardenbeträge, um die prozessiert wird. Meine Rechercheergebnisse werden in Tabellenform erfasst. Ich gestand Simka, dass mir diese drei Kinder noch immer den Schlaf rauben. Der Therapeut hörte mir aufmerksam zu. Er schenkt meinen Worten immer große Beachtung. Ich erzählte ihm, dass der Tod dieser Kinder so oft vor meinem inneren Auge abläuft, dass ich nicht mehr unterscheiden kann, ob ich die Ereignisse im Archiv miterlebe oder mich nur an das Gesehene erinnere. Ich bat ihn um Hilfe, damit die Erinnerung endlich aufhört. Er machte sich Notizen auf einem gelben Block, ohne mich mit allzu vielen Fragen zu unterbrechen. Er ließ mich immer reden. Wenn er selbst das Wort ergriff, dann erkundigte er sich oft nach den Beatles – nach der Bedeutung bestimmter Songtexte.

»Die Beatles haben zum Schreiben LSD und Psychopharmaka genommen«, erklärte ich ihm. »Als Therapeut sind Sie wohl eher in der Lage, diese Texte zu interpretieren, als ich.«

»Sicher, sicher«, antwortete er. »Aber mir entgehen literarische Aspekte, die Sie dank Ihrer Ausbildung erkennen. Wissen Sie, ich habe aus unseren Gesprächen viel mehr über Baudelaire gelernt als durch irgendwelche Apps. Da dachte ich, dass wir beide uns zusammen vielleicht auch einen Reim auf Abbey Road machen können.«

Er schlug mir vor, ein Tagebuch zu führen. Das würde mir bestimmt helfen: oben auf jeder Seite das Datum eintragen und loslegen. Frei von der Leber weg. Sogar ein Ultimatum stellte er mir: Ich sollte es zumindest probieren, ansonsten sei er nicht mehr bereit, mein Arbeitgeberformular zu unterschreiben. Diese Drohung nehme ich nicht ernst. Aber er kaufte mir tatsächlich das Notizbuch, das ich noch immer benutze, und schenkte es mir zusammen mit einem Download: Intensivtagebuchmethode nach Progoff. Er mahnte mich, Langschrift zu benutzen, um meine Aufmerksamkeit zu fördern. Diktat-Apps hätten nicht die gleiche beruhigende Wirkung wie richtiges Schreiben.

Simka denkt holistisch. Er glaubt, dass die Bausteine zu einem gesunden, produktiven Lebensstil bereits in mir existieren und dass ich bloß lernen muss, sie auf neue Weise zusammenzusetzen. Außerdem hat er mir geraten, klassische Musik zu hören. Zur Verbesserung meiner Konzentrationsfähigkeit. Feeds und Streams tragen zur Zersplitterung unseres Bewusstseins bei, sagt er. Ich sollte es einfach mal mit John Adams probieren und geduldig zuhören – mindestens zwanzig Minuten am Stück, ohne zum nächsten Track zu springen und ohne mir über Augmented-Reality-Zusätze, sogenannte Augs, weitere Informationen zu holen. Er summte eine Melodie, die die Adware schließlich als »Grand Pianola Music« identifizierte. Klick, hinzufügen zur iTunes-Mediathek.

Obwohl ich jeden Abend mein Zoloft nehme, erwache ich Nacht für Nacht aus Träumen von meiner Frau. Um vier Uhr. Um sechs Uhr. Im Radiowecker dudelt der Popmüll von HOT 99.5, trotzdem höre ich betäubt zu und wünsche mir, dass mein Bett ein Krater ist, in dem ich für immer versinke. Das Radio läuft und läuft, bevor ich mich am Nachmittag dazu durchringe, es auszuschalten und aus dem Bett zu klettern. Ich gönne mir Pop-Tarts und Brownies. Auch Ho Hos esse ich gern. Letzten Freitag war Gavril zu Besuch hier und sah, dass ich zum Frühstückskaffee eine ganze Packung von diesen Schokokuchen mit Cremefüllung verspeiste. »Kein Wunder, dass dir ständig schlecht ist«, meinte er. Sein Atem roch nach Espresso, Zigaretten und diesen Coolsa-Blättchen mit Heidelbeergeschmack, auf denen er ständig herumkaut.

Vor einigen Jahren beendete Simka eine Sitzung mit den Worten: »Dominic, der Fisch stinkt vom Kopf her.«

Er riet mir zur Wiederentdeckung der Körperpflege: Egal, wie schlecht es mir ging, ich würde mich garantiert noch schlechter fühlen, wenn ich nicht duschte. Also dusche ich mich, und es hilft tatsächlich. Jeden Morgen rasiere ich mich mit langen Strichen über Hals und Kiefer. Über den ganzen Schädel. Oben bin ich ganz zerschrammt. Schwarze Flecken, violette Flecken, labyrinthhafte Adware-Furchen wie die Straßenkarte einer fremden Stadt. Ich blicke in den Spiegel und folge den Drähten, als könnten sie mich irgendwohin führen – weg von hier, wo ich in Wirklichkeit bin.

Simka mahnt mich immer, mir einen bequemen Platz zum Schreiben zu suchen. Er hat mir das Arbeitszimmer in seinem Haus in Maryland beschrieben: Eichenschreibtisch und Panoramafenster mit Blick auf einen Garten voller Bäume. Ich lebe in einer Sozialwohnung, doch über eine Feuertreppe gelangt man zu einer Terrasse mit Aussicht auf die Klimaanlagen und Funkantennen der umgebenden Dächer. Dort oben ist es kalt. Die Topfpflanzen auf der benachbarten Terrasse sind schon vor Wochen beim ersten Frost eingegangen, stehen aber immer noch braun und brüchig herum. Eingepackt in Morgenmantel, Trainingshose, ein graues Kapuzenshirt und dicke Socken, schlürfe ich meinen Kaffee. Der Sonnenaufgang fließt rosa über den Himmel – wunderschön.

Still hier. WLAN ist in der Miete inbegriffen oder sollte es zumindest sein, doch der Router ist schon seit drei Jahren kaputt. Bei jedem Autoconnect-Versuch meiner Adware höre ich ein feuchtes Klicken wie das Knacken eines Fingerknöchels direkt hinter meinem rechten Ohr. Dann muss ich immer wieder die Warnmeldung ausblenden, obwohl ich dem Programm den Befehl gegeben habe, nie informiert zu werden, wenn das Signal schwach ist. Alle fünf Minuten macht es klick, das Netzverbindungs-Icon in meiner Peripherie dreht sich, und das Pop-up Schwaches Signal trudelt in mein Gesichtsfeld. »Ausblenden«, befehle ich dann. Fünf Minuten später klickt es erneut. Das treibt mich in den Wahnsinn.

Hier ist es also: Ein Tag in meinem Leben. Eine Chronik für Dr. Simka.

Theresa. Theresa Marie.

Schon ihren Namen zu schreiben fühlt sich an wie Phantomschmerzen.

Inzwischen nehme ich den Bus, weil ich meinen VW bereits vor Jahren aus Geldnot verkauft habe. Die Plätze sind belegt, also setze ich mich hinter den Fahrer neben ein zerkratztes Glasplakat, durch das Werbung für die Abtreibungspille Mifeprex, die Bedürftigenhilfe TANF und YouPorn läuft. In der Nähe des Dupont Circle verbindet sich meine Adware automatisch mit wifi.dc.gov, und die Feeds prickeln über meinen Schädel. Ein paar Sekunden lang ist alles schwarz, dann rebootet mein Gesichtsfeld mit einer beschissenen Darstellung von Augs und Apps, überwiegend Gratisangebote. Sobald mein Blick auf eines fällt, rückt es näher, während die anderen zurückweichen, und mein Profil wird mit so vielen Pop-ups und Würmern überschwemmt, dass alles nur noch flimmert. Auf halber Länge des Busses schweben GPS-Infos, Strecken- und Fahrpläne – wahrscheinlich in Echtzeit, allerdings weicht der Busfahrplan mindestens um eine halbe Stunde ab, und die gezeigte Route existiert überhaupt nicht. Der Fahrgast auf der anderen Seite des Gangs starrt kichernd zur Decke. Er ist völlig in seine Streams versunken und sabbert auf seinen Regenmantel. Außerdem verschickt er wahllos Freundschaftsanfragen. Zum Glück ist mein soziales Netzwerk geschlossen, sodass mich niemand belästigen kann. Ich schaue aus dem Fenster und konzentriere mich auf den Hauptfeed von CNN:

BUY AMERICA!!! FUCK AMERICA!!! SELL AMERICA!!!

Der Aufmacher ist ein neu durchgesickertes Sextape von Präsidentin Meecham, das den zehnten Jahrestag der Zerstörung Pittsburghs auf den zweiten Platz verdrängt. PRÄSIDENTIN ALS TEEN-SCHLAMPE ENTLARVT! SEXSKANDAL UM MEECHS MUSCHI!

Kopfschmerzen von der Nachrichten- und Reklameflut, die meine nicht mehr ganz taufrische Adware überlastet. Vor Jahren habe ich den Scheiß auf Craigslist einem Studenten aus Maryland abgekauft, der da schon einige Drähte durchgeschmort hatte, ohne mich darauf aufmerksam zu machen. Hilfiger, Sergio Tacchini, Nokia, Puma. Präsidentin Meecham in ihrer Zeit als Miss Teen Pennsylvania kniet im Mittelgang des Buses. Echtes Filmmaterial, verspricht CNN, keine Simulation, keine Nachstellung. Sie fasst sich an, und der Moderator kommentiert: Überall haben Amerikaner die Wahl zwischen Liebe und Schmutz, und sie entscheiden sich einmütig für den Schmutz. Al Jazeera ist der einzige Stream, der den Bericht über Pittsburgh als Headliner bringt. Man sieht Satellitenbilder vom ersten sonnigen Tag nach dem Ende, von der versengten Erde am Eingang der Appalachian Mountains, die aussieht wie eine schwarze Hasenlippe. Halt auf Knopfdruck.

Gavril wohnt in Ivy City, in einem renovierten Loft an der Ecke Fenwick und Okie Street. Lagerhallen, verlassene Mietshäuser, ein Starbucks, ein Così-Restaurant. Gavrils Haus ist beschmiert mit Graffiti und zugekleistert mit Handzetteln für längst vergangene Qafqa-Konzerte, Fotokopien von der Pilzwolke über Pittsburgh, Sexangeboten von männlichen Models und Billigtarifen für Liebeshotels. Aufgesprüht: Wer auf dem Weg Allahs getötet wird, ist ein Märtyrer. BBC America spielt immer wieder »The Star-Spangled Banner« zu Luftaufnahmen von Pittsburgh, wie es war und wie es heute ist: schwarze Häuserskelette zwischen radioaktivem Wildwuchs. Doch der Stream bricht ab und lädt neu, weil die vielen vandalisierten und nicht lizensierten Tags das Schutzprogramm meiner Adware auslösen. Sind wir heute sicherer als vor zehn Jahren?

Ich klingle am Eingang.

»Kdo je to?«

»Ich bin’s, Dominic.«

»Moment, bitte.«

Immer wenn ich hier bin, drängen sich in der Wohnung Freundinnen und schnorrende Studenten, Dichter, die mir schon mal über den Weg gelaufen sind, Politiker, die sich Kokain reinziehen, Models, die auf einem Sofa zusammengeklappt sind, Lektoren, ziellos wartende Geschäftspartner der einen oder anderen Art, Schauspieler, die sich in der Küche Sandwiches zubereiten. Keine Ahnung, was das alles für Leute sind, jedenfalls geht es zu wie in einem Taubenschlag, und es gibt nie einen Platz zum Hinsetzen. Gav ist mein Cousin, der Sohn der Schwester meiner Mutter. Aufgewachsen in Prag, mit siebzehn ein Szenestar – als Installationskünstler, Studienabbrecher und Aussteller auf der Art Basel. Nach Pittsburgh ließ er alles liegen und stehen, um bei mir in den Staaten sein zu können. Dafür liebe ich ihn, dafür und überhaupt. Nach seiner Ankunft hier gab er die Kunst völlig auf und machte sich mit Modeporno und Fotografie selbstständig. Der Erfolg spricht für ihn.

Eins von Gavrils Models öffnet die Tür: eine biegsame Blondine, fast so groß wie ich und dermaßen blass und dünn, dass ihre Haut durchsichtig erscheint. Zwanzig? Einundzwanzig? Sie trägt ein zum Kleid gegürtetes XXL-Trikot von Manchester United und sonst nichts, und die rosigen Spitzen ihrer Nippel schimmern deutlich durch den zarten Stoff.

»Was ist das mit dieser Frost-Scheiße?«

»Du bist Engländerin«, stelle ich fest.

Sie verdreht die Augen. Ihr Profil ist offenbar gefälscht: Twiggy, heißt es da, geboren am 19. September 1949. Beruf: It-Girl. Der Werbevertrag mit dem Textilunternehmen American Apparel ist allerdings real, und ihr Profil leuchtet in urheberrechtlich geschützten, schwungvollen Buchstaben.

»Ich habe eine Frage gestellt. Robert Frost? Soll das ein schlechter Witz sein?«

»Du musst die Dichterin sein«, antworte ich. »Gav hat erwähnt, dass du vielleicht hier bist.«

»Er meint, er liest Frost, um sich bei den Aufnahmen für Anthropologie inspirieren zu lassen. Ich hab ihm gesagt, wenn er pastorale Bilder braucht, dann soll er lieber bei Wordsworth nachschauen. Aber du gibst ihm sowieso lauter falsche Sachen zum Lesen.«

»Wordsworth? Meine Güte, das kannst du ihm nicht antun. Bist du Studentin?«

»Georgetown University. Amerikanische Literatur. Schwerpunkt Moderne des zwanzigsten Jahrhunderts. Ich stehe auf Plath.«

»Liebeslied eines verrückten Mädchens«, sage ich. »Das gefällt mir.«

»Sie hätte Adware benutzen sollen, um sich von dieser ganzen obsessiven Scheiße abzulenken. Sie war hinreißend, hätte wunderbar zur Mademoiselle-App gepasst.«

»Ich schließ die Augen, und alles ist wie neu geboren.« Mein Zitat ist absichtlich falsch.

»Gavril war der Meinung, dass wir uns verstehen.«

Von der endlosen Party ist heute Vormittag wenig übrig. Nur ein Quartett von Szenetypen schiebt am Küchentisch Karten hin und her, raucht Zigaretten und isst Eier. Twiggy gesellt sich zu einer braunhaarigen jungen Frau, die in dem interaktiven Videospiel Punch-Out gegen Mike Tyson antritt. Die Möbel sind zur Seite geschoben, und Tyson tänzelt bullig herum. Die Braunhaarige im Elastanbody und schenkelhohen Strümpfen drischt und keilt wild um sich. Sie ist modeldürr und ähnelt einem zuckenden weiblichen Skelett, das sich vor Lachen ausschüttet.

»Du Niete.« Twiggy macht sich für Tyson bereit. »Du musst den Aufwärtshaken ausweichen.«

Ein Sprecher von BBC America schwebt in mein Blickfeld. Hinrichtungen nach Terrorismusprozess, mit einem Federstrich enthauptet Meecham Tausende von Dschihadisten …

Gavril ist im hinteren Schlafzimmer, das er als Dunkelkammer bezeichnet, obwohl er nichts entwickelt, weil ihm die digitale Arbeit auf seinem iMac lieber ist. Riesige Drucke seiner statischen Fotografie dekorieren die Wände: junge Frauen, die er auf der Straße entdeckt und auf umwerfende Weise katalogfertig einfängt. Gavril steckt in einem Trainingsanzug – seine übliche Athletenpose – und lächelt, als er mich sieht. Seine Umarmung endet mit einem doppelten Aneinanderstoßen der Fäuste, eine Begrüßung, die ich prompt versiebe. Er lacht. Das Zimmer riecht nach ihm: Head & Shoulders Apple Fresh, Eau de Cologne von Clive Christian. Glühende Zigaretten in geleerten Kaffeetassen. Als er in die USA zog, war er ein Handtuch, doch bei dem guten Essen hat er zugenommen. Er lächelt gern, und seine Muskeln sind steinhart vom vielen Fußball und Sex. Er trägt ausschließlich Pyjamas oder Trainingsanzüge, in was anderem habe ich ihn noch nie gesehen.

»John Dominic«, sagt er.

»Gav.«

»Alles klar, Mann? Werden wir übersetzt? Verstehst du mich richtig?«

»Ich versteh dich.« Die App kann seinen tschechischen Worten einigermaßen folgen, allerdings kommt er manchmal rüber wie ein schlecht synchronisierter Film.

»Ich hab dir gesagt, ich will Englisch lernen, um mich zu inspirieren, Robert Frost im Original lesen …«

»Ich kann dir gern mehr zu Frost erklären.«

»Ich warte auf Bäume und Schnee im Wald und solchen Quatsch, und was kriege ich? Irgendeinen Knirps, der sich mit der Säge die Hand abschneidet, und allen ist es scheißegal.«

»Sie holen einen Arzt«, widerspreche ich.

»Verdammte Hacke«, ruft Gavril. »Ich will Pferde und Bäume, verschneite Felder und Scheunen und so einen Scheiß …«

»Ich weiß, was du willst.«

»Genau, Mann, der nicht gegangene Weg.«

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»Darauf kommen wir gleich. Wie laufen die Geschäfte?«

»Die Geschäfte laufen bestens«, antwortet er. »Hör zu, wenn du Arbeit suchst, ich könnte Texte für ein paar Sachen brauchen.«

»Klar, schick mir eine Mail.«

»Ich schick dir auch noch die Abzüge von Twiggy. Was meinst du, hm? Sag schon.«

»Zu der Frau da draußen? Also wirklich, Gav …«

»Pass auf, ich erzähl dir was.« Er macht eine kurze Pause. »Ich stecke gerade mitten in der Vorproduktion für den Winterkatalog von Anthropologie, oben in New England, und auf einmal kriege ich einen Anruf von American Apparel. Sie haben einen Eilauftrag, eine interaktive Kampagne, die sie starten wollen, aber ihr Fotograf hat sich abgeseilt, hab noch nie gehört von dem Typen, und jetzt fragen sie an, ob ich das übernehmen kann. Sie haben mir das Doppelte von meinem normalen Satz geboten, also habe ich natürlich gesagt, klar, das schiebe ich rein. Einzige Bedingung ist, ich muss die Mädchen nehmen, die sie schicken. Sie wollen Amateure, und Twiggy hat in einer Internetumfrage gewonnen, bei der per Mausklick über das ›Mädchen von nebenan‹ abgestimmt wurde. Sag mir einfach, was du davon hältst, okay? Figur wie eine Göttin, die Titten zeigen direkt nach oben. Vivian ist ihr echter Name, kommt aus England. Hey, Dominic, das wär doch der ideale Job für dich. Model-Scout.«

»Nein, nein. So was liegt mir nicht.«

»Ich kann dich vermitteln, Dominic. Das hilft besser gegen deine Depression als dieser ganze Therapiequatsch. Du kommst bei einer Agentur unter. Dann fliegst du nach Island oder Brasilien, und du musst bloß noch – du kannst doch mit einer Kamera umgehen, oder?«

Portale von Anthropologie und American Apparel in der Adware. Junge Frauen in Flowerprint-Klamotten in Frankreich auf dem Land. Felder, verlassene Scheunen. Die Bilder für die Sommerkollektion von Anthropologie sind wirklich paradiesisch, und ich kann fast vergessen, dass ich in dieser Wohnung, in dieser Stadt, in diesem Leben bin. Ich blättere zehn Scheine auf den Schreibtisch. Gavril zählt nach und steckt das Geld ein, dann gibt er mir eine Blisterpackung Brown Sugar. Das Ganze läuft wortlos ab, nebenher, als wären wir gerade erst auf die Idee gekommen.

»Also«, sagt er. »Gib mir Bescheid wegen Twiggy. Sie hat erwähnt, dass sie Dichter kennenlernen will, da habe ich ihr erzählt, dass du der beste bist, den ich kenne. Sie hätte Lust …«

»Ich glaube nicht, dass ich besonders interessiert bin.«

»Pittsburgh war vor zehn Jahren, Mann. Das ist eine Ewigkeit. Du suhlst dich in deinem Schmerz, du musst das endlich vergessen. Du brauchst Ablenkung. Wenn du willst, lass ich dich einspringen, wenn ich die zwei Mädels fotografiere. Ich filme dich bei einem Dreier …«

»Wie geht’s meiner Tante?«

»Ich meine es ernst, Dominic. Du musst den Kopf freikriegen. Spaß haben. Zum Leben ist es nicht zu spät.«

»Ich kann nicht«, erwidere ich. »Ich kann nicht.«

»Ja, also, deiner Tante geht es gut. Sie ist die ganze Zeit in ihrem Atelier und macht Holzschnitte. Sie ist total glücklich, aber sie sorgt sich um dich. Ich habe ihr ein Bild von neulich gezeigt, und sie meint, du siehst aus, als hätte dich ein Bär gefressen. Ein Bär, Dominic. Sie möchte, dass du Urlaub bei ihr auf dem Land machst. In Domažlice. Um ein bisschen auszuspannen. Sie vermisst ihren Neffen …«

»Ich besuche sie«, sage ich. »Vielleicht keine schlechte Idee, mal ein bisschen aufs Land zu fahren und von allem wegzukommen.«

»Säbelt sich die Hand ab, und allen ist es scheißegal. Scheunen und Pferde, Mann. Nächstes Mal will ich Scheunen und Pferde. Ich möchte Robert Frost für mein Anthropologie-Konzept verarbeiten können. Scheunen, Pferde …«

»Wann bist du frei zum Abendessen?«

»Ich ruf dich an«, antwortet er. »Diese Woche ist es ziemlich eng. Ich lad dich zu einem Sandwich bei Primanti’s ein.«

»Da lieber nicht.«

»Bleib offen für Kontakte …«

»Also, bis zum nächsten Mal.« Ich lasse ihn stehen.

Im Wohnzimmer hat sich Twiggy inzwischen besser auf Tyson eingestellt. Sie landet Kombinationstreffer, und um den Kopf des Boxers schwirren zwitschernde Vögel.

Als sie mich sieht, bricht sie das Spiel ab. »Kann ich mit dir reden?« Sie zieht mich beiseite und will wissen, ob ich Drogen nehme.

»Nicht viel. Gelegentlich Brown Sugar, nichts Hartes.«

»Du magst also Wachmacher?«

»Bloß manchmal zum Konzentrieren.«

»Ich möchte dir was geben.« Sie öffnet ihre Handtasche, einen goldenen Schlauch, in dem Lippenstift und Autoschlüssel gerade so Platz finden, und fischt eine herzförmige Pille in einer Plastiktüte heraus.

»Was ist das?«

»Ein Valentine.« Sie steckt mir das Ding in den Mund. »Wenn die Wirkung einsetzt, nimmst du den Brown Sugar.«

Ich beiße darauf – die Pille schmeckt nach Kirschen. Twiggy addet mich und schiebt ihre Konktaktinfo in mein Adressverzeichnis. »Wenn’s dir gefällt, kann ich dir mehr besorgen. Falls du mal über Plath reden oder dich mit Ann Sexton auseinandersetzen möchtest …«

Nachdem sie zu ihrem Spiel zurückgekehrt ist, beobachte ich einen Herzschlag zu lang, wie ihr Jerseytrikot bei jedem Schlag nach oben rutscht. Meine Adware füllt sich mit Pop-up-Fenstern und umgeleiteten Streams, die Hostessenservice und Begleitung anbieten. Kameragirls in spärlicher Wäsche gurren, dass sie mich treffen wollen. Twiggys Pille beginnt zu wirken. Als ich aus der Wohnung haste, trüben illegale undurchsichtige Sexreklamen den Blick, und ich stolpere fast die Treppe hinunter. Die Frauen aus den Streams sind so realistisch, dass ich auf dem Absatz einen Schritt zur Seite mache, um sie vorbeizulassen. Doch es sind bloß Bilder, Illusionen aus Licht. »Ich will nichts, ich will sie nicht«, nuschele ich. Aber die Werbung weiß besser als ich, was ich mir wünsche, und ganze Armeen von Mädchen marschieren vor mir auf, alles leichte Variationen von Twiggy, Hunderte von Blondinen im Foyer, bis ich endlich draußen auf der Straße bin. Dann bevölkern sie den Gehsteig, wie das Spiegelbild eines Spiegels, und tausend Twiggys entschwinden im Gleichschritt in der Ferne.

Am Dupont Circle gibt es ein Kentucky Fried Chicken. Das zweistöckige Restaurant ist brechend voll, die Leute stehen Schlange. Speisekarten-Apps kapern meine Aufmerksamkeit mit strahlenden, knusprigen Hähnchengerichten. Natur, Cajun, Buffalo! Ganz ruhig. Ich kann es mir nicht leisten, dass irgendein KFC-Zivilbulle misstrauisch wird und einen Drogenhund anfordert. Ein Karton mit zwei Stück Extracrispy von der Verkaufstheke und eine WC-Marke an der Kasse. Im ersten Stock gibt es halbwegs abgeschlossene Kabinen. Ich lasse das Essen stehen und steige hinauf zur Toilette. Jemand wäscht sich die Hände. Mehrere Kabinen besetzt. Ich schließe mich in der hintersten ein und reiße die Packung Brown Sugar auf, um die Pille zu schlucken. Der Nachgeschmack bleibt als Film auf meiner Zunge kleben: kreidig, bitter. JESUS CHRISTUS HAT MEINE SEELE GERETTETin die Tür geritzt. Jemand hat Colonel Sanders mit einem Riesenschwanz gezeichnet, aus dem Regenbögen hervorschießen. Zusammen mit Twiggys Valentine trifft mich der Hit wie ein Stromschlag, als wäre alles um mich herum in Licht geätzt. Die Kabine und das Klo fangen an zu pulsieren. Colonel Sanders wirkt auf einmal real, lächerlich real, mit Struktur und Volumen, das Haar wie eine Baumwollspule, und die Regenbögen glitzern in den schönsten Farben, die ich je gesehen habe. Unendliche Ströme spülender Toiletten und waschender Hände. Ich schlendere aus meiner Kabine und dann aus dem Lokal. Draußen auf dem Platz klaube ich Kiesel vom Zebrastreifen. Ich denke an die City.

Pittsburgh.

Ich konzentriere mich auf das Three Rivers Net, und die Archiv-App zoomt heran mit dem Icon, das das von den Flüssen umrahmte Golden Triangle zeigt. Als ich das City-Archiv lade, verdunkelt sich mein Gesichtsfeld, und es erscheint das golden-schwarze Wappen von Pittsburgh mit den Adlermünzen und dem Burgturmmotiv.

Einloggen.

»John Dominic Blaxton.« Die Silben kommen mir schwer über die Lippen. Automatisches Vervollständigen zulassen? Ja. Passwort erinnern? Ja. Vage denke ich an den Verkehr auf dem Dupont Circle, an plärrende Hupen und Schreie. Jemand fragt, ob alles in Ordnung ist. Natürlich ist alles in Ordnung. Als man mir über den Zebrastreifen helfen will, hinüber zum sicheren Gehsteig, schüttle ich die Leute in Panik ab. Vielleicht stürze ich auf den Asphalt. Da sind andere Stimmen, Geräusche vom Dupont Circle. Zugleich verschwinden das Archiv-Wappen und Washington, und dann umgibt mich die City von Pittsburgh. Sommerliches Zwielicht im Westen von Pennsylvania, so wirklich wie in einem Traum.

Parkway 376, die Schnellstraße vom Flughafen. Der Belag grau wie Mondstaub, die umliegenden Hügel dicht bewachsen mit abendlich dunklen Bäumen. Am Ende war es hier so: die Fahrspuren zu eng und verstopft vom hohen Verkehrsaufkommen. Das Gleißen heranrasender Scheinwerfer, die Hecklichter wie eine endlose Reihe von Rubinen. Ich bin hier. Ich erinnere mich. Einkaufszentren, Tankstellen und Restaurants beleuchten die Kuppen der verschatteten Hügel. Dort habe ich Besorgungen erledigt. In diesen Lokalen war ich essen. Unter der verrosteten Eisenbahnbrücke von Norfolk and Western steigt die Straße hinauf, ehe sie sich in Schleifen durch die Hänge wieder hinabwindet bis zum Tunnel, einem in den Berg geschlagenen Viereck aus poliertem Licht. Dann geht es durch einen verschwommenen Schimmer aus Beton und Keramikplatten, das hallende Rauschen von Motoren und Wind, und am Ende des Tunnels bricht die City in einem grellen Durcheinander von Glas und Stahl über mich herein. Ich tauche quer durch die Skyline. Das Gleißen der Wolkenkratzer schwebt auf Autobahnsträngen, die von goldenen Brücken eingegrenzt sind, und die Innenstadt spiegelt sich geisterhaft in den schwarzen Flüssen. Mein Gott, mein Gott, ich erinnere mich. Das ist, wonach ich mich sehne, das ist, wonach ich mich schon immer gesehnt habe, das ist, woran ich mich erinnern will.

Ich bin hier.

»Bezahlen beim Aussteigen!« Der Busfahrer, ein älterer Farbiger, nippt an einer Thermoskanne. Dienstpullunder und -hose.

Am liebsten würde ich ihn am Arm berühren, um zu spüren, wie real er sich anfühlt. Stattdessen suche ich mir einen Platz im hinteren Bereich, dankbar dafür, dass ich die einander überlagernden Schichten aus Körpergeruch, abgestandener Luft und Vinylsitzaroma einatmen kann. Es ist der 54C: South Side nach Oakland. Außer mir sind noch andere Archivbesucher im Bus. Wir unterscheiden uns von den Nachbildungen, die irgendwie dunkler sind. Wir sehen uns an und fragen uns, was wir verloren haben.

Der Bus folgt der Route auf der Carson Street, und einige von uns steigen aus, um sich zwischen den Lichtern und Menschen treiben zu lassen und das Gefühl eines Samstagabends in South Side auszukosten. Wegen des zehnten Jahrestags sind heute mehr Leute im Archiv unterwegs als gewöhnlich: Überlebende, die sich mit Erinnerungen umgeben. In den Bars drängen sich Gesichter, in den bläulichen Schein eines Steelers-Spiels auf den Flachbildschirmen getaucht. Wiederholungen, dennoch jubeln sie, als wäre alles neu, als wüssten sie nicht längst, wer gewonnen hat. Auf der Carson Street herrscht reges Leben, ganz wie früher. Trotzdem bleibe ich lieber im Bus, um die vorbeiziehenden Straßen und die vertrauten Orte zu sehen. Orte, die ich aufsuchen und an denen ich meine Bekannten antreffen könnte, als wäre nichts passiert, als wären sie noch immer hier und am Leben. Das japanische Steakhaus Nakama, Piper’s Pub, Fat Head’s. An der 17th Street hält der Bus, und weitere Fahrgäste steigen ein. Echte Menschen, andere Überlebende. Fragend schauen wir einander an.

Zwischen den Flüssen fahre ich mit dem 54C nach Osten, bis zum Rand von Shadyside. Dann gehe ich zu Fuß weiter zur Ellsworth Avenue. Auf Straßen mit Villen und gepflegten Rasen – Häuser von Toten. Alle, die hier lebten, sind tot. Baumschatten, weiter oben vor der Ampel an der Negley Avenue mehrere wartende Autos. Gleich hinter der Kreuzung ein Uni-Mart-Schild. Dort habe ich immer Milch gekauft. Überteuerte Müslipackungen, Instantkaffee, Twinkies, Slim Jims. An der Theke Säureblocker und Aspirin. Dort wurden noch Playboy und Penthouse verkauft, als es schon sehr schwierig geworden war, noch gedruckte Zeitschriften zu finden. Uni-Mart präsentierte sie auf einem Drahtständer neben Modejournalen, Us Weekly undZeitschriften mit Bildern von Frauen und Lastwagen, alles eingeschweißt. Wie gern würde ich mir die ansehen. Wie gern würde ich durch die Gänge streifen, das scharfe Putzmittel auf den Toiletten oder die saftigen Hotdogs auf dem Grill riechen und beobachten, wie ein Slush kirschrot in den Pappbecher sprudelt. Aber nicht jetzt, nicht jetzt.

Der Wohnkomplex Georgian mit seinen schwarzen Eisentoren. Hier haben wir gelebt. Schichten von Gerüchen: gemähter Rasen, Auspuffgase, gebratene Speisen aus den Restaurants einige Blocks weiter an der Walnut Street. Weitere Schichten, jeder Baum mit einem SmartTag markiert: Amerikanische Ulme, Silberpappel, besondere Beleuchtung für eine Hängebirke. Am Boden Lilie, Tulpe, jede Blume mit Links zu Wikipedia, dem Online-Archiv JSTOR und der Datenbank des Botanischen Gartens. Bewegliche SmartTags an Insekten, ein annotierter Ameisenberg mit etwa fünf Meter entfernten Quellenangaben.

Ich bin hier …

An der Ellsworth Avenue haben die Ginkgos ihre Blätter abgeworfen, und auf dem Gehsteig klebt der säuerlich miefende Belag zertretener Beeren. Ich laufe durch den Hof des Georgian. Den Pfad säumen Steinbänke, und die Doppeltür wird von Säulen eingerahmt. Neue Schicht, aus den Urnen quillt der Duft fuchsienfarbiger Pfingstrosen. Das Foyer des Hauses ist schwarz und weiß gefliest, mit Messingbriefkästen für die Mieter und einem gemeißelten Sims über einem Zierkamin. Alles ist so real. Im Spiegel über dem Kamin erscheint mein Ebenbild, aber ich bringe es nicht über mich hinzusehen. Der Paisley-Teppich auf der zentralen Treppe ist abgewetzt und stinkt nach Zigarettenrauch. Die Stufen und Bohlen knarren. Brandtüren und schummerige Gänge. Am Ende des Korridors ein leuchtendes Exit-Schild, ein Fenster mit dünnen Vorhängen. Apartment 208.

Ich bin hier …

Kurz vor der Tür ist ein Stück Wand als SmartTag gestaltet, das durch die Gesichter der früheren Bewohner des Apartments scrollt. Die Bilder stammen von Führerscheinen, Studentenausweisen und Volkszählungen. Zum Teil sind sie über gecachte Facebook-Profile mit den Namen in den Mietverträgen verbunden.

Blaxton, John Dominic und Theresa Marie …

Das SmartTag verschwindet und lädt mein Profil. Ich trete in den Flur meiner alten Wohnung. Die Wände sind cremefarben, das Hartholzparkett schimmert blond. Die Küche erinnert an eine Kombüse, das kleine Bad hat gesprungene Fliesen und ein Waschbecken mit separaten Griffen für heißes und kaltes Wasser. Die Heizkörper husten und scheppern. Ich ziehe Jacke und Schuhe aus. Wir hatten nicht viele Möbel, doch das wenige ist noch da: die meerschaumgrüne Ikea-Couch vor den Bücherregalen, eine Garnitur Holzstühle, die wir rot gestrichen haben. Die Bücherborde hängen durch unter der Last der Lyrikbücher und der Gedichtmanuskripte, die mir zur Prüfung zugeschickt worden sind und die ich nie gelesen habe – und auch nie lesen werde. Ungefähr fünfzig Meter vor dem Haus kreuzen Bahngleise die Busstrecke. Anfangs nach unserem Einzug hassten wir die Züge, doch dann gewöhnten wir uns allmählich an das eiserne Wiegenlied, mit dem sie Nacht für Nacht an unseren Fenstern vorüberrauschten. Sie fehlen mir, o Gott, wie sie mir fehlen. Unser Schlafzimmer ist sparsam eingerichtet. Ein Futon mit Kissen und Steppdecken, alles ungemacht, so wie wir es hinterlassen haben. Eine Kommode, billig in der Kinderabteilung von Target erstanden. Ein Fernseher mit einem DVD-Spieler. Ich ziehe mich aus. Dann liege ich mit ihr im Bett, den Arm um sie geschlungen, und warte darauf, dass uns die Züge in den Schlaf singen. Ich atme den Duft ihres Haars ein. Es wird Nacht.