19,99 €
Adam Tooze erzählt in seinem atemberaubenden Buch die Geschichte der zwölf Monate vom Januar 2020 bis Januar 2021. Am Anfang gibt Xi Jinping der Weltöffentlichkeit bekannt, dass sich in China ein tödliches neues Virus ausbreitet. Am Ende zieht Joe Biden als Nachfolger von Donald Trump ins Weiße Haus ein. Dazwischen liegen die Schockwellen einer Pandemie, die keinen Kontinent, kein Land und keine Bevölkerung ungeschoren lässt. Der brillante Wirtschaftshistoriker Tooze schildert nicht nur, wie und warum Staaten und nationale Ökonomien auf jeweils eigene Weise und mit sehr unterschiedlichen Resultaten auf das Geschehen reagiert haben. Er analysiert die Pandemie auch im Kontext der anderen großen Krisen unserer Zeit, von der Finanzkrise über die Klimakrise bis zur Flüchtlingskrise. Welt im Lockdown ist eine tiefenscharfe Diagnose der Gegenwart und ein Buch, aus dem man lernen kann, wie die globalisierte Welt funktioniert, in der wir heute leben.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Adam Tooze
WELT IM LOCKDOWN
DIE GLOBALE KRISE UND IHRE FOLGEN
Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn
C.H.Beck
Adam Tooze erzählt in seinem atemberaubenden Buch die Geschichte der zwölf Monate vom Januar 2020 bis Januar 2021. Am Anfang gibt Xi Jinping der Weltöffentlichkeit bekannt, dass sich in China ein tödliches neues Virus ausbreitet. Am Ende zieht Joe Biden als Nachfolger von Donald Trump ins Weiße Haus ein. Dazwischen liegen die Schockwellen einer Pandemie, die keinen Kontinent, kein Land und keine Bevölkerung ungeschoren lässt. Der brillante Wirtschaftshistoriker schildert aber nicht nur, wie und warum Staaten und nationale Ökonomien auf jeweils eigene Weise und mit sehr unterschiedlichen Resultaten auf das Geschehen reagiert haben. Er analysiert die Pandemie auch im Kontext der anderen großen Krisen unserer Zeit, von der Finanzkrise über die Klimakrise bis zur Flüchtlingskrise. Welt im Lockdown ist eine tiefenscharfe Diagnose der Gegenwart und ein Buch, aus dem man lernen kann, wie die globalisierte Welt funktioniert, in der wir heute leben.
«Einer der führenden ‹Global Thinkers› unserer Zeit.»
Foreign Policy
Adam Tooze ist Autor der hochgerühmten Bücher «Ökonomie der Zerstörung» und ««Crashed» und gilt als einer der führenden Wirtschaftshistoriker unserer Zeit. Nach Stationen in Cambridge und Yale lehrt er heute an der Columbia University. Seine Arbeiten wurden mehrfach preisgekrönt, u.a. mit dem renommierten Wolfson Preis für Geschichte sowie dem Preis Historisches Buch von H-Soz-Kult.
EINLEITUNG
ERSTER TEIL: KRANKHEIT X
KAPITEL 1: ORGANISIERTE UNVERANTWORTLICHKEIT
KAPITEL 2: WUHAN, NICHT TSCHERNOBYL
KAPTIEL 3: FEBRUAR: VERGEUDETE ZEIT
KAPITEL 4: MÄRZ: GLOBALER LOCKDOWN
ZWEITER TEIL: EINE GLOBALE KRISE OHNE BEISPIEL
KAPITEL 5: IM FREIEN FALL
KAPITEL 6: NOCH EINMAL: «WHATEVER IT TAKES»
KAPITEL 7: DIE WIRTSCHAFT AUF DER INTENSIVSTATION
KAPITEL 8: DER WERKZEUGKASTEN
DRITTER TEIL: EIN HEISSER SOMMER
KAPITEL 9: Next Generation EU
KAPITEL 10: CHINA: MOMENTUM
KAPITEL 11: AMERIKAS NATIONALE KRISE
VIERTER TEIL: INTERREGNUM
KAPITEL 12: WETTLAUF UM DEM IMPFSTOFF
KAPITEL 13: SCHULDENERLASS
KAPITEL 14: FORTGESCHRITTENE VOLKSWIRTSCHAFTEN: DIE GELDHÄHNE AUF!
SCHLUSS
ANHANG
DANKSAGUNG
ANMERKUNGEN
Einleitung
KAPITEL 1ORGANISIERTE UNVERANTWORTLICHKEIT
KAPITEL 2WUHAN, NICHT TSCHERNOBYL
KAPTIEL 3FEBRUAR: VERGEUDETE ZEIT
KAPITEL 4MÄRZ: GLOBALER LOCKDOWN
KAPITEL 5IM FREIEN FALL
KAPITEL 6NOCH EINMAL: «WHATEVER IT TAKES»
KAPITEL 7DIE WIRTSCHAFT AUF DER INTENSIVSTATION
KAPITEL 8DER WERKZEUGKASTEN
KAPITEL 9Next Generation EU
KAPITEL 10CHINA: MOMENTUM
KAPITEL 11AMERIKAS NATIONALE KRISE
KAPITEL 12WETTLAUF UM DEM IMPFSTOFF
KAPITEL 13SCHULDENERLASS
KAPITEL 14FORTGESCHRITTENE VOLKSWIRTSCHAFTEN: DIE GELDHÄHNE AUF!
Schluss
PERSONENREGISTER
Für unsere Reisegefährten
Wenn es ein Wort gibt, das die Erfahrung des Jahres 2020 zusammenfasst, dann wäre es Unvorstellbarkeit.
Zwischen Xi Jinpings öffentlichem Eingeständnis des Coronavirus-Ausbruchs am 20. Januar 2020 und Joseph Bidens Amtseinführung als 46. Präsident der Vereinigten Staaten genau ein Jahr später, am 20. Januar 2021, wurde die Welt von einer Krankheit erschüttert, die innerhalb von zwölf Monaten mehr als 2,2 Millionen Menschen tötete und Dutzende Millionen schwer erkranken ließ. Im April 2021, als dieses Buch abgeschlossen wurde, hatte die Zahl der weltweiten Corona-Toten die Marke von 3,2 Millionen überschritten. Die Gefahr, die von der Pandemie ausging, störte die tägliche Routine praktisch aller Menschen auf dem Planeten, brachte einen Großteil des öffentlichen Lebens zum Erliegen, führte zu Schulschließungen, trennte Familien, unterbrach den Reiseverkehr innerhalb und zwischen Ländern und brachte die Weltwirtschaft ins Wanken. Um die Auswirkungen einzudämmen, nahm die staatliche Unterstützung für Haushalte, Unternehmen und Märkte Ausmaße an, wie es sie außerhalb von Kriegszeiten noch nicht gegeben hatte. Es handelte sich nicht nur um die bei weitem schärfste wirtschaftliche Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg, sie war auch qualitativ einzigartig. Nie zuvor hatte es eine kollektive Entscheidung gegeben, wie zufällig und ungleichmäßig sie auch ausfallen mochte, große Teile der Weltwirtschaft stillzulegen. Es war, wie es der Internationale Währungsfonds (IWF) ausdrückte, «eine Krise ohne Beispiel».[1]
Das Virus war der Auslöser. Aber noch bevor wir wussten, was uns da ereilen würde, gab es durchaus Grund zu der Annahme, dass das Jahr 2020 stürmisch werden könnte. Der Konflikt zwischen China und den USA kochte hoch.[2] Ein «neuer Kalter Krieg» lag in der Luft. Das globale Wachstum hatte sich 2019 stark verlangsamt. Der IWF sorgte sich um die destabilisierende Wirkung, die geopolitische Spannungen auf die hoch verschuldete Weltwirtschaft haben konnten.[3] Ökonomen entwickelten neue statistische Indikatoren, um die Unsicherheit zu erfassen, die Investitionen hemmte.[4] Die Daten deuteten stark darauf hin, dass die Ursache der Probleme im Weißen Haus lag.[5] Der 45. amerikanische Präsident, Donald Trump, hatte es geschafft, sich zu einer ungesunden globalen Obsession zu machen. Er stand im November zur Wiederwahl und schien den Wahlvorgang unter allen Umständen diskreditieren zu wollen, selbst wenn er zu einem Sieg führen sollte. Nicht umsonst lautete das Motto der Münchner Sicherheitskonferenz – dem Davos für Sicherheitspolitiker – 2020 «Westlessness».[6]
Neben den Sorgen um Washington lief die Uhr für die endlosen Brexit-Verhandlungen ab. Noch beunruhigender für Europa war gleich zu Beginn des Jahres 2020 die Aussicht auf eine neue Flüchtlingskrise.[7] Im Hintergrund lauerten sowohl die Gefahr einer endgültigen grausamen Eskalation des syrischen Bürgerkriegs als auch das chronische Problem der Unterentwicklung. Die einzige Möglichkeit, dies zu beheben, bestand darin, Investitionen und Wachstum im globalen Süden anzukurbeln. Der Kapitalfluss war jedoch sowohl instabil als auch ungleich verteilt. Ende 2019 stand die Hälfte der Kreditnehmer mit den niedrigsten Einkommen in Afrika südlich der Sahara bereits kurz vor der Zahlungsunfähigkeit.[8]
Und mehr Wachstum war kein Allheilmittel. Es brachte mehr Umweltbelastungen mit sich. 2020 sollte ein entscheidendes Jahr in der Klimapolitik werden. Die 26. UN-Klimakonferenz (COP26) sollte nur wenige Tage nach der US-Wahl im November 2020 in Glasgow tagen.[9] Sie sollte den fünften Jahrestag des Pariser Klimaabkommens markieren. Sollte Trump gewinnen, was zu Beginn des Jahres durchaus möglich schien, würde die Zukunft des Planeten auf dem Spiel stehen.
Das allgegenwärtige Gefühl von Risiko und Angst, das die Weltwirtschaft umgab, bedeutete eine bemerkenswerte Umkehrung. Noch vor nicht allzu langer Zeit schienen der scheinbare Triumph des Westens im Kalten Krieg, der Aufstieg der Finanzmärkte, die Wunder der Informationstechnologie und der sich ausweitende Orbit des Wirtschaftswachstums die Stellung der kapitalistischen Wirtschaft als alles erobernder Triebkraft der modernen Geschichte zu zementieren.[10] In den 1990er Jahren war die Antwort auf die meisten politischen Fragen scheinbar einfach gewesen: «It’s the economy, stupid!»[11] Da das Wirtschaftswachstum das Leben von Milliarden von Menschen veränderte, gab es, wie Margaret Thatcher zu sagen pflegte, «keine Alternative». Das heißt, es gab keine Alternative zu einer Ordnung, die auf Privatisierung, dezenter Regulierung und der Freiheit des Kapital- und Warenverkehrs basierte. Noch im Jahr 2005 konnte Großbritanniens Premierminister Tony Blair erklären, über die Globalisierung zu streiten sei genauso sinnvoll wie darüber, ob auf den Sommer der Herbst folgen sollte.[12]
Im Jahr 2020 standen sowohl die Globalisierung als auch die Jahreszeiten dezidiert in Frage. Die Wirtschaft war nun nicht mehr die Antwort, sondern die Frage. Die offensichtliche Antwort auf «It’s the economy, stupid!» war «Whose economy?», «Which economy?» oder sogar «What’s the economy?». Eine Reihe tiefgreifender Krisen – beginnend in Asien in den späten 1990er Jahren über das atlantische Finanzsystem im Jahr 2008 und die Eurozone im Jahr 2010 bis zu den globalen Rohstoffproduzenten im Jahr 2014 – hatte das Vertrauen in die Marktwirtschaft erschüttert.[13] All diese Krisen wurden überwunden, allerdings mittels Staatsausgaben und Interventionen der Zentralbanken, die fest verankerte Grundsätze über «small government» und «unabhängige» Zentralbanken auf den Kopf stellten. Und wer profitierte davon? Während die Gewinne in private Taschen flossen, wurden die Verluste sozialisiert. Die Krisen waren durch Spekulation ausgelöst worden. Das Ausmaß der Interventionen, die notwendig waren, um sie zu stabilisieren, war historisch. Dennoch wuchs der Reichtum der globalen Elite weiter an. Wen konnte es überraschen, so die mittlerweile gängige Frage, wenn die wachsende Ungleichheit zu populistischen Unruhen führte?[14] Viele Brexiteers und Trump-Wähler wollten einfach nur «ihre» nationale Volkswirtschaft zurückhaben.
Unterdessen raubte Chinas spektakulärer Aufstieg der Wirtschaft in einem anderen Sinne ihre Unschuld. Es war nicht mehr klar, dass die großen Götter des Wachstums auf der Seite des Westens standen. Das, so stellte sich heraus, brachte eine zentrale Annahme ins Wanken, auf der der Washington-Konsens beruhte. Bald würde Amerika nicht mehr die Nummer eins sein. Tatsächlich wurde immer deutlicher, dass die Götter, zumindest die Naturgöttin Gaia, mit dem Wirtschaftswachstum ganz und gar nicht einverstanden waren.[15] Der Klimawandel, der einst nur die Umweltbewegung beschäftigt hatte, wurde zum Sinnbild für ein umfassenderes Ungleichgewicht zwischen Natur und Menschheit. Die Rede von «Green Deals» und Energiewenden war allgegenwärtig.
Dann, im Januar 2020, kam die Nachricht aus Peking. China sah sich mit einer ausgewachsenen Epidemie eines neuartigen Coronavirus konfrontiert. Zu diesem Zeitpunkt war die Sache bereits schlimmer als der Ausbruch von SARS, der einem 2003 Schauer über den Rücken gejagt hatte. Es war der natürliche «Blowback», vor dem Umweltschützer schon lange gewarnt hatten, aber während der Klimawandel uns dazu veranlasste, unseren Geist auf planetarische Dimensionen auszudehnen, und eine Agenda in Form von Jahrzehnten aufzustellen, war das Virus mikroskopisch klein, allgegenwärtig und bewegte sich mit einer Geschwindigkeit von Tagen und Wochen. Es betraf nicht Gletscher und Meeresfluten, sondern unsere Körper. Es wurde mit unserem Atem übertragen. Es sollte nicht nur einzelne Volkswirtschaften, sondern die gesamte Weltwirtschaft in Frage stellen.
Das Virus, das im Januar 2020 die Bezeichnung SARS-CoV-2 erhalten sollte, war kein schwarzer Schwan, kein radikal unerwartetes, unwahrscheinliches Ereignis. Es war vielmehr ein graues Nashorn, ein Risiko, das so selbstverständlich geworden ist, dass es unterschätzt wird.[16] Als es aus dem Schatten auftauchte, hatte das graue Nashorn SARS-CoV-2 das Aussehen einer vorausgesagten Katastrophe. Es war genau die Art von hochansteckender, grippeähnlicher Infektion, die Virologen vorhergesagt hatten. Es kam von einem der Orte, die sie als Ausgangspunkt erwartet hatten – der Region eines engen Zusammenspiels zwischen Wildnis, Landwirtschaft und städtischer Bevölkerung, die sich über Ostasien erstreckt.[17] Es verbreitete sich, wie vorherzusehen war, über die globalen Verkehrs- und Kommunikationskanäle. Es hatte offen gesagt ohnehin ziemlich lange gedauert.
In den Wirtschaftswissenschaften ist viel über den «China-Schock» diskutiert worden – die Auswirkungen der Globalisierung und des plötzlichen Anstiegs der Importe aus China in den frühen 2000er Jahren auf die westlichen Arbeitsmärkte.[18] SARS-CoV-2 war ein «China-Schock», und zwar ein ziemlich heftiger. Schon zu Zeiten der Seidenstraße waren Infektionskrankheiten quer durch Eurasien von Ost nach West gereist. In früheren Zeiten war ihre Ausbreitung durch das langsame Reisetempo begrenzt gewesen. Im Zeitalter der Segelschifffahrt starben die Krankheitsüberträger meist schon unterwegs. Im Jahr 2020 bewegte sich das Coronavirus mit der Geschwindigkeit des Jets und des Hochgeschwindigkeitszugs. Das Wuhan des Jahres 2020 war eine wohlhabende Metropole mit vielen erst jüngst zugewanderten Bewohnern. Die Hälfte der Bevölkerung wollte die Stadt verlassen, um das chinesische Neujahrsfest zu feiern. SARS-CoV2 brauchte nur wenige Wochen, um sich von Wuhan aus in ganz China und in weiten Teilen der übrigen Welt zu verbreiten.
Ein Jahr später, Ende Januar 2021, taumelte die Welt. In der Geschichte des modernen Kapitalismus hat es noch nie einen Moment gegeben, in dem fast 95 % der Volkswirtschaften auf der Welt gleichzeitig einen Rückgang des Pro-Kopf-BIP zu verkraften hatten, wie es in der ersten Hälfte des Jahres 2020 der Fall war.
Mehr als drei Milliarden Erwerbstätige im Erwachsenenalter wurden in Zwangsurlaub geschickt oder mussten von zu Hause aus arbeiten.[19] Fast 1,6 Milliarden junge Menschen auf der ganzen Welt mussten ihre Ausbildung unterbrechen.[20] Ganz abgesehen von der beispiellosen Erschütterung des Familienlebens schätzte die Weltbank, dass sich der Verlust an Lebenseinkommen aufgrund des entgangenen Humankapitals auf 10 Billionen US-Dollar belaufen könnte.[21] Die Tatsache, dass die Welt kollektiv diesen Stillstand gewollt hat, unterscheidet diese Rezession grundlegend von allen vorherigen. Nachzuzeichnen, wer wo und unter welchen Bedingungen die Entscheidungen getroffen hat, ist eine wichtige Aufgabe dieses Buches.
Es war, wie wir alle erfahren mussten, eine Erschütterung, die weit über alles hinausging, was sich in Statistiken über BIP, Handel und Arbeitslosigkeit erfassen lässt. Die meisten Menschen hatten noch nie eine so schwerwiegende Unterbrechung ihres Alltagslebens erlebt. Sie verursachte Stress, Depressionen und psychische Ängste. Ende 2020 widmete sich der größte Teil der wissenschaftlichen Forschung zum Thema Covid-19 den Auswirkungen auf die psychische Gesundheit.[22]
Wie die Krise erlebt wurde, hing vom jeweiligen Standort und der Nationalität ab. In Großbritannien und den USA wurde das Jahr 2020 nicht nur als Notstand im Gesundheitswesen oder als schwere Rezession erlebt, sondern als Höhepunkt einer ganzen Periode eskalierender nationaler Krisen, die sich in die Begriffe «Trump» und «Brexit» fassen ließen. Wie konnten Länder, die sich einst der globalen Hegemonie rühmten und in Sachen der öffentlichen Gesundheit unangefochten führend waren, bei der Bewältigung der Pandemie so sehr versagen? Das musste Ausdruck einer tiefer liegenden Krankheit sein.[23] Vielleicht war es ihre gemeinsame Begeisterung für den Neoliberalismus? Oder die Kulmination eines jahrzehntelangen Niedergangsprozesses? Oder die Insellage ihrer politischen Kulturen?[24]
In der EU ist «Polykrise» ein Begriff, der im letzten Jahrzehnt in Gebrauch gekommen ist. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker entlehnte ihn von dem französischen Komplexitätstheoretiker Edgar Morin.[25] Juncker wollte damit die Krisenkonvergenz zwischen 2010 und 2016 bezeichnen, die Krise der Eurozone, den Konflikt in der Ukraine, die Flüchtlingskrise, den Brexit und den europaweiten Aufstieg des nationalistischen Populismus.[26]
Der Begriff der Polykrise erfasst das Zusammentreffen verschiedener Krisen, sagt aber nicht viel darüber aus, auf welche Weise sie zusammenwirken.[27] Im Januar 2019 hielt Chinas Präsident Xi Jinping eine viel beachtete Rede über die Pflicht der Kader der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh), sowohl schwarze Schwäne als auch graue Nashörner zu antizipieren.[28] Im selben Sommer veröffentlichten Study Times und Qiushi, die beiden Zeitschriften, über die die KPCh ihren eher intellektuellen Kadern doktrinäre Erläuterungen übermittelt, einen Aufsatz von Chen Yixin, der Xis aphoristische Beobachtungen näher erläuterte.[29] Chen ist ein Protegé von Xi Jinping und wurde während der Corona-Krise dazu auserkoren, die Aufräumarbeiten der Partei in der Provinz Hubei zu leiten.[30] In seinem Aufsatz von 2019 stellte Chen die Fragen: Wie wirkten die Risiken zusammen? Wie verwandelten sich wirtschaftliche und finanzielle Risiken in politische und soziale Risiken? Wie haben sich «Cyberspace-Risiken» zu «tatsächlichen sozialen Risiken» zusammengebraut? Wie wurden externe Risiken internalisiert?
Um zu verstehen, wie sich Polykrisen entwickeln, schlug Chen vor, dass sich Chinas Sicherheitsbeamten auf sechs Haupteffekte konzentrieren sollten.
Da China ins Zentrum der Weltbühne gerückt sei, sollten sie sich vor einem «Rückfluss» von Interaktionen mit der Außenwelt schützen.
Gleichzeitig sollten sie auf die «Konvergenz» von oberflächlich betrachtet unterschiedlichen Bedrohungen zu einer einzigen neuen Bedrohung achten. Die Unterschiede zwischen innen und außen, neu und alt könnten leicht verschwimmen.
Neben der «Konvergenz» müsse man sich auch mit dem «Schichtungseffekt» auseinandersetzen, bei dem «sich die Forderungen von Interessengruppen aus verschiedenen Gemeinschaften überlagern und auf diese Weise geschichtete soziale Probleme schaffen: aktuelle Probleme mit historischen Problemen, konkrete Interessenprobleme mit ideologischen Problemen, politische Probleme mit unpolitischen Problemen – sie alle überschneiden und überlagern sich».
Da die Kommunikation rund um die Welt immer einfacher werde, könnten daraus «Verknüpfungseffekte» resultieren. Gemeinschaften könnten sich «über Entfernungen hinweg miteinander verständigen und sich gegenseitig bestärken».
Das Internet ermögliche nicht nur Rückfluss und Verknüpfung, sondern auch die plötzliche Verstärkung von Nachrichten. Die KPCh, so warnte Chen, müsse mit dem «Vergrößerungseffekt» rechnen, bei dem «jede Kleinigkeit zu einem … Strudel werden kann; ein paar Gerüchte … können leicht einen ‹Sturm im Wasserglas› erzeugen und unvermittelt einen echten ‹Tornado› in der Gesellschaft hervorrufen».
Schließlich gebe es den «Induktionseffekt», durch den Probleme in einer Region indirekt eine wohlwollende Reaktion und Nachahmung in einer anderen Region hervorriefen, wobei sich diese Reaktion oft aus bereits bestehenden ungelösten Problemen speise.[31]
Wenngleich im hölzernen Stil der Kommunistischen Partei Chinas präsentiert, passt Chens Liste auf fast unheimliche Weise zu den Erfahrungen des Jahres 2020. Das Virus war ein Beispiel für einen Rückfluss in riesigem Ausmaß, vom ländlichen China in die Stadt Wuhan, von Wuhan in den Rest der Welt. Politiker im Westen wie auch in China hatten mit Konvergenz, Schichtung und Verknüpfung zu kämpfen. Die Black-Lives-Matter-Protestbewegung, die auf der ganzen Welt Resonanz fand, war eine gigantische Demonstration der Vergrößerungs- und Induktionseffekte.[32]
Wenn man den ursprünglichen Kontext außer Acht lässt, könnte man Chens Checkliste für die Parteikader tatsächlich als Leitfaden für unser Privatleben lesen, als eine Selbsthilfeanleitung für die Corona-Krise. Wie viele Familien, wie viele Paare, wie viele von uns, die wir durch Quarantäne eingeschlossen und isoliert waren, waren gegen Vergrößerungs- und Induktionseffekte gefeit? Manchmal hatte man das Gefühl, als würde die unsichtbare Bedrohung durch das Virus die schwächsten Teile unserer Persönlichkeiten und unsere intimsten Beziehungen strapazieren.
Es hat schon weitaus tödlichere Pandemien gegeben. Was im Falle von Corona 2020 dramatisch neu war, war das Ausmaß der Reaktion. Und das wirft eine Frage auf. Der Chefkommentator der Financial Times, Martin Wolf, hat sie so formuliert:
«Warum … ist der wirtschaftliche Schaden einer solchen vergleichsweise milden Pandemie so groß? Die Antwort lautet: Weil es möglich war. Wohlhabende Menschen können leicht auf einen großen Teil ihrer normalen täglichen Ausgaben verzichten, während ihre Regierungen betroffene Menschen und Unternehmen in großem Umfang unterstützen können. … Die Reaktion auf die Pandemie ist ein Spiegelbild der heutigen wirtschaftlichen Möglichkeiten und gesellschaftlichen Werte, zumindest in den reichen Ländern.»[33]
Tatsächlich ist eines der bemerkenswerten Dinge im Jahr 2020, dass auch die Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen bereit waren, einen hohen Preis zu zahlen. Anfang April war der Großteil der Welt außerhalb Chinas, wo das Virus bereits eingedämmt war, an einer beispiellosen Anstrengung beteiligt, das Virus zu stoppen. Ein hager aussehender Lenín Moreno, Präsident von Ecuador, einem der am stärksten betroffenen Länder, hat das so ausgedrückt: «Das ist der echte erste Weltkrieg. … Die anderen Weltkriege fanden auf [einigen] Kontinenten mit sehr wenig Beteiligung von anderen Kontinenten statt … aber das hier betrifft alle. Es ist nicht lokal begrenzt. Es ist ein Krieg, dem man nicht entkommen kann.»[34]
Wenn es ein Krieg war, dem man nicht entkommen konnte, so war es doch ein Krieg, für den man sich entscheiden musste. Und genau das rechtfertigt es tatsächlich, das Jahr 2020 als eine Krise zu bezeichnen. In seiner ursprünglichen Bedeutung beschreibt Krise oder krisis (griechisch) einen kritischen Wendepunkt im Verlauf einer Krankheit. Sie steht mit dem Wort krinein in Verbindung, das «trennen», «entscheiden» oder «beurteilen» bedeutet, wovon wir die Wörter Kritik und Kriterium, den Maßstab für ein Urteil, ableiten.[35] Es scheint daher ein doppelt passender Ausdruck zu sein, um die Auswirkungen eines Virus zu beschreiben, das den Menschen, den Organisationen, den Regierungen auf allen Ebenen, überall auf der Welt, eine Reihe von gewaltigen und äußerst schwierigen Entscheidungen aufzwingt.
Lockdown ist der Begriff, der sich eingebürgert hat, um unsere kollektive Reaktion zu beschreiben. Das Wort selbst ist umstritten. Denn Lockdown suggeriert Zwang. Vor 2020 war es ein Begriff, der mit kollektiver Bestrafung in Gefängnissen assoziiert wurde. Es gab Momente und Orte, an denen das eine zutreffende Beschreibung für die Reaktion auf Covid war. In Delhi, in Durban, in Paris patrouillierten bewaffnete Polizisten durch die Straßen, nahmen Namen und Nummern auf und bestraften diejenigen, die gegen die Ausgangssperre verstießen.[36] In der Dominikanischen Republik wurden erstaunliche 85.000 Menschen, fast 1 % der Bevölkerung, wegen Verstößen gegen den Lockdown verhaftet.[37]
Selbst wenn keine Zwangsgewalt im Spiel war, konnte eine von der Regierung verordnete Schließung aller Lokale und Bars für deren Besitzer und Kunden repressiv wirken. Verfolgt man jedoch den weiteren Verlauf der Ereignisse und konzentriert sich, wie in diesem Buch, auf die wirtschaftliche Reaktion auf die Pandemie, so scheint Lockdown eine einseitige Beschreibung der Reaktion auf das Coronavirus zu sein. Die Mobilität nahm schlagartig ab, lange bevor die Regierung Anordnungen erließ. Auf den Finanzmärkten begann die Flucht in die Sicherheit bereits Ende Februar. Es gab keinen Gefängniswärter, der die Tür zuschlug und den Schlüssel umdrehte. Die Investoren gingen in Deckung. Die Verbraucher blieben zu Hause. Unternehmen schlossen oder verlegten sich auf Heimarbeit. Textilarbeiterinnen in Bangladesch wurden von ihren Arbeitsplätzen ausgesperrt, bevor sie angewiesen wurden, zu Hause zu bleiben. Manchmal folgten staatliche Maßnahmen auf private Entscheidungen. Manchmal nahmen sie diese vorweg. Mitte März handelte die ganze Welt unter dem Zwang der gegenseitigen Beobachtung und Nachahmung. Das Herunterfahren, der Shutdown wurde zur Norm. Diejenigen, die sich außerhalb des nationalen Territorialraums befanden, wie Hunderttausende von Seeleuten, fanden sich in einen schwimmenden Schwebezustand verbannt.
In der Rekonstruktion der Krise sollten wir die Frage, wer was wo und wie entschieden hat und wer wem was auferlegt hat, zunächst offen halten. Damit unterstellt man nicht, dass der Prozess freiwillig oder eine Angelegenheit des individuellen freien Willens war, denn das war er sicherlich nicht. Ziel dieses Buches ist es, die Interaktion zwischen erzwungenen Entscheidungen nachzuzeichnen, die im wirtschaftlichen Bereich unter Bedingungen enormer Ungewissheit auf verschiedenen Ebenen überall auf der Welt getroffen wurden, von den Einkaufsstraßen bis zu den Zentralbanken, von Familien bis zu Fabriken, von Favelas bis zu Tradern, die gestresst an improvisierten Arbeitsplätzen in ihrem Vorstadthaus hockten. Entscheidungen waren von Angst getrieben oder wurden durch wissenschaftliche Vorhersagen erzwungen. Sie wurden durch staatliche Anordnungen oder soziale Konventionen erforderlich. Aber sie konnten auch durch die Bewegung von Hunderten von Milliarden Dollar motiviert sein, die durch winzige, flackernde Bewegungen bei den Zinssätzen angetrieben wurde.
Die weit verbreitete Verwendung des Begriffs «Lockdown» ist ein Indiz dafür, als wie umstritten sich die Politik des Virus erweisen sollte. Gesellschaften, Gemeinschaften, Familien stritten erbittert über Gesichtsmasken, Social Distancing und Quarantäne. Dabei ging es oftmals scheinbar oder tatsächlich um existenzielle Dinge. Es war schwer, das eine vom anderen zu unterscheiden. Das Ganze war ein Beispiel im großen Stil für das, was der Soziologe Ulrich Beck in den 1980er Jahren als «Risikogesellschaft» bezeichnet hat.[38] Als Folge der Entwicklung der modernen Gesellschaft sahen wir uns kollektiv von einer unsichtbaren, nur für die Wissenschaft sichtbaren Bedrohung verfolgt, einem Risiko, das so lange abstrakt und immateriell blieb, bis man erkrankte und die, die Pech hatten, an der sich in der Lunge ansammelnden Flüssigkeit erstickten.
Eine Möglichkeit, auf eine solche Risikosituation zu reagieren, ist der Rückzug in die Leugnung. Das kann durchaus funktionieren. Es wäre naiv, etwas anderes zu glauben. Es gibt viele allgegenwärtige Krankheiten und soziale Übel, darunter viele, die in großem Umfang Leben kosten, die ignoriert und naturalisiert, als «Tatsachen des Lebens» behandelt werden. Mit Blick auf die größten Umweltrisiken, insbesondere den Klimawandel, könnte man sagen, dass unsere normale Herangehensweise Leugnung und vorsätzliche Ignoranz im großen Stil sind.[39] Selbst dringende medizinische Notfälle wie Pandemien, bei denen es um Leben und Tod geht, werden durch Politik und Macht gefiltert. Angesichts des Coronavirus hätten einige eindeutig eine Strategie der Leugnung bevorzugt. Das hat etwas von einem Glücksspiel. Es riskiert eine plötzliche, skandalöse Politisierung. Das Für und Wider wurde immer wieder abgewogen. Oftmals erklärten sich die Befürworter des «Aussitzens» und «Durchstehens» gerne zu Verteidigern des gesunden Menschenverstandes und des Realismus, nur um dann festzustellen, dass ihre kaltblütige Abgeklärtheit in der Theorie überzeugender war als in der Praxis.
Sich der Pandemie zu stellen war das, was die große Mehrheit der Menschen auf der ganzen Welt zu tun versuchte. Das Problem aber ist, wie Beck betonte, dass es leichter gesagt als getan ist, mit modernen Makrorisiken umzugehen.[40] Es erfordert eine Verständigung darüber, was das Risiko ist, das die Wissenschaft in unsere Auseinandersetzungen verstrickt und uns übrige mit der Ungewissheit der Wissenschaft belastet.[41] Es erfordert auch eine selbstreflexive kritische Auseinandersetzung mit unserem eigenen Verhalten und mit der gesellschaftlichen Ordnung, zu der es gehört. Es erfordert die Bereitschaft, sich mit politischen Entscheidungen auseinanderzusetzen, mit Entscheidungen über die Verteilung von Ressourcen und Prioritäten auf allen Ebenen. Das läuft dem in den letzten vierzig Jahren vorherrschenden Wunsch zuwider, genau das zu vermeiden, zu entpolitisieren, Märkte oder das Gesetz zu nutzen, um solchen Entscheidungen aus dem Weg zu gehen.[42] Das ist die grundlegende Stoßrichtung hinter dem, was wir als «Neoliberalismus» oder Marktrevolution kennen – Verteilungsfragen zu entpolitisieren, einschließlich der sehr ungleichen Folgen gesellschaftlicher Risiken, egal ob diese auf strukturelle Veränderungen in der globalen Arbeitsteilung, Umweltschäden oder Krankheiten zurückzuführen sind.[43]
Corona entlarvte grell unseren institutionellen Mangel an Vorbereitung, das, was Beck unsere «organisierte Unverantwortlichkeit» genannt hat. Es offenbarte die Schwäche grundlegender staatlicher Verwaltungsapparate, wie etwa aktueller Einwohnerregister und staatlicher Datenbanken. Um der Krise zu begegnen, bedurften wir einer Gesellschaft, die der Fürsorge einen viel höheren Stellenwert einräumt.[44] Von unerwarteter Seite wurde lautstark nach einem «neuen Gesellschaftsvertrag» gerufen, der die unverzichtbaren Arbeitskräfte angemessen würdigen und die Risiken berücksichtigen sollte, die der globalisierte Lebensstil der Wohlhabendsten mit sich bringt.[45] Wie die Programme für einen Green New Deal, die seit Beginn des Jahrtausends immer wieder auftauchten, sollten solche großen Entwürfe inspirierend wirken.[46] Sie sollten mobilisieren. Sie warfen die Machtfrage auf. Wenn es einen neuen Gesellschaftsvertrag geben sollte, wer sollte ihn schließen?
Viele der Rufe nach großen gesellschaftlichen Reformen hatten 2020 einen seltsamen Beigeschmack. Als die Corona-Krise über uns hereinbrach, war die Linke auf beiden Seiten des Atlantiks, zumindest der Teil, der von Jeremy Corbyn und Bernie Sanders befeuert worden war, gerade dabei, eine Niederlage zu erleiden. Das Versprechen einer radikalisierten und wiedererstarkten Linken, die sich um die Idee des Green New Deal herum organisierte, schien sich in der Pandemie aufzulösen. Es fiel den Regierungen vor allem der Mitte und der Rechten zu, der Krise zu begegnen. Sie bildeten eine seltsame Truppe. Jair Bolsonaro in Brasilien und Donald Trump in den Vereinigten Staaten versuchten es mit Leugnung. Für sie gingen Klimawandelskepsis und Virusskepsis Hand in Hand. In Mexiko schlug die vermeintlich linke Regierung von Andrés Manuel López Obrador (gerne abgekürzt AMLO) ebenfalls einen eigenwilligen Weg ein und weigerte sich, drastische Maßnahmen zu ergreifen. Nationalistische Machthaber wie Rodrigo Duterte auf den Philippinen, Narendra Modi in Indien, Wladimir Putin in Russland und Recep Tayyip Erdoğan in der Türkei leugneten das Virus nicht, sondern vertrauten vor allem auf ihren Appell an nationale Gefühle und ihre Einschüchterungstaktik, um sich durchzusetzen. Es waren die gemäßigten Führungspersönlichkeiten der politischen Mitte, die am meisten unter Druck standen. Figuren wie Nancy Pelosi und Chuck Schumer in den USA oder Sebastián Piñera in Chile, Cyril Ramaphosa in Südafrika, Emmanuel Macron, Angela Merkel, Ursula von der Leyen und ihresgleichen in Europa. Sie akzeptierten die Wissenschaft. Leugnen war für sie keine Option. Sie wollten unbedingt zeigen, dass sie es besser konnten als die «Populisten». Um der Krise zu begegnen, taten ganz gewöhnliche Politiker am Ende sehr radikale Dinge. Das meiste davon war Improvisation und Kompromiss, aber soweit es ihnen gelang, ihren Antworten einen programmatischen Anstrich zu geben – sei es in Form des NextGeneration-Programms der EU oder Bidens «Build Back Better»-Programms im Jahr 2020 –, stammten sie aus dem Repertoire der grünen Modernisierung, der nachhaltigen Entwicklung und des Green New Deal.
Das Ergebnis war eine bittere historische Ironie. Während die Verfechter des Green New Deal eine politische Niederlage einstecken mussten, bestätigte das Jahr 2020 auf durchschlagende Weise den Realismus ihrer Diagnose. Es war der Green New Deal, der die Dringlichkeit enormer ökologischer Herausforderungen direkt adressiert und sie mit Fragen extremer sozialer Ungleichheit verknüpft hatte. Es war der Green New Deal, der darauf bestand, dass sich Demokratien bei der Bewältigung dieser Herausforderungen nicht von konservativen finanz- und geldpolitischen Doktrinen lähmen lassen durften, die aus den längst vergangenen Schlachten der 1970er Jahre stammten und durch die Finanzkrise von 2008 diskreditiert worden waren. Es war der Green New Deal, der tatkräftige, engagierte, zukunftsorientierte, junge Bürger mobilisiert hatte, von denen die Demokratie eindeutig abhing, wenn sie eine hoffnungsvolle Zukunft haben sollte. Der Green New Deal hatte natürlich auch gefordert, dass ein System, das Ungleichheit, Instabilität und Krisen produzierte und reproduzierte, radikal reformiert werden sollte, anstatt unablässig daran herumzuflicken. Für die Politiker der Mitte war das eine Herausforderung. Aber ein Reiz der Krise bestand darin, dass man langfristige Zukunftsfragen beiseite schieben konnte. 2020 ging es einzig und allein ums Überleben.
Die unmittelbare wirtschaftspolitische Reaktion auf den Corona-Schock knüpfte direkt an die Lehren von 2008 an. Die Fiskalpolitik war noch umfangreicher und schneller. Die Interventionen der Zentralbanken fielen noch spektakulärer aus. Wenn man beides gedanklich miteinander verknüpfte – Fiskal- und Geldpolitik –, bestätigte es die wesentlichen Einsichten ökonomischer Doktrinen, die einst von radikalen Keynesianern vertreten worden waren und von Lehren wie der Modern Monetary Theory (MMT) neu in Mode gebracht wurden.[47] Die Staatsfinanzen sind nicht wie die eines privaten Haushalts begrenzt. Wenn ein monetärer Souverän die Frage, wie die Finanzierung zu organisieren ist, als etwas behandelt, das mehr ist als eine technische Angelegenheit, ist das seinerseits eine politische Entscheidung. Wie Keynes einst mitten im Zweiten Weltkrieg seine Leser erinnerte: «Alles, was wir tatsächlich tun können, können wir uns auch leisten.»[48] Die eigentliche Herausforderung, die wirklich politische Frage bestand darin, sich darauf zu verständigen, was wir tun wollten, und herauszufinden, wie wir es tun sollten.
Die wirtschaftspolitischen Experimente des Jahres 2020 waren nicht auf die reichen Länder beschränkt. Begünstigt durch die von der Fed freigesetzte Dollarschwemme, aber auch gestützt auf jahrzehntelange Erfahrungen mit schwankenden globalen Kapitalströmen, zeigten viele Regierungen der Schwellenländer als Reaktion auf die Krise bemerkenswerte Initiative. Sie setzten ein ganzes Instrumentarium an Maßnahmen ein, das es ihnen ermöglichte, sich gegen die Risiken der globalen Finanzintegration abzusichern.[49] Ironischerweise ließ Chinas größerer Erfolg bei der Viruskontrolle seine Wirtschaftspolitik, anders als 2008, relativ konservativ erscheinen. Länder wie Mexiko und Indien, in denen sich die Pandemie schnell ausbreitete, die Regierungen aber nicht mit einer groß angelegten Wirtschaftspolitik reagierten, wirkten zunehmend unzeitgemäß. 2020 wurden wir Zeugen eines bisher undenkbaren Spektakels, als der IWF eine vermeintlich linke mexikanische Regierung dafür kritisierte, kein ausreichend großes Haushaltsdefizit zu haben.[50]
Es war schwer, sich des Gefühls zu erwehren, an einem Wendepunkt angelangt zu sein. War dies endlich der Tod der Orthodoxie, die seit den 1980er Jahren in der Wirtschaftspolitik vorgeherrscht hatte? War dies das Totenglöcklein des Neoliberalismus?[51] Als kohärente Ideologie des Regierens vielleicht. Die Vorstellung, dass die natürliche Umwelt als Umhüllung wirtschaftlicher Aktivität ignoriert oder den Märkten zur Regulierung überlassen werden könnte, war eindeutig realitätsfremd. Gleiches galt für die Vorstellung, dass sich die Märkte in Bezug auf alle denkbaren sozialen und wirtschaftlichen Schocks selbst steuern könnten. Noch dringlicher als im Jahr 2008 diktierte das Überleben Interventionen in einem Ausmaß, wie es zuletzt im Zweiten Weltkrieg zu beobachten gewesen war.
All dies ließ die doktrinären Ökonomen nach Luft schnappen. Das ist an sich nicht überraschend. Das orthodoxe Verständnis von Wirtschaftspolitik war schon immer unrealistisch. Als Praxis der Macht war der Neoliberalismus immer radikal pragmatisch gewesen. Seine wirkliche Geschichte war die einer Reihe von staatlichen Interventionen im Interesse der Kapitalakkumulation, einschließlich des Einsatzes staatlicher Gewalt, um Widerstände auszuschalten.[52] Wie auch immer die doktrinären Drehungen und Wendungen aussehen mochten: die gesellschaftlichen Realitäten, mit denen die Marktrevolution seit den 1970er Jahren verwoben war – der tief verwurzelte Einfluss des Reichtums auf Politik, Recht und Medien, die Entmachtung der Arbeiter –, blieben allesamt bestehen. Und welche historische Kraft brachte die Deiche der neoliberalen Ordnung zum Bersten? Die Geschichte, die wir in diesem Buch nachzeichnen werden, ist nicht die eines Wiederauflebens des Klassenkampfs oder einer radikalen populistischen Herausforderung. Was den Schaden anrichtete, waren eine Seuche, ausgelöst durch rücksichtsloses globales Wachstum, und das wuchtige Schwungrad der Finanzakkumulation.[53]
Im Jahr 2008 war die Krise durch die Überexpansion der Banken und die Exzesse der Verbriefung von Hypotheken ausgelöst worden. Im Jahr 2020 traf Corona das Finanzsystem von außen, doch die Fragilität, die dieser Schock sichtbar werden ließ, war intern erzeugt. Diesmal waren nicht die Banken das schwache Glied, sondern die Wertpapiermärkte selbst. Der Schock traf das Herz des Systems, den Markt für amerikanische Staatsanleihen, die vermeintlich sicheren Vermögenswerte, auf denen die gesamte Kreditpyramide basiert. Wäre dieser Markt zusammengebrochen, hätte er den Rest der Welt mit sich gerissen. In der dritten Märzwoche 2020 befanden sich auch die City of London und Europa in der Krise. Wieder einmal schusterten die Fed, das US-Finanzministerium und der Kongress ein Flickwerk von Interventionen zusammen, die einen Großteil des privaten Kreditsystems wirksam stützten. Dieser Effekt strahlte durch das dollarbasierte Finanzsystem auf die übrige Welt aus. Was auf dem Spiel stand, war das Überleben eines globalen Netzwerks des marktbasierten Finanzsystems, das Daniela Gabor treffend als «Wall-Street-Konsens» bezeichnet hat.[54]
Das Ausmaß der stabilisierenden Interventionen im Jahr 2020 war beeindruckend. Es bestätigte die grundlegende Aussage des Green New Deal, dass demokratische Staaten, wenn der Wille vorhanden ist, über die nötigen Instrumente verfügen, um Kontrolle über die Wirtschaft auszuüben. Das war freilich eine zweischneidige Erkenntnis, denn wenn diese Interventionen eine Behauptung souveräner Macht waren, so waren sie doch krisengetrieben.[55] Wie 2008 dienten sie den Interessen derjenigen, die am meisten zu verlieren hatten. Diesmal wurden nicht nur einzelne Banken, sondern ganze Märkte für «too big to fail» erklärt.[56] Um diesen Kreislauf von Krise und Stabilisierung zu durchbrechen und Wirtschaftspolitik zu einer echten Übung in demokratischer Souveränität zu machen, wäre eine grundlegende Reform an Haupt und Gliedern erforderlich. Das würde eine echte Machtverschiebung erfordern, doch die Chancen dafür stehen schlecht.
Die Marktrevolution der 1970er Jahre war zweifellos eine Revolution der ökonomischen Ideen, aber sie war weit mehr als das. Der von Thatcher und Reagan geführte Krieg gegen die Inflation war ein umfassender Feldzug gegen eine Bedrohung durch soziale Umwälzungen, die sie als von außen und von innen kommend sahen. Seine Dringlichkeit hatte damit zu tun, dass der Klassenkonflikt in Europa, Asien und den USA in den 1970er und frühen 1980er Jahren immer noch von den globalen Kämpfen der Entkolonialisierung und des Kalten Krieges umrahmt war.[57] Die konservative Kampagne war umso dringlicher, als der Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems zwischen 1971 und 1973 das Geld vom Gold löste und die Tür für eine expansive Wirtschaftspolitik öffnete. Was drohte, war nicht der dezente Keynesianismus der Nachkriegszeit, sondern etwas viel Radikaleres. Um dieses Risiko einzudämmen, mussten die Grenzen von Staat und Gesellschaft neu gezogen werden. In diesem Kampf bestand der entscheidende institutionelle Schritt darin, die Kontrolle des Geldes von der demokratischen Politik zu isolieren, indem man sie unabhängigen Zentralbanken unterstellte. Wie Rüdiger Dornbusch vom MIT, einer der einflussreichsten Ökonomen seiner Generation, es im Jahr 2000 formulierte, ging es in den «letzten 20 Jahren, seit dem Aufstieg unabhängiger Zentralbanken, darum, die Prioritäten richtig zu setzen, demokratisches Geld loszuwerden, das immer kurzsichtiges, schlechtes Geld ist».[58]
Das hat eine bittere Implikation. Wenn die Zentralbanken seit 2008 ihren Aufgabenbereich massiv ausgeweitet haben, so geschah dies aus der Not heraus, um die Instabilität des Finanzsystems einzudämmen. Aber politisch war das möglich, ja es konnte sogar ohne großes Aufhebens geschehen, weil die Schlachten der 1970er und 1980er Jahre gewonnen worden waren. Die Bedrohung, die Dornbuschs Generation verfolgte, hatte sich verflüchtigt. Die Demokratie war nicht mehr die Gefahr, die sie in den Kampfjahren des Neoliberalismus gewesen war. In der Wirtschaftspolitik drückte sich das in der verblüffenden Erkenntnis aus, dass es keine Inflationsgefahr gab. Bei allem zentristischen Händeringen über den «Populismus» war der Klassenantagonismus entkräftet, der Lohndruck war minimal, Streiks gab es nicht.
Die massiven wirtschaftspolitischen Eingriffe des Jahres 2020 waren wie die des Jahres 2008 janusköpfig. Einerseits sprengte ihr Ausmaß die Fesseln neoliberaler Zurückhaltung und ihre ökonomische Logik bestätigte die grundlegende Diagnose der interventionistischen Makroökonomie bis zurück zu Keynes. Sie konnten nur als Vorboten eines neuen Regimes jenseits des Neoliberalismus erscheinen. Andererseits wurden diese Eingriffe von oben nach unten vorgenommen. Sie waren politisch nur deshalb denkbar, weil es keine Herausforderung von links gab, und ihre Dringlichkeit war bedingt durch die Notwendigkeit, das Finanzsystem zu stabilisieren. Und sie haben geliefert. Im Laufe des Jahres 2020 stieg das Nettovermögen der Haushalte in den USA um mehr als 15 Billionen Dollar. Ganz besonders profitierten davon die obersten ein Prozent, die fast 40 % aller Aktien besaßen. [59] Die obersten 10 % der Haushalte hielten sogar 84 %.
Wenn das tatsächlich ein «neuer Gesellschaftsvertrag» war, dann war es eine erschreckend einseitige Angelegenheit. Dennoch wäre es falsch, in der Reaktion auf die Krise von 2020 nichts weiter als eine eskalierende Plünderung zu sehen. Politiker der Mitte, die um ihr politisches Überleben kämpften, konnten die massive Wucht der sozialen und wirtschaftlichen Krise nicht ignorieren. Die Bedrohung durch die nationalistische Rechte war ernst. Der Ruf nach mehr gesellschaftlicher Solidarität für eine Wiederherstellung der nationalen Wirtschaft stieß auf echte Resonanz. Obwohl sie in der Minderheit war, wurde die «grüne» politische Bewegung zunehmend zu einer Kraft, mit der man rechnen musste.[60] Während die Rechte mit starken Emotionen spielte, traf die strategische Analyse, die von den Befürwortern des Green New Deal angeboten wurde, im Kern zu, und intelligente Politiker der Mitte wussten das. Die Führung der EU oder der US-Demokraten hatte vielleicht nicht den Mumm für Strukturreformen, aber sie erkannte den Zusammenhang zwischen der Moderne, der Umwelt, dem unausgewogenen und instabilen Wirtschaftswachstum und der Ungleichheit. Die Fakten waren schließlich so eklatant, dass es eines Willensaktes bedurfte, sie zu ignorieren. Das Jahr 2020 war also nicht nur ein Moment des Plünderns, sondern auch ein Moment des reformorientierten Experimentierens. Als Reaktion auf die drohende soziale Krise wurden in Europa, in den USA und in vielen Schwellenländern neue Formen der sozialstaatlichen Fürsorge erprobt. Und auf der Suche nach einer positiven Agenda nahmen sich die Politiker der Mitte der Umweltpolitik und der Frage des Klimawandels an wie nie zuvor. Entgegen der Befürchtung, Covid-19 würde von anderen Prioritäten ablenken, wurde die politische Ökonomie des Green New Deal zum Mainstream. «Grünes Wachstum», «Build back better», «Green Deal» – die Schlagworte variierten, aber sie alle brachten die grüne Modernisierung als gemeinsame Antwort der politischen Mitte auf die Krise zum Ausdruck.[61]
2020 machte deutlich, wie abhängig die Wirtschaft von der Stabilität ihrer natürlichen Umgebung war. Eine winzige Virusmutation in einer Mikrobe konnte die gesamte Weltwirtschaft bedrohen. Es legte auch offen, wie im Extremfall das gesamte Geld- und Finanzsystem auf die Unterstützung von Märkten und Lebensgrundlagen ausgerichtet werden konnte, wodurch die Frage aufgeworfen wurde, wer wie unterstützt wurde. Beide Schocks rissen Trennlinien ein, die für die politische Ökonomie des letzten halben Jahrhunderts grundlegend waren, Linien, die die Wirtschaft von der Natur, die Ökonomie von der Sozialpolitik und von der Politik an sich trennten. Hinzu kam eine dritte Verschiebung, die im Jahr 2020 die Grundannahmen des neoliberalen Zeitalters endgültig auflöste: der Aufstieg Chinas.
Nach den besten verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnissen war es nicht überraschend, dass das Virus aus China kam. Die rasche zoonotische Mutation war das vorhersehbare Ergebnis der biologischen, sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen in der Provinz Hubei. Dies als einen natürlichen Prozess zu bezeichnen, verschleierte das Ausmaß, in dem er von wirtschaftlichen und sozialen Faktoren angetrieben wurde, aber es gab immer auch diejenigen, die glaubten, dass mehr dahinter steckte. Eine der plausibleren alternativen Theorien war die Ansicht, das Virus sei versehentlich aus einer biologischen Forschungseinrichtung in China entwichen.[62] Das Ganze wäre demnach ein Vorfall im Stil von Tschernobyl, allerdings in globalem Ausmaß und besser vertuscht, ein Beispiel für die Risikogesellschaft, aber ein Fall von versuchter Beherrschung der Natur, der schief gegangen ist, im Gegensatz zur fahrlässigen Produktion von gefährlichen Nebeneffekten. Noch alarmistischer war die Ansicht, das Virus stamme aus einem Programm zur biologischen Kriegsführung, und Peking habe seine Verbreitung absichtlich zugelassen, um die westlichen Gesellschaften zu destabilisieren.[63] Peking trug zu solcherlei Spekulationen bei, indem es sich allen Versuchen widersetzte, eine unabhängige internationale Untersuchung zuzulassen, und eigene konspirative Gegenthesen in Umlauf brachte.[64] Unabhängig davon, welche Interpretation man vertrat, ging es bei diesen Theorien um mehr als um das Virus und seine Herkunft. Sie waren gleichzeitig Interpretationen der Globalisierung und des Aufstiegs Chinas. Diese Verflechtung von Ängsten war neu.
Als Tony Blair 2005 über die Kritiker der Globalisierung spottete, waren es deren kleingeistige Ängste, über die er sich lustig machte. Ihrer Ängstlichkeit stellte er die affirmative, modernisierungsfreudige Energie der asiatischen Nationen gegenüber, für die die Globalisierung einen hellen Horizont darstellte. Die globalen Sicherheitsbedrohungen, die Blair erkannte, waren der islamische Terrorismus und die Massenvernichtungswaffen von Saddam Hussein. Sie waren unangenehm. Wenn sie tatsächlich real waren, konnten sie ein massenhaftes Sterben verursachen. Sie waren Symptome einer aus den Fugen geratenen Globalisierung. Aber trotz all ihrer Gewalt hatten beide keine Aussichten, den Status quo tatsächlich zu verändern. Genau darin lag ihre selbstmörderische, weltfremde Irrationalität. Im Jahrzehnt nach 2008 ging genau dieses Vertrauen in die Robustheit des Status quo verloren.
Das wiederaufstrebende Russland, das durch die globalen Öl- und Gasexporte gestärkt wurde, entlarvte als Erster die geopolitische Unschuld der Globalisierung. Russlands Herausforderung war begrenzt, die von China war es nicht. Die Obama-Regierung vollzog im Jahr 2011 ihren «Pivot to Asia».[65] Im Dezember 2017 veröffentlichten die USA ihre neue Nationale Sicherheitsstrategie, die erstmals den indopazifischen Raum als entscheidende Arena des Großmachtwettstreits bezeichnete.[66] Im März 2019 veröffentlichte die EU ein Strategiepapier mit demselben Inhalt.[67] 2020 folgten das französische und das deutsche Außenministerium.[68] Großbritannien vollzog unterdessen eine außergewöhnliche Kehrtwende: Hatte man in London noch 2015 ein neues «goldenes Zeitalter» der chinesisch-britischen Beziehungen ausgerufen, entsandte man nun einen Flugzeugträger ins Südchinesische Meer.[69]
Die militärische Logik war vertraut. Alle Großmächte sind Rivalen, so zumindest die «realistische» Logik. Im Falle Chinas kam noch der Faktor der Ideologie hinzu. Im Jahr 2021 tat die KPCh etwas, das ihr sowjetisches Pendant nie geschafft hatte: Sie feierte ihr hundertjähriges Bestehen. Peking machte keinen Hehl daraus, dass es an einem ideologischen Erbe festhielt, das über Marx und Engels bis zu Lenin, Stalin und Mao reichte. Xi Jinping hätte kaum nachdrücklicher auf die Notwendigkeit hinweisen können, an dieser Tradition festzuhalten, und er hätte Gorbatschow nicht deutlicher verurteilen können, weil er die Kontrolle über den ideologischen Kompass der Sowjetunion verloren hatte.[70] Der «neue» Kalte Krieg war demnach in Wirklichkeit die Wiederbelebung des «alten» Kalten Krieges, also des Kalten Krieges in Asien, den der Westen im Grunde nie gewonnen hatte.
Es gab jedoch zwei spektakuläre Unterschiede zwischen altem und neuem Kalten Krieg. Der erste war die Wirtschaft. China war die Bedrohung, die es war, infolge des größten Wirtschaftsbooms der Weltgeschichte. Das hatte einigen in der Produktion beschäftigten Arbeitern im Westen geschadet, doch Unternehmen und Verbraucher in der gesamten westlichen Welt und darüber hinaus hatten immens von Chinas Entwicklung profitiert und würden in Zukunft noch mehr profitieren. Das sorgte für ein Dilemma. Ein wiederbelebter Kalter Krieg mit China machte in jeglicher Hinsicht Sinn, nur dummerweise nicht für die Wirtschaft.
Die zweite grundlegende Neuerung waren die globale Umweltproblematik und die Rolle des Wirtschaftswachstums bei deren Beschleunigung. Als die globale Klimapolitik in den 1990er Jahren zum ersten Mal in ihrer modernen Form auftauchte, stand sie im Zeichen des unipolaren Moments. Die Vereinigten Staaten waren der größte und widerspenstigste Verschmutzer. China war arm, und seine Emissionen spielten in der globalen Bilanz kaum eine Rolle. Im Jahr 2020 stieß China mehr CO2 aus als die USA und Europa zusammen, und die Kluft dürfte sich zumindest für ein weiteres Jahrzehnt noch vergrößern. Eine Lösung des Klimaproblems ohne China war ebenso wenig vorstellbar wie eine Reaktion auf die Gefahr neu auftretender Infektionskrankheiten. China war der mächtigste Inkubator von beidem.
Die grünen Modernisierer der EU lösten dieses doppelte Dilemma in ihren strategischen Dokumenten auf, indem sie China gleichzeitig als systemischen Rivalen, strategischen Konkurrenten und Partner im Kampf gegen den Klimawandel definierten. Die Trump-Administration machte sich das Leben leichter, indem sie das Klimaproblem leugnete. Aber auch Washington steckte in der Zwickmühle des wirtschaftlichen Dilemmas, zwischen ideologischer Denunziation Pekings, strategischem Kalkül, langfristigen Unternehmensinvestitionen und dem Wunsch des Präsidenten, einen schnellen Deal zu schließen. Das war eine instabile Kombination, die im Jahr 2020 kippte. Trotz des Phase-I-Handelsabkommens, das der Präsident zu Beginn des Jahres gerne gefeiert hatte, übertrumpften bis zum Sommer die strategische Konkurrenz und die ideologische Denunziation das wirtschaftliche Interesse. China wurde neu definiert als eine Bedrohung für die Vereinigten Staaten, sowohl strategisch als auch wirtschaftlich. Es hatte amerikanische Arbeitsplätze gestohlen. Ein feindliches Regime hatte sich illegal amerikanisches geistiges Eigentum in Milliardenhöhe angeeignet.[71] Als Reaktion darauf erklärten die Geheimdienst-, Sicherheits- und Justizabteilungen der amerikanischen Regierung China den Wirtschaftskrieg. Sie wollten dabei bewusst die Entwicklung von Chinas Hightech-Sektor sabotieren, dem Herzstück einer jeden modernen Wirtschaft.
Es war bis zu einem gewissen Grad Zufall, dass diese Eskalation zu diesem Zeitpunkt stattfand. Chinas Aufstieg war ein weltgeschichtlicher Umbruch, auf den irgendwann jeder in der Welt würde reagieren müssen. Aber Pekings Erfolg im Umgang mit dem Coronavirus und das dadurch gestärkte Selbstbewusstsein waren für die Trump-Administration ein Warnsignal. Außerdem erzeugte die überhitzte Atmosphäre der amerikanischen Wahl starke Verstärkungs- und Induktionseffekte – um Chens etwas euphemistisches Vokabular zu verwenden. Das Trump-Team gab nicht nur China die Schuld am Virus, sondern weitete den Kulturkampf, den man zu Hause entfesselte, auf Chinas amerikanische Kollaborateure aus. Überdies war im Sommer 2020 zunehmend unbestreitbar, dass noch etwas anderes im Gange war. Mit Amerika stimmte etwas zutiefst nicht.
Es war nicht der erste Moment der modernen amerikanischen Malaise. Präsident Carter sollte berüchtigt werden für eine Rede, die er im Sommer 1979 inmitten der Auswirkungen der iranischen Revolution und der zweiten Energiekrise an die amerikanische Nation zu genau diesem Thema hielt.[72] Eines der Versprechen der Marktrevolution der 1980er Jahre war, dass Ronald Reagans «Morgen in Amerika» das Land aus seinem Niedergang herausholen würde, so wie Thatcher es für Großbritannien versprochen hatte. Donald Trump, der Partyboy im Manhattan der 1980er Jahre, war die lebende Verkörperung dieser neuen Ära des Hochmuts. Doch Trump verkörperte auch die hässliche Wahrheit über diesen Moment, nämlich dass die Marktrevolution einen großen Teil der amerikanischen Gesellschaft abgehängt hat. Amerikas anhaltende globale Stärke in den Bereichen Finanzen, Technologie und militärische Macht ruhte auf tönernen Füßen. Wie Corona schmerzhaft aufdeckte, war das Gesundheitssystem des Landes marode, sein soziales Sicherungsnetz ließ zig Millionen Menschen von Armut bedroht. Während Xis «chinesischer Traum» das Jahr 2020 unversehrt überstanden hat, lässt sich von seinem amerikanischen Gegenstück nicht das Gleiche behaupten.
Die allgemeine Krise des Neoliberalismus im Jahr 2020 hatte somit eine spezifische und traumatische Bedeutung für Amerika und ganz besonders für einen Teil des dortigen politischen Spektrums. Die Vision des amerikanischen Staates, die von den aufeinanderfolgenden demokratischen Regierungen, beginnend mit Woodrow Wilson und Franklin D. Roosevelt, entworfen wurde, gab den amerikanischen Liberalen Werkzeuge an die Hand, mit denen sie auf die Herausforderung durch Corona reagieren konnten. Selbst die neue Generation amerikanischer Radikaler unter Führung von Alexandria Ocasio-Cortez konnte sich mit dem New Deal anfreunden.[73] Die republikanische Partei und ihre nationalistischen und konservativen Wählergruppen hingegen erlitten eine geradezu existenzielle Krise (anders lässt sich das nicht nennen), die tiefgreifende Folgen für den amerikanischen Staat, die amerikanische Verfassung und die Beziehungen Amerikas zur übrigen Welt hatte. Das gipfelte in der außergewöhnlichen Periode zwischen dem 3. November 2020 und dem 6. Januar 2021, in der Trump sich weigerte, die Niederlage einzugestehen, ein Großteil der republikanischen Partei den Versuch, die Wahl zu kippen, aktiv unterstützte, die soziale Krise und die Pandemie unbeachtet blieben und schließlich am 6. Januar der Präsident und führende Persönlichkeiten seiner Partei einen Mob zum Sturm auf das Kapitol ermutigten.
Aus gutem Grund weckt dies tiefe Sorgen hinsichtlich der Zukunft der amerikanischen Demokratie. Und es gibt tatsächlich Elemente auf der äußersten Rechten der amerikanischen Politik, die man mit Fug und Recht als faschistoid bezeichnen kann.[74] Aber in der ursprünglichen faschistischen Gleichung gab es zwei grundlegende Elemente, die im Amerika des Jahres 2020 fehlten. Das eine ist der totale Krieg. Die Amerikaner erinnern sich an ihren Bürgerkrieg und stellen sich künftige Bürgerkriege vor, die kommen werden. Sie haben in letzter Zeit Expeditionskriege geführt, die in Gestalt militarisierter Polizeiarbeit und paramilitärischer Phantasien auf die amerikanische Gesellschaft zurückschlugen.[75] Aber der totale Krieg konfiguriert die Gesellschaft auf ganz andere Weise neu. Er konstituiert einen Massenkörper, nicht die individualisierten Kommandos von 2020.
Die andere fehlende Zutat aus der klassischen faschistischen Gleichung, die für dieses Buch zentraler ist, ist sozialer Antagonismus, eine imaginäre oder reale Bedrohung des sozialen und wirtschaftlichen Status quo. Als sich die konstitutionellen Gewitterwolken im Jahr 2020 zusammenzogen, verbündete sich die amerikanische Wirtschaft massiv und geschlossen gegen Trump. Wie wir noch sehen werden, hatten die wichtigsten Stimmen der amerikanischen Wirtschaft auch keine Scheu, die geschäftlichen Gründe dafür darzulegen, unter anderem den Shareholder Value, die Probleme bei der Führung von Unternehmen mit politisch gespaltenen Belegschaften, die wirtschaftliche Bedeutung der Rechtsstaatlichkeit und – erstaunlicherweise – die zu erwartenden Umsatzverluste im Falle eines Bürgerkriegs. Diese Ausrichtung des Geldes auf die Demokratie in den Vereinigten Staaten im Jahr 2020 sollte bis zu einem gewissen Punkt beruhigend sein. Aber ziehen wir für eine Sekunde ein alternatives Szenario in Betracht. Was wäre, wenn das Virus ein paar Wochen früher in den USA angekommen wäre, wenn die sich ausbreitende Pandemie Bernie Sanders und seiner Forderung nach einer allgemeinen Gesundheitsversorgung massenhafte Unterstüzung verschafft hätte und die Vorwahlen der Demokraten einen bekennenden Sozialisten als Kandidaten hervorgebracht hätten und nicht Joe Biden?[76] Es ist nicht schwer, sich ein Szenario vorzustellen, in dem die amerikanische Wirtschaft ihr gesamtes Gewicht aus denselben Gründen in die andere Waagschale geworfen und Trump unterstützt hätte, um sicherzustellen, dass Sanders nicht gewählt werden würde.[77] Und was wäre gewesen, wenn Sanders tatsächlich eine Mehrheit bekommen hätte? Dann hätten wir eine echte Prüfung für die amerikanische Verfassung und die Loyalität der mächtigsten gesellschaftlichen Interessen zu ihr gehabt.
Das Jahr 2020 als eine umfassende Krise des neoliberalen Zeitalters zu sehen – im Hinblick auf seine ökologische Hülle, auf seine internen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Grundlagen und auf die internationale Ordnung –, hilft uns bei der historischen Orientierung. So gesehen markiert die Corona-Krise das Ende eines Bogens, dessen Ursprung in den 1970er Jahren zu finden ist. Sie könnte auch als erste umfassende Krise des kommenden Zeitalters des Anthropozäns gesehen werden – einer Epoche, die durch den «blowback» unserer unausgewogenen Beziehung zur Natur definiert ist.[78]
Doch anstatt vorschnell die Kontinuitäten dieses halben Jahrhunderts der Geschichte skizzieren oder spekulativ in die Zukunft projizieren zu wollen, verbleibt dieses Buch, soweit möglich, im Augenblick selbst. Wir werden zurück und nach vorne blicken, wenn sich die Notwendigkeit eines Kontexts ergibt, aber der Fokus liegt dezidiert auf der Kette von Ereignissen zwischen dem Ausbruch des Virus im Januar 2020 und der Amtseinführung von Joe Biden.
Diese engen chronologischen Grenzen sind eine bewusste Entscheidung. Sie ermöglichen es, die Spannung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die definiert, was es heißt, Geschichte zu schreiben, handhabbar zu machen. Es ist zudem eine persönliche Strategie, um mit den intellektuellen und psychologischen Belastungen eines Moments fertig zu werden, der ansonsten überwältigend war.
Wie Milliarden anderer Menschen auf der ganzen Welt zwang mich das Coronavirus, meine Pläne zu ändern. Ich begann das Jahr mit der Arbeit an einem Buch über die Geschichte der Energiepolitik, in dem ich die politische Ökonomie des Kohlenstoffs bis in die Zeit der Ölkrisen zurückverfolgte und eine Vorgeschichte des Green New Deal skizzierte. Wie so viele andere hatte ich mich intensiv mit dem Anthropozän beschäftigt, einer vom kapitalistischen Wirtschaftswachstum angetriebenen Transformation, welche die Trennung zwischen Natur- und Menschheitsgeschichte in Frage stellt.[79]
Im Februar, als sich das Virus lautlos um die Welt verbreitete, war ich in Ostafrika unterwegs und tauchte zum ersten Mal in die Geschichte des Kontinents ein. Aus den Augenwinkeln bemerkte ich die ungewohnten Gesundheitskontrollen an den Flughäfen, aber wie die meisten Menschen war ich mir des Dramas, das sich da abspielte, nicht bewusst. Erst auf dem Rückweg, am Freitag, dem 6. März, in den riesigen Hallen des neuen Istanbuler Flughafens, wurde mir das Ausmaß der wachsenden Panik bewusst. Reisende aus allen Teilen der Welt trugen Masken in allen Formen und Größen. Diese Masken waren neuartig, schlechtsitzend, unmöglich auf einem langen Flug.
An diesem Wochenende in New York, im Dunst des Jetlags, brach die Hölle los. Das Virus trieb nun eine gigantische wirtschaftliche Kontraktion an. Plötzlich sah ich mich mit einer ganzen Flut von Fragen von Journalisten konfrontiert, die mich drängten, ihnen beim Verständnis dessen zu helfen, was wie eine Wiederholung der Finanzkrisen von 2008 wirkte, die ich in meinem Buch Crashed beschrieben hatte.
Crashed war seinerseits eine Geschichte gewesen, die von den Ereignissen überholt worden war. Ich hatte mir vorgenommen, ein Buch zum zehnten Jahrestag der Finanzkrise zu schreiben, und landete nach dem Brexit und Trumps Sieg mitten in einer Krise, die nicht enden wollte. Ein kluger Freund meinte damals scherzhaft, ich würde mich damit dem Zwang aussetzen, eine fortlaufend aktualisierte Neuauflage zu schreiben. Im März 2020 bekam ich die volle Wucht seiner Worte zu spüren. Als die Aktienkurse und Anleihemärkte einbrachen, als die Dysfunktionalität der Repo-Märkte in die Schlagzeilen geriet und die Swap-Linien der Zentralbanken wieder auf der Tagesordnung standen, holte mich die Crashed-Erzählung ein.
Im April wurde der Druck, sich von Minute zu Minute der Gegenwart zu stellen und gleichzeitig an die Energiepolitik von Jimmy Carter zu denken, für mich zu groß. Ich kapitulierte vor dem unmittelbaren Fluss der Ereignisse.
Das Jahr 2020 entpuppte sich als wahrhaft historisch, als völlig anders als alles, was wir je zuvor erlebt hatten. Dieses Buch ist deshalb sogar zeitgenössischer als Crashed. Paradoxerweise macht dies das Risiko, «den Moment zu verpassen», noch haarsträubender. Jeder Versuch, einen narrativen Rahmen über den Tumult zu legen, den wir immer noch durchleben, ist zwangsläufig unvollständig und unterliegt der Revision. Wenn wir den Ereignissen um uns herum einen Sinn geben wollen, müssen wir dieses Risiko eingehen. Der einzige Trost ist, dass wir bei diesem Unterfangen nicht allein sind. 2020 war ein Jahr des Miteinanderredens, des Erzählens, des Argumentierens und des Analysierens.
Eine solche Erzählung mag verfrüht sein, aber wenn man eine Interpretation projiziert, eine intellektuelle Wette eingeht, ob richtig oder falsch, gewinnt man etwas Wertvolles: ein tieferes Verständnis dessen, was der Satz, alle Geschichte sei Zeitgeschichte, wirklich bedeutet.[80] Tatsächlich bekommt Benedetto Croces Einsicht im Lichte von 2020 eine neue Bedeutung. Wenn man aus der Sicherheit eines Apartments an der Upper West Side über die Klimakrise schrieb, konnten die historische Transformation der Natur und ihre Implikationen für unsere Geschichte weit entfernt erscheinen. Das Anthropozän blieb ein abstrakter intellektueller Vorschlag. Die Corona-Krise hat selbst die Behütetsten unter uns dieser Illusion beraubt.
ERSTER TEIL
KAPITEL 1
Skeptiker – und es gab von Anfang an Skeptiker – weisen gerne darauf hin, das Bemerkenswerte an der Covid-Krise sei, dass wir aus etwas Gewöhnlichem eine globale Krise gemacht hätten. Egal, was wir tun, Menschen sterben, und an Covid sterben dieselben Menschen, die normalerweise auch sterben – alte Menschen mit Vorerkrankungen. In einem normalen Jahr sterben diese Menschen an Grippe und Lungenentzündung. Jenseits des privilegierten Kerns der reichen Welt sterben Millionen von Menschen an Infektionskrankheiten wie Malaria, Tuberkulose und HIV. Und trotzdem «geht das Leben weiter». Das Schwere Akute Respiratorische Syndrom Coronavirus 2 (SARS-CoV-2) war, gemessen an den Maßstäben historischer Seuchen, nicht besonders tödlich. Was beispiellos war, war die Reaktion. Überall auf der Welt kam das öffentliche Leben zum Erliegen, genauso wie große Teile des Handels und des regulären Geschäftsverkehrs. Überall auf der Welt rief diese massive Unterbrechung der Normalität in unterschiedlichem Ausmaß Unverständnis, Empörung, Widerstand, Nichtbefolgung und Protest hervor. Man muss nicht mit der Politik der Kritiker sympathisieren, um die historische Kraft ihres Standpunkts anzuerkennen. Auf eine neue und bemerkenswerte Weise wurde eine medizinische Herausforderung zu einer viel umfassenderen Krise. Zu erklären, wie dies geschehen konnte – nicht als Ergebnis einer verweichlichten und übermäßig auf Schutz bedachten politischen Kultur oder als Resultat einer bewussten Unterdrückungspolitik, sondern infolge struktureller Spannungen innerhalb der Gesellschaften des frühen 21. Jahrhunderts –, wird dabei helfen, die Bühne für das Verständnis der Krise von 2020 zu bereiten.
Es stimmt, dass alte Menschen sterben, aber es kommt darauf an, wie viele und in welchem Tempo und aus welchen Ursachen. Zu jedem gegebenen Zeitpunkt kann diese Rangfolge der Sterblichkeit in Form einer Matrix von Wahrscheinlichkeiten beschrieben werden, die sich im Laufe der Zeit entwickelt hat und die durch medizinische Möglichkeiten, Gesundheitsökonomie und das Muster sozialer Vor- und Nachteile bestimmt wird.
Global gesehen ist die Geschichte der letzten Jahrzehnte die eines beachtlichen Fortschritts bei der Reduzierung der Todesfälle durch Armutskrankheiten – übertragbare Krankheiten, Krankheiten von Müttern und Neugeborenen, ernährungsbedingte Krankheiten. Dennoch ist es weiterhin so, dass arme Menschen und Menschen in einkommensschwachen Ländern am frühesten und an den am ehesten vermeidbaren Krankheiten sterben. In einem einkommensschwachen Land wie Nigeria, wo die Lebenserwartung bei 55 Jahren liegt, sind 68 % der Todesfälle auf armutsbedingte Krankheiten zurückzuführen. In Deutschland, wo die Lebenserwartung 81 Jahre beträgt, liegt dieser Anteil bei 3,5 %, in Großbritannien bei 6,8 %. Die Vereinigten Staaten liegen dazwischen. Im Jahr 2017 waren die Gesundheitsausgaben pro Kopf in Ländern mit hohem Einkommen kaufkraftbereinigt 49 Mal so hoch wie in Ländern mit niedrigem Einkommen.[1]
Innerhalb der reichen Länder gibt es erschreckende Ungleichheiten bei der Kinder- und Müttersterblichkeit und bei der allgemeinen Lebenserwartung, die entlang von ethnischen und klassenspezifischen Linien verlaufen. Epidemischer Drogenkonsum bei benachteiligten und marginalisierten Bevölkerungsgruppen, Asthma und Bleivergiftung bleiben unbehandelt. In Deutschland sterben 27 % der Männer in der untersten Einkommensklasse vor dem Alter von 65 Jahren, verglichen mit 14 % in der höchsten Einkommensgruppe. Bei Frauen sind die Unterschiede nur ein bisschen geringer.[2] Im Zweiklassen-Krankenversicherungssystem des Landes ist die Lebenserwartung der 11 % privat Versicherten um vier Jahre höher als die der gesetzlich Versicherten.[3] In den USA, die gemeinhin als das reichste Land der Welt gelten, starben laut einer Studie aus dem Jahr 2009 45.000 Menschen aufgrund einer fehlenden Krankenversicherung.[4] Menschen in einkommensschwachen Gebieten in den USA haben ein doppelt so hohes Risiko, mit Grippe ins Krankenhaus eingeliefert zu werden, Intensivpflege zu benötigen und zu sterben.[5] Am deutlichsten ist der Unterschied bei armen Menschen über 65 Jahren.
Es wäre zu viel gesagt, dass diese Wahrscheinlichkeiten allgemein akzeptiert sind. Sie sind, auf den ersten Blick, ein Skandal. Sie widerlegen jegliche Vorstellung, dass unsere kollektive Priorität darin besteht, Menschen am Leben zu erhalten. Aber so krass diese Unterschiede auch sind, die Verhältnisse sind zumindest vertraut. Die Wahrscheinlichkeiten ändern sich, aber nur ganz allmählich und im Allgemeinen nur in eine günstige Richtung. Was die Corona-Krise betrifft, ist der entscheidende Punkt, dass zu Beginn des Jahres 2020 die einzigen Infektionskrankheiten, die den Durchschnittsbürger in einem Land oberhalb der hohen mittleren Einkommensschwelle noch plagten, Infektionen der unteren Atemwege und die Grippe waren, und sie waren in der Regel nur für Menschen im fortgeschrittenen Alter gefährlich. In den Vereinigten Staaten waren lediglich 2,5 % aller Todesfälle in einem normalen Jahr speziell auf Grippe und Lungenentzündung zurückzuführen. Rechnet man alle Infektionen der unteren Atemwege hinzu, stieg der Anteil auf 10 % aller Todesfälle.[6] Zusammen machten sie 80 % der Todesfälle durch Infektionskrankheiten aus. HIV/Aids und Durchfallerkrankungen, vor allem C. difficile, waren für den Rest verantwortlich. SARS-CoV-2 erschütterte das Vertrauen in diese Wahrscheinlichkeiten.
Die Überwindung der großen Infektionskrankheiten war einer der bedeutsamsten Triumphe der Zeit nach 1945. Es handelte sich um eine historische Errungenschaft, die auf einer Stufe mit dem Ende des Hungers, der allgemeinen Alphabetisierung, dem Zugang zu fließendem Wasser oder der Geburtenkontrolle stand. Die gesteigerte Lebenserwartung ist die Geheimsoße hinter dem Wirtschaftswachstum.[7] Es ist wunderbar, mehr zu konsumieren. Noch besser ist es, wenn man Jahrzehnte länger lebt, um es zu genießen. Einer Schätzung zufolge würde sich das Wachstum des amerikanischen Lebensstandards verdoppeln, wenn wir die im Laufe des 20. Jahrhunderts erreichte höhere Lebenserwartung richtig mit einberechnen würden.[8] In den 1970er Jahren, als der endgültige Sieg über Pocken und Kinderlähmung in greifbare Nähe rückte, brachten diese Triumphe die Idee des epidemiologischen Übergangs hervor.[9] Infektionskrankheiten sollten fortan der Vergangenheit angehören.
Am größten waren die Fortschritte in den reichen westlichen Ländern. Doch das Erreichen des epidemiologischen Übergangs war ein gemeinsames Bestreben der Moderne. Es war für die Sowjetunion und das kommunistische China genauso relevant wie für den Westen.[10] Tatsächlich passte es als kollektivistisches Projekt, das von staatlichen Stellen geleitet wurde, sogar besser zu deren politischer Vision als zu der des Westens. Das umkämpfte Kuba, mit seinem robusten öffentlichen Gesundheitssystem und seinem übergroßen Programm globaler medizinischer Hilfe, ist ein drastisches Beispiel für diesen Aspekt. Für die kommunistischen Regime gab es keinen Widerspruch zwischen dem Opfern von zig Millionen Leben für den Fortschritt des Sozialismus, auf Zwang beruhenden Geburtenkontrollkampagnen wie Chinas Ein-Kind-Politik und einer massiven kollektiven Anstrengung, Leben zu retten und Infektionskrankheiten zu besiegen.
Aber so bedeutsam dieser Triumph auch war: Fast im gleichen Moment in den 1970er Jahren begann der Kampf gegen Infektionskrankheiten von Zweifeln begleitet zu werden. Die Influenza blieb unbesiegt. Sie ist allgegenwärtig und wird auch als Todesursache gerne unterschätzt. Sie ist alljährlich für einen Anstieg der Sterblichkeit aus allen möglichen Gründen verantwortlich.[11] Das wird als normal betrachtet, weil viele dieser Todesfälle auf andere, unmittelbarere Ursachen wie Lungenentzündung und Herzinfarkt zurückgeführt werden. Die Influenza ist hoch ansteckend, und es gibt auch keinen Intervall zwischen Ansteckung und Infektiosität, was bedeutet, dass Tests und Quarantäne aussichtslos sind. Das Grippevirus mutiert schnell, so dass eine Impfung bestenfalls teilweise wirksam sein kann. Was uns vor dem Massensterben rettet, ist seine normalerweise geringe Letalität.
Das konnte man von einigen der neuen Infektionskrankheiten, mit denen sich die Spezialisten in den 1970er Jahren zu beschäftigen begannen, nicht behaupten. Das albtraumhafte Ebola-Virus wurde 1976 identifiziert, Aids 1981. Im Westen blieb