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Sara befand sich auf einer Lichtung, auf der etwa ein Dutzend Steine zu einem Steinkreis angeordnet waren. Dazwischen standen Gestalten in weißen wallenden Gewändern. In der Mitte des Kreises stand eine Frau. Mit weit ausgebreiteten Armen und geschlossenen Lidern wartete sie auf etwas. Plötzlich riss sie die Augen auf und starrte Sara direkt ins Gesicht.
Eigentlich will Sara im beschaulichen Sidbury an der englischen Jurassic Coast nur einen Cold Case lösen – einen Unfall mit Fahrerflucht, bei dem der Ehemann ihrer Nachbarin ums Leben gekommen ist. Doch dann wird die Sekretärin des Dorfamtes entführt und wenig später tot im Dartmoor aufgefunden. Sara, Miss Spinster und Bobby Bobby werden in die Ermittlungen hineingezogen.
Geisterhafte Lichter, ein Unsichtbarer, der nachts um Saras Haus schleicht, unterirdische Gänge und Steinkreise aus längst vergangenen Zeiten halten Sara und ihre Freunde auf Trab und sie begeben sich wieder in Gefahr. Denn eines ist sicher: Tote Hunde weckt man nicht.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
T. H. Campbell
Über die Autorin:
Als T.H. Campbell verschlägt es die Autorin Heidi Troi auf die britischen Inseln, die schon von Kindesbeinen an zu ihren Sehnsuchtsorten gehören. Ob Schottland, Irland, Wales oder England – T.H. Campbell hat die Regionen abseits der Hotspots für Touristen erlebt und es zieht sie immer wieder dorthin. Lesend, wandernd oder manchmal auch beruflich.
Mit der Chronistin Sara Rattlebag reist sie zum ersten Mal schreibend nach Devon an die Jurassic Coast, die ihr von ihrer Wanderung über den South-West-Coast-Path in bleibender Erinnerung ist.
Buchbeschreibung:
Sara befand sich auf einer Lichtung, auf der etwa ein Dutzend Steine zu einem Steinkreis angeordnet waren. Dazwischen verharrten Gestalten in weißen, wallenden Gewändern. Sie alle hatten sich einer Frau zugewandt, die in der Mitte stand. Mit weit ausgebreiteten Armen und geschlossenen Lidern wartete sie auf etwas. Plötzlich riss sie die Augen auf und starrte Sara direkt ins Gesicht.
Eigentlich will Sara im beschaulichen Sidbury an der englischen Jurassic Coast nur einen Cold Case lösen – einen Unfall mit Fahrerflucht, bei dem der Ehemann ihrer Nachbarin ums Leben gekommen ist. Doch dann wird die Sekretärin des Dorfamtes entführt und wenig später tot im Dartmoor aufgefunden. Sara, Miss Spinster und Bobby Bobby werden in die Ermittlungen hineingezogen.
Geisterhafte Lichter, ein Unsichtbarer, der nachts um Saras Haus schleicht, unterirdische Gänge und Steinkreise aus längst vergangenen Zeiten halten Sara und ihre Freunde auf Trab und sie begeben sich wieder in Gefahr. Dabei ist eines sicher: Tote Hunde weckt man nicht.
T. H. Campbell
Tote Hunde weckt man nicht
Ein Fall für Sara Rattlebag 4
Kriminalroman
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind
im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© Juni 2024 Empire-Verlag
Empire-Verlag OG, Lofer 416, 5090 Lofer
Lektorat: Antje Backwinkel – https://buchwinkelei.de/lektorat/
Korrektorat: Tino Falke – https://www.tinofalke.de/lektorat/ und Bianca Kober
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise –
nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Cover: Chris Gilcher
https://buchcoverdesign.de/
Illustrationen: Adobe Stock ID 264841842, Adobe Stock ID 471568468
Sara schlich am Rand des Farnwaldes auf den höchsten Punkt des Hügels zu. Vorsichtig darauf bedacht, wo sie im Mondlicht ihre Füße hinsetzte, duckte sie sich hinter die Farne, die ihr bis zur Taille reichten und die einzige Deckung weit und breit boten. Die Farne und der Nebel, der langsam vom Tal heraufkroch und die Landschaft einhüllte wie ein Leichentuch.
Es war so still, dass jedes noch so leise Geräusch in ihren Ohren widerhallte wie ein Schuss. Das Knacken eines Astes, ihr Atem. Alles war zu laut.
Dann plötzlich spürte sie sie. Sara schlug das Herz bis zum Hals, doch sie wusste, sie durfte jetzt nicht stehen bleiben. Nicht, wenn sie ihre Familie retten wollte.
Ein Schritt und noch ein Schritt auf den mannshohen Stein zu, der wie ein Hinkelstein vor ihr aufragte. Mit der Hand spürte sie die raue Oberfläche, als sie sich dahinter zusammenkauerte. Einmal Luft holen und dann …
Hinter dem Stein tat sich eine Lichtung im Farn auf. Eine Lichtung, auf der etwa ein Dutzend Steine zu einem Steinkreis angeordnet waren. Zwischen ihnen verharrten Gestalten in weißen, wallenden Gewändern. Sie alle hatten sich einer Frau zugewandt, die in der Mitte der Lichtung stand. Ihr Gesicht war bleich und ausdruckslos. Mit weit ausgebreiteten Armen und geschlossenen Lidern wartete sie auf etwas.
Plötzlich riss sie die Augen auf und starrte Sara direkt ins Gesicht.
Jemand schlich ums Haus, mit leisen, vorsichtigen Schritten. Doch nicht leise genug.
Sara lag stocksteif in ihrem Bett und hatte den Hörsinn auf die fremde Präsenz gerichtet, die sich um ihr Haus herumtrieb. Es war nicht die erste Nacht, in der dieser Schleicher sie heimsuchte.
Angefangen hatte es mit dem leisen Knirschen von Füßen auf den Kieselsteinen, mit denen die Wege in ihrem Rosengarten ausgelegt waren. Sara hatte es nur zufällig gehört. Es hätte Einbildung sein können.
Dann die Nacht darauf das Kratzen, Fingernägel am Fensterglas. Wie das Kratzen von Sir Arthur Doyle, ihrem Kater, wenn er darum bettelte, dass sie ihn ins Haus ließ. Doch Sir Arthur hatte an sie gekuschelt in ihrem Bett gelegen.
Jetzt kratzte es an der Haustür. Ein furchtbares Geräusch, das dafür sorgte, dass sich die Haare auf ihrer Haut aufstellten. Stocksteif lag sie im Bett, bereit, aufzuspringen und sich gegen den gesichtslosen Eindringling zu wehren. Doch jetzt blieb es still.
Hellwach lag sie da, bis endlich der Morgen graute. Dann übermannte der Schlaf sie doch und sie wachte erst wieder auf, als eine Nachricht auf ihrem Telefon einging. Der morgendliche Gruß ihres Bruders Zac – »Aus den Federn, Schlafmütze!« – rief ein Schmunzeln auf ihr Gesicht.
Sie tappte in den Wohnbereich, warf den Samowar an und während sie auf heißes Wasser für ihren Tee wartete, entfachte sie Feuer im Kamin. Dann spähte sie zuerst aus allen Fenstern, bevor sie vorsichtig die Eingangstür öffnete – mit vorgelegter Kette und bereit, sie sofort wieder zuzuschlagen.
Erst nachdem es ruhig blieb, trat sie aus dem Haus. Sie entdeckte die Kratzer sofort. Fünf lange Striche, wie von einer Eisenklaue in den blauen Lack ihrer Eingangstür gezogen. Es war das erste Mal, dass der Schleicher eine eindeutige Spur hinterlassen hatte.
Der Beweis dafür, dass Sara ihn sich nicht einbildete.
Schnell rief sie in ihrem Mobiltelefon den Kontakt ihres Bruders auf und schickte ihm ein Bild der Kratzer, dann rief sie ihn an. Er war der einzige Mensch, dem sie von den nächtlichen Besuchen erzählt hatte. Alle anderen hätten hysterisch auf die Nachricht reagiert, wenn sie ihnen berichtet hätte, dass sie schon wieder belästigt wurde.
»Er war wieder da«, eröffnete sie das Gespräch.
Zac wusste sofort, von wem sie sprach. »Der Schleicher?«
»Ja.«
»Und dein Vater ist …?«
»Im Gefängnis.«
Zac schnaubte. »Du weißt genau, dass ich Frank meine. Also – wo ist er?«
Sara rief den Social-Media-Account ihres Vaters auf, in dem er seinen Alltag dokumentierte. Jeder Kaffee, den er trank, jedes Eichhörnchen, das sich ihm im Hyde Park näherte, wurde gepostet – zusammen mit den fantasielosesten Hashtags. Gerade flutete er seinen Account mit Bildern aus Bali, wo er sich, wie Sara wusste, seit etwa drei Wochen mit seiner Flamme Felicitas befand. Angeblich, um Saras Mutter zu besuchen. Nur, von ihr hatte er bisher kein einziges Bild gepostet. Dafür Tausende von weißen Stränden, Street Food und Ladyboys, dazwischen Cocktails und Feli, die sich in der Sonne rekelte. Ein Blick bestätigte Sara, dass es auch heute ein neues Bild von ihm gab.
»Auf Bali«, sagte sie seufzend. »Und er wird noch eine weitere Woche dort sein, bis er pünktlich zum Gerichtstermin wieder nach England kommt.«
Der Gedanke daran schmerzte. Frank hatte sie aufgezogen und Vaterstelle an ihr vertreten. Auch wenn ihre Beziehung nie besonders herzlich gewesen war, konnte sie es nur schwer verwinden, dass er jetzt gerichtlich gegen sie vorging. Er gönnte ihr das Erbe ihrer wahren Mutter – seiner Schwester – nicht und wollte es an sich reißen. Nachdem Drohungen nicht gefruchtet hatten, hatte er den Weg über das Gericht gewählt, und das Schlimmste war: Saras Anwalt Mr. Fulbright hielt sich über den voraussichtlichen Ausgang des Verfahrens bedeckt.
Sara hatte seine Worte noch im Ohr. Leider könnten sie damit durchkommen. Wir geben nicht klein bei, aber jetzt heißt es, Nachforschungen zu betreiben und eine gute Strategie auszuarbeiten, wie Sie Ihr Erbe doch behalten können.
Jetzt, etwa zweieinhalb Monate später, wusste sie, dass es düster aussah. Franks und Mauds Eltern hatten einen sogenannten Mutual Will hinterlassen, was bedeutete, dass sie sich in ihrem Testament gegenseitig bedacht hatten und ihr Vermögen – in dem Fall das Cottage – nach dem Tod des länger Lebenden an dasjenige ihrer Kinder fiel, das als Erstes ein Kind bekam, »sodass das Cottage im Familienbesitz bleiben kann«. Frank behauptete nun, Sara sei amtlich sein Kind, und daher falle das Cottage an ihn. Auch wenn der Passus implizierte, dass der Gedanke hinter diesem letzten Willen das Vermächtnis an die nächste Generation war, und es folglich auch direkt an Sara übergehen könnte, hielten Frank und auch sein Rechtsbeistand am Wortlaut fest. Demnach lege das Testament eindeutig fest, dass das Cottage an das Kind, also ihn, und nicht an das Enkelkind, also Sara, ging. Er behauptete zudem, er habe seine Schwester nur aus gutem Willen in dem Cottage leben lassen. Schließlich habe sie sich nach ein paar Rückschlägen in jungen Jahren nicht mehr gefangen und von der Hand in den Mund gelebt. Doch jetzt, wo sie nicht mehr sei, pochte er auf sein vermeintliches Recht.
Sara wurde immer ganz schwindelig, wenn Fulbright ihr die Finessen der Anfechtung zu erklären versuchte. Und ihr wurde noch schwindliger, wenn er ihr seine Strategie erklärte, nämlich, dass er versuchen würde, darauf zu plädieren, dass der eigentliche Wille hinter dem Testament der wäre, dass das Cottage weiterhin im Familienbesitz bliebe. »Aber ob uns das durchgeht, weiß ich nicht«, sagte er jedes Mal bedauernd.
Sara graute vor der Verhandlung, die in etwa vier Wochen stattfinden würde. Wenn Frank gewann, musste sie aus dem Cottage ausziehen, dem einzigen Ort, an dem sie sich jemals zu Hause gefühlt hatte. Wohin sie dann gehen sollte, wusste sie nicht.
Und jetzt war da dieser nächtliche Schleicher. Er machte ihr Angst und sie fragte sich, ob sie überhaupt noch um ein Cottage kämpfen wollte, in dem sie um ihre Sicherheit fürchten musste.
Ein unangenehmes Pfeifen ertönte in ihrem Ohr und Zac fragte laut: »Sara, bist du noch dran?«
»Ja, sorry. War nur kurz in Gedanken bei … Frank, dem Arsch.«
»Das habe ich gemerkt. Ich habe gefragt, ob es irgendwelche Beweise gibt, dass er auf Bali ist.«
»Wenn er nicht in der Zwischenzeit ein Photoshop-Genie geworden ist, ja.«
»Also ist er sicher nicht der nächtliche Schleicher.«
»Genau.«
»Und du hast nach wie vor keinen Verdacht, wer es sein könnte?«
»Nein.«
»Und du bildest es dir auch nicht ein?« Zac klang skeptisch.
»Hast du die Bilder nicht gesehen, die ich dir geschickt habe? Die Kratzer?« Sie konnte nicht glauben, dass er ihre Wahrnehmung infrage stellte. Diese Bilder waren doch ein klarer Beweis dafür, dass sie sich den nächtlichen Besucher nicht einbildete.
Sie ging neben der Tür in die Hocke, um die Kratzer noch einmal unter die Lupe zu nehmen.
»Bist du sicher, dass die nicht vorher schon da waren? Die Tür ist schon alt und Sir Arthur …«
»Hör mal, Zac. Du weißt genau, dass ich mir solche Dinge nicht einbilde. Da schleicht jemand ums Haus und er wird jede Nacht dreister. Ich habe Angst.« Sie stand wieder auf und zog die Granny-Square-Weste, die sie sich schnell übergeworfen hatte, über ihrer Brust zusammen. Es war ein kalter Januarmorgen, über Nacht hatte es gefroren, was in Sidbury, ihrem kleinen Dorf im Hinterland der englischen Südküste, kaum vorkam. Der Raureif auf dem Gras sah beinahe aus wie Schnee. Nur leider war es keiner, denn dann hätte sie zumindest Fußspuren als Beweis gehabt.
»Ich weiß nur, dass du vor ein paar Wochen der Meinung warst, dass der Uhu im Baum vor deinem Haus deinen nahen Tod voraussagt.«
Sara verdrehte die Augen. »Ich bin immerhin vom Baum gefallen …«
»Ja, weil du verrückt genug warst, bei Regen hochzuklettern.«
»Und dass ich angeschossen wurde, zählt nicht?«
»Lebst du noch?«
Sara schnaubte. »Schon, ja, aber darum geht es ja nicht. Es geht darum, dass da jemand um mein Haus schleicht. Jede Nacht. Und dass mir das Angst macht. Und du bist mein Bruder und darum der erste Mensch, an den ich mich in meiner Hilflosigkeit wende.« Wieder sah sie sich um. Sie hasste diesen Schleicher. Dafür, dass sie sich plötzlich in ihrem Cottage unsicher fühlte.
Zac lachte. »Du und hilflos.«
»Lach mich nicht aus!«
Er wurde wieder ernst. »Ich lache dich nicht aus. Ich frage mich nur, warum du mich anrufst und nicht Cedric. Er ist immerhin dein Freund, lebt in Sidbury und kann innerhalb von fünf Minuten bei dir sein. Ich brauche von London mindestens dreieinhalb Stunden und das auch nur, wenn der Verkehr mitspielt.«
»Ich rufe dich an, weil Cedric doch nur sagen würde, dass ich zu ihm ziehen soll.«
»Was auch sinnvoll wäre.«
Sara atmete entnervt durch. »Nein, wäre es nicht. Sir Arthur Doyle würde nicht umsiedeln wollen. Der gehört in Tante Mauds Cottage.« Sir Arthur Doyle war ein weiteres Erbstück von Tante Maud, ein schwarz-weißer Kater, der nach Mauds Lieblingsautor Sir Arthur Conan Doyle benannt war und der es liebte, durchs Dorf zu streichen. Sehr zu Saras Verdruss, die allabendlich auf die Suche nach ihm gehen musste.
»Sir Arthur Doyle? Der ist doch öfter auf dem Friedhof und hört Silly Old Joes verrückten Reden zu als bei dir zu Hause. Aber wenn das der Grund ist: Geh einfach jeden Abend zu deinem Cottage und füttere ihn.«
»Er braucht aber nicht nur Futter, sondern auch jede Menge Streicheleinheiten.« Sara hatte langsam die Nase voll. »Ich hatte gehofft, dass du mir hilfst, aber ich sehe schon, dass ich mir was anderes einfallen lassen muss.«
»Sara, ich würde mir jederzeit eine Kugel für dich einfangen – ich denke, das habe ich sogar bewiesen –, aber ich glaube, du siehst Gespenster. Und wenn nicht: Frag Cedric. Übrigens komme ich am Wochenende nach Sidbury. Margaret hat einen Abendtermin und niemanden, der auf Annie aufpasst. Aber wenn sie zurück ist, lege ich mich gern vor deinem Cottage auf die Lauer.«
»Das wäre toll.« Sara fiel ein Stein vom Herzen. »Ach, und wenn du sowieso kommst …«
Er lachte. »Keine Angst, Fudge ist schon in rauen Mengen gekauft.«
»Vergiss nicht: Kate Kearney’s …«
»Dairy Cream Fudge. Ich weiß, Schwesterherz. Ich werde nie verstehen, wie du solche Unmengen von diesem Zahnzement in dich hineinstopfen kannst.«
»Ich brauche das eben zum Nachdenken. Zac …«
»Ja?«
»Was, wenn der Schleicher vorher wiederkommt?«
»Erzähl Cedric davon.« Zacs Stimme wurde eindringlich. »Ich mache keine Scherze, Sara. Ich glaube immer noch, dass das Ganze nur deiner Einbildung entspringt, aber wenn es nicht so ist, sollte Cedric davon wissen.«
»Okay.« Schweren Herzens beschloss sie, seinem Rat zu folgen. Sie verabschiedete sich und wählte Cedrics Nummer. Es tutete einmal, dann ein zweites Mal und schließlich erklang seine Stimme.
»Guten Morgen, Schatz!«
Doch die Stimme kam gleichzeitig durch das Telefon und von der Straße. Gleich danach tauchte Cedrics Kopf hinter der Mauer auf.
»Ich habe einen ersten Entwurf für unser Museum und dachte mir, du willst ihn sicher sofort sehen.«
»Echt? Zeig her!« Kurz blitzte in ihrem Kopf der Grund für ihren Anruf auf, aber wenn sie ihm jetzt von diesem nächtlichen Schleicher erzählte, würde eine endlose Diskussion darüber folgen, dass sie doch endlich zu ihm ins Dorfzentrum ziehen solle. Die Pläne für das Museum waren wichtiger. Sie zog Cedric hinter sich ins Innere des Cottages, wo eine wohlige Wärme sie empfing.
»Hast du schon gefrühstückt?«, fragte er, nachdem er sie geküsst hatte.
»Nein. Wollte ich gerade. Aber jetzt will ich lieber die Pläne sehen.«
Vor ein paar Wochen hatte Cedric, als Dorfvorsteher von Sidbury, die Idee gehabt, das leer stehende Haus von Reverend Leaves zu einem Heimatmuseum umzufunktionieren. Schon das Haus war ein Geheimtipp, denn es war mehrere Jahrhunderte alt und hatte eine bewegte Geschichte hinter sich.
Vor Jahren hatte Sara ihrer Tante geholfen, in den Archiven von Exeter und Charmouth nach Informationen über das malerische Fachwerkhaus zu suchen und dabei hatten sie ein paar erstaunliche Fakten ausgegraben. Das Häuschen war Anfang des sechzehnten Jahrhunderts erbaut worden und hatte Mary Tudor von England Unterschlupf geboten, als sie ihre Truppen in Südengland gesammelt hatte, um von dort aus ihren Thron zu erkämpfen. Später hatten darin konspirative Treffen zwischen den Beratern ihrer Schwester, Queen Elizabeth I. und den Freibeutern Sir Francis Drake und Sir John Hawkins stattgefunden. Auch Sir Arthur Conan Doyle hatte hier Zeit verbracht und vermutlich war der Hound of the Baskervilles genau hier entstanden. Sara hätte noch unzählige Anekdoten aufzählen können, von denen die meisten wahrscheinlich nicht ganz der Wahrheit entsprachen. Aber auch wenn sie bloße Legenden waren, machten sie dieses Häuschen zu etwas Besonderem, und da der Geistliche, der bis vor Kurzem darin gelebt hatte, nun eines tragischen Todes gestorben war und aufgrund des Priestermangels vermutlich kein weiterer Geistlicher jemals wieder hier leben würde, war es perfekt geeignet für ein kleines Heritage Museum.
Nicht nur die Dorfchronik von Tante Maud sollte darin einen geeigneten Platz finden, sondern auch eine sagenumwobene Schatzkiste voller Münzen, die Sara bei ihrem letzten Fall entdeckt hatte.
Die Leitung des Museums würde sie selbst übernehmen. Sie war glückselig, dass ausgerechnet sie so ein wunderbares Projekt mitgestalten durfte – und das, obwohl sie ihr Geschichtsstudium mittlerweile abgebrochen hatte.
»Lass sehen«, verlangte sie gespannt.
Cedric schüttelte nachsichtig lächelnd den Kopf. »Du wolltest frühstücken.«
»Die Pläne sind wichtiger!« Sie steuerte mit Cedric im Schlepptau das Sofa an, das vor dem Kamin stand. Sir Arthur Doyle hatte es sich darauf bequem gemacht, doch Sara verfrachtete ihn kurzerhand auf einen der mit Tweedstoff bespannten Ohrensessel, die zusammen mit dem Sofa um ein niedriges Tischchen herumstanden.
»Bringst du die Chronik auf Vordermann?«, fragte Cedric mit Blick auf den aufgeschlagenen Ordner, der neben einem Stapel Zeitungen, einer Lupe und einer Schere auf dem Tischchen lag.
»War mal wieder Zeit.« Sara seufzte. Sie war die Chronistin von Sidbury und Sidmouth, ebenfalls ein Vermächtnis ihrer Tante Maud. Eigentlich war es nicht viel Arbeit, nur, wenn sie alles schleifen ließ, konnte es passieren, dass sie plötzlich mehrere Stunden damit verbrachte, Berichte zu sichten und zu sortieren.
Cedric wusste, dass Sara es hasste, wenn jemand ihre Ordnung – nur sie konnte das Durcheinander an Zetteln so nennen – durcheinanderbrachte, und so breitete er seine mitgebrachten Pläne sehr vorsichtig über den Zeitungsschnipseln aus.
»Bitte sehr.«
Sara legte den Kopf schief und warf einen langen Blick darauf. »Sieht aus wie jetzt.«
»Tja, du hast es erkannt. Das Haus ist denkmalgeschützt. Veränderungen können kaum gemacht werden und der National Trust will bei jeder baulichen Maßnahme mitreden. Daher schlägt der Architekt vor, die Einteilung der Räume genau so zu belassen und …«
»Das Museum im Winter zu schließen? Du weißt schon, dass Reverend Leaves das Haus über den Kamin geheizt hat, oder? Das kann man machen, wenn man allein in so einer Hütte wohnt, aber nicht, wenn man jede Menge Museumsbesucher durch die Räume schleust. Ich bin sicher, dass wir Probleme mit den Sicherheitsauflagen bekommen, wenn wir ein offenes Feuer im Haus haben.«
»Es gäbe da die Möglichkeit, den alten Dielenfußboden Stück für Stück herauszunehmen und eine Fußbodenheizung darunter zu verlegen. Ist allerdings nicht ganz billig.«
»Es ist auch nicht ganz billig, ein Museum nur halbjährlich zugänglich zu machen«, erwiderte Sara. So diskutierten sie die nächste halbe Stunde einigermaßen hitzig über verschiedene Möglichkeiten einer Sanierung, die auch dem Denkmalschutz gerecht wurde, bis es an der Eingangstür klopfte.
Gleich darauf öffnete sich die Tür. Zum Vorschein kam Miss Spinsters silbergrauer Lockenkopf. Die alte Freundin ihrer Tante behandelte das Cottage wie ihr zweites Zuhause.
»Komm rein, Bobby Bobby, sonst erfriert Sara. Oh, und unser Dorfvorsteher ist ja auch hier. Du solltest unbedingt überlegen, ob du eine Art Windfang einbauen lässt, Sara. Gerade im Winter ist das hier keine Lösung.« Sie deutete auf den Flur, von dem aus ein offener Durchlass direkt ins Kaminzimmer führte, durch das man in die Küche gelangte. Gerade, wenn es so kalt war, bedeutete jedes Öffnen der Tür, dass ein eisiger Windstoß durch die Wohnräume fegte.
Sara zuckte mit den Schultern. »Der Winter dauert hier zum Glück nicht lang.« Dann grinste sie. »Und die Gäste, die mich besuchen kommen, wissen, was die Schwachstelle des Hauses ist.«
Miss Spinster hatte inzwischen ihren Freund Robert Miller, genannt Bobby Bobby, ins Warme gezogen und die Tür hinter ihm zugedrückt. Noch bevor sie aus ihrer Jacke schlüpfte, holte sie Hausschuhe aus ihrem Beutel und gab Bobby ein liebevoll besticktes Paar.
»Hier, zieh die an, sonst tragen wir Sara den ganzen Dreck in die Wohnung. Obwohl …«, sie sah sich mit hochgezogenen Augenbrauen um, »du wirklich wieder einmal aufräumen könntest, K…«
»Möchtet ihr Tee?«, unterbrach Sara sie, bevor sie wieder in ihre alte Unart verfiel, Sara als »Kindchen« zu bezeichnen.
Miss Spinster nickte. »Ich habe hier ein paar frische Scones. Ich dachte mir, du hast vielleicht Lust auf ein zweites Frühstück.«
»Auf ein erstes«, berichtigte Cedric sie. »Unsere Sara hatte noch keine Zeit für ein richtiges Frühstück. Sie hat darauf bestanden, zuerst die Pläne für unser Heritage Museum durchzugehen.«
Miss Spinsters Augenbrauen wanderten hoch. »Na, da kommen wir ja gerade recht. Übrigens, Cedric, was ist das für ein Auflauf vor dem Dorfamt?«
»Ein Auflauf?«
»Ja, da warten mindestens fünf Menschen. Ist Milly krank?«
Sara schmunzelte in sich hinein. Ja, in Sidbury waren fünf Menschen bereits ein »Auflauf«. Für jemanden, der wie sie sein ganzes Leben in London zugebracht hatte, war das nicht einmal eine Warteschlange.
»Milly krank? Nicht, dass ich wüsste.« Cedric zog sein Mobiltelefon hervor und warf einen Blick drauf. »Geschrieben hat sie nichts, aber wartet mal.« Er rief den Kontakt seiner Sekretärin auf und drückte auf die Wähltaste.
Sara hörte den Freiton, doch niemand hob ab.
»Sie geht nicht dran«, sagte Cedric. »Seltsam. Vielleicht ist sie wirklich krank und ich sollte bei ihr vorbeischauen.«
»Kümmere du dich lieber um die Wartenden«, sagte Miss Spinster. »Bobby und ich gehen bei Milly vorbei.«
Cedric sah unentschlossen aus, doch Miss Spinster nickte ihm aufmunternd zu.
»Sie wird diese furchtbare Grippe haben, die jetzt im Umlauf ist. Bobby und ich sehen nach ihr und versorgen sie, wenn nötig, mit Tee und Medikamenten. Es geht ihr sicher bald besser.«
»Wenn ihr meint.« Er zögerte noch immer.
»Wir meinen. Ab mit dir. Unter den Wartenden ist Lady Hely-Hutchinson.«
Wieder unterdrückte Sara ein Schmunzeln. Grace Hely-Hutchinson war eine Freundin von Miss Spinster. Ihr gehörte das Castle Hill House etwas außerhalb von Sidbury, ein altes Herrenhaus und Stammsitz der Hely-Hutchinsons. Sie war der beste Beweis dafür, dass Adelige auch heute einen besseren Stand hatten als Normalsterbliche, obwohl die große Zeit des Adels längst vorüber war.
Cedric verdrehte die Augen. »Wenn Lady Hely-Hutchinson wartet, dann muss ich wohl wirklich schnell ins Dorfamt.« Er zwinkerte Sara zu, erhob sich und deutete auf die Pläne. »Schau sie dir gern noch ein bisschen an und mach dir Notizen dazu. Das nächste Treffen mit dem Architekten habe ich am Dienstag.«
Sara nickte.
Unter den wohlwollenden Blicken von Miss Spinster und Bobby Bobby verabschiedete sie sich von ihm, dann verschwand er zur Tür hinaus. Sie wandte sich den beiden Senioren zu.
»Tee?«
»Du hast gehört, dass wir zu Milly müssen. Vielleicht später. Wir sind vor allem hier, um dich an unseren Krimiclub zu erinnern.«
»Als könnte ich den vergessen.« Jeden Sonntag um vier Uhr fand in Saras Cottage der Krimiclub statt. Auch dieser war eine Verpflichtung, die sie von ihrer Tante Maud übernommen hatte. Wenn sie nicht gerade selbst einen Fall zu lösen hatten, nahmen sie sich Werke von englischen Schriftstellern vor, vornehmlich von bereits verstorbenen, und diskutierten darüber.
»Vielleicht versuchst du es diesmal mit dem Apple Crumble von Maud?« Miss Spinster machte wie so oft einen vorsichtigen Vorstoß, doch Sara wich – ebenfalls wie so oft – aus.
»Vielleicht.« Das Problem war nicht, dass sie nicht kochen oder backen konnte. Viel eher hatte sie Angst, dass ihr Apple Crumble an den von Maud nicht herankam – selbst, wenn sie ihn nach dem Rezept ihrer Tante zubereitete. Sie wollte die Erinnerung an Maud nicht durch ihre Pfuscherei zerstören.
Miss Spinster verstand sie, auch ohne dass Sara es erklärte. »Ich bringe zur Sicherheit wieder ein paar Scones mit. Diese hier lasse ich dir da. Iss sie. Frisch sind sie am besten.«
Damit schlüpfte sie wieder in ihre Jacke und schob Bobby Bobby aus dem Haus, der die ganze Zeit über wieder einmal durch seine Schweigsamkeit geglänzt hatte.
Sara lächelte. Dann setzte sie sich ans Tischchen vor dem Kamin und brütete über den Plänen zum Heritage Museum. Sie konnte es schon vor ihrem inneren Auge sehen – das alte Fachwerkhaus, eingerichtet mit antiken Möbeln, dazwischen alte Dokumente wie das alte Geburtenregister, das bis ins achtzehnte Jahrhundert zurückreichte, oder der »Schatz der O’Connors«, den sie bei ihrem letzten Fall »gehoben« hatte. Sie stellte sich alte Stiche an den Wänden vor, dazwischen Kunstwerke von zeitgenössischen Künstlern aus der Gegend, Workshops, bei denen man lernen konnte, mit Tusche und Gänsefeder zu schreiben, oder alte Handwerkskunst. Gewiss fanden sich Handwerker, die die alten Techniken beherrschten. Ideen hatte sie unzählige. Sie brauchte nur das Haus …
Ihr Telefon gab ein Signal von sich und sie schaute auf das Display. Als dort aufschien, dass es eine neue Nachricht im Krimiclub-Chat gab, beschleunigte sich unwillkürlich ihr Herzschlag. Das war unsinnig, denn seit Wochen war in Sidbury nichts mehr passiert und auch wenn es im letzten Jahr eine deutliche Anhäufung an Verbrechen gegeben hatte, war es höchst unwahrscheinlich, dass schon wieder ein Mord auf sie wartete.
Trotzdem nahm sie ihr Telefon zur Hand und rief die Nachricht auf. Es war eine Sprachnachricht von Miss Spinster. Sara seufzte. Die Seniorin hatte in den letzten Wochen die Voicemails für sich entdeckt und schickte fast nur noch solche.
Sie drückte auf «Abspielen«.
»Wir sind hier in Millys Haus. Also, wir haben geklopft und geläutet, aber als sie uns nicht geöffnet hat, haben wir probehalber versucht, die Türklinke runterzudrücken und … Hey, Bobby sieh dir das mal an … Sorry. Also wir haben die Türklinke runtergedrückt und die Tür war offen. Milly ist nirgends im Haus zu finden, aber … Sorry … Bobby, mach auch hiervon ein Foto, bitte … Wo war ich? Ach ja … Hier sieht es aus, als wäre jemand gewaltsam eingedrungen. Also nicht Einbrecher und so. Aber da ist eine umgestoßene Stehlampe und … Bobby, schick die Bilder einfach in den Chat, während ich das raufspreche, ja? … Also eine umgeworfene Stehlampe und ein Stuhl und ein Bild ist von der Wand gefallen und der Nippes auf dem Tischchen in Millys Gang ist auf dem Boden. Lauter Scherben und so … Also, wenn ihr mich fragt, ist Milly verschleppt worden … Oh, sind das Kratzspuren an der Wand? Bobby, sieh dir das mal …«
Dann endete die Nachricht.
Saras Herz klopfte. Nicht vor Angst, sondern vor Aufregung. Hier war etwas passiert.
In diesem Moment gingen mehrere Bilder ein – diesmal von Bobbys Handy. In Millys Wohnung sah es aus wie nach einem Kampf. Umgestürzte Möbel, Scherben auf dem Boden, doch wie Miss Spinster sagte: Es sah weniger nach einem Einbruch aus als nach Entführung. Die Täter hatten nichts gesucht, sondern einfach nur Milly mitgenommen, die sich offenbar gewehrt hatte.
Die nächste Nachricht kam von Cedric.
Rührt nichts an. Ich verständige die Polizei.
Nicht diesen Inspector Griesgram, schrieb Miss Spinster.
Und Zac: Was verpasse ich hier schon wieder? Bin im Büro. Kann mir keine endlosen Voicemails anhören.
Sara verdrehte die Augen und tippte die Kurzfassung von Miss Spinsters Bericht ein.
Milly, die Sekretärin des Dorfamtes, ist überfallen worden. Die Bilder sind aus ihrer Wohnung. Von ihr gibt es keine Spur.
Shit!, kam es von Zac zurück. Die Kratzer sehen genauso aus wie die an deiner Tür, Sara.
Sara stöhnte. Diese subtil angebrachte Information würde sicher nicht ungelesen im Chat untergehen.
Welche Kratzer?, kam es umgehend von Miss Spinster und Cedric.
Sara überlegte noch, was sie antworten sollte, da schickte Zac die Bilder, die sie ihm am Morgen übermittelt hatte, in den Chat.
»Drei, zwei, eins«, zählte sie schicksalsergeben zurück.
Und schon trudelte die Nachricht von Cedric ein.
Verschließ sofort die Tür, Sara. Ich bin in zehn Minuten bei dir.
Ihr blieb nichts anderes übrig, als ein Daumen-hoch-Emoji in den Chat zu stellen. Dann verrammelte sie, wie von Cedric verlangt, Türen und Fenster, setzte sich aufs Sofa und wartete.
Auf die Pläne, von denen sie vorher noch völlig gefangen gewesen war, konnte sie sich nicht konzentrieren. Der nächtliche Schleicher war mit den Bildern aus dem Krimiclub-Chat plötzlich wieder präsent und sie ertappte sich dabei, wie sie gespannt nach Geräuschen horchte, die nicht hierhergehörten. Das Knirschen von Füßen im Kies vor ihrem Haus, das leise Kratzen von Fingernägeln an der Scheibe, schwerer Atem … In ihrer Erregung war ihr, als höre sie die Geräusche wieder.
Als es an der Tür klopfte, fuhr sie zusammen.
»Sara?«
Erleichtert registrierte sie, dass es Cedric war. Sie sprang vom Sofa und öffnete ihm die Tür.
»Wieso hast du mir nichts von den Kratzern gesagt?« Er klang vorwurfsvoll.
»Wollte ich, aber dann hattest du die Pläne und …«
»Du spinnst wohl! Als ob dieses Museum wichtiger wäre als deine Unversehrtheit. Wenn du mir das gleich erzählt hättest, hätte ich …«
»Ja, eben … ›hättest du‹ … Du hättest mich in einen goldenen Käfig gesperrt und dafür gesorgt, dass ich mich nicht mehr frei bewegen kann. Du hättest mir verboten, weiterhin in meinem Häuschen zu leben und …«
»Natürlich hätte ich das. Nein, ich hätte es dir nicht verboten. Wer bin ich, dass ich dir etwas verbieten würde, aber …«, er sah Sara eindringlich an, »ich würde dich bitten, dich nicht schon wieder so einer Gefahr auszusetzen. Für mich …«
Sara verdrehte die Augen. Natürlich hätte Cedric ihr nichts verboten. Er wusste zu genau, dass sie sich dagegen aufgelehnt hätte. Würde er sie einsperren, fände sie einen Fluchtweg. Das hatte sie schon einmal geschafft und er hatte offensichtlich daraus gelernt. Gegen sein Bitten war sie jedoch machtlos.
»Vielleicht bilde ich mir das alles nur ein.«
»Und ich bilde mir diese Kratzer auch ein, oder was?«
»Vielleicht waren sie schon vorher da und ich bausche die Sache auf.«
Cedric schüttelte den Kopf. »Nein, Sara. Diese Kratzer waren nicht vorher schon da. Ganz sicher nicht. Und ich glaube auch nicht, dass du da etwas aufbauschst. Bitte lass uns nichts riskieren diesmal. Ich … möchte nicht, dass es noch einmal so endet wie im November.«
Sara dachte mit einem Schaudern daran, wie damals die Kugel in ihren Arm eingeschlagen war. Nein, so etwas wollte sie nicht noch einmal erleben. Aber sie wollte auch nicht in Watte gepackt werden, daher machte sie einen letzten Versuch. »Es könnte ein Tier gewesen sein. Ein … Fuchs zum Beispiel.«
»Ein Fuchs, der an einer Haustür kratzt? Nein, wer auch immer hier war, hat eine Botschaft hinterlassen. Und diese Botschaft müssen wir ernst nehmen – noch dazu, wo das mit Milly passiert ist.«
Sie ergab sich in ihr Schicksal. »Du hast recht.«
»Dann wirst du ab jetzt bei mir wohnen.«
Sara wusste, dass dieses Angebot ein großer Liebesbeweis war. Cedric war siebenunddreißig und hatte beinahe die Hälfte seines Lebens alleine gelebt. Er hatte seine Ordnung, seine Rituale, seine ordentliche, saubere Wohnung und sie würde Unruhe in seinen Alltag und Chaos in sein Zuhause bringen. Auch wenn er sie liebte, würde es ihre Beziehung auf die Probe stellen und sie hatte Angst davor, dass diese Prüfung zu schwer war. So lange waren sie noch kein Paar … Also wehrte sie schnell ab.
»Das hat Zac auch schon vorgeschlagen, aber … Cedric, was mache ich mit Sir Arthur Doyle?« Zum Glück war ihr der Kater eingefallen. »Ich kann ihn doch nicht alleine lassen.«
»Sara, Sir Arthur ist eine Katze. Katzen brauchen Menschen nicht so sehr, wie wir das gern hätten.«
»Ach, und dann macht Sir Arthur sich ab jetzt selbst seine Futterdosen auf?«, fragte Sara bissig.
»Wir kommen natürlich her und füttern ihn.«
»Aber er braucht auch Streicheleinheiten.«
»Die bekommt er zusammen mit dem Futter.«
»Aber Maud hat in ihrem Testament …«
Cedric unterbrach sie. »Vergiss das Testament. Wenn Maud wüsste, was hier passiert, würde sie genau dasselbe sagen wie ich. Deine Sicherheit geht vor, Sara. Von mir aus nehmen wir den Kater samt seiner Futterdosen mit in meine Wohnung.« Er verzog bei diesem Vorschlag derart angeekelt das Gesicht, dass Sara beinahe lachen musste.
Es war nicht direkt so, dass Cedric Katzen hasste. Wenn er bei Sara war, setzte er sich anstandslos auf das Sofa, das natürlich voller Katzenhaare war, oder erlaubte, dass der Kater es sich schnurrend auf seinem Schoß bequem machte. Aber danach wusch er seine Hände und bediente sich des Kleiderrollers, um die Haare von seinen Hosen zu entfernen. Er sagte nie ein Wort, doch sie wusste auch so, dass er sicher nicht glücklich über die Anwesenheit einer Katze in seiner Wohnung sein würde.
»Vergiss es.«
»Dann schlafe ich ab jetzt bei dir.«
Sara legte ihre Arme um seinen Nacken. »Hin und wieder vielleicht.«
»Und für die anderen Nächte?«
»Da verstecke ich mich unterm Bett.«
»Sara, das ist nicht witzig. Ich weiß noch nicht, was mit Milly passiert ist. Aber die Bilder von Miss Spinster und Bobby Bobby sprechen für sich. Ich habe Angst um dich.«
Sara lächelte ihn an. »Und ich liebe dich dafür.« Aber sie würde sich trotzdem nicht einsperren lassen.
Cedric erkannte offenbar, was in ihrem Kopf vor sich ging. »Vielleicht habe ich eine Lösung.« Er löste sich aus seiner Umarmung. »Ich muss zu Millys Wohnung. Du sperrst hinter mir ab, verstanden?«
Sara nickte und verbiss sich ein »Ja, Daddy«.
»Und pass auf dich auf.« Er zog sie noch einmal an sich und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. »Ich kann dich nicht schon wieder verlieren.«
»Pass du auch auf dich auf. Und jetzt lauf schon. Inspector Griesgram wartet sicher schon.«
»Es war furchtbar. Je länger wir dort waren, desto mehr grausige Details haben wir entdeckt«, erzählte Miss Spinster aufgeregt, als sie mit Bobby im Schlepptau in Saras Cottage ankam und sich in den Sessel sinken ließ. »In den Kratzspuren an der Wand war Blut. Der Gerichtsmediziner entnimmt Proben, aber ich brauche keine Probe, um zu wissen, dass es Millys Blut war. Sie hat ihre Finger in die Wand gekrallt, um sich daran festzuhalten. Stell dir vor, wie sehr das schmerzen muss!«
Bobby brummte etwas Unverständliches, doch Miss Spinster ging nicht darauf ein. Stattdessen beschrieb sie weiter den Tatort.
»Und auf dem Boden unter dem Tisch lag ein Haarbüschel. Ein ganzes Haarbüschel! So viel ungefähr.« Sie deutete mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis von etwa einem Zentimeter Durchmesser an. Das war sicher übertrieben. Wenn Sara ihre kupferfarbene Mähne zu ihrem üblichen Pferdeschwanz zusammenfasste, kam sie auf etwa diese Haarmenge.
»Das Schlimmste war der Geruch. In der ganzen Wohnung roch es, als hätte jemand ein Feuer gemacht. Aber nicht im Kamin, der war vollkommen ausgekühlt, eher …«
»Der Kamin war ausgekühlt?« Sara wurde hellhörig.
»Ja, also dort wurde das Feuer sicher nicht entzündet … Was ist los?« Miss Spinster hatte Saras nachdenklichen Gesichtsausdruck bemerkt.
»Wenn ich abends geheizt habe, ist morgens noch etwas von der Wärme im Kamin zu spüren. Ich frage mich …«
»Du fragst dich, ob Milly möglicherweise schon am Abend nicht mehr in ihrer Wohnung war!« Miss Spinsters Augen leuchteten. »Das ist eine berechtigte Frage. Dann wären die Erkundigungen nach ungewöhnlichen Vorkommnissen, die Webster gerade bei Millys Nachbarn einholt, verlorene Liebesmüh. Wir sollten …«
»Nancy, lass doch die Polizei einfach ihre Arbeit machen«, wandte Bobby Bobby ein. »Dieser Inspector Webster ist ein fähiger Mann, das hat er doch mittlerweile schon ein paarmal bewiesen. Wieso musst du ihm immer in seine Arbeit reinpfuschen?«
»Weil er ohne unsere Hilfe nicht halb so fähig wäre«, erklärte Miss Spinster. »Man muss ihn doch mit der Nase in die Beweise stecken, damit er sie überhaupt sieht. Ich habe ihm zum Beispiel von den Kratzern an Saras Haustür erzählt und er hat nur irgendwas gebrummelt.«
»Zum Glück!« Unbehaglich malte sich Sara aus, wie Webster seine Aufmerksamkeit wieder auf sie richtete.
Doch Miss Spinster achtete gar nicht auf sie. »Dabei könnte das eine heiße Spur sein. Es könnte sogar mit Millys Verschwinden zu tun haben. Auf jeden Fall braucht er uns dringend. Wären wir nicht gewesen, hätte er weder …«
»Ja, ja.« Sara unterbrach ihren Redefluss, bevor sie alle Fälle aufzählen konnte, die sie zusammen gelöst hatten. Sie wandte sich an Bobby. »Diesmal haben wir uns nicht eingemischt.« Noch nicht, dachte sie.
Bobby war es, der das laut aussprach. »Ich kenne diesen Blick«, sagte er und zeigte auf Miss Spinster. »Und diesen.« Damit zeigte er auf Sara. »Und ich sage: Lasst die Polizei ihre Arbeit machen. Wenn ihr schon ermitteln wollt, dann ermittelt in einem anderen Fall.«
»In einem anderen Fall?«, fragte Miss Spinster verständnislos.
»Na, in einem aus dem Archiv. Da sind wir auf so viele Cold Cases gestoßen, dass wir ein Leben lang genug zu tun haben. Wie wäre es zum Beispiel mit …«, er zog den aktuellen Ordner heran, blätterte darin, dann zeigte er auf einen Zeitungsartikel, »mit dem da?«
Sara und Miss Spinster sahen zuerst einander, dann den Artikel an.
»Margarets Ehemann?«, fragte Sara.
Bobby nickte nachdrücklich.
Miss Spinster schüttelte so energisch den Kopf, dass ihre weißen Löckchen flogen. »Aber sein Mörder hat Fahrerflucht begangen. Wie sollen wir den nach dieser ganzen Zeit ausfindig machen, wenn es schon die Polizei nicht geschafft hat?«
Bobby wechselte einen beredten Blick mit Sara, die sofort verstand. Er wollte die Aufmerksamkeit seiner Freundin von dem aktuellen Fall um das Verschwinden von Milly auf einen älteren Fall lenken. Der Grund dahinter war Sara klar. Bobby Bobby wusste als ehemaliger Polizist, wie nervig es sein konnte, wenn sich Zivilisten in die Ermittlungen einmischten, und wollte seinen Kollegen, Inspector Webster, unterstützen. Außerdem machte er sich womöglich Sorgen, dass sich seine draufgängerische Freundin in Gefahr brachte.
Sara nickte ihm unauffällig zu. »Bobby hat recht. Wenn wir den Täter finden, würde Margaret nicht länger unter dieser Ungewissheit leiden, die ihr so zu schaffen macht. Das wäre doch eine große Hilfe für sie, nicht wahr?«
»Das ist beinahe zwei Jahre her«, murrte Miss Spinster.
»Ein schwacher Einwand«, befand Sara. »Vor allem, wenn man bedenkt, dass wir vor Kurzem einen dreißig Jahre alten Mordfall gelöst haben.« Plötzlich fand sie die Idee gar nicht schlecht, Miss Spinster mit einem neuen alten Fall abzulenken – nicht nur von Millys Verschwinden, sondern auch von dem nächtlichen Schleicher. Dann würde sie vielleicht nicht wie eine besorgte Glucke um Sara herumtanzen und ihr das Leben schwermachen.
Miss Spinster nickte nachdenklich. »Ihr habt recht. Also gut. Lösen wir den Fall von Charles Evans. Wo beginnen wir?«
Erleichtert zog Sara den Ordner mit den Berichten zu der Fahrerflucht näher. »Ich würde sagen, mit den Quellen.« Und damit beugten sie sich zu dritt über den Zeitungsartikel, in dem von Charles Evans’ Tod berichtet wurde.
Gestern in den späten Abendstunden wurde Charles Evans nicht weit von seinem Wohnort entfernt von einem Auto niedergefahren. Der Fahrer beging Fahrerflucht. Da die Rettungskräfte nicht rechtzeitig alarmiert wurden, erlag Evans seinen Verletzungen und verstarb noch am Unfallort. Die Polizei sucht nach Zeugen. Zweckdienliche Hinweise werden von der Polizeidienststelle in Sidmouth entgegengenommen. Charles Evans hinterlässt seine Ehefrau und eine Tochter.
Sara blätterte ein paar Seiten weiter, dann schüttelte sie den Kopf.
»Mehr haben wir nicht«, sagte sie. Überraschung war das keine, denn sie hatte schon einmal nachgeforscht, was das Archiv zu Charles Evans’ Tod hergab. »Margaret hat gemeint, dass ihr Mann möglicherweise überlebt hätte, wenn der andere Fahrer die Rettung verständigt hätte. Aber mehr wissen wir nicht.« Sie grinste. »Also ein Fall ganz nach unserem Geschmack.«
Miss Spinster verzog das Gesicht. »Wir sollten noch einmal mit Margaret sprechen.«
Sara zögerte. Sie mochte Margaret, die mit ihrer kleinen Tochter Annie etwas weiter die Straße hinunter wohnte. Als sie sich vor etwa einem halben Jahr kennengelernt hatten, war Margaret ein Wrack gewesen – völlig überfordert mit der Aufgabe als alleinerziehende Mutter und immer noch tief in Trauer wegen des Verlustes ihres Mannes. Seit sie mit Zac zusammen war, schien es ihr besser zu gehen. Die ständige Trauer auf ihrem Gesicht war zurückgewichen und immer öfter sah man sie lächeln oder sogar lachen. Würden Fragen zum Tod ihres Mannes Margaret nicht wieder zurückwerfen?
»Ihr muss daran gelegen sein, dass der Mörder ihres Mannes gefunden wird.« Miss Spinster hatte einen sechsten Sinn dafür, welche Gedanken Sara durch den Kopf gingen. »Natürlich wird es sie schmerzen, darüber nachzudenken, aber wenn wir den Mörder stellen, geht es ihr am Ende besser.«
»Falls wir den Mörder stellen«, meinte Sara etwas vorsichtiger. Sie musste Miss Spinster bremsen, denn niemand konnte versprechen, dass sie den Fall auch wirklich lösen würden.
»Bis jetzt haben wir jeden Fall gelöst.«
Sara wollte sich nicht auf Diskussionen einlassen. Daher nickte sie unverbindlich. »Dann lasst uns zu Margaret gehen und zusehen, was sie uns zum Tod ihres Ehemanns sagen kann. Aber bitte versprecht ihr nichts, was wir nicht halten können.«
Margaret öffnete die Tür. »Sara!« Sie schien sich zu freuen, dann erblickte sie Miss Spinster und Bobby Bobby und ihr Gesicht verfinsterte sich. »Oh. Ist wieder etwas passiert?«
Sara unterdrückte den Impuls, die Augen zu verdrehen. So weit war es also gekommen. Wenn sie gemeinsam mit ihren beiden Seniorenfreunden auftrat, vermuteten die Menschen gleich einen Kriminalfall.
»Milly wurde aus ihrer Wohnung entführt«, erklärte Miss Spinster, bevor Sara etwas sagen konnte, »aber deswegen sind wir nicht hier. Dürfen wir mit dir sprechen, Liebes?«
Margaret wurde blass, trat jedoch zurück und bedeutete den dreien, einzutreten. »Entführt?«
»Ja. Sie ist heute Morgen nicht zur Arbeit erschienen und wir haben Cedric gesagt, dass wir nachsehen und sie ein bisschen umsorgen, sollte sie diese furchtbare Grippe haben, die jetzt überall grassiert. Aber dann war sie einfach nicht da und die Wohnung sah aus wie ein Schlachtfeld.«
Margarets Gesichtsfarbe wurde noch käsiger, doch Miss Spinster bemerkte nichts davon und sprach weiter.
»Und das Erschreckende ist, dass nachts auch jemand um Saras Cottage geschlichen ist und sogar Kratzer in der Haustür hinterlassen hat.«
Als Miss Spinster das so erzählte, fiel Sara der nächtliche Schleicher wieder ein. Gerade, wenn man das so in Zusammenhang mit Millys Entführung erzählte – zumindest deutete alles auf eine Entführung hin –, wurde das Ganze noch realer und … noch bedrohlicher. Und das, obwohl Sara bereits in der Nacht vor Angst beinahe eingegangen war. Vielleicht sollte sie doch von ihrem hohen Ross steigen und Cedrics Angebot annehmen.
Während sie überlegte, hatte sie sich nicht auf Margarets Reaktion konzentriert. Ihre Nachbarin schwankte und stützte sich an der Wand ab.
»Was ist los, Margaret?«
Margaret sah auf. Ihr Gesicht war grau und ihre Augen riesengroß. »Ich habe die Geräusche auch gehört. Er ist auch um mein Haus herumgeschlichen. Ich habe gedacht, dass mir meine Fantasie einen Streich spielt, aber wenn ihr das so erzählt …«
»Denkst du, dass du die Geräusche tatsächlich gehört hast«, vollendete Miss Spinster ihren Satz. Sie sah ebenfalls besorgt aus. »Ich glaube nicht, dass ihr beide euch etwas einbildet. Sara ganz bestimmt nicht. Die Kratzer an ihrer Haustür sprechen eine klare Sprache. Und wenn der Schleicher bei Sara war, dann ist es naheliegend, dass er auch bei dir ums Haus geschlichen ist, Margaret.« Sie stemmte die Hände in die Seiten. »Wir müssen etwas unternehmen.«
Bobby nickte bedächtig. »Ich denke, wir haben nicht nur einen Fall, sondern gleich zwei.«
»Zwei Fälle?«, fragte Margaret. »Diesen Schleicher und …?«
»Eigentlich sind wir hier, weil wir dir anbieten wollten, den Tod deines Ehemanns zu klären«, erklärte Sara.
Margarets Miene verschloss sich.
Sara hatte genau das befürchtet. Beinahe zwei Jahre lang war die Trauer Margarets ständiger Begleiter gewesen und erst, seit mit Zac ein neuer Mann in ihrem Leben war, trat ihr Verlust langsam in den Hintergrund. Wenn Miss Spinster, Bobby und Sara in dem Fall wühlten, würde das auch all die furchtbaren Emotionen wieder hochkochen lassen. Das konnte Margaret nicht wollen.
So sagte sie: »Wir möchten nur noch ein Gespräch mit dir. Vom Rest unserer Ermittlungen wirst du nichts mitbekommen, außer du möchtest das. Wir können dir auch nicht versprechen, dass unsere Bemühungen von Erfolg gekrönt sein werden, aber wenn wir den Mörder von Charles wirklich ausfindig machen würden, wärst du zumindest diese Ungewissheit los.«
Sara konnte sich nur zu gut daran erinnern, was Margaret damals gesagt hatte: »Es könnte jeder sein! Es ist in dem verdammten Sidbury passiert, verstehst du? Fünfhundert Menschen leben hier, und sonst fährt kaum einer durch. Wir sind am Arsch der Welt und einer der Menschen, die mir tagtäglich ins Gesicht lachen, die mir bei seinem Begräbnis ihr Beileid ausgedrückt haben – einer von denen war es, verstehst du? Es kann Annies Lehrerin gewesen sein oder Mandy von Drew’s Butcher … Jeder, der ein verdammtes Auto fährt, kann meinen Mann umgebracht haben. Dieses Misstrauen frisst mich auf, verdammt!«
Auch Margaret schien in ihre Gedanken abzutauchen, denn es dauerte eine ganze Weile, bis sie schließlich nickte. »Kommt mit. Ich trinke gerade einen Tee. Mögt ihr auch eine Tasse?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, ging sie in die Küche und Sara, Miss Spinster und Bobby Bobby folgten ihr.
»Was wollt ihr wissen?« Margaret umklammerte ihre Tasse mit beiden Händen, als wäre sie ein Anker, an dem sie sich festhalten konnte, und sah Sara an.
»Alles, was dir zu Charles’ Tod einfällt«, sagte Sara. »Vor allem, was er an seinem letzten Abend gemacht hat, ob er mit jemandem verabredet war, ob er sich in der Zeit davor anders verhalten hat … Einfach alles. Vielleicht beginnst du einfach damit, dass du uns sagst, welchen Beruf er hatte?«
Margaret atmete einmal tief durch, dann sagte sie: »Charles hat Führungen gemacht – in den Underground Passages in Exeter. Das sind …«
»Unterirdische Gänge, die im Untergrund von Exeter verlaufen«, beendete Sara ihren Satz. »Sie wurden im frühen Mittelalter gebaut und dienten zur Trinkwasserversorgung, um das Wasser von den sauberen Quellen aus der Umgebung in die Stadt zu bringen.«
Alle sahen sie an, als wäre sie vom Mond gefallen.
»Was? Maud hat mir alle möglichen Sehenswürdigkeiten hier im Umkreis gezeigt. Da waren die Underground Passages natürlich auch dabei. Schon alleine wegen des Grusels.«
Miss Spinster nickte. »Ja, gruselig sind diese Gänge. Bobby hat mich mal dorthin mitgenommen und ich muss ganz ehrlich sagen: Wäre er damals nicht dabei gewesen, wäre ich vor Angst eingegangen.« Sie griff verstohlen nach Bobbys Hand. »Es ist schon beklemmend da unten.«
Margaret nickte. »Charles hat das nichts ausgemacht. Er hat die Atmosphäre im Untergrund geliebt und den Besuchern gern die schauerlichsten Geschichten erzählt. Wie sich die Kranken in den Zeiten der Pest in diese Tunnel geflüchtet haben und so erst recht alle Stadtbewohner angesteckt haben, wie berühmte Persönlichkeiten über diese Tunnel geflüchtet sind oder von Belagerungen, bei denen die Belagerer über die Tunnel in die Stadt gekommen sind – manches davon war erfunden, manches wahr. Charles war ein begnadeter Geschichtenerzähler.«
»Hat er den Job geliebt?«
Margaret nickte. »Er hat vor allem die Gänge geliebt. Sie hatten für ihn was Mystisches.« Plötzlich lächelte sie. »Wir haben uns sogar in diesen Gängen kennengelernt.«
»Wie das?«, fragte Miss Spinster.
Margaret zuckte mit den Schultern. »Ganz unspektakulär. Ich habe eine Führung mitgemacht, er hat uns durch die Gänge begleitet und all seine Gruselgeschichten erzählt. Am Ende der Führung hat er mich gefragt, ob ich Zeit habe, mit ihm was trinken zu gehen und … na ja … wie das eben so geht.«
»Wart ihr glücklich?«, fragte Sara.
Margaret zögerte einen Augenblick, doch dann nickte sie. »Wir waren über die erste Phase der Verliebtheit hinaus. Annie hat Charles manchmal an seine Grenzen gebracht. Er musste früh raus und wenn sie die ganze Nacht durchgeschrien hat, hat das an seinen Nerven gezehrt, aber … ein Kind ist eine Belastungsprobe für jede Ehe, nicht wahr? Ich denke, es war nicht schlimmer als bei anderen Paaren auch.«
»Ihr habt nie über Trennung nachgedacht?«
Margaret schüttelte den Kopf.
»War Charles in der Zeit vor seinem Tod genau wie sonst immer?«
Margaret sah sie misstrauisch an. »Wieso sollte er sich anders verhalten haben? Sein Tod war ein Unfall. Ein Verrückter hat ihn niedergefahren und ihn liegen gelassen. Mehr ist da nicht dahinter und – ganz ehrlich – ich glaube nicht, dass ihr mehr herausbekommt. Die Polizei hat alle Zeugen befragt. Die Menschen in den angrenzenden Häusern, die Pubbesucher, alle …«
»Er war vorher also im Pub?«, fragte Sara.
»Ja.«
»Mit wem?«
»Keine Ahnung. Graham Nigel war sicherlich dort, aber sonst …«
Sara überlegte. Graham Nigel war der Besitzer des Pubs und nicht wirklich ihr Freund. Er hatte ihr bis jetzt nicht verziehen, dass sie sich weigerte, etwas aus seinem fleischlastigen Menü zu bestellen, und nicht einmal seinen fetttriefenden Fritten etwas abgewinnen konnte. Aber er würde ihr Rede und Antwort stehen.
»Wir sollten mit Graham sprechen«, sagte sie an Miss Spinster und Bobby Bobby gewandt.
Die nickten.
»Das hat die Polizei schon getan«, sagte Margaret resigniert. »Er kann sich erinnern, dass Charles bei ihm war, aber an mehr auch nicht. Er weiß nicht einmal, ob er sich mit jemandem getroffen hat.«
»Mir wem hat er sich denn normalerweise im Pub getroffen?«, fragte Sara.
»Ich weiß es nicht. Er hatte kaum Freunde hier in Sidbury. Sein Lebensmittelpunkt war in Exeter.«
»Warum habt ihr dann hier gewohnt und nicht in Exeter?« Sara sah Margaret fragend an.
Die zuckte die Schultern. »Ich wollte es so. Exeter ist keine große Stadt, aber doch zu groß für mich. Ich bin vom Land, in der Stadt fühle ich mich nicht wohl. Dann hat Charles dieses Häuschen gefunden und wir haben uns sofort darin verliebt.«
»Aber er musste jeden Tag eine Dreiviertelstunde zur Arbeit und wieder zurück fahren.«
Margaret lächelte. »Das tat er gern. Er … liebte es hier auch. Es ist ein guter Ort. Der beste, um aufzuwachsen. Er tat es für Annie.«
»Hm.« Sara dachte nach. »Also keine Freunde in Sidbury, keine Zeugen für den Unfall, kein Anhaltspunkt …«
Margaret nickte. »Zu demselben Schluss ist auch die Polizei gekommen. Es war ein Unfall. Ein unglücklicher Unfall und ein verantwortungsloser Fahrer. Ich … habe gelernt, das anzunehmen. Dank Zac, aber vielleicht hätte ich es auch so irgendwann verstanden. Das Schicksal hat es so entschieden. Wir Menschen müssen uns fügen.«
»Es ist ein bisschen einfach, dem Schicksal die Schuld zu geben«, sagte Sara, als sie wenig später an der Seite von Miss Spinster und Bobby Bobby Richtung Dorfzentrum wanderte. Der Boden war eisig und so hatten Bobby und sie Miss Spinster in ihre Mitte genommen. Sie kamen nur mit winzigen Schritten voran.
»Ich meine … Es ist ja nicht so, dass man kampflos annehmen muss, was das Schicksal für einen geplant hat«, spann Sara ihre Gedanken weiter. »Ich würde wissen wollen, wer meinen Mann niedergefahren hat. Schon, um den Betreffenden zur Rede zu stellen – oder um dafür zu sorgen, dass mein Kind eine gute Ausbildung hat.«
»Na ja, so schlimm war es nicht«, wandte Miss Spinster ein. »Aber du hast schon recht. Große Sprünge konnte sie nicht machen. Ich verstehe übrigens, warum sie so denkt. Sie muss mit der Sache irgendwann abschließen. Ständig dieselben Gedanken zu denken, würde sie verrückt machen.«
»Ja, sicher«, sagte Sara. »Aber trotzdem …«
»Trotzdem würdest du wissen wollen, wen du zur Verantwortung ziehen kannst«, sagte Miss Spinster. »Ja, ich auch. Aber Menschen sind verschieden. Margaret ist eben eine von denen, die ihr Schicksal annehmen.«
Tja, zu dieser Sorte gehörte Sara nicht. Bereits als ihre Tante gestorben war, hatte sie sich nicht mit der offiziellen Version zu ihrem Tod zufriedengegeben. Die Polizei war damals von einem Freitod ausgegangen, aber Sara hatte Maud gut genug gekannt und war sicher gewesen, dass so etwas für sie niemals infrage gekommen wäre. Sie hatte so lange gebohrt, bis sie endlich die Wahrheit herausgefunden hatte, und das würde sie auch für Margaret tun. Auch wenn sie sich ein bisschen dafür schämte, dass sie es so lange hinausgeschoben hatte, sich mit dem Fall zu befassen. Schließlich durfte nicht sein, dass so ein gewissenloser Kerl ungeschoren herumfuhr – und womöglich bei nächster Gelegenheit weitere Menschen umbrachte.
Allerdings wusste sie nicht wirklich, wo sie anfangen sollte. Wie Margaret gesagt hatte, hatte die Polizei bereits alle Zeugen verhört. Und auch wenn Sara noch einen weiteren auftreiben konnte, würde der sich nach den beinahe zwei Jahren, die inzwischen vergangen waren, ganz gewiss nicht mehr an alle Einzelheiten dieses Abends erinnern.
Trotzdem musste sie es versuchen.
Während Sara diese Gedanken durch den Kopf gingen, erreichten die drei den Fat Fiddler, den Pub, dessen König Graham Nigel war, ein Bär von einem Mann – immer grantig und ohne Verständnis für Vegetarier.
Es ging auf Mittag zu und da der Fat Fiddler der einzige Ort im Dorf war, wo man etwas zum Essen bekam, war der Pub recht gut besucht. Sara sah sich nach einem freien Platz um und entdeckte einen Tisch an einem der beiden kleinen Fenster, der gerade geräumt wurde. Sie führte Miss Spinster dorthin, dann ließen sie sich alle drei nieder und warteten darauf, dass Graham Nigel, dessen Stirnfalten sich bei Saras Anblick vertieft hatten, sie bediente.
Der Innenraum des Pubs war dunkel, beinahe düster. Die beiden kleinen Fenster ließen kaum Licht durch und ein dunkler Dielenboden und ebenso dunkle Holzvertäfelungen verschluckten das meiste davon. Daran änderten auch die schwach leuchtenden Funzeln an den Wänden kaum etwas, zwischen denen alte Fotografien vergangener Feiern hingen, die im Pub stattgefunden hatten. Das Sonderbarste jedoch war eine Sammlung alter Nachttöpfe, die rund um den Tresen von der Decke hingen.
»Wasser ist alle.« Eine Stimme riss sie aus ihren Betrachtungen.
Sara sah hoch und erblickte den Pubbesitzer, der drei speckige Karten auf den Tisch legte.
»Wie kann Wasser alle sein?«
»Weiß ich nicht. Ist eben so. Was darf ich zum Trinken bringen?«
»Ein Pint«, bestellte Bobby Bobby. »Und ein Steak mit Pommes.«
Sara sah ihn erstaunt an.
»Was denn? Graham macht die besten Steaks im ganzen County«, verteidigte sich Bobby.
Der Pubbesitzer grinste Sara an. »Das sind Leute, die was verstehen. Und was bringe ich dir, Nancy?«
»Die Wurst mit Pommes«, sagte Miss Spinster. »Aber eine Seniorenportion. Und ich trinke bei Bobby mit.«
Graham Nigel richtete seine Augen auf Sara. »Fleisch isst du nicht, die Pommes sind der feinen Dame aus London zu fettig. Was darf ich dir also bringen? Einen Schuss Essig mit Salz und Pfeffer?«
Sara verdrehte die Augen. »Das wirst du mir ewig vorhalten, oder? Ich nehme die Quiche. Zufrieden?«
Der Pubbesitzer nickte. »Ich werde Speckwürfel darüberstreuen, damit sie nach was schmeckt.«
»Ich warne dich!« Sara grinste.
»Zum Trinken?«
»Wasser. Und hör auf mit dem Mist, dass es alle ist. Die Dame da drüben trinkt auch bloß Wasser.«
Graham Nigel wandte sich wortlos ab und verschwand in der Küche. Wenig später brachte er ein Pint und ein Glas Wasser an den Tisch. »Rest kommt gleich«, sagte er und wollte schon wieder verschwinden, da hielt Miss Spinster ihn auf.
»Hast du nachher kurz Zeit, um zu reden?«
Er schnaubte. »Ich habe mir gedacht, dass ihr nicht bloß zum Essen hier seid. Nicht mit der da …« Er zeigte auf Sara. »Was wollt ihr? Wenn’s um Milly geht, da hab ich der Polizei schon alles gesagt und von dem griesgrämigen Inspector den klaren Auftrag, euch keine Informationen weiterzugeben. Er befürchtet, dass ihr ›seine Ermittlungen erschweren‹ könntet. Seine Worte, nicht meine.«
»Ja, wenn du was zu Milly weißt, würde uns das auch interessieren«, sagte Miss Spinster und ignorierte Bobbys ungehaltenes Brummen. »Aber wir sind eigentlich wegen Charles Evans da.«
Graham Nigel brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, von wem sie überhaupt sprach, dann meinte er: »Ihr kommt etwas spät.«
»Das wissen wir«, sagte Miss Spinster. »Ungefähr zwei Jahre. Aber nachdem wir einen Fall aufklären konnten, der dreißig Jahre zurückliegt, haben wir uns gedacht, wir könnten vielleicht auch in den Tod von Charles Licht bringen.«
»Hm …« Der Pubbesitzer sah nicht überzeugt aus. »Es ist einfach schon lange her. Alles, was ich damals wusste, habe ich der Polizei gesagt. Vielleicht könnt ihr die alten Protokolle noch einmal ausgraben.«
»Nein, das wollen wir nicht. Wir wollen von dir hören, was damals war.« Miss Spinster sah ihn auffordernd an.
Graham vergewisserte sich, dass ihn niemand brauchte, dann meinte er: »Ich konnte schon damals kaum etwas sagen. Es ging recht hoch her, daran kann ich mich noch erinnern. Wir hatten einen Musiker, das zieht immer eine Menge Leute in den Pub. Charles saß da.« Graham deutete auf einen Stehtisch in der Ecke, um den ein paar Barhocker angeordnet waren. »Allein. Er trank ein Bier, zahlte gleich, als er es bekam. Und dann muss er wieder gegangen sein.«
»Ist ihm jemand gefolgt?«, fragte Sara.
»Bin ich die verdammte Auskunft?« Graham sah sie mit zusammengekniffenen Augen an. »Denkst du, ich kann jeden Besucher im Auge behalten? Irgendwann war er weg. Ich habe mir keine Gedanken darüber gemacht. Gezahlt hatte er ja. Alles andere ist mir egal.«
Miss Spinster nickte. »Wer war sonst noch alles im Pub?«
»Denkt ihr wirklich, dass ich das nach zwei Jahren noch auf die Reihe kriege?« Graham Nigel sah sie spöttisch an. »Ich habe geheime Superkräfte, aber ein so gutes Gedächtnis gehört leider nicht dazu.« Plötzlich erhellte sich sein Gesicht. »Silly Old Joe war da. Das weiß ich deshalb, weil er an dem Abend wieder einmal besonders gut drauf war. Als Charles hereinkam, hat Joe sich auf einen Tisch gestellt, mit dem Finger auf Charles gezeigt und ganz laut gerufen: ›Du!‹ Für einen Moment war alles still, dann haben die Leute realisiert, dass es nur unser Verrückter ist, der da wieder herumspinnt, haben gelacht und Silly Old Joe ist von seinem Stuhl heruntergeklettert und verschwunden.«
Silly Old Joe war der Dorfverrückte. Vor Jahren war er von einer verirrten Kugel am Kopf gestreift worden und seit damals war er etwas seltsam und behauptete, mit Geistern sprechen zu können. Das war natürlich Schwachsinn, aber trotzdem wusste Silly Old Joe oft Dinge, von denen sonst niemand eine Ahnung hatte. Er behauptete immer, diese Informationen von Geistern zu haben, aber Sara vermutete, dass er sie irgendwo aufgeschnappte. Die Leute hielten ihn für nicht ganz dicht und waren vielleicht manchmal in seiner Gegenwart unvorsichtig. Auf diese Weise hörte er wohl mal was, das nicht für ihn bestimmt war. So oder so: Dass er ausgerechnet an dem Abend, an dem Charles gestorben war, eine solche Aussage gemacht hatte, ließ Sara frösteln. War Charles’ Tod womöglich nicht ein Unfall gewesen, sondern geplanter Mord?
»Wie war die Reaktion von Charles?«, fragte sie.
Graham Nigel hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. »Er hat ein Pint bestellt.«
»Also gar keine Reaktion.«
»Genau. Und jetzt müsst ihr mich leider entschuldigen. Der Tisch da drüben will zahlen.« Graham Nigel erhob sich und ging, dafür kam ein junges Mädchen mit drei Tellern auf sie zu und brachte die Bestellung. Bobby bekam sein Steak, Miss Spinster ihre Seniorenportion mit Würstchen und Sara ihre Quiche – mit Speck.
»So ein Idiot!«, knurrte sie und pflückte zähneknirschend die angerösteten Speckwürfel von ihrem Essen.
»Das war vielleicht ein Tag.« Cedric sank erschöpft auf das Sofa in Saras Kaminzimmer und stöhnte. »Milly hat in der ganzen Zeit, in der ich Dorfvorsteher bin, noch keinen einzigen Tag gefehlt und irgendwie habe ich noch nie darüber nachgedacht, wie viel sie mir abnimmt. Das heute … das war der pure Horror.«
Sara stellte ihm eine Tasse ihrer geliebten Teemischung FiveO’Clock Tea hin, dann setzte sie sich neben ihn. »Weiß man schon was?«
»Zu ihrem Verschwinden, meinst du?« Cedric schüttelte den Kopf. »Nichts. Das kommt noch dazu. Inspector Webster war stundenlang im Amt. Draußen haben sich die Leute beschwert und er hat mir immer dieselben Fragen gestellt. Seine Kollegen haben ihren Arbeitsplatz durchforstet, ihren Computer, alles … Irgendwann hab ich sie ganz höflich darauf hingewiesen, dass sie nicht aus dem Büro entführt wurde, sondern aus ihrer Wohnung, und ob es nicht sinnvoller wäre, dort Spuren zu sichern. Weißt du, was Webster gesagt hat?«
Sara schüttelte den Kopf.
»Dass er schon wisse, dass ich mich gern einmische – ich und meine ›kleine rothaarige Freundin‹«, er malte Gänsefüßchen in die Luft, »aber ich solle mich bitteschön diesmal aus den Ermittlungen heraushalten und ihm lieber sagen, was ich gestern Abend gemacht habe und ob es dafür Zeugen gibt.«
Sara schnaubte. »Hat er nichts Besseres zu tun, als wieder einen von uns zu verdächtigen? Er kann sich auch mal was Neues einfallen lassen.«
»Das Problem ist: Ich war bis etwa acht Uhr bei dir und danach bin ich nach Hause gegangen. Und da war ich allein. Niemand hat mich gesehen, niemand kann bezeugen, dass ich auch zu Hause war. Frank O’Neill hat netterweise ausgesagt, dass gegen Viertel nach acht das Licht in meiner Wohnung eingeschaltet wurde und bis etwa elf gebrannt hat. Aber laut Inspector Webster entlastet mich das nicht. Schließlich kann ich das Licht eingeschaltet haben, zu Milly gegangen sein, sie entführt haben und dann wieder nach Hause gegangen sein.«
»Das klingt furchtbar plausibel«, bemerkte Sara zynisch.