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Ein Feuerteufel bedroht die Urlaubsidylle Auf der Nordseeinsel Juist geht ein Feuerteufel um, und das kurz vor Beginn der Hochsaison. Gerrit Harms, Besitzer des Sanddornhotels erhält zudem Drohbriefe, die stets mit der Zeile enden: Töwerland brennt. Eine Forderung stellt der Brandstifter jedoch nicht. Harms bittet den Herner Anwalt Rainer Esch um Hilfe. Nach ersten Bedenken nimmt Esch den ungewöhnlichen Auftrag an. Schon bald drohen seine Recherchen im Sand zu verlaufen. Er beschließt, seinen Inselaufenthalt wenigstens zu genießen. Doch das ist ihm nur so lange vergönnt, bis das Meer eine im Watt eingegrabene Leiche freigibt. Zwei Verbrechen zeitgleich auf einer so kleinen Insel - Esch ahnt: Diese Geschichte ist noch lange nicht ausgestanden, hier geht es um eine ganz große Sache ...
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Seitenzahl: 261
Jan Zweyer wurde 1953 in Frankfurt am Main geboren. Mitte der Siebzigerjahre zog er ins Ruhrgebiet, studierte erst Architektur, dann Sozialwissenschaften und schrieb als ständiger freier Mitarbeiter für die Westdeutsche Allgemeine Zeitung. Er war viele Jahre für verschiedene Industrieunternehmen tätig. Heute arbeitet Zweyer als freier Schriftsteller in Herne. Nach zahlreichen zeitgenössischen Kriminalromanen hat er sich mit der Goldstein-Trilogie (Franzosenliebchen, Goldfasan, Persilschein) das erste Mal historischen Themen zugewandt. Es folgte die fünfbändige Linden-Saga, eine historische Familiengeschichte aus dem Ruhrgebiet, ein Thriller zur Flüchtlingsproblematik (Starkstrom) und 2020 ein Ökothriller (Der vierte Spatz).
In der Reihe Wiederaufgelegter Bücher werden verlagsseitig vergriffen Texte von Jan Zweyer als Buch und eBook neu veröffentlicht. Der Originaltext unterliegt jetzt den neue Rechtschreibregeln. Inhaltliche Veränderungen wurden nur in Ausnahmefällen vorgenommen.
Vorwort
Prolog
Etwa zwei Wochen früher …
Sommer 1981: Claudia
Kapitel
Sommer 1981: Claudia
Kapitel
Sommer 1981: Knut
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Frühjahr 1986: Knut
Kapitel
Frühjahr 1987: Knut
Kapitel
Kapitel
Herbst 1990: Knut
Kapitel
Kapitel
27. März 1992: Knut
Kapitel
Kapitel
27. März 1992: Knut
Kapitel
Kapitel
Herbst 1992: Knut
Kapitel
Kapitel
Sommer 2004: Knut
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Danksagung
Juist ist eine beschauliche Insel mit ausnahmslos friedliebenden Bewohnern. Deshalb entstammt all das Böse, von dem in diesem Roman zu lesen ist, ausschließlich der Niedertracht meiner Gedanken. Sie glauben das nicht? Meinen, schon anderes über Juist gehört zu haben?
Sie müssen sich irren.
Alle Personen und die Handlung dieses Buches sind selbstverständlich frei erfunden. Dennoch könnte sich der eine oder andere Tatbestand möglicherweise so ähnlich wie beschrieben ereignet haben. Natürlich keinesfalls genauso, wie ich es erzähle.
Definitiv aber hat es den Mord, über den Sie auf den nächsten Seiten lesen werden, auf dem Töwerland nie gegeben.
Der Roman spielt 2005. Einer der beschriebenen Schauplätze ist der Jachthafen mit dem Seezeichen. Dieser wurde erst 2008 in Betrieb genommen, aus dramaturgischen Gründen jedoch in das Jahr 2005 verlegt.
Jan Zweyer Frühjahr 2012
Langsam kam er zu sich. Irgendetwas fixierte seine Beine. Eine zähflüssige Masse. Nass und kalt, aber nachgiebig. Allerdings nicht weich genug. So sehr er sich auch anstrengte, er kam nicht frei. Er bewegte seine Zehen, spannte die Muskeln an, schob die Oberschenkel ein kleines Stückchen vor, dann zurück. Links, rechts. Vor, zurück und wieder vor und zurück. Dutzende Male. Doch vergebens. Kaum hatte er sich Platz verschafft in diesem klebrigen Stoff, der seine Gliedmaßen wie ein elastischer Panzer umschloss, und für einen Moment in seinen Anstrengungen innegehalten, drängte das Feuchte erneut in den Freiraum, den er sich gerade erst erkämpft hatte, nahm ihn sekundenschnell in Besitz.
Schließlich seine Arme. Auf dem Rücken zusammengehalten mit etwas, das in seine Handgelenke schnitt und schmerzte, wenn er versuchte, sich zu befreien. Diese Bindung widerstand allen Bemühungen.
Der Mund. Fest verschlossen mit einem Klebeband. Unmöglich, zu schreien. Seine Mundwinkel zuckten, die Lippen aber blieben aufeinandergepresst, gehalten von dem flexiblen Scharnier. Nur ein leises Stöhnen, ein tiefes Brummen konnte er aus seiner Kehle pressen.
Und dann seine Augen! Die Lider ebenso gesichert wie sein Mund. Unfähig, seine Umgebung zu erkennen.
Gedankenfetzen, Fragen. Wer war er? Wo war er? Was hielt ihn?
Der dichte Nebel, der sich in seinem Kopf ausgebreitet hatte, lichtete sich langsam. Blitze der Erinnerung. Zu kurz, um Klarheit zu bringen.
Wie war er in diese Situation geraten?
Ihm war kalt, eiskalt. Seine Fingerspitzen nutzten den wenigen Platz, den die Fessel ließ, strichen über seinen Rücken und signalisierten, dass sein Oberkörper unbekleidet war. Aber nicht nur das. Ihm schien, dass er nackt war. Wo war er?
Ein Schrei in Hörweite. Drohend. Grell und laut. Nicht menschlich. Was rief da? Und da! Ein anderes Geräusch. Eine Art Plätschern, ein flüsterndes Gurgeln, scheinbar weit entfernt. Unvermittelt wieder der schrille Ruf. Dann ein weiterer, wie eine Antwort.
Minuten wurden zu Stunden. Das Gurgeln, das Plätschern flüsterte jetzt nicht mehr, sondern schwoll an, kam näher, war direkt bei ihm.
Plötzlich verflogen die Nebel in seinem Kopf.
Plötzlich wusste er wieder, wer er war.
Und plötzlich erkannte er mit grausamer Klarheit auch, wo er war: bei den schreienden Möwen im Watt.
Er riss an seinen Fesseln, ignorierte den stechenden Schmerz, wollte schreien, um Hilfe betteln, betete darum, sich aus dem Schlick zu befreien, in dem er bis zum Bauchnabel feststeckte, warf seinen Oberkörper hin und her in der vergeblichen Hoffnung, sich durch die Bewegung auszugraben, und erstarrte vor Entsetzen, als die erste kleine Welle der aufkommenden Flut seinen nackten Körper berührte. Nur ein Augenblick, dann war das Gefühl vorbei. Das Nass zog sich zurück. Hatte er sich geirrt? Träumte er gar? Aber nur wenige Sekunden später holte ihn die nächste Woge unbarmherzig in die Realität zurück. In seiner Panik schien ihm, dass das Gurgeln zu einem dröhnenden Brausen gewachsen war und das erneut gegen seinen Körper schwappende Wasser ihn wie ein Tsunami überspülte. Tatsächlich kroch das Meer nur heran, umspielte für Minuten seinen Nabel, schob sich dann langsam höher, bis es seine Brust erreichte. Er verstärkte seine Bemühungen, kämpfte um seine Existenz, biss sich fast die Zunge ab bei dem Versuch, das Klebeband in die Mundhöhle zu ziehen, um sich von ihm zu befreien. Vergeblich.
Als ihm das Salzwasser bis zum Kinn stand, ergab er sich seinem Schicksal und begann zu weinen. Tränen, die nicht abfließen konnten, füllten seine Augen. Aber das Salzige, was er schmeckte, waren keine Tränen. In einer letzten Anstrengung reckte er den Hals so weit nach oben, wie es nur eben ging, weg von der See und dem Leben entgegen. Atmen. Luft.
Ob es nun das Salzwasser war, das ihm ins Gesicht spritzte, ob sich die Tränenflüssigkeit doch einen Weg am Klebeband vorbei ins Freie gebahnt hatte, die Feuchtigkeit lockerte das Band und gab zunächst einen kleinen Spalt frei, kurz darauf fiel es sogar ganz ab.
Und in dem Moment, als er tief einatmete, bevor die Flut zum ersten Mal in seine Nasenlöcher kroch, genau in diesem Augenblick konnte er die Augen wieder öffnen, sah das nächtliche Juist in unerreichbarer Ferne, blickte dann in einen klaren Sternenhimmel von unbeschreiblicher Schönheit.
Unmittelbar danach war das Wasser über ihm und die Nordsee nahm von ihm Besitz.
Ohne Terminvereinbarung war Gerrit Harms in der Anwaltssozietät Schlüter und Esch erschienen und hatte verlangt, Rainer Esch zu sprechen. Er könne warten, hatte Harms gemeint, nachdem ihn Martina Spremberg darauf aufmerksam gemacht hatte, dass ihr Chef vermutlich bis zum Mittag vor Gericht beschäftigt sei. Tatsächlich kehrte Rainer an diesem Montag erst in den frühen Nachmittagsstunden in die Kanzlei zurück.
»Wahrscheinlich ein neuer Mandant«, raunte ihm Martina zu, als Rainer ihr die Akten auf den Schreibtisch packte. »Er wartet schon seit Stunden. Muss wichtig sein.« Die junge Frau war nicht nur die einzige Angestellte der Kanzlei Schlüter und Esch, sondern erhielt auch, ganz im Gegensatz zu den beiden Anwälten, regelmäßig ihr Gehalt. Obwohl die Anwaltssozietät seit Jahren in der Herner Innenstadt residierte, fehlte es immer noch an lukrativen Mandaten. Und so lebten Rainer Esch und Elke Schlüter in manchen Monaten nur knapp über Hartz-IV-Niveau.
Rainer, der sich auf den Feierabend gefreut hatte, seufzte. »Gib mir eine Zigarettenlänge Zeit. Dann kümmere ich mich um den Mandanten.«
Kurz darauf saß Gerrit Harms dem Anwalt gegenüber. »Mein Anliegen wird Sie vermutlich etwas überraschen.« Harms sprach mit norddeutschem Akzent.
»Ich möchte nicht Ihre Dienste als Anwalt in Anspruch nehmen, sondern Sie stattdessen als, sagen wir, Detektiv engagieren.«
Rainer zog die Augenbrauen hoch.
»Ich werde es Ihnen erklären. Können Sie sich eigentlich an mich erinnern?«
Der Anwalt schüttelte den Kopf.
»Wir sind uns vor einigen Jahren auf Juist begegnet. Sie waren im Auftrag eines Bodenspekulanten unterwegs und wollten mich zum Verkauf eines unserer Grundstücke überreden.«
Rainer musterte den Mann genauer. Etwa Mitte dreißig, schlank, fast hager, blondes, mittellanges Haar. Natürlich hatte er das Mandat nicht vergessen, welches ihn damals auf die Nordseeinsel geführt hatte. Sein Gegenüber jedoch … Trotzdem erwiderte er zögernd: »Jetzt, wo Sie es sagen …«
Harms lachte. »Ich sehe Ihnen an, dass Sie nicht die geringste Ahnung haben, wer ich bin. Macht nichts.« Er wurde wieder ernst. »Sie haben immer noch einen guten Ruf auf unserer Insel. Deshalb habe ich auch sofort an Sie gedacht, als der erste Erpresserbrief bei uns eintraf.«
Rainers Interesse war geweckt. »Sie werden erpresst?«
»Ja. Meiner Familie gehört seit drei Generationen ein Hotel auf Juist, das Sanddornhotel im Ostdorf. Aber lassen Sie mich von Beginn an erzählen.«
Rainer lehnte sich in seinem Stuhl zurück und hörte aufmerksam zu.
»Sicher kennen Sie das alte Hotel Bracht in der Wilhelmstraße.«
»Den Ziegelbau in der Nähe des Kurplatzes? Ich dachte, der Kasten sollte abgerissen werden.«
»Das wurde er auch. Vorher jedoch war dort ein Brand gelegt worden. Das ist jetzt etwa ein Jahr her. Kurz darauf kam der erste Brief.« Harms zog aus seiner Jackentasche mehrere zusammengefaltete Blätter hervor. Bevor er eines davon zu Rainer herüberreichte, strich er die Papiere mit dem Handrücken sorgfältig glatt.
»Bitte.«
Auf dem Blatt standen lediglich sechs kurze Zeilen, augenscheinlich mit einem Computer gedruckt. Rainer las:
Einst kam ein Mädchen nach Töwerland
Sie war nur einem gut bekannt
Aber sie blieb nicht lange dort
Bald musste sie schon wieder fort
Verstoßen von jemand mit harter Hand.
Darunter war in fetter Schrift zu lesen: Töwerland brennt.
Der Anwalt gab kopfschüttelnd das Papier zurück. »Das ist alles?«
»Ja.«
»Hört sich an wie ein schlechter Limerick, oder?«, meinte Esch. »Nicht gerade das, was ich mir unter einem Erpresserbrief vorstelle.«
»Eben. Deshalb habe ich das Schreiben ja auch nicht ernst genommen, trotz des Feuers im Bracht. Dann aber kam der Brand in dem Schuppen, in dem wir im Winter Liegen, Strandkörbe und Sonnenschirme lagern. Es war eindeutig Brandstiftung, meinte der Sachverständige der Feuerwehr. Und kurz danach erreichte uns das zweite Schreiben.« Er schob ein weiteres Blatt zu dem Juristen hinüber.
Darauf stand:
Kein Vater, dann auch keine Mutter mehr
Und nachts, da wird das Herz so schwer
Alleingelassen auf dieser Welt
Das geringste Übel: ohne Geld
Die Erlösung liegt am Meer.
Und wieder als Unterschrift: Töwerland brennt.
»Dichterisch auch nicht gerade eine Glanzleistung, wenn ich das so sagen darf.« Rainer grinste. »Leider kann ich immer noch nicht so recht erkennen, worin denn nun die Bedrohung liegen soll.«
»Einige Tage später wurden wir erneut Opfer einer Brandstiftung. Ein anderer Lagerschuppen, der uns gehört, wurde abgefackelt, der deutlich größer als der vorherige war. Er wurde mit dem Stroh, das im Sommer an den Strandabgängen liegt, angesteckt. Beide Brände mussten jeweils kurz nach Mitternacht gelegt worden sein, da sie nur wenig später entdeckt wurden. Es brannte immer an abgelegenen Stellen, wo keine Gefahr bestand, dass Menschen in Mitleidenschaft gezogen werden konnten. Bis jetzt.« Harms reichte Esch das letzte der Blätter.
Brennen muss, wo alles begann
Das soll so sein und hintenan
Werden sie leiden
Ist nicht zu vermeiden
Büßen muss der, der mir das angetan.
Töwerland brennt.
»Ich bleibe dabei«, meinte der Anwalt. »Ein Erpresserbrief ist das nicht. Eher ein Drohbrief. Oder sind irgendwelche Forderungen erhoben worden?«
»Nicht direkt.«
»Wie soll ich das verstehen?«
»Es hat noch ein weiteres Feuer gegeben. Ein Abstellraum im Keller unseres Hotels geriet in Brand. Das war vor einigen Tagen. Die Rauchentwicklung war enorm und wir mussten sogar Gäste evakuieren. Aber es ist glücklicherweise niemand zu Schaden gekommen. Noch während der Löscharbeiten erhielt ich einen Anruf. Die Stimme klang verzerrt, irgendwie dumpf. Möglicherweise hat der Anrufer ein Tuch vor seinen Mund gehalten.«
»Der Anrufer? Es war also eine männliche Stimme?«
»Ja.«
»Ich nehme an, dass die Nummer des Anrufers nicht auf Ihrem Telefon angezeigt wurde?«
»Leider nicht.«
»Das wäre ja auch zu einfach gewesen. Also, was wollte der Mann?«
»Er sagte, dass alles Bisherige nur Warnungen gewesen seien. Er würde seinen Preis nennen. Genaueres erführe ich in Kürze. Und ich solle die Polizei aus dem Spiel lassen. Sonst ereigne sich etwas Schlimmes.«
Der Anwalt kratzte sich am Kopf. »Und? Haben Sie die Polizei informiert?«
»Natürlich haben die Beamten ermittelt. Es handelte sich schließlich um Brandstiftung.«
»Das meinte ich nicht.«
»Ach so. Nein, den Anruf oder die Briefe habe ich nicht erwähnt. Am Anfang habe ich, wie gesagt, die Drohungen nicht ernst genommen. Einige Zeit war ich mir nicht sicher, ob es sich bei den Bränden nicht doch um Zufälle gehandelt hat. Immerhin wurde das erste Feuer im Hotel Bracht gelegt, das uns nicht gehört. Es wäre ja auch möglich gewesen, dass der Brandstifter nicht meine Familie meint, sondern willkürlich irgendein Gebäude ansteckt. Und die Briefe hätten ja auch von einem Trittbrettfahrer stammen können. Ein Streich vielleicht.«
»Aber das glauben Sie jetzt nicht mehr?«
»Nein. Nach dem Feuer in unserem Keller und dem Anruf habe ich wirklich Angst bekommen. Für mich stellen die Brände eine Serie dar, eine Art Eskalationsstufe. Das Feuer im Bracht, in den Schuppen, dann in unserem Keller. Was brennt als Nächstes, habe ich mich gefragt. Unser Hotel? Ich nehme die Drohung jetzt ernst, deshalb habe ich die Polizei nicht eingeschaltet.«
»Hm. Was erwarten Sie nun genau von mir?«
»Kommen Sie nach Juist. Finden Sie den Brandstifter. Helfen Sie mir.«
Seit der Geburt ihres Sohnes war Claudia Tohmeier zigmal umgezogen. Unstet, wie sie war, hatte sie es nie länger als einige Monate an einem Ort ausgehalten. Viele Städte hatte sie in den vergangenen sechs Jahren gesehen, große und kleine. Sie hatte als Verkäuferin gearbeitet, Kellnerin, Kassiererin, Bandarbeiterin, für einige Wochen hatte sie sich sogar in einer Peepshow verdingt. Längst hatte sie aufgehört, sich die Namen der Kindergärten zu merken, deren Erzieherinnen sich tagsüber um Knut kümmerten.
Claudia Tohmeier stammte aus einem kleinen Dorf in der Oberpfalz. Als ihr Vater damals erfahren hatte, dass sie schwanger war, den Namen des Erzeugers ihres Kindes aber nicht nennen wollte, hatte er seine jüngste Tochter aus dem Haus gejagt. Sie sei für ihn und die Familie gestorben, hatte er gewütet und damit auch den anderen Familienmitgliedern jeden Kontakt mit ihr rigoros untersagt.
Seit dieser Zeit war sie auf der Flucht gewesen. Auf der Flucht vor ihren Erinnerungen. Aber das Davonlaufen war zwecklos, ihre Erinnerungen hatten sie immer wieder eingeholt. Als die Einschulung ihres Sohnes bevorgestanden hatte, hatte Claudia sich entscheiden müssen: Wollte sie Knut ein solches Nomadenleben weiter zumuten? Ihm zuliebe war sie schließlich in einer Kleinstadt im Münsterland sesshaft geworden.
Im Sommer 1980 hatte sie eine Stelle als Bürogehilfin in einem großen Autohaus gefunden und ein möbliertes Dachzimmer bezogen, das ihr eine ihrer neuen Kolleginnen vermietet hatte.
Claudia hatte ihre Arbeitszeit so einteilen können, dass sie, wenn Knut mittags von der Schule kam, für zwei Stunden zu Hause war, um mit ihm zu essen. Dann kontrollierte sie seine Hausaufgaben. Knut war ein mittelmäßiger Schüler, konnte dem Unterricht aber dank der Unterstützung seiner Mutter folgen. Eine ältere Schülerin gab nachmittags auf Knut acht, solange Claudia arbeitet.
Langsam verödete der Schmerz ihrer Erinnerungen. Schließlich fühlte sie sich in der Lage, die immer drängender werdenden Fragen ihres Sohnes zu beantworten. Allerdings sollte ihre Antwort eine Lüge sein.
»Mama, heute wolltest du mir erzählen, warum die anderen Kinder einen Papa haben und ich nicht.«
Claudia Tohmeier atmete tief durch und schüttelte die Bettdecke ihres Sohnes auf. »Hast du dir die Zähne geputzt?«
»Du hast es versprochen«, quengelte Knut.
»Hast du?«
»Hab ich vergessen«, gestand der Kleine.
Claudia gab ihrem Sohn einen liebevollen Klaps auf den Po. »Ab ins Bad. Zähneputzen. Aber ordentlich. Dann können wir darüber reden.«
Der Junge sprang ins Bad. Seine Mutter, froh über den Zeitgewinn, ging in Gedanken noch einmal die Geschichte durch, über die sie seit Wochen gegrübelt hatte. Claudia hörte Knut demonstrativ laut gurgeln. Kurz darauf war er wieder im Zimmer, sprang mit einem Satz ins Bett und sah seine Mutter erwartungsvoll an.
»Ich weiß nicht, wo dein Papa ist«, begann sie zögernd.
»Warum nicht?«
»Als du noch ganz klein warst, musste dein Papa ganz weit wegfahren.«
»Warum?«
»Er musste arbeiten. So ähnlich wie Herr Müllbreit.«
Egon Müllbreit wohnte mit seiner Frau im selben Haus. Er war Fernfahrer. Seitdem er Knut einmal im Führerhaus seines Kraftwagens auf eine kurze Tour mitgenommen hatte und der Junge anschließend am großen Lenker drehen und die Hupe betätigen durfte, waren Fernfahrer das Größte für Knut.
»Mit einem Laster?«
»Ja, mit einem Laster. Und wie Herr Müllbreit blieb er manchmal auch über Nacht weg.«
Knut staunte Bauklötze. »Mein Papa hat auch so einen großen Laster wie Herr Müllbreit?«
»Ja.«
»Aber warum ist er nicht hier und lässt mich mitfahren?«
»Das will ich dir ja gerade erklären. Also, dein Papa musste weit wegfahren.«
»Wohin?«
Claudia Tohmeier seufzte. »Nach Afrika.«
»Dahin, wo es die wilden Tiere gibt, die wir im Allwetterzoo gesehen haben?«
»Genau dahin. Dein Papa hat den kleinen Kindern im Dschungel Essen gebracht.«
»Mit dem Laster?«
»Ja, mit dem Laster. Er musste das tun. Die Kinder hätten sonst Hunger gehabt und wären vielleicht gestorben. Das wollte dein Papa nicht. Das würdest du doch auch nicht wollen, oder?«
Knut schüttelte heftig den Kopf.
»Siehst du. Auf dem Rückweg dann hat er einen Unfall gehabt. Und dabei ist er gestorben.«
Knuts Augen füllten sich mit Tränen.
Claudia streichelte ihrem Sohn über das Haar. »Dein Papa hatte dich ganz lieb. Er hätte bestimmt nicht gewollt, dass du weinst. Wir beide kommen doch ganz prima alleine klar. Was meinst du? Sollen wir morgen nach Münster fahren?«
Der Junge nickte zögernd.
»Du darfst dir in dem Spielzeuggeschäft auch einen Laster zum Spielen aussuchen.«
Jetzt strahlte Knut wieder. »So einen, wie ihn mein Papa hatte?«
»Genau so einen.«
Es war zu kalt für Mitte Mai. Ein Hochdruckgebiet über den Britischen Inseln und ein ebenso stabiles Tief über Osteuropa schaufelten gemeinsam kühle und feuchte Luft vom Nordatlantik nach Mitteleuropa. Der immer wieder stürmisch auffrischende Wind peitschte tief hängende Wolken über das Watt. Der drohende Regen aber war bisher ausgeblieben.
Als sich die Fähre Juist näherte, machte der Kapitän Fahrgäste und Inselbewohner mit einem langen Tonsignal auf die Ankunft der Frisia IX aufmerksam. Kurz darauf legte das Schiff mit einem leichten Ruck am Kai an.
Rainer Esch griff zu seiner Lederjacke, hängte sich die Laptoptasche über die Schulter und verließ mit einigen Hundert anderen erwartungsfrohen Urlaubern die Fähre. Schon auf dem Weg zur Ankunftshalle packte ihn die erste Windböe. Der Anwalt schlug den Kragen seiner Jacke höher, warf, wie viele andere auch, einen skeptischen Blick zum Himmel und passierte kurz darauf die Fahrkartenkontrolle. Direkt am Ausgang warteten schon die Kofferträger der großen Inselhotels, erkennbar an den Schirmmützen mit den aufgestickten Namen ihrer Arbeitgeber. Einer der Träger begleitete Esch zum Gepäckcontainer, wuchtete dessen Reisetasche auf den Fahrradanhänger und schaute fragend auf Rainers Laptop. Der Anwalt lehnte dankend ab, steckte dem Mann ein Geldstück zu und bummelte ins Ortsinnere. Er kannte sich aus. Es war bereits sein zweiter Besuch auf Juist.
Nach einem Fußmarsch von nur wenigen Minuten befand er sich an der Rezeption des Hotel Pabst, nahm seinen Zimmerschlüssel in Empfang und bezog Quartier in einem der ersten Häuser der Insel.
Sein Gepäck war bereits auf das Zimmer gebracht worden. Rainer zog seine Schuhe aus, ließ sich rücklings auf das Bett fallen und schloss die Augen, um nachzudenken.
Gerrit Harms hatte Esch gebeten, zunächst nur telefonisch mit ihm in Kontakt zu treten. Der Hotelier wollte ausschließen, dass jemand aus Eschs Anwesenheit die richtigen Schlussfolgerungen zog. Der Anwalt sei als derjenige auf der Insel bekannt, der an der Aufklärung des letzten Mordes auf Juist beteiligt gewesen war. Jemand konnte ihn wiedererkennen. Und wenn Harms, der von den Brandstiftungen Hauptbetroffene, mit ihm gesehen wurde, könnten Fragen nach dem Grund für die Anwesenheit des Anwalts laut werden. Fragen, die Harms nach Möglichkeit vermeiden wollte.
Nach kurzem Nachdenken hatte Rainer zu bedenken gegeben, dass er über kurz oder lang auf jeden Fall mit den Brandstiftungen in Verbindung gebracht werden würde. Immerhin musste Esch Erkundigungen einholen und das würde sich herumsprechen. Juist war ein Dorf – nichts blieb hier lange geheim.
Die beiden Männer hatten sich deshalb darauf geeinigt, dass Esch sich als Beauftragter der Versicherung ausgeben sollte, die für Feuerschaden aufkommen musste. Das würde seine Anwesenheit, sollte er erkannt werden, plausibel erklären. Bisher hatte sich noch kein Versicherungsagent vor Ort gezeigt, sondern die Gesellschaft hatte den Schaden auf Basis der Aktenlage reguliert. Den Brand in der Abstellkammer hatte Harms bisher noch nicht gemeldet. So war die Gefahr gering, dass tatsächlich ein Beauftragter der Assekuranz auf der Nordseeinsel auftauchen und Rainers Legende gefährden konnte.
In den letzten Tagen hatte sich Esch fast ständig den Kopf darüber zerbrochen, wie er vorgehen sollte. Aber es war ihm einfach nichts eingefallen. Seine Lebensgefährtin und Kollegin Elke Schlüter, mit der er den Auftrag seines neuen Mandanten diskutieren wollte, hatte nur ihren Kopf geschüttelt und ihn daran erinnert, dass besonders ein Anwalt verpflichtet sei, Straftaten anzuzeigen. Schließlich läge es auch im Interesse seines Mandanten, dass der Brandstifter gefasst würde. Ein Amateur wie Rainer solle sich aus solchen Ermittlungen heraushalten. Diese Bemerkung seiner Liebsten traf Esch schwer, hatte er sich doch immer eingebildet, dass Elke insgeheim stolz darauf war, mit einem Anwalt liiert zu sein, der sich von Zeit zu Zeit als Detektiv betätigte.
Sie hatte ihre Meinung auch nicht geändert, als er ihr die Höhe des vereinbarten Honorars nannte.
»Zweihundert Euro am Tag sind eine Menge Geld«, hatte sie ihm zugestimmt. »Aber egal, wie viel Kohle dieser Hotelbesitzer auf den Tisch blättert, du solltest das Mandat niederlegen und die Kripo einschalten.«
Als Rainer ihr zu erklären versuchte, dass sie mit dem Geld die Neueinrichtung des Kinderzimmers würden bezahlen können, war Elke wütend aufgesprungen und hatte mit gefährlich leiser Stimme entgegnet: »Du machst ja ohnehin, was du willst. Warum fragst du mich überhaupt?« Damit war die Diskussion beendet gewesen.
Je mehr er darüber nachdachte, desto logischer erschien ihm Elkes Hinweis auf die Staatsmacht. Allerdings würde er sich nicht an die Kriminalpolizei in Aurich wenden, sondern der Juister Polizei einen Besuch abstatten. Schließlich kannte er den einzigen dauerhaft auf Juist tätigen Beamten persönlich. Enno Altehuus würde sich sicher freuen, ihn wiederzusehen. Bei dieser Gelegenheit würde er erwähnen, dass er im Auftrag einer Versicherung auf Juist war und sich dann vorsichtig nach dem Stand der polizeilichen Ermittlungen erkundigen. Danach konnte er Elke gegenüber mit Fug und Recht behaupten, mit der Polizei gesprochen zu haben. Auch wenn er sich dessen bewusst war, dass Elke etwas anderes im Sinn gehabt hatte.
Zufrieden drehte sich Rainer auf die Seite. Er hatte einen Plan. Zumindest einen groben. Er zog die Bettdecke etwas über sich und war wenig später fest eingeschlafen.
»Mein Sohn hätte gerne einen Lastwagen.« Claudia Tohmeier lächelte den Verkäufer in dem Spielwarengeschäft in der Münsteraner Innenstadt an. Dann setzte sie leise hinzu: »Er sollte aber nicht zu teuer sein.«
Ihr Gegenüber nickte verstehend, beugte sich zu Knut hinunter und meinte jovial: »Das ist ja ein tolles Geschenk. Hast du heute Geburtstag?«
»Nee. Das ist wegen meinem Papa. Der ist tot.«
Der Mann warf Claudia Tohmeier einen fragenden Blick zu.
»Schon lange her«, antwortete diese zurückhaltend. »Der Junge hat seinen Vater nicht gekannt.«
»Ach so. Na, dann komm mal mit, mein Kleiner.«
Mit vor Aufregung roten Wangen lief Knut hinter dem Mann her, der schließlich vor einem Regal im hinteren Bereich des Ladens stehen blieb. Claudia folgte den beiden.
»Wie wäre es denn hiermit?« Der Verkäufer hielt einen Tankwagen hoch.
»Hatte mein Papa so ’nen Laster?«, erkundigte sich Knut bei seiner Mutter.
Die schüttelte den Kopf. »Damit wird Benzin transportiert. Ich habe dir doch erzählt, was er in Afrika gemacht hat.«
»Den will ich nicht«, verkündete daraufhin der Kleine energisch. »Ich will einen, mit dem man Essen zu den Kindern bringen kann.«
Der Verkäufer stutzte einen Moment, stellte den Tankwagen beiseite und griff erneut ins Regal. »Hier. Ein Mercedes-Benz. Mit solchen Fahrzeugen können auch Lebensmittel transportiert werden.« Er grinste verlegen. »Ich meine natürlich die echten Wagen. Das Chassis des Modells ist aus Gusseisen gefertigt. Sehr stabil. Die Aufbauten sind aus Kunststoff. Abnehmbar. Zusätzlich gibt es von dieser Firma als Zubehör zahlreiches Ladegut. Der Spielwert wird damit …«
Knut sah wieder zu seiner Mutter. Die nickte.
»Den will ich«, strahlte ihr Sohn und streckte fordernd die Hand nach dem in einem Karton verpackten Fahrzeug aus. »So einen hatte mein Papa.«
Als sie wieder auf der Straße standen, quengelte Knut: »Fahren wir jetzt nach Hause? Ich will meinen Laster auspacken. Und dann fahre ich mit dem nach Afrika«, verkündete er stolz.
»Es dauert noch etwas. Der Bus fährt erst in einer halben Stunde. So lange müssen wir noch warten. Außerdem will ich noch etwas einkaufen.«
»Was denn?«
»Haarshampoo.«
»Ich brauche aber keins, Haare kämmen reicht.«
Claudia Tohmeier lachte. »Ich weiß, wie gerne du dir den Kopf waschen lässt. Aber keine Angst. Es ist nicht für dich, sondern für mich.«
»Dann brauche ich mir nicht mehr …?«
»Doch. Dein Shampoo reicht noch für ganz viele Haarwäschen.«
»Och.« Knut hielt die Einkaufstüte, in der sich sein neues Spielzeug befand, fest in der Hand. »Aber dann fahren wir?«
»Versprochen.« Seine Mutter zeigte auf die andere Straßenseite. »Da drüben ist das Geschäft. Aber wir können hier nicht einfach über die Straße laufen. Hier ist viel zu viel Verkehr.« Sie zeigte nach links. »Dort ist eine Fußgängerampel. Du weißt doch noch, was das ist?«
Knut nickte heftig. »Bei Grün darfst du gehn, bei Rot musst du stehn.«
»Genau. Das hast du dir ganz richtig gemerkt.«
Als sie näher zu der Ampel kamen, bemerkte Claudia Tohmeier, dass diese ausgefallen war und ständig gelb blinkte. Glücklicherweise war die Fahrbahn frei. Schnell überquerten sie die Straße. Claudia Tohmeier erklärte ihrem Sohn, warum sie nicht auf Grün gewartet hatten. »Aber du darfst, wenn die Ampel kaputt ist, nur dann über die Straße laufen, wenn kein Auto kommt. Von keiner Seite«, schärfte sie ihm ein.
Kurz darauf standen sie vor der Drogerie. Claudia Tohmeier öffnete ihre Handtasche und kramte darin.
»Warum gehen wir nicht weiter? Nachher ist der Bus weg«, jammerte Knut.
»Weil ich Frau Müllbreit versprochen habe, für sie etwas mitzubringen. Wo ist denn nur der Zettel, den sie mir geschrieben hat?«
Knut stapfte ungeduldig von einem Bein auf das andere. »Mama, der Bus …«
»Wir haben noch genug Zeit«, beruhigte sie ihren Sohn und suchte weiter. Dann wurde sie blass. »Mein Portemonnaie. Wo ist nur …« Sie dachte einen kurzen Moment nach. »Im Spielzeuggeschäft. Ich muss es neben der Kasse liegen gelassen haben.« Claudia Tohmeier sah auf die Uhr. Gedanken schossen durch ihren Kopf. Zurück zur Ampel, dann zu dem Geschäft. Die Besorgungen in der Drogerie erledigen. Zur Haltestelle am Hauptbahnhof. Kaum genug Zeit, den Bus noch zu erreichen. Auf den nächsten warten? Der allerdings fuhr erst in einer Stunde. Aber der Junge wollte doch endlich mit dem Laster spielen. Dann hatte sie einen Entschluss gefasst.
»Du bleibst hier stehen und rührst dich nicht vom Fleck. Ich muss noch einmal in das Spielzeuggeschäft und laufe hier über die Straße. Du weißt, dass man das nicht machen darf, aber wir wollen schnell nach Hause. Du wartest hier. Hast du das verstanden?«
»Ja, Mama.«
»Gut. Bleib hier neben der Tür stehen. Ich bin sofort zurück.«
Der Verkehr auf der Straße hatte zugenommen. Claudia Tohmeier passte eine Lücke ab und huschte, das wütende Hupen eines Autofahrers ignorierend, auf die andere Straßenseite.
Es dauerte einen Moment, bis der Verkäufer, der gerade einen anderen Kunden bediente, auf sie aufmerksam wurde. Er hatte die Geldbörse bereits gefunden und sichergestellt, jetzt händigt er sie Claudia Tohmeier aus. Eilig verließ sie den Laden, um die Straße erneut zu passieren. Sie sah nach links, dann nach rechts. Die vielen Autos zwangen sie zu warten. Dann schaute sie zur Drogerie gegenüber und erstarrte.
Ihr Kind wich, mit dem Rücken zur Fahrbahn, vor einem Schäferhund zurück, der fast so groß wie er selbst war. Seit er einmal gebissen worden war, hatte er fürchterliche Angst vor Hunden, vor so großen besonders. Langsam, Schritt für Schritt, näherte er sich rückwärts der Bordsteinkante.
»Bleib stehen!«, rief sie so laut sie konnte, um den Verkehrslärm zu übertönen. Knut aber hörte sie nicht. Noch zwei, drei Schritte, dann hätte der Junge die Kante erreicht.
»Knut!« Sie geriet in Panik. Ihr Sohn würde unweigerlich straucheln, fallen und dann … Ohne Zögern lief sie los, um ihrem Kind beizustehen.
Als Knut das Rufen endlich hörte und sich umdrehte, war es zu spät. Lautes Hupen. Bremsen kreischten. Ein dumpfer Schlag. Knut sah noch, wie seine Mutter unter dem Lastkraftwagen verschwand. Unter so einem, mit dem sein Papa den Kindern in Afrika Essen gebracht hatte.
Knut riss Augen und Mund auf, erstarrte schließlich und schwieg für einige Minuten, so als habe er das, was er gerade hatte sehen müssen, gar nicht wahrgenommen. Dann fing er an zu schreien.
Knut schrie so lange, bis ihm der Notarzt, der ohne Erfolg um das Leben von Claudia Tohmeier gekämpft hatte, eine leichte Beruhigungsspritze injizierte.
Enno Altehuus erweckte nicht den Eindruck, dass er sich über den Besuch des Herner Anwalts wunderte.
»Der Herr Esch«, brummte er nur und ein leichtes Lächeln erschien auf seinem Gesicht. »Wieder auf Juist. Urlaub?« Der massige Polizist machte einen Schritt zur Seite und ließ Rainer, ohne dessen Antwort abzuwarten, in den kleinen Flur eintreten.
»Wir gehen in die Wache«, ordnete Altehuus an und zeigte nach hinten. Der Wachraum hatte sich nach Rainers letztem Besuch nicht verändert. Die Möblierung war immer noch karg: ein Schreibtisch, mehrere Holzstühle und ein kleines Regal. Auch das Funkgerät hing noch an seinem Platz neben dem Fenster.
Mit einer Kopfbewegung deutete Altehuus auf einen der Stühle. Er selbst nahm hinter seinem Schreibtisch Platz und schob den Drehstuhl etwas zu Rainer hin. Dann griff er in seine Uniformjacke, zog eine Dose Schnupftabak hervor, reichte diese mit fragendem Gesicht seinem Besucher und platzierte dann, als dieser ablehnte, eine Prise auf seinem linken Handrücken. Mit einem Nicken steckte er die Dose wieder ein, schob abschließend das Häufchen mit dem rechten Zeigefinger ineinander und zog den Tabak in die Nase.
»Ah. Möchten Sie einen Tee?«, fragte er dann.
»Nein, danke. Ich komme gerade vom Frühstück.«
»Sie wohnen im Pabst, habe ich gehört.«
Rainer musste grinsen. »Ich hatte damit gerechnet, dass sich meine Ankunft herumsprechen würde. Aber so schnell? Ich bin doch erst gestern Abend angereist.«
»Das nennen Sie schnell? Na ja. Man kennt Sie eben auf der Insel. Was führt Sie nun zu uns?«
»Kein Urlaub. Ich bin geschäftlich hier.«
»Aha. Und ich nehme an, dass Ihr Besuch bei mir etwas mit diesen Geschäften zu tun hat?«
»Ja.«
»Wollen Sie wieder Grundstücke für einen Golfplatz ankaufen?«
»Nein. Es geht um die Brände der letzten Zeit. Ich wurde von der Versicherung beauftragt, mir vor Ort ein Bild zu machen«, log er.
»Ermittlungen sind Sache der Polizei«, knurrte Altehuus. »Das sollten Sie als Anwalt doch wissen.«
Auf diese Bemerkung war Rainer vorbereitet. »Es geht nicht um die möglichen Brandstifter, sondern um die tatsächliche Schadenshöhe.«
Altehuus hob die Augenbrauen. »Verstehe ich Sie richtig? Ihr Auftraggeber vermutet Versicherungsbetrug?« Der Polizist schüttelte den Kopf und gab sich selbst eine Antwort. »Völlig undenkbar. Zwei alte Schuppen. Einige kaputte Liegen. Und dann der Abstellraum in Harms’ Hotel. Kaum Schaden. Da war nichts mit einem warmen Abriss. Da wurde nichts von wirklichem Wert abgefackelt.«