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Lucy Schmidt geht ihren Weg. Und sie bemerkt schnell, dass schon viele vor ihr diesen Weg gegangen sind. Sie wächst im Entzücken ihrer Entdeckungen, bis sie erkennen muss, dass es neben Licht auch Schatten gibt: "Du wirst Dimensionen erblicken, dass sie fürchterlicher nicht sein könnten!" In diesem ersten Band erzählt Lucy, wie sie als junge Frau ins Haus ihres verstorbenen Grossvaters zieht, weit draussen im Nirgendwo, fern ab von den Einflüssen der Gesellschaft. Was sie erlebt, ist völlig normal. Und doch begegnet sie immer mehr Phänomenen, die man als übernatürlich bezeichnen könnte. Ihr Grossvater Sam stellt sich als mehr heraus, als er zu erkennen gegeben hatte. Es scheint, als würde er Lucy einsetzen, einer New Age Bewegung den Weg zu ebnen. Lucy entdeckt in sich Gaben und Fähigkeiten, die ihr völlig fremd waren, und doch so selbstverständlich erscheinen... Wer nicht nur gerne Romane liest, sondern auch mehr über sich selbst erfahren möchte, könnte mit Lucys Geschichte auf seine Kosten kommen. Der Roman besticht durch einen schliffigen Stil und leichte Sprache. Die Vernetzung der Inhalte ist geglückt und die Bezüge zu Zitaten und Songs geht weiter, als das Bewusstsein aufs Erste zu erfassen vermag. Sicherlich kein Buch für jemanden, der nur den ersten Band zu lesen gedenkt! Die Buchserie«Tränen des Drachen» bildet zusammen mit der in Planung stehenden Romanserie «Mehr als ein Leben» das Grundgerüst für das Gesamtkonzept des Verlages denkmalnach. Die beiden Serien sollen dem Leser ermöglichen, anhand einer Erzählung Einblick in eine andere Art zu leben und zu denken zu erhalten. Skizziert wird eine Welt, die sich an positiven Werten und Einstellungen des New Age Zeitalters orientiert. Man geht davon aus, dass der Mensch grundsätzlich gut und einzigartig ist. Indem die goldene Regel eingehalten wird, indem man andere nicht verletzt, entsteht eine Form des Zusammenlebens, die von Wahrheit und Aufrichtigkeit geprägt ist. Unter solchen Bedingungen ist es dem einzelnen Menschen einfacher möglich, sich selbst in seiner Individualität zu entfalten. Es gibt Rezepte, wie der Mensch Fremdeinflüsse und Manipulation entschleiern kann. Lucy erhält diese Anleitungen von ihrem Grossvater, indem dieser den Alltag in allen Belangen aus einer spirituellen Sichtweise betrachtet und so den Schleier der Matrix, in der unsere Gesellschaft festgehalten wird, lüftet. Lucy gelingt es dadurch, sich ihrer wahren Lebensaufgabe zu nähern...
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Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1 – Wie alles begann…
Kapitel 2 - Maslows Wahrheit
Kapitel 3 – Natur
Kapitel 4 – Energie
Kapitel 4 - Brave New World
Kapitel 5 - Charakter
Kapitel 6 – Der goldene Drache
Kapitel 7 – Die eisige Erkenntnis
Tränen des Drachen
Band 1
Comfortably numb –Angenehm berauscht
Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.
Aristoteles
Copyright: Michael von Känel
Verlag: denkmalnach
Bring me my bow of burning gold:
Bring me my arrows of desire:
Bring me my spear: O clouds unfold!
Bring me my chariot of fire.
William Blake in Jerusalem
Mein Grossvater und ein geheimer Orden beauftragten mich, Lucy Schmidt, meine Geschichte aufzuschreiben und nichts auszulassen, ausser die detaillierten Angaben über den Schatz. Und dies nur, weil der grösste Teil des Schatzes noch immer nicht gehoben ist.
Wenn ich es mir also recht überlege, dann ist dies hier nicht eine Geschichte, sondern eine Schatzkarte. Aber niemand wird es als solches erkennen, weil die Wahrheit nie erkannt wird, wenn sie offen und ehrlich preisgegeben wird.
Aber ich folge dem Auftrag und erzähle meine Geschichte. Die findige Leserin, der findige Leser, wird sofort spüren, dass es hier um mehr geht als eine Erzählung. Jedes Symbol, jedes Zitat und jeder Hinweis enthalten eine Kraft, die seit Menschengedenken fasziniert hat und dies noch immer tut. Wer nun also sein drittes Auge nützt und damit zwischen den Zeilen und hinter den Kapiteln liest, der wird zum Schatz geführt werden und ihn heben. Aber Vorsicht! Der beschriebene Weg birgt Verführungen und Gefahren! Nur wer aufrichtig an der Wahrheit interessiert ist und das Gute der Selbstsucht vorzieht, wird ans Ziel kommen, wird den Schatz finden und aus dem Gral, der wohl verwahrt in der Gruft in einer mit Silber beschlagenen Truhe verborgen liegt, trinken. Aber wer seinen Vorteil sucht und sich von der Macht des Goldes verführen lässt, dem wartet Ungemach, wenn nicht gar ewige Dunkelheit. Darum wähle weise, wenn es so weit sein wird, wenn du den Weg zu wählen hast! Möge die Bruderschaft hinter dir stehen und dich leiten. Und wisse: Nur der bussfertige Mensch kann bestehen!
***
Mein Grossvater achtete immer peinlichst darauf, sich gewählt auszudrücken. Es dauerte lange, bis ich merkte, dass er in Metaphern kommunizierte. Was er sagte, das meinte er auch. In seinen Worten lag eine Macht, die einem nicht nur verstehen, sondern auch sehen liess. Es war, als ob die Kraft seiner Gedanken hinter den Worten, die er sprach, nur darauf wartete, vom Hörer aufgenommen und verinnerlicht zu werden. Oft träumte ich von dem, was er erzählte. Und noch häufiger kam es vor, dass ich irgendwo in meinem geschäftigen Alltag das erblickte, was er zuvor gesagt hatte. Ich konnte mir nie recht etwas unter einem Déjà-vu vorstellen. Aber als sich die Situationen zu häufen begannen, wusste ich, dass dies kein Zufall war. Wie oft kam es vor, dass ich Gesichtsausdrücke von Menschen, Landschaftsszenerien oder Handlungssituationen schon erlebt oder «gesehen» hatte. Es war aber nicht die vermeintliche Sinnestäuschung, die mich jeweils fast zusammensacken liess. Nein, es waren die starken Gefühle, die mich durchfuhren, meinen Atem stocken und meine Knie weich werden liessen. Gefühle, die ins Innerste meiner selbst zielten und dort eine Traurigkeit erweckten, dass mir das Sprechen unmöglich wurde und mir die Tränen ungewollt über das Gesicht liefen. Heute weiss ich, was dahinterstand. Hätte ich es früher gewusst, dann hätte ich meinen Grossvater ausgefragt, ihn regelrecht mit meinen Fragen durchlöchert. Ich hätte wissen wollen, wie er es immer wieder anstellte, solche Erlebnisse und Erregungen in meinem Gefühlskörper zu erschaffen. Dabei ist es doch so einfach…
Aber gebracht hätte es mir ohnehin nichts. Denn jeder muss seinen eigenen Weg gehen. Jeder muss seine Gefühle selbst entdecken und schätzen lernen. Und jeder muss die Gedanken, die durch die Gefühle angestossen werden, selbst zu Ende denken. Mein Grossvater hat mir nur die Impulse vermittelt. Den Rest habe ich selbst geschaffen. Wie ich das gemacht habe? Ich habe Liebe gefühlt und Gutes gedacht, so einfach. Tausende werden fallen, aber dem Rechtschaffenen wird kein Haar gekrümmt werden. Was das Gute ist? Das, was meinem nächsten nicht schadet, natürlich! Was du nicht willst, was man dir tut, das füg' auch keinem andern zu...
Ich bin eine gewöhnliche junge Frau, achtzehn Jahre alt und völliger Durchschnitt - wenn man es so nennen darf. Meine Interessen waren vielfältig, aber nicht sehr tiefgreifend. Lange tat ich mich schwer, mich für etwas zu begeistern oder einen Sinn in dem zu sehen, was ich machte. Weshalb sollte ich lernen und büffeln. Weshalb sollte ich mich in der Berufsausbildung tagelang der gleichen Tätigkeit hingeben, wenn im nächsten Moment alles wieder neu oder anders gemacht werden musste.
Wohl fühlte ich mich selten. Wie auch, wenn ich am Abend wieder nachhause musste? Ein Zuhause, das in erster Linie von Spannungen in der Familie geprägt war. Meine Eltern waren beide recht erfolgreich unterwegs. Aber das forderte auch seinen Tribut. Mama war meist müde, wenn sie vom Krankenhaus heimkam. Als Chirurgin gab sie während des Tages alles an Achtsamkeit und Sorgfalt in die Operationen, so dass für uns Kinder am Abend kaum noch viel Nerven und Verständnis übrigblieben. Vater hingegen hatte im Geschäft alles so unter Kontrolle, dass ihn schon nur die Möglichkeit, dass einer seiner beiden Teenager zuhause nicht das tun könnte, was er erwartete, in eine ihm anzusehende Unruhe versetzte. So kam es, dass mein Bruder Charly und ich die meiste Zeit auf unseren Zimmern zubrachten und darauf hofften, dass man uns in Ruhe liess. Beziehungsweise, dass auch die Eltern einander in Ruhe liessen. Wie sehr schmerzten die messerscharfen Bemerkungen und Sticheleien meiner Mutter und Vaters bissige Reaktionen darauf, wenn sie sich ihren Weg durch die verschlossene Zimmertür an mein Ohr bahnten.
Grossvater meinte, das sei normal. Es sei in der heutigen Gesellschaft normal, dass man seine Lebensenergie und seine Lebenszeit dem Beruf und dem Erfolg opfere. Denn man brauche ja das Geld zum Überleben. Da sei es doch nichts als logisch, dass die Familie hintenanstehen und sich fügen müsse. Immerhin profitiere sie ja von dem Einkommen und von dem Ansehen, das Beruf und Karriere der ganzen Familie einbrächten. Und dann setzte er dieses Grinsen auf. Ich konnte ihm in diesen Situationen nicht böse sein, auch wenn seine Aussagen mich bis ins Tiefste aufrieben und ich jeweils hätte schreien wollen. Aber noch während er grinste, lag doch etwas in seinen Augen, was mir die Nachricht hinter seinen Worten mitteilte. Aber ich verstand sie nicht und konnte nicht reagieren. Heute weiss ich, was er mir so mitgeteilt hat.
Grossvater war anders. Als Ingenieur hatte er bis Ende Dreissig gearbeitet. Er soll einen Ruf als genialer Denker und Entwickler gehabt haben. Dann, zu Beginn seiner zweiten Lebenshälfte, soll er sein Patent auf selbstentwickelte Stromerzeuger verkauft haben, sagte Mama. Und seither lebte er allein oberhalb eines verlassenen Steinbruchs im Nirgendwo. Nicht, dass er schlecht lebte. Aber es war doch schwierig, seinen Lebensstil einzuschätzen. Sein kleines Haus bot zwar viel Komfort, barg aber wenig Luxus. Das ist noch heute so, jetzt, wo ich drin lebe.
Wenn ich Grossvater besuchte, dann tat er immer etwas, aber es fühlte sich nie nach Arbeit an. Er brachte seine Tage damit zu, dass er draussen war und dafür sorgte, dass er von dem, was er tat, irgendwann später mal Nutzen ziehen konnte. Er bereitete das Holz für den Kaminofen im Winter vor, zog Salatsetzlinge im Garten oder sass stundenlang vor den Bienenstöcken und beobachtete den Flug der Bienen.
«Warum angelst du eigentlich nicht mehr, Opa?», frage ich ihn mal, als wir gemeinsam auf der Veranda seines Hauses standen und hinunter zum Weiher blickten, der am Fusse des Steinbruches zwischen den Bäumen lag.
«Wenn ich doch weiss, wie man Fische fängt, weshalb sollte ich die Fische weiterhin quälen?», antwortete er, legte seine Hand auf die meine, und schaute mich mit offenen Augen an, wobei ich eine gewisse Traurigkeit in seinem Ausdruck zu erkennen glaubte.
«Bist du traurig, dass du keine Fische mehr essen darfst?», bohrte ich nach, weil ich einfach nicht verstehen konnte, dass er so hartnäckig auf das Essen von Fleisch, Geflügel und Fisch verzichtete.
«Nein, ich bin nicht traurig deswegen. Ich bin traurig, weil ich so lange Tiere getötet und gegessen habe.»
Grossvater musste dann doch sterben, auch wenn er Wert auf gesunde Ernährung gelegt hatte. Der Anruf erreichte mich, weil ich als einzige zuhause war. Es war Grossmutter.
Grossmutter lebte ähnlich wie Grossvater, aber am Meer. Sie wohnten schon lange nicht mehr zusammen. Aber ich habe selten zwei Menschen gesehen, die so respekt- und liebevoll miteinander umgingen wie die beiden. Sie telefonierten häufig, schrieben sich per Mail oder manchmal immer noch per Post. Ich habe mal einen solchen Brief auf dem Tisch bei Grossvater liegen sehen. Jedes Wort, jede Zeile, war eine Wohltat zu lesen. Ja, ich gebe zu, ich hatte nicht gefragt, ob ich den Brief lesen dürfe. Aber wenn ich so darüber nachdenke, kommt es mir vor, als hätte es Grossvater darauf angelegt, dass ich ihn lese...
Nun, Grossmutter rief an und sagte mit gefasster, aber dumpfer Stimme, dass Grossvater gestorben sei. Linda habe ihn auf seiner Sitzbank auf der Waldlichtung hinter seinem Haus gefunden. Offensichtlich sei er dort beim Beobachten der Bienen friedlich eingeschlafen. Ja, und dann sagte sie mir, was mein Leben nicht gerade einfacher machen sollte: «Du allein erbst sein Haus mit allem was drin ist und dazu gehört…»
Man kann sich für die Sicherheit oder für das Wachstum entscheiden. Wachstum muss immer wieder gewählt werden; Die Angst muss immer wieder überwunden werden.
Abraham Maslow
Mein Grossvater hatte Recht, als er sagte: «Das Leben hier draussen ist anders. Es verändert einen. Und so verändert man das Leben…»
Ich weiss noch gut, wie ich den Schlüssel hinter der Holzbeige neben dem Eingang hervorholte, um die Türe zu Grossvaters Haus aufzuschliessen. Lustig, dieser Schlüssel. Ich wusste immer, dass er dort war, aber heute berührte ich ihn zum ersten Mal. Vorher hatte ich nie Grund dazu, ihn zu benutzen. Denn Grossvater hat sein Haus nie abgeschlossen. «Ich lebe ja hier nicht in der Stadt», sagte er, als ich ihn mal fragte, warum er sein Haus denn nicht abschliesse.
Als ich ins Haus eintrat, überkam mich ein seltsames Gefühl. Es war so – wie immer! Es kam mir vor, als wäre Grossvater noch da, als würde er gleich neben mir stehen.
«Nenn mich nicht Opa, nenne mich Sam!», sagte er mir, als ich etwa vier Jahre alt war. Ok, ich gehe auch jetzt nach seinem Tod auf diesen Wunsch ein und nenne Grossvater ab jetzt Sam.
Der Pfarrer hat bei der Abdankungsrede ständig von Samuel gesprochen. Sam mochte die vollständige Variante seines Namens nicht. «Der Richter Samuel im Alten Testament», erklärte er mir mal, «hatte etwas Hartes. Er benutzte sein Schwert nach meinem Geschmack zu oft physisch. Das Schwert steht für Wahrheit und für das Licht. Wer es benutzt, bedient sich seiner Macht. Wahre Macht ist jedoch, sie zu haben, aber nicht einzusetzen. Als Richter einer archaischen Zeit musste Samuel so handeln. Heute ist die Menschheit trotz allem aber recht viel weiter. Darum gefällt mir Sam besser. Das Schwert, die Wahrheit symbolisierend, schneidet mit scharfer Klinge. Es sticht zu und nagelt fest, wenn das Unrecht sich aus dem Staub machen will. Die Klinge ist der schmale Grat zwischen Gut und Böse. Und die Schwertscheide sei das menschliche Gewissen», sagte er.
Ja, was Sam mir alles immer wieder erzählte, besonders wenn ich ihn nach dem Grund fragte. Und ja, er hatte immer eine Antwort…
Es war wohl Linda, die das Haus mit dem Schlüssel abgeschlossen hatte. Sie hat für uns Sams Asche auf der Lichtung hinten am Bach bei den Bienenstöcken verstreut. Sam hatte sich das so gewünscht: «Auf keinen Fall will ich auf dem Friedhof enden!» Das war ihm äusserst wichtig! «Und ich will sicherlich kremiert werden! Vampire werden auch verbrannt, dann wird mir wohl das gleiche Recht zustehen», fügte Sam mit schelmischem Grinsen hinzu. Das war an Mamas vierzigsten Geburtstag. Sam hatte sich damals in die Stadt bemüht, um dem «etwas übertriebenen Fest meiner Tochter beizuwohnen», wie er es ausdrückte. Dass sich Sam in der Stadt nicht wohlfühlte, brauche ich ja nicht extra zu erwähnen, habe es jetzt aber der Vollständigkeit halber trotzdem getan.
Auf dem kleinen Tisch im Wohnzimmer von Sams Haus lag ein kleiner Briefumschlag mit meinem Namen drauf. Ich holte mir in der Küche ein Rüstmesser und schnitt den Umschlag auf. Inliegend, einmal gefaltet, waren zwei Blatt Papier zu finden. Ich erkannte Grossvaters Handschrift. Mit einem Glas Wasser in der Hand setzte ich mich auf das Sofa und begann zu lesen.
Liebe Lucy
Was ist Leben? Was ist Tod? Wenn du diesen Brief liest, werde ich diese Fragen mit mehr Genauigkeit beantworten können. Aber keine Angst, ich werde dir das Geheimnis aufsparen und nichts verraten.
Lucy, es gibt einen Grund, dass NUR DU allein mein Haus bekommst! Dieses Haus ist nicht eine Erbschaft. Es ist deine persönliche Karte zum Schatz deines Lebens. Es ist ein Vermächtnis! Du wirst sehen…
Als erstes reiche deine Kündigung ein und ziehe dann hierher. Du brauchst dich wegen des Geldes nicht zu sorgen. Du findest hier alles, was du brauchst. Geld ist lediglich eine Erfindung.
Wenn du hier definitiv eingezogen bist, dann arbeite an deiner Achtsamkeit! Es ist von grosser Bedeutung, dass du Kleinigkeiten wahrnimmst. Vertraue deinen Gefühlen, lasse dich von deiner Intuition lenken – und stelle nichts in Frage! Irrsinn und Wahnsinn gibt es nicht, weil jeder Gedanke kostbar ist. Aber lasse deine Gedanken im Kopf reifen, bevor du sie durch Handeln in die Realität umsetzest – wenn überhaupt. Und vermeide es, sie vor andern auszusprechen.
Sobald du achtsamer geworden bist, wirst du in der Lage sein zu beobachten. Dein Beobachten wird für dich zu einer neuen Faszination werden, weil du ja vorher deine Wahrnehmung durch Achtsamkeit erhöht hast. Beobachte alles, egal ob es lebt oder «tot» ist.
Verzichte vorerst darauf, dein Smartphone täglich zu benutzen. Kommuniziere regelmässig, aber zu festen Zeiten mit deinen Nächsten. Sie werden sich schnell dran gewöhnen. Meide News, ja, Medien allgemein. Konsumiere keine flache Unterhaltung. Nutze deine Zeit zum Arbeiten und Nachdenken. Wenn du Ablenkung oder Inspiration brauchst, höre dir gezielt Lieder an, die dir schon immer gefallen haben. Oder betrachte Bilder! Oder lies Bücher aus meiner kleinen Bibliothek.
Nein Lucy, ich will dir nicht das Leben einer Nonne oder eines Spartaners auferlegen. Ich möchte dir nur helfen, den Glanz, der in deinen Augen schlummert, zum Leuchten zu bringen. Weisst du, Lucy, es gibt etwas, was uns alle miteinander verbindet: Das Sehnen nach dem Leuchten hinter dem Horizont; das ungestillte Verlangen, das Licht am Ende der Welt zu erblicken…
Ich liebe dich von ganzem Herzen!
Sam
PS: Weisst du eigentlich, was die «Maslows-Pyramide» ist?
Kommuniziere zu festen Zeiten mit deinen Nächsten. Dass ich nicht lache! Mit meinem Freund habe ich erst vor drei Wochen Schluss gemacht. Lange Geschichte, aber nicht jetzt.
Meine Eltern reden nicht mehr mit mir, weil ich mich geweigert hatte, Sams Haus zu verkaufen. «Das ist nichts für dich! Was willst du in deinem Alter mit einem Haus in der Wildnis? Willst du zu einer Spinnerin werden wie Opa?» «Sam, er heisst Sam!», schrie ich meine Eltern weinend an und verbunkerte mich in meinem Zimmer.
Später erklärte mir der Notar bei der Überschreibung des Hauses, dass der Erlös bei einem allfälligen Verkauf zu gleichen Teilen an meine Eltern, meinen Bruder und mich aufgeteilt würde. Diese Information trug nicht gerade zur Stabilisation meiner Beziehung zu meinen Eltern bei.
Musste ich mir nun Vorwürfe machen, dass ich die Erbschaft, also das Haus, so angenommen habe, wie sich das Sam gewünscht hatte? Alle andern haben ja auch geerbt! Klar, nicht ein Haus, aber Geld. Viel Geld!
Nun ja, dass Sam dieses Geld durch seinen Notar in jährlichen Raten an die Erben ausrichten liess, ärgerte diese masslos. Es ärgerte sie so sehr, dass sie sich über die Erbschaft gar nicht mehr freuen konnten. «Jedes Jahr ein finanzieller Zustupf, um damit etwas Schönes tun zu können – oder weniger arbeiten zu müssen», erklärte Sam im Testament.
Der Ärger meiner Eltern steigerte sich ins Unermessliche, als sie von der Stiftung erfuhren. Offensichtlich hatte Sam das Geld aus dem Verkauf seiner Patente vor Jahren so geschickt angelegt, dass es sich über all die Zeit beträchtlich mehrte. Aber der Löwenanteil davon hat er eben nicht vererbt, sondern in eine Stiftung überführt. Eine Stiftung, die nur mit MIR im Stiftungsrat aktiv werden konnte…
Also keine Nächsten, um mit ihnen zu kommunizieren. Doch, Grossmutter. Aber die schreibt ja nur Briefe. Und Linda. Aber aus Linda wurde ich irgendwie nicht schlau. Noch nicht?
Ich legte den Brief zur Seite, trank mein Glas Wasser aus und brachte es in die Küche. Dann schaute ich mir das Haus an – mein Haus!
Das Haus hat einen speziellen Grundriss. In der Mitte des Gebäudes liegt das Wohnzimmer mit der Grundform eines Fünfecks. Jede der fünf Seitenwände bietet Zugang zu einem weiteren Raum. Die Basis des Fünfecks bildet der Eingang mit Garderobe, Kleiderschrank und Schuhablage. Gegenüber der Eingangstüre, also quasi in der Spitze des Fünfecks, ist die Türe zur Veranda. Diese Veranda ist schlichtweg atemberaubend! Sie ist mit Holzverstrebungen über die Felswand des alten Steinbruchs hinaus gebaut.
Überhaupt muss ich hier vielleicht kurz die spektakuläre Lage des Gebäudes erwähnen. Sam hatte den verlassenen Steinbruch samt Nutzungsrechten, umliegenden Wald und Zufahrt gekauft. Da sich der Granitabbau aufgrund der zunehmenden Billigimporte nicht mehr lohnte, und die beim Kauf zu übernehmenden Rückbaukosten eine weitere wirtschaftliche Nutzung irgendwelcher Art völlig unrentabel machten, erwarb Sam die riesige Fläche draussen in dieser doch recht unberührten Gegend für ein Butterbrot. Er finanzierte mit dem so gesparten Geld den Rückbau und erfüllte dabei weit mehr als nur die gesetzlichen Auflagen. Natur war ihm schon immer wichtig! Und oben an der Felswand eben, dort, wo die beiden Seiten des Steinbruchs zusammenlaufen und eine Art Einbuchtung bilden, hat Sam sein Haus hingebaut. «Bauet euer Haus auf Fels…», witzelte er mal.
Die Veranda ragt etwa drei Meter über diese Einbuchtung der Felswände hinaus. Holzkonstruktion aus rustikal behauenen Eichenpfosten. «Das hält ein Leben lang», antwortete Sam bei einem unserer Besuche auf Vaters Frage, ob er das Holz denn nicht anstreichen und behandeln lassen wolle, damit es schön bleibe.
Wenn ich als Kind auf der Veranda stand, die Arme seitwärts hochhielt und in die Tiefe, auf die Baumwipfel und den Weiher runterblickte, kam ich mir immer ein bisschen vor wie ein Adler.
Aber zurück zum Wohnzimmer. Links, in der Wand neben der Verandatüre, ist der Durchgang ins Badezimmer. Das Bad ist recht einfach gebaut, mit Granitplatten aus dem Steinbruch. Ein Restbestand. Sam war sehr stolz darauf, diesen vor den Rückbauarbeiten noch vor dem Bagger in Sicherheit gebracht zu haben.
Waschbecken, Klo, Badewanne mit Dusche, alles passt sich gut dem graubeige des Granits an. Und für mich immer sehr speziell, wenn ich als Kind ein Bad nehmen durfte, der Specksteinofen mit Sichtglas. Wer nämlich warmes Wasser will, muss zuerst den Boiler aufheizen, indem der diesen Ofen einfeuert. Das geht überraschend schnell, und der Speckstein hält das Wasser dann auch fast zwei Tage warm. Das natürlich nur im Winterhalbjahr, weil im Sommer das Wasser von den Sonnenkollektoren auf dem Dach geheizt wird.
In der Wand rechts der Verandatüre ist der Eingang zum Schlafzimmer angelegt. Wie beim Badezimmer auch gehen die Fenster gegen den Steinbruch hinaus und bieten einen herrlichen Ausblick auf den Wald unten im Talkessel mit dem Weiher und auf die Berge im Hintergrund. Im Schlafzimmer steht das grosse Doppelbett aus Fichtenbalken, eine Ankleide, ein Schrank, ein kleiner einfacher Holzschreibtisch mit drei Schubladen zur Rechten und das Büchergestell mit Sams «kleiner Bibliothek».
In der Wand zwischen Schlafzimmer und Eingangsraum ist die Öffnung zur Küche sowie eine kleine Wendeltreppe mit Geländer, die in den Keller führt. Der Keller besteht aus einem abgetrennten Lagerraum mit den ursprünglichen Naturfelswänden. Daneben die Waschküche mit einer grossen raumhohen Fensterfront, die gleich unter der Veranda zu liegen kommt und ebenfalls einen atemberaubenden Ausblick auf den Talkessel preisgibt. Im Winter, wenn die Sonne schien, nahm Sam regelmässig hinter dieser Front, ganz aus Glas, ein Sonnenbad auf seinem selbstgebastelten, hölzernen Liegestuhl.
Die Küche selbst ist einfach und sehr zweckmässig eingerichtet. Anstelle eines normalen Kochherdes bildet ein Holzherd mit Glasscheibe und integriertem Backofen das Zentrum der Küchenkombination. Die Einbauküche hat eine Front aus hellem Altholz, das in der guten, aber dezenten Spotbeleuchtung viel Behaglichkeit ausstrahlt. Den Vorratsschrank fand ich gut bestückt vor und alles war sehr sauber, so, als käme man in ein frisch geputztes Ferienhaus.
In der letzten Wand, in der zwischen Badezimmer und Eingangsraum liegenden, die Tür zum Gästezimmer. Hier habe ich immer geschlafen, wenn ich bei Sam den Urlaub verbrachte. Darum hatte ich hier auch meinen eigenen Schrank. Immer sehr gut gefallen hat mir der Holzdielenboden in diesem Zimmer. Wenn man mit den nackten Füssen darauf geht, dann löst die rohe Holzoberfläche ein angenehmes Kitzeln aus.
Nach dem Rundgang im Haus, machte ich Feuer im Cheminée im Wohnzimmer. Es war Anfang Oktober und durch die Fensterfront der Veranda sah man die Sonne hinter dem Wald gerade in einem samten Orangerot untergehen. Die Nacht kam schnell. Ich sass mit einem Tee und etwas Knäckebrot auf dem Sofa, hörte dem Knistern des Feuers zu und dachte nach. Was war das schon nur für eine Pyramide, die Sam im Post Scriptum des Briefes erwähnt hatte? Ich holte den Brief hervor und las nach:
PS: Weisst du eigentlich, was die «Maslows-Pyramide» ist? Und ja, wirf diesen Brief nicht weg. Verwahre in gut!
Ich legte den Brief auf den Schreibtisch im Schlafzimmer. Dabei fiel mir das kleine Bild auf, das über dem Schreibtisch an der Wand hing. Ein stehendes Andreaskreuz mit einem fein ausgezogenen, gemeinen Stabkreuz darüber, und in der Mitte, dort wo sich alle Linien überschneiden, ein stehender ovaler Punkt in dezentem Rosa, jedoch ohne klar abgrenzende Aussenlinie. Das untere Dreieck des Andreaskreuzes war unterteilt in fünf liegende Balken. Das obere, auf der Spitze stehende Dreieck, hatte nur zwei Querlinien drin und war gegen oben offen. Links, neben dem Ende der waagerechten Linie des Stabkreuzes eine Sonne, rechts, an gleicher Stelle ein Sichelmond. Besonders Sonne und Mond faszinierten mich.
Zurück auf dem Sofa nahm ich mein Smartphone, schlug Maslow auf Wikipedia nach und las:
Abraham Harold Maslow, (*1. April 1908 in Brooklyn, New York City; † 8. Juni 1970 in Menlo Park, Kalifornien) war ein US-amerikanischer Psychologe. Er gilt als ein Gründervater der Humanistischen Psychologie und führte 1954 den Begriff Positive Psychologie ein.
Die Maslowspyramide fand ich im Netz auf diversen Bildern dargestellt als Dreieck, unterteilt in fünf Ebenen. Mehrheitlich waren zuunterst die Existenz- und Grundbedürfnisse wie etwa Essen, Schlafen, Trinken, Wärme etc. angegeben. Auf der zweiten Ebene die Sicherheitsbedürfnisse. Dann auf dritter Stufe die sozialen Bedürfnisse. Ich stellte mir darunter den Austausch und das Zusammenleben mit anderen Menschen, vielleicht auch mit nahen Haustieren vor. Viertens, nur noch ein schmaler Balken, das Bedürfnis nach Anerkennung. Und in der Spitze oben das Selbstverwirklichungsbedürfnis.
Sich-selbst-verwirklichen. Was bedeutet das wohl? Wann verwirklicht sich ein Mensch? Und wie macht er das? Soll er «wirklich» oder «wahr» werden? Es gibt ihn ja bereits! So ein Schwachsinn!
Ich holte mein Necessaire aus meinem Rucksack, putzte mir die Zähne und ging zu Bett. Die Bettwäsche roch nach frisch gewaschen mit einer Note von Lavendel. Sam trocknete jeden Sommer Lavendelblüten und hängte sie dann in kleinen, selbstgenähten Stoffsäckchen in den Wäscheschrank. In mir kamen Kindheitserinnerungen auf. Beim Einschlummern überflog mein Blick nochmals den Raum und blieb am Bildchen über dem Schreibtisch hängen. Das untere Dreieck des Andreaskreuzes hatte fünf Unterteilungen, es erinnerte mich an eine Pyramide. Auf der Höhe deren Spitze standen links die Sonne und rechts der Mond.
Im Fenster über dem Wald stand der richtige Mond – und mit dem schwachen Knistern, das vom niederbrennenden Feuer aus dem Wohnzimmer her zu mir drang, schlief ich ein.
Es war ein langer und schwerer Schlaf. Ich erwachte und fühlte mich wie gerädert. Letzte Traumfetzen verflogen rasch. Ich ging aufs Klo und fror. Der Boden im Bad war eiskalt. Das Wasser fühlte sich beim Händewaschen noch kälter an. Als ich einen Schluck nahm, fühlte ich die Kälte bis in den Magen hinunter. Ich hatte Hunger.
Über dem Wald und dem Steinbruch hing eine Nebelschwade. Schnell huschte ich zurück ins Schlafzimmer und schlüpfte unter die warme Decke. Dann dachte ich lange nach.
„Für die ganzheitliche Entwicklung des Menschen ist das Alleinsein unbedingt notwendig, um seine Sensibilität zu wecken.“
Jiddu Krishnamurti
«Dann geht doch, du Spinnerin!»
Das waren die letzten Worte meines Ex-Freundes, an die ich mich erinnern kann. Mich nicht mehr zu seiner freien Verfügung zu haben, wenn ich weit draussen im Hause meines Grossvaters wohne, war zu viel für ihn. Der Bruch zwischen uns belastete mich. Ich fühlte mich allein und verlassen. Mein Selbstwertgefühl sank mit der Trennung in bisher unbekannte Tiefen. Und das soll Liebe sein? Wenn man sich aufgrund von etwas scheinbar so Schönem schliesslich so mies fühlt!? Sam sagte immer, dass es keine Liebe sei, wenn es schmerze.
Gegen Mittag raffte ich mich auf und machte Feuer im Wohnzimmer. Ich durchstöberte den Vorratsschrank nach etwas Essbarem und fand getrocknete Zwetschgen in einem Stoffsack, daneben ebenfalls getrocknete Birnen- und Apfelschnitze. Mit einem Suppenteller voll davon ging ich zurück ins Bett, nicht ohne vorher noch die kleine Pfanne mit Wasser auf den Wohnzimmerofen zu stellen. Das hatte ich Sam abgeschaut, wenn er sich im Winter seinen Nachmittagstee kochte.
Die Nebelschwade über dem Wald war weg. Man sah jetzt gar nichts mehr. Regen peitschte an die Fenster. Ich zog die Bettdecke hoch und kaute an den getrockneten Früchten herum. Wenn man sie lange genug kaut, entwickeln sie ein wunderbar süsses Aroma. Ich dachte darüber nach, wie schön gemütlich ich es hier hatte. Zum Glück blieb der Regen schön draussen und tropfte mir nicht auf den Kopf und ins Bett. Und zum Glück hatte ich trockenes Holz zum Feuermachen. Von der Stube her drang die Wärme langsam zu mir herüber und das bekannte Knistern vermittelte mir Geborgenheit. Und als ich die warme Teetasse mit dem frisch aufgegossenen Tee mit Sams selbstgesammelter Kräutermischung in den Händen hielt, fehlte mir eigentlich gar nichts mehr. Mir war wohl! Aber ich fühlte mich dennoch allein, missverstanden und einsam.
Gegen Abend wurde die Leere fast unerträglich. Keine Nachrichten «meiner Nächsten». Kein Fernseher, keine Zeitschriften! Wie kann man das nur aushalten? Eine richtige Kloake, dieses Eremitenheim hier draussen! Kurz entschlossen zog ich Jacke und Stiefel an, nahm den alten schwarzen Regenschirm aus dem Ständer und ging nach draussen.
Es regnete nicht mehr so stark. Trotzdem tropfte das Wasser noch in grossen Tropfen von den Bäumen, besonders, wenn wieder eine Windböe die farbig werdenden Blätter schüttelte.
Hinter dem Haus lag der Geräteschuppen mit Werkstatt und Holzlager, nebendran Sams grosser Garten. Als ich diesen überblickte, sah ich Lauchstängel, diverse Kohlsorten, Karotten, Randen und vieles mehr. Die Kolben an den Maisstängeln waren teilweise von den Vögeln angepickt.
Weiterhinten neigte sich das Gelände leicht gegen Süden. Hier hatte Sam seinen Obsthain angelegt. Diverse Obstbäume, ein paar Rebstöcke und viele verschiedene Beerensträucher.
Unter dem Apfelbaum lagen bereits viele Äpfel. Ich hob einen auf und biss hinein. Der süsssaure Saft spritzte nur so heraus und lief mir über die Wangen. Ein wunderbares Gefühl! Ich fühlte mich in meine Kindheit zurückversetzt. Oft sass ich mit Sam hier auf der Bank und er schnitt mir mit seinem roten Schweizer Taschenmesser einen Apfel in Schnitze auf. Es war fast wie ein Ritual für mich, diese Schnitze dann auf der Bank aufzureihen und einen nach dem andern zu essen.
Eng mit dieser Erinnerung verbunden war das Nachmittage lange Einkochen von Apfelmus, das auf einen Faden Aufziehen der Birnenschnitze, um sie über dem Ofen aufzuhängen und zu trocknen, das gemeinsame Graben der Kartoffel, das Entsteinen und Einfrieren der Zwetschgen und Pflaumen, sowie das Hacken des Weisskabis, um ihn dann im Bottich einzumachen.
Genau in diesem Moment fiel in mir der Entschluss, mindestens für den ganzen Winter hier zu bleiben. Im Garten und hier im Hain gab es so viel Gemüse und Früchte, dass ich mich damit sicherlich bis ins Frühjahr versorgen konnte. Aber welch grosse Arbeit lag jetzt vor mir! Morgen - morgen früh sollte für mich die grosse Erntearbeit beginnen! Mit dieser Perspektive vor Augen las ich noch so viele Äpfel zusammen, wie ich tragen konnte und ging zurück zum Haus. Bevor ich hineinging, füllte ich noch den Weidenkorb mit Holzscheitern für den Ofen. Dann trat ich ein und genoss die Wärme des Hauses. Die nassen Kleider hängte ich im Eingang auf, die Äpfel legte ich in die Küche.
Es war schon zum Haare ausraufen in diesem Haus! Um mich aufzuwärmen, freute ich mich auf eine warme Dusche. Aber als ich in der Wanne stand und das Wasser warmlaufen lassen wollte, kam da kein warmes Wasser. Wie auch, wenn ich den Boiler Ofen nicht eingeheizt hatte! Mit nassen, kalten Füssen stieg ich aus der Wanne, trocknete sie ab und machte mich ans Einfeuern des Boilers.
Als ich dann eine Stunde später frisch geduscht mit meiner Schüssel gekochter Apfelschnitze, dem Rest Knäckebrot und etwas Käse, den ich noch im Kühlschrank gefunden hatte, auf dem Sofa sass und es mir schmecken liess, dachte ich nochmal über meine Situation nach.
Ich kam zum Schluss, dass ich zwar bereits gegen die zwanzig Jahre alt war, dass ich mir aber bis zu diesem Moment noch nie Gedanken darüber gemacht hatte, woher all das eigentlich kam, was ich zum Leben brauchte! Alles war immer da. Wie wunderbar eigentlich! Aber ich konnte es nicht schätzen, weil ich gar nicht wusste, wie es denn ist, wenn etwas mal nicht da ist. Wenn ich bisher Hunger hatte, ging ich zum Kühlschrank und bediente mich. War der ausnahmsweise mal leer, dann ging ich hinaus und kaufte mir was. Irgendein Laden oder Imbissstand war immer offen. Wenn mir kalt war, drehte ich die Heizung auf. Und wenn ich etwas brauchte, dann besorgte ich es mir oder bestellte es übers Internet. Alles sehr angenehm! Aber machte mir mein Leben so Spass? Ich glaubte ja. Aber wenn ich jetzt ehrlich war, dann kam mir Pink Floyd in den Sinn: Comfortably numb! Ich war angenehm betäubt und berauscht von all den Annehmlichkeiten meines Lebens und dem allgemeinen Komfort und Wohlstand unserer Gesellschaft. Aber ich nahm nicht wahr. Und das eigentliche Leben mit all seinen Beschwernissen kannte ich nicht. Mir war, als wäre ich gerade aus einem Traum erwacht. Wo war meine Selbstwirksamkeit? Lebte ich überhaupt?
Die Kündigung hatte ich schnell geschrieben. Zum Glück stand ich noch in der Probezeit und hatte nur einen Monat Kündigungsfrist. Jetzt blieben mir zwei Wochen Urlaub, um all die Früchte und das Gemüse einzumachen, dann musste ich nochmals einen Monat lang in die Firma – ein Telekommunikationsanbieter – und bei meinen Eltern wohnen. Sams Haus mit all seinen Umständen, welche es mir brachte, gewann auf einen Schlag unheimlich an Bedeutung für mich.
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Ursula rümpfte die Nase und sah mich fragend, nein, bemitleidend an: «Bist du jetzt eine Öko-Tussi geworden?» Etwas irritiert nahm ich die getrockneten Früchte vom Tisch und füllte sie zurück ins rotweiss karierte Stoffsäcklein. So viel Wertschätzung brachte also meine Kollegin meiner Arbeit der letzten zwei Wochen Urlaub entgegen. Wer war denn hier die Tussi? Sie oder ich? Mit ihren langen künstlichen Fingernägeln hätte sie nicht einen einzigen Stein aus einer Pflaume herausoperieren können. Und ich habe tagelang kiloweise Früchte aufbereitet, gedörrt und eingefroren.
Ich sass da im Pausenraum, nahm wahr, wie alle auf ihr Smartphone starrten, irgendwelche Convenience-Produkte kauten, Kaffee oder Energiedrinks in sich hineinkippten und angenehm betäubt durch ihr Leben drifteten. Wie hohl und leer kam mir dieses Leben hier auf einmal vor. «In einer Welt in der man nur noch lebt, damit man täglich roboten geht, ist die grösste Aufregung, die es noch gibt, das allabendliche Fernsehbild…!» Auch ich nahm mein Smartphone heraus, stopfte mir die Stöpsel in die Ohren und hörte mir Hier kommt Alex von den Toten Hosen an. «Höre dir Lieder an, die du schon immer gemocht hast», stand in Sams Begrüssungsbrief, als ich vor gut zwei Wochen in mein neues Zuhause kam – nach Hause kam. «… jeder Mensch schlägt wie ein Uhrwerk, wie ein Computer programmiert. Es gibt keinen der sich dagegen wehrt, nur ein paar Jugendliche sind frustriert!»
War ich eine frustrierte Jugendliche?
Alles ist Energie! Gleiche dich der Frequenz der Realität an, die du möchtest, und du kreierst diese Realität. Das ist keine Philosophie. Das ist Physik!
Albert Einstein
Mein Chef schien meinen Abgang überhaupt nicht zu bedauern. Ich nahm es ihm nicht übel, denn ich bedauerte mein Ausscheiden aus der Firma auch nicht. Die Lücke, die ich in dieser Fima hinterlassen werde, wird mich vollständig ersetzen.
Zuhause räumte ich mein Zimmer auf, packte meinen grossen Tramper und schrieb eine kurze Abschiedsnotiz, die ich auf den Küchentisch legte. Weder Mutter noch Vater waren wieder mal zuhause und Charly hängte wohl mit ein paar Kollegen ab. Ihn hätte ich gerne noch kurz gedrückt, aber… nun ja.
Und dann machte ich mich auf den Weg in die Freiheit. Als ich im nächstgelegenen Kaff aus dem Zug stieg und mich dann zu Fuss auf den stündigen Marsch zu MEINEM Haus machte, stieg ein weiterer Titel der Toten Hosen in mir auf: Nur zu Besuch. Ich hatte in den letzten Tagen vermehrt Lieder von den Hosen gehört. Mir gefiel das Aufmüpfige, das Rebellische an ihrer Musik. Und trotzdem haben sie auch besinnliche Lieder, wie eben dieses hier. Es passte gut zu meinem Weg zu Sam: «Es ist ein schöner Weg, der unauffällig zu dir führt. Ja ich mag in gern, weil er so hell und freundlich wirkt…» Und es war mir, als würde mein lieber Grossvater ein paar Schritte mit mir gehen, als würde er seinen Arm über meine Schulter legen und seine Wärme um mich herum verbreiten. Seine liebenswürdige Wärme, die mich als Kind bei ihm immer Geborgenheit fühlen liess.