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Die Würde des Menschen ist unantastbar. Eine Jugendliche wird an einem Selbstmordversuch gehindert, weil ein kleiner Hund mit seinem Gebell auf die Verzweifelte aufmerksam macht. Durch diesen Zufall lernt sie Obdachlose kennen. Sie stellen ihr Weltbild auf den Kopf und bewirken, dass sie eine neue Perspektive auf das Leben bekommt. Die Akteure im Kaffee Seelenoase sorgen dafür, dass auch Menschen ohne Obdach ihren Selbstwert wiederfinden. Sie wirken mit ihren Ideen des liebevollen Miteinander und Füreinander positiv in die Gesellschaft und finden viele Nachahmer.
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Seitenzahl: 231
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Doktor Jäger, Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie, verhindert den Suizid einer Jugendlichen. Er hilft ihr, die giftige Wurzel ihres Schmerzes aufzudecken und Glück im Leben, anstatt im Tod zu finden.
Er ist Gründer sozialer Initiativen wie dem Café Seelenoase.
Die Gruppe um Doktor Jäger hilft Randgruppen der Gesellschaft, die Menschenwürde zu bewahren. Ihr Engagement verhindert, dass sie zu Bettlern abgestempelt werden.
Ihr Credo ist, den Betroffenen die Chance zu geben, sich selbst zu entdecken und ihre Begabungen und Talente auszuleben. Die kreativen Ideen werden zum Gemeinwohl vernetzt.
Das soziale Miteinander steht im Mittelpunkt. Die Spendenbrunnen für Katharinabilden die Basis. Es wird die Sozialwährung Oasenpunkte installiert, die Bewertung der Zeit ist damit gegen Geld umtauschbar.
Die Autorin wurde im Alter von 10 Jahren mit ihren Eltern Mitglied einer destruktiven Gruppe. Sie erlag der Manipulation der Doktrin und war 60 Jahre in der Gemeinschaft gefangen. Erst ihre Zweifel an der geistigen Führung bereiteten den Weg für eigene Nachforschungen. Sie findet eine neue Perspektive der Betrachtung. Sie erfährt Hintergründe zu Methoden der Manipulation hinter den Masken der Macht, zu fremdbestimmten Persönlichkeiten, zu unbrauchbaren Glaubenssätzen. Sie erkennt Möglichkeiten, sich von den toxischen Strukturen zu befreien und den Weg zu sich selbst zu wählen.
Ihre Erfahrung teilt sie mit anderen Betroffenen.
Durch eine Träne siehst Du weiter als durch ein Fernglas.
Die Würde des Menschen
ist
unantastbar.
Sie zu achten, und zu
schützen, ist Verpflichtung
aller staatlichen Gewalt.
GG § 1 Abs. 1
Es ist ein neuzeitliches Märchen.
Es ist märchenhaft.
Was hindert UNS,
was hindert DICH,
was hindert MICH,
Märchen wahr werden zu lassen?
Vicky und Doc Knopfauge
Am Anfang steht die Pflicht
Die Weichen werden gestellt
Vicky trifft ihre Entscheidung
Schockierende Wahrheiten
Der Tränenzauber Kontakt
Helga Buck findet neue Perspektiven
Die Inspiration der Barbarazweige
Die andere Sicht auf die Welt
Hilfe ist mehr als Geld
Mutter und Tochter finden den Weg in die Freiheit gemeinsam
Der Freundeskreis erarbeitet sein Manifest
Das Schicksal ist das, was man aus den Umständen macht
Helga und Vicky erlauben sich Lebensfreude
Der Wandel vom Gehorsam zur Freiheit
Die Liebe versagt nie
„Kümmert sich denn niemand um diesen Kläffer?“ Der Jogger stoppt kurz vor der Bahnüberführung abrupt seinen rhythmischen Lauf. Er reißt sich die Stöpsel aus den Ohren und murmelt. „Vermutlich haben sich die Brückenuntermieter wieder ins Koma gesoffen“.
Er kennt seine tägliche Laufstrecke und erwartet unter der Eisenbahnbrücke einige schlafende Wohnungslose. Verwundert stellt er fest, dass niemand da ist. Die gefalteten Kartonagen lehnen an den Brückenpfeilern, die mit Graffitis verziert wurden. Davor liegen drei schmutzige Matratzen, die ebenfalls dem Nachtlager dienen. Doch von den Nutzern der Zuflucht gibt es keine Spur.
Immer noch nervt dieser kleine braune Dackel. Er kläfft und kläfft und springt wie wild umher. Sein Bemühen um Aufmerksamkeit wirkt erheitern. Doktor Jäger, das ist der Name des schlanken Joggers, nähert sich dem scheinbar wildgewordenen Tier und versucht, es zu beruhigen. Vorsichtig streckt er ihm seinen Handrücken entgegen und sagt sanft: „Ruhig, sei still, ich bin ja da.“
Vertrauensvoll schmiegt das aufgeregte Tier seinen schmalen Kopf tief an den Boden. Seine dunkelbraunen Schlappohren liegen auf dem Schotter und sein Hinterteil ragt weit nach oben. Den kurzen Schwanz bewegt er heftig wedelnd hin und her.
Doktor Jäger rätselt über das seltsame Verhalten. Er schaut sich suchend nach dem Besitzer des Tieres um. Er wendet seinen Blick nach oben. Auf der Kante der Bahnbrücke sitzt ein Mensch! Sein gesamtes, ärztlich trainiertes Wahrnehmungssystem schaltet auf Alarm. Hier ist höchste Gefahr im Verzug.
„Oh“, sagt er betont harmlos in Richtung der Person. „Das ist aber hoch oben. Ist das ihr Hund, der so dringend auf sie aufmerksam macht?“
Doktor Jäger erkennt heftiges Kopfschütteln und konstatiert, dass es ein junges Mädchen ist. Er ist entschlossen, es dazu zu bewegen seinen gefährlichen Platz zu verlassen, bevor ein Zug die Brücke passiert und der Sog das schmale Persönchen von dem Geländer zieht.
„Keine Ahnung, wie sie das sehen. Aber mich hat das verzweifelte Betteln des kleinen Dackels schon berührt. Er hat immer wieder zu ihnen nach oben geschaut. Er hat ihnen unbedingt etwas zu sagen. Bitte erhören sie ihn.“ Doktor Jäger ist leitender Arzt in der Kinderpsychiatrie des Klinikums. Er kennt viele verzweifelte Jugendliche, die sich mit einer kleinen Geschichte dazu verführen ließen, ihren Seelenschmerz zu lösen. Diesmal hatte er wieder ins Schwarze getroffen. Das Mädchen ließ sich in ein Gespräch verwickeln.
„Es ist nicht mein Hund.“
„Trotzdem hat er ein Auge auf sie. Er hat bemerkt, dass sie in Gefahr sind. Nicht auszudenken, wenn sie der nächste Zug wie ein Staubsauger mitreißt. Möglich, dass er hofft, sie könnten seine Freundin sein. Finden sie es heraus. Ich helfe ihnen dabei. Sind sie bereit, da herunter zu klettern und es mit mir gemeinsam zu versuchen?“
„Ja, gut – ich komme.“ Es klang schicksalsergeben, aber entschlossen.
Mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung steigt Doktor Jäger dem Mädchen entgegen. Er nimmt es fest in seine Arme und führt es behutsam die Böschung hinunter, zum Ufer der Wertach. Der Dackel empfängt die Beiden mit aufgeregten Sprüngen und freudigem Schwanzwedeln.
Das Mädchen beugt sich zu dem kleinen braunen Bündel Lebensfreude. Das Tier zeigt eine so überschwängliche Freude, dass sich diese auf das Kind und den Doktor überträgt. Sie haben beide strahlende Augen, aus denen man pures glücklich sein liest. Doktor Jäger hilft der Geretteten auf die Beine. Der Dackel legt seine Vorderpfoten und seinen Kopf auf die Füße der neugewonnenen Freundin und rollt seine Knopfaugen nach oben.
„Ich bin Doktor Jäger und wer bist Du?“ Bei seiner Frage wählt er die vertrauliche Form. Er hat das Alter der Kleinen im Sinn.
„Ich heiße Viktoria. Aber alle nennen mich Vicky.“
„Schön, Vicky. Ist es denn so unerträglich mit dem Leben und so?“
Doktor Jäger legt seine Hand auf Vickys Schulter und führt sie sacht zu einer Bank, die entlang der Wertach für die Spaziergänger bereitsteht.
Vicky seufzt aus tiefstem Herzen und setzt sich.
„Es ist zum Verzweifeln. Blöderweise war es unmöglich mich bei dem Spektakel, das dieser kleine Hund aufgeführt hat, auf den Sprung zu konzentrieren“.
„Na ja, springen war eine Option. Es gibt die Möglichkeit, über andere Chancen zu Problemlösungen nachzudenken. Der Lösung ist das Problem egal. Wo drückt dich denn der Schuh am meisten?“
„Schuh ist schon ein perfektes Stichwort. Alle in meiner Klasse haben die tollsten Schuhe. Ich kriege sie aus dem Second Hand Shop.
Mit den Klamotten ist es das Gleiche, und von den anderen Sachen fange ich erst gar nicht an. Home scooling ist Mist ohne vernünftigen Laptop. Wo hernehmen und nicht stehlen“?
Der Dackel auf Vickys Fußspitzen gibt einen Laut von sich. Er hört sich wie tiefes Mitgefühl an.
„Oh, ich verstehe. Das sieht für dich extrem ausweglos aus, stimmt‘s?“ Vicky nickt schicksalsergeben.
„Ich stelle fest, Du siehst den Wald vor lauter Bäumen nicht“.
Ein verwunderter, abwehrender, fragender Laut verschafft sich Luft aus Vickys Kehle. Ein ungläubiges „Wieso“?
„Na hör mal, du denkst, weil du keine teuren, neuen Klamotten hast, bist du weniger wert als deine Mitschüler. Ich gebe zu, es ist grottenfies, wenn sie mit ihrer Knete angeben. Lass uns etwas testen. Heute sind mir auf meiner Laufstrecke drei Menschen mit Hunden begegnet. Einer war ein edler englischer Windhund. Einer ein offensichtlich reinrassiger, Schäferhund und eine Dame führte einen kleinen, langhaarigen Terrier an der Leine.“
„Ja, die habe ich auch gesehen.“
„Nun, keiner von ihnen hat dich beachtet. Aber dieser kleine Dackelmischling, war so aufmerksam, dass er so lange keine Ruhe gab, bis jemand deine Lage bemerkte und sich fragte, welchen Kummer bringt da jemanden zur Verzweiflung. Ich habe mich das gefragt. Welches Tier ist in deinen Augen das wertvollste?“
„Natürlich dieser Dackel. Er berührt mein Herz, so wie er mich ansieht und wie er mir auf den Füßen liegt, als ob er mich trösten will.“
„Siehst Du! Genau das meine ich. Es kommt nicht auf die äußere Verpackung an. Das wahrhaft Wertvolle ist nicht zu kaufen. Alles, was du mit Geld bezahlst, ist zum Überleben wichtig. Du kannst Medizin kaufen, aber keine Gesundheit. Manchmal dient protziger Besitz nur dazu, eine innere Leere zu füllen. Das versperrt die Sicht auf das Wesentliche. Du hast zum Beispiel die kostbare Gabe, mit dem Herzen zu schauen. Wenn es anders wäre, könntest du die Angeberei der scheinbar Reichen nicht so verletzend empfinden. Du hast eben bewiesen, dass du blitzgescheit bist, denn du hast eine schnelle und klare Entscheidung getroffen, als ich dich vor eine Wahl gestellt habe. Wow! Du hast eine riesen Portion Mut. Da hinaufzuklettern mit der Absicht zu springen, das braucht Mut. Ich wette, du hast das alles bisher nicht gesehen. Darum sagte ich: Du siehst den Wald vor lauter Bäumen nicht“.
Kleinlaut nickte Vicky, „schon, aber was nützt mir das? Mein Problem ist ja trotzdem nicht gelöst.“
„Das hast du glasklar erkannt. Doch kennst du die Wurzel des Problems, oder bekümmern dich die Symptome? Wenn du die Ursache oder giftige Keimzelle deines Problems nicht kennst, erntest du immer dieselben Früchte oder Symptome. Das sind die Verletzungen, die dir Angeber in deiner Umgebung zufügen.“
Sprachlos, mit fragendem Blick zuckt Vicky die Schultern.
„Pass auf, ich habe eine Idee. Wir kümmern uns zuerst um diesen frechen Ausreißer. Er hat keine Marke, wir bringen ihn zum Tierheim und schauen, dass du für ihn die Patenschaft bekommst, solange über seine Zukunft nichts entschieden ist. Ist das für dich in Ordnung?“
Vicky nickt zustimmend. „Ich nenne ihn Doc Knopfauge“. Über Vickys schmales Gesicht huscht zum ersten Mal ein scheues Lächeln. Sie streift die Kapuze ihrer grauen, schlabbrigen Trainingsjacke ab und schüttelt ihr blondes, kinnlanges Haar, in das die Sonnenstrahlen kleine Lichtpunkte zaubern.
Es ist ein viel zu strahlender Tag, um zu sterben. Dieser Gedanke belebt Vicky. Sie springt auf, heiter und lebendig. Sie scheint so zerbrechlich und hat doch so erstaunliche Kräfte. Doktor Jäger, dem Kinderpsychologen wird warm ums Herz. Dieser Tag hat ihn reich beschenkt.
„Na komm Kollege Doc Knopfauge, wir bringen dich in Sicherheit“.
Mit der deutlichen Betonung auf Doc, um es ja nicht mit dem englischen Wort „dog“, für Hund, zu verwechseln, nimmt er den Frechdachs in den Arm. Sie überqueren die Fußgängerbrücke über die Wertach, um zum Tierheim zu gelangen. Es liegt am gegenüberliegenden Ufer. Vicky begleitet die beiden frohen Herzens. Man kümmert sich sofort liebevoll um das Tier mit dem treuen Dackelblick und Vicky erhält die Erlaubnis, ihn jeden Nachmittag zu einem Spaziergang abzuholen.
„Vicky, du hast heute gegen Plan A entschieden. Das Schicksal hat für dich noch Plan B im Köcher. Dieser heißt ‚Leben‘. Stimmst du mir da zu?“ Doktor Jäger hatte bei diesen Worten das Mädchen an beiden Schultern festgehalten und ihm in die Augen geschaut.
Vicky nickte nur.
„Ich will dir helfen, einen Lebensweg zu finden, der dich glücklich macht. Ist das in Ordnung, vertraust du mir?“
Wieder nickt Vicky zustimmend.
„Okay, dann höre mir jetzt genau zu. Es ist wichtig, dass du mit deinen Eltern in meine ambulante Sprechstunde kommst. Ich muss mit ihnen reden. Andernfalls wäre ich verpflichtet, das Jugendamt einzuschalten.“
„Ich habe nur meine Mama. Papa hat uns verlassen, da war ich vier Jahre alt.“
Dem erfahrenen Psychologen entging nicht, dass augenblicklich ein tiefer Schatten das Gesicht des Mädchens verdunkelte.
„Ich verstehe.“ Mitfühlend fragt er: „Wann hätte deine Mama Zeit, um in meine Sprechstunde zu kommen?“
„Sie ist Friseurin. Nach den Feiertagen hat sie Frühschicht.“
Doktor Jäger lässt sich von seiner Sprechstundenhilfe per Smartphone einen freien Abendtermin geben.
„Wir sehen uns dann am Dienstag um 18 Uhr. Kann ich mich auf dich verlassen?“
Abermals nickt Vicky schicksalsergeben.
Mit einem Seufzer der Erleichterung verabschiedet sich der Schutzengel ohne Flügel von dem Mädchen, um sich seinen hektischen, drängenden Tagespflichten zu widmen.
Es ist Karsamstag. Die Klinikroutine verläuft im Ruhemodus. Trotzdem kümmert er sich kurz um seine jungen Patienten. Es sind zurzeit ungewöhnlich viele. Auffallend ist, dass die Verordnungen im Zusammenhang mit der Pandemie, häufig Grund für die unterschiedlichsten, psychischen Probleme sind. Doktor Jäger hat eine Reihe von Gemeinsamkeiten beobachtet. Im Vordergrund stehen die Ängste vor dem Virus und dem möglichen tödlichen Verlauf einer Erkrankung. Nicht unbedeutend sind Schuldgefühle, gefolgt von Vereinsamung durch die Schulschließungen und den Wegfall der außerschulischen Treffen. Große Sorgen macht ihm, dass vermehrt familiäre Probleme verschiedenster Art aufploppen. Häufig gibt es Streit in den Familien. Die Jugendlichen berichten von häuslicher Gewalt unter Alkoholeinfluss. Doktor Jäger ist besorgt bis hin zur Schlaflosigkeit. Er ist nicht nur Psychologe und Klinikarzt, sondern auch Mensch und Familienvater.
Er grübelt über die Erkenntnisse bei der Tagung in der Schweiz. Einer der wichtigsten Vorträge erklärte die Erziehungspychologie von Mund. Er warf ein Schlaglicht auf die Wurzeln des Phänomens der Massenpsychose. Seine logische Erklärung ist nachvollziehbar. Mund begründete die Bereitschaft zu kritiklosem Gehorsam mit einem materialistischen Weltbild. Unter diesem Aspekt steht seine Theorie, dass Menschen abgerichtet werden, damit sie wie Roboter automatisch nach Anweisung funktionieren. Kinder wären ebenso wie die pawlowschen Hunde zu konditionieren, sagt Mund. Durch die Verschmelzung der Biologie mit dem Materialismus entstand die Kosmobiologie. Sie wurde praktisch als Informationswaffe erfunden. Faktisch sind Wissen und Information zwei Paar Schuhe. Das Wissen ist fühlbar. Information wird nur mit dem Verstand verarbeitet. Die Absicht war, dem Menschen die Fähigkeit abzutrainieren, sich auf das Wissen zu verlassen. Er verliert den Kontakt zu seinem inneren Wahrheitskompass, zu seiner Intuition. Solche Menschen sind im Grunde genommen geistig behindert, wurde in dem Vortrag plausibel erklärt.
Das scheint für Doktor Jäger eine nachvollziehbare Erklärung dafür zu sein, dass gerade jetzt seine Klinik überflutet wird mit Patienten, die die Orientierung verloren haben. Sie wurden Opfer der Informationswaffe Weltbild und Ideologie. Da sie keine Chance hatten eine eigene Orientierung in sich selbst zu entwickeln, sind sie abhängig von jemandem, der ihnen sagt, wie sie sich zu verhalten haben, um sich vor der Gefahr zu schützen. Das sind die Früchte der atheistischen Geisteshaltung. Das materialistische Weltbild des Darwinismus ist die Wurzel. Mit dieser Ideologie wurde eine neue Weltanschauung geschaffen. Die Endlichkeit des Lebens bildet den Mittelpunkt. Wenn ausschließlich diese begrenzte Lebenszeit zur Verfügung steht, ist es so verständlich, dass der Tod die existentielle Bedrohung ist. So viele Menschen brauchten in den vergangenen Monaten in totaler Panik und Angst seine Hilfe.
Er seufzt tief bei der Erinnerung an seine Studienzeit. Genau diese Informationen zu der Evolutionstheorie waren Höchststand des Wissens. Das eine wissenschaftliche Entwicklung zu nennen ist paradox. Total verwundert fragt er sich: Könnte ein Mensch, zum Beispiel ein Mund, die Wahrnehmung der Generationen verändert haben? Er hat zweifellos mit seiner Theorie die Informationswaffen für die Industriebarone des 19. Jahrhunderts kreiert und geliefert. Der Gedanke wird naheliegend, wenn die Umerziehung der Studenten mit Bedacht und strategischer Absicht, durch Superreiche wie Rockefeller, Carnegie und Konsorten finanziert wurde. Nachweislich bestehen in der medizinischen Wissenschaft Verbindungen, bei denen offenbar diese Informationswaffe zum Gewinn der Pharmaindustrie und gegen die Konkurrenz des traditionellen Wissens eingesetzt wird.
Doktor Jäger ist geneigt, dem Vortragsredner zuzustimmen, der behauptete, wir leben in einem künstlich erzeugten Mangel, der bewusst durch die Pandemie der Normopathie, einer neuen Geisteskrankheit der Gleichmacherei und durch Gruppenzwang verursacht wurde. Er hat keine andere Erklärung dafür, dass die Menschen so schnell gefügig wurden. Sie zeigten eine Lämmermentalität, die wie die Lemminge jede Verordnung gewissenhaft befolgen, weil sie Angst um ihr Überleben haben. Es ist diese besondere Angst, die Menschen gefügig macht.
Vicky dagegen steht wie verloren am Ufer der Wertach und schaut verwundert auf das Wasser. Verständnislos beobachtet sie, wie die Menschen völlig unberührt von allen Ereignissen auf dieser Welt vorbeieilen. Der Fluss ist da. Er gluckert träge dahin. Hin und wieder vernimmt sie ein leises Klackern der Kieselsteine, die von der leichten Strömung mitgenommen werden. Sie sind erstaunlich vielfarbig, Grau in vielen Abstufungen. Bläulich schimmernd, rostrot, fast schwarz mit weißen Streifen oder Alabaster. Nie zuvor ist es Vicky aufgefallen, dass Steine im Fluss so verschiedene Farbschattierungen haben. Sie lässt sich von dieser Entdeckung faszinieren und kreiert in Gedanken herrliche Kunstwerke. In ihrer Fantasie entstehen Pilze, Vögel, Raupen. Sie hebt einige verführerische Exemplare auf und nimmt sie mit nach Hause. Mit etwas Sekundenkleber und Farbe werden sie sich zu Dekorationsexponaten für ihr Zimmer verwandeln.
Die lärmenden Kinder holen sie in die Wirklichkeit zurück. Es ist eine Familie, die den Karsamstag zu einem gemeinsamen Ausflug nützt. Die haben Glück, seufzt sie gedankenverloren. Ich stehe hier Mutterseelen alleine. Wie werde ich Mama sagen, dass ich lebensmüde bin und dass Doktor Jäger sie deshalb sprechen will? Wieder brauche ich so ein wahres Märchen. ‚Mama, ich war heute Vormittag an der Wertach und hatte einen Blackout oder einen Kollaps. Das klingt dramatisch genug. Ein Arzt vom Klinikum hat das beim Jogging beobachtet und mir geholfen. Er bittet dich, am Dienstag, um 18.00 Uhr in seine ambulante Sprechstunde zu kommen‘. Das klingt perfekt. Im Geschichtenerfinden war ich schon immer phantasievoll. Diese Erkenntnis war sarkastisch gemeint.
Vicky beobachtet das pulsierende Leben des Karsamstags um sie herum weiter aufmerksam. Alles war so alltäglich. Menschen hasten achtlos aneinander vorbei. Sie schleppen ihre Einkäufe, sie starren auf ihre Handys, sie warten an der Haltestelle auf die Straßenbahn. Hin und wieder lachen Kinder, wenn sie etwas zum Spielen haben. Sie selbst ist innerlich leer und einsam. Sie wünschte, Doc Knopfauge spränge um sie herum. Sie wird ihn auf jeden Fall wieder besuchen. Mit dieser freudigen Aussicht gibt sie sich einen Ruck, um die Aufträge zu erledigen, die ihr die Mutter für den Tag aufgetragen hatte. Mamma sollte von dem Termin in der Klinik in entspannter Stimmung erfahren.
Sie kramte den Einkaufszettel aus ihrer Jackentasche, der am Morgen auf den Frühstückstisch gelegen hatte. Brot, Milch, Quark, Eier, Hackfleisch, Bananen, Äpfel, Kartoffel, Zwiebel. Es war der übliche Einkauf. Nichts Besonderes wegen der Feiertage. Keine Schokohasen oder Schokoeier. Wir feiern kein Ostern. In diesem Punkt war die Mama extrem konsequent. Das Schoko Ei als Werbegeschenk anzunehmen, war nicht in Ordnung. Trotzig überhört Vicky die innere Stimme des Mahners in ihrem Kopf. Sie zelebriert das Entfernen der Verpackung und erlaubt sich den köstlichen Genuss. Wenn der Buchhaltergott wegen ihrer verbotenen Absichten heute Morgen einen Minuspunkt vermerkt hat, um sie zu verurteilen, dann kommt es auf diese Sünde auch nicht mehr an. Tot ist am Ende tot.
Sie verstaut den Einkauf und beobachtet dabei einen Mann mit einem Pappbecher, der Passanten um Almosen bittet. Sie erinnert sich an die Matratzen unter der Eisenbahnbrücke. Diese Menschen leben trotz allem weiter, überlegt sie verwundert. Wie schaffen sie das? Sie empfand Mitgefühl mit dem armen Schlucker. Sie durfte ihm aber kein Geld geben. Im Vortrag wurden sie davor gewarnt, weil das dann womöglich in Alkohol umgesetzt wird. Spontan nimmt sie eine Banane aus ihrem Einkauf und bietet sie mit einem warmherzigen Lächeln dem Bettler an. Seine Mine erhellt sich. Er nimmt sie entgegen und schaut dem Mädchen dankbar in die Augen. Vicky ist berührt. Verlegen flüstert sie rasch: „Alles Gute“. Sie schnappt sich ihr Fahrrad und radelt nach Hause. Bis ihre Mutter von der Arbeit kommt, hat sie eine Menge Hausarbeiten zu erledigen. Eine zufriedene Mama war in freundlicher Stimmung für ihre Beichte.
Ihre Kalkulation funktionierte. Mama kam nach einem extrem anstrengenden Arbeitstag todmüde nach Hause. Wie immer vor den Feiertagen summierten sich die Überstunden. Sie lobte Vicky dankbar, weil ihr ein wenig Zeit zum Ausruhen blieb. Müdigkeit galt nicht als Entschuldigung, die Schulungszusammenkunft zu versäumen. Selbst der Lock down war kein Grund dafür. Man hatte per Videoschaltung zu Hause daran teilzunehmen. Mit einem tiefen Seufzer fügte sich Vicky in das Unvermeidliche und schwieg wohlweislich. Missmutig begleitete sie die Mutter zu dem Treffen.
Zu Thomas sagte sie nur kurz „Hallo“. Er ist der Sohn eines Ältesten und ist eine Klasse höher an ihrer Schule. Wie gewöhnlich erscheint er wieder vorbildlich mit Anzug und Krawatte gekleidet. Sein Haarschnitt ist „theokratisch“ korrekt. Wer genau hinschaut, übersieht seine gespielte Beflissenheit nicht. Thomas verhält sich in der Schule völlig anders. Da benimmt er sich extra cool und gibt bei den Mädchen mit seinen sportlichen Leistungen an. Vicky hielt ihn stets für einen Heuchler und Angeber. An diesem Abend fiel es ihr krass auf. Überhaupt war es ihr unmöglich, sich auf das Programm zu konzentrieren. Nur bruchstückhaft hört sie am Rande die Ermahnung, dass vorbildliche Frauen ihre Rolle demütig anerkennen. Die Bibelzitate warnen vor den Gefahren und Fallgruben, die der Teufel sich ausgedacht hat.
Ein Text besagt, der Mund fremder Frauen ist eine Fallgrube, wer da hineinfällt, wird bestraft. Darum sind die Männer durch die verlockende Droge der Frauen in Gefahr, ihr ewiges Leben zu verlieren. Die gefallenen Engel seien ein warnendes Beispiel. Sie haben vom Himmel auf die Frauen geschaut und dann ist wegen ihrer Sünde die Sintflut gekommen und hat alles Leben auf der Erde vernichtet.
Ist schon komisch, wie rachsüchtig Gott ist. Von uns verlangt er Liebe und Vergebung, aber wenn es nicht nach seinem Willen läuft, droht Feuer und Schwefel oder eine vernichtende Flut. Vicky wehrt sich nicht mehr gegen solche ketzerischen Gedanken. Überhaupt, fragt sie sich, wie stimmt das mit der Liebe eines Vaters überein? Er setzt seine Kinder in einen paradiesischen Garten, gibt ihnen einen freien Willen und pflanzt trotzdem einen Baum mit verlockenden Früchten, der Tod und Verderben über sie und alle Nachkommen bringt, falls sie davon essen.
Wenn ein Mensch so handelt, sind sich alle entsetzt darüber einig, dass er ein Sadist sei. Wer eine Wertsache in seinem Auto offen liegen lässt, erhält von der Versicherung keinen Ersatz für den Diebstahl. Damit fordert man grob fahrlässig zum Stehlen auf. Warum gilt diese Regel nicht bei einem allwissenden Schöpfer? Mamas Kunden lachten herzlich über die Geschichte der Oma. Sie hat einen Kirschbaum im Garten. Süße, verlockende Kirschen, wenn sie reif sind. Für jeden Nachbarn ist selbstverständlich, dass man die Kirschen aus Nachbars Garten nicht klaut. Auch die beiden Jungs ihrer Nachbarin wissen das natürlich. Die Omi hat sich köstlich amüsiert, bei ihrer Beobachtung der Jungs. Sie stopften sich heimlich ihre Hosentaschen mit Kirschen voll. Das schlechte Gewissen sah sie den Übeltätern sogar aus der Entfernung deutlich an. Die Kundin hat den Nachbarn später eine große Schüssel Kirschen gebracht, denn der Baum trug reichlich Früchte und es war ihr eine Freude zu teilen. Sogar für die Vögel reichte der Ertrag. Wieso pflanzt Gott eine Versuchung in den Garten, anstatt die Freude mit seinen Kindern zu teilen? Er braucht die Früchte des Garten Eden doch überhaupt nicht.
Wieso ist aber die Eva schuld? Das verstehe ich wirklich nicht. Wieso wird uns immer erzählt, dass die Frauen schuld sind, wenn die Männer grausame Tötungsorgien veranstalten. Bei Simson, bei Absalom, bei David, der die Bathseba geschwängert hat.
Vicky versucht, auf diese ketzerischen Fragen, logische Antworten zu finden. Sie sträubt sich innerlich dagegen, die Ermahnungen ernst zu nehmen. Die eindringliche Belehrung sich bescheiden und züchtig zu kleiden, erreicht sie nur wie ein Hintergrundrauschen.
Nach dem Schlussgebet verlässt sie zügig den Gemeindesaal in Richtung Bushaltestelle. Sie ist nicht erfreut, später von Mama zu hören, dass Familie Schröder sie eingeladen hat. Die Eltern von Thomas geben hin und wieder kleine Versammlungsfeste. Wenn Schwester Heidrun einen neuen Haarschnitt braucht, sind Mama und Vicky ebenfalls willkommen.
Zugegeben, die Kuchen von Schwester Heidrun sind ausgesprochen lecker. Sie ist eine perfekte Hausfrau und versteht es, das theokratische Kennzeichen der Gastfreundschaft umzusetzen. Sie gibt Mama ein Trinkgeld für die neue Frisur. Trotzdem bleibt das unbestimmte Gefühl, dass das gönnerhafte Verhalten eher demütigt, als wertschätzt. Es ist so sicher wie das Amen in der Kirche, dass Bruder Schröder sie „liebevoll ermuntern“ wird. Er wird ihr ans Herz legen, gebetsvoll über die Taufe nachzudenken. Das ist eine der Baustellen, die auf ihre Schultern drücken, seit sie wieder mit ihrem Vater in Kontakt ist. Dazwischen liegen dunkle Jahre, in denen ihr nur Horrorgeschichten von Papa erzählt wurden, sobald sie nach ihm gefragt hatte. Ihm wurde die Gemeinschaft entzogen, weil er sich von Mama scheiden ließ. Mama hat sich streng an das Kontaktverbot gehalten und kommunizierte nur mittels Anwalt mit ihm. Die Vorstellung, Papa würde mit dem Teufel im Feuer verbrennen war grauenvoll. Das Gedankenkarussell dreht sich in einer Endlosschleife in Vickys Kopf. Nach dem Taufgelübde gelten die Regeln, sonst lande ich mit ihm im Feuersee. Dann werde ich selbst von Mama verstoßen. Papa sagt, das ist nicht der Wille Gottes, sondern ein Menschengebot, das erfunden wurde, um der Leitung die Macht und das Sagen zu sichern. Wenn Mama recht hat, wird Papa zusammen mit allen Menschen vernichtet, weil sie Verbündete des Teufels und Feinde Gottes sind.
Wieder einmal fürchtet Vicky, von diesem unauflösbaren Spagat zerrissen zu werden. Sie bereut, dass sie nicht gesprungen ist. Jetzt hätte sie alles überstanden. Die treuen Augen von Doc Knopfauge kommen ihr in den Sinn. Da hat sie eine Idee.
„Mama, das Tierheim sucht Helfer, die bereit sind, Hunde auszuführen. Wenn ich mit einem Hund entlang der Wertach spazieren gehe, habe ich die Gelegenheit, anderen Hundefreunden informell Zeugnis zu geben. Tierfreunde kommen leicht ins Gespräch und ich zeige dann mit dem Smartphone unsere Videoclips“.
„Oh Vicky, das ist ja eine geniale Idee. Mach das, damit wirst du deinen monatlichen Stundendurchschnitt im Predigtdienst deutlich verbessern.“
Vicky seufzt innerlich. Wieder hat sie die Wahrheit so für ihre Zwecke eingesetzt, dass sie sich dafür schämt. Sie wird zwar Stunden auf ihren Berichtszettel eintragen, aber sie wird sich sicher kaum dazu überwinden, die Passanten auf dem Weg mit den Comicvideos zu behelligen. Zu groß sind zurzeit ihre Zweifel.
„Was ist denn los? Du bist den ganzen Abend mit deinen Gedanken abwesend. Du freust dich nicht über die Einladung und rennst nach Schluss gleich zum Bus. Wieso hast du so eine miese Laune?“
Katharina Buck, Vickys Mutter ist verstimmt. Sie ist besorgt über das Verhalten der Tochter. Für sie, eine alleinerziehende Frau, ist es herausfordernd, in einer Gruppe anerkannt zu werden, in der eine fundamental patriarchalische Haltung vorherrscht. Sie hat nur mit Leistung und Wohlverhalten eine Chance, wahrgenommen zu werden. Es fällt ihr zunehmend schwerer, die bockige Einsilbigkeit der Tochter, mit immer neuen Entschuldigungen bei ihrer Gruppe zu erklären.
Augenblicklich lösen sich alle guten Vorsätze in Luft auf. Auf den gereizten Ton der Mutter reagiert Vicky gereizt.
„Mir geht es beschissen. Du merkst das nicht. Niemand von den ach so lieben christlichen Schwestern hat mich jemals gefragt, wie es mir wirklich geht. Alle tragen diese freundliche, scheinheilige Maske. Nichts als Fassade“. Vicky ist wütend und übertreibt. „Ich hatte heute einen Zusammenbruch. Ein Arzt vom Josephinum hat es bemerkt und hat mir geholfen. Es ist nötig, mit dir darüber zu reden. Du hast am Dienstag um achtzehn Uhr in seiner ambulanten Sprechstunde einen Termin“.
Viel zu laut, hat sie ihrem Frust Luft verschafft. Die wenigen Fahrgäste im Bus schauen verwundert in ihre Richtung. So war das nicht geplant. Die ganze Anstrengung des Tages war in die Wolken geschrieben.
Die Haltestelle ist ihre Rettung. Hastig springt sie aus dem Bus. „Vicky! So warte doch!“ Vergeblich versucht die Mutter, ihr Kind zu erreichen. Vollgepackt mit all ihren angestauten widersprüchlichen Gefühlen flüchtet Vicky in ihr Zimmer, schlägt die Türe hinter sich ins Schloss und dreht den Schlüssel um. Auf das Klopfen und Flehen der Mutter reagiert sie nicht. Sie hasst sich dafür abgrundtief. Wieder ist sie schuld daran, dass Mama unglücklich ist. Wieder ist es ihr nicht gelungen, das zu verhindern. Solange sie sich zurückerinnert, verfolgt sie dieses Schuldgefühl. Hätte sie damals nichts davon gesagt, wie Opa in der Badewanne seinen Zauberstab steif gemacht hat, hätten sich Mama und Papa nicht ihretwegen so gestritten. Papa ist am Ende nach Hamburg gezogen und das ist ihre Schuld. Damit fing das ganze Unglück an.
„Ach wäre ich doch nur von der Brücke gesprungen“.