Leben oder Tod - Barbara Kohout - E-Book

Leben oder Tod E-Book

Barbara Kohout

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Beschreibung

Der Glaubenssatz der Zeugen Jehovas ist, wir sind in der Wahrheit. Für sie gibt es nur diese eine Wahrheit. Sie wird definiert von ihrer Leitenden Körperschaft, die sich selbst den Titel treuer und verständiger Sklave gibt. Die Doktrin ist fundamentalistisch und diktatorisch. Sie erwartet absoluten Gehorsam und Loyalität. Kritik an der Wahrheit ist obsolet. Wer sie trotzdem wagt, bekommt das Attribut Abtrünnigkeit, Abtrünnige werden mit dem sozialen Tod bestraft. Mitglieder, die sich dieser Lehre unterwerfen, stehen vor der Wahl zwischen dem Leben innerhalb der Wachtturm-Organisation oder dem Tod zusammen mit der teuflischen Welt außerhalb der Organisation. Sie glauben, das ist die Wahl zwischen dem ewigen Leben im Paradies oder der ewigen Vernichtung. Tirza, eine hineingeborene Jugendliche, wird mit dieser Wahl konfrontiert. Sie muss sich zwischen Leben und Tod entscheiden und bezahlt dafür einen hohen Preis. Die fiktive Tirza hat die Seelenqual bis zum Ausstieg erlebt. Ihre Erlebnisse spiegeln aber das wirkliche Leben der Zeugen Jehovas wider.

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Buchbeschreibung:

Es ist die Geschichte von Tirza, einer Jugendlichen, die in der Pubertät die Härten der toxischen Doktrin der Zeugen Jehovas erlebt. Mehrfach scheint sie vor der Wahl zwischen Leben und Tod zu stehen. Sie setzt sich trotz Gewissensdruck und vermeintlicher Gefahr, die von der Welt Satans droht, mit den Glaubenslehren auseinander und wird mit dem sozialen Tod bestraft. Das bedeutet den Verlust ihres alten Lebens, der Freunde, der Familie. Sie entscheidet sich für ihre Freiheit und bezahlt den Preis.

Persönliche Erfahrungen der Autorin flossen in die Erzählung mit ein. Sie war selbst Mitglied der Religionsgemeinschaft und hat die Härten der Disziplinarverfahren erlebt.

Inhaltsverzeichnis

Bluttransfusion– ja oder nein?

Ein Schicksal berührt die Herzen.

Das Referat Tirza.

Frau Winter und schwierige Fragen.

Reportage Jenny und Jemal

Die Suche nach Antworten

Eine Mutter gibt Antwort.

Fragen an eine Jugendliche.

Der Besuch einer Zusammenkunft

Mark wird handeln.

Eine Ex Zeugin Jehovas erzählt.

Die Zwänge erkennen.

Zweifel verstärken sich.

Analysen

Am Scheideweg

Die Entscheidung mit Folgen

Tirza ist keine Ausnahme.

19 „Ich nehme heute tatsächlich die Himmel

und die Erde als Zeugen gegen euch,

dass ich dir Leben und Tod vorgelegt habe,

den Segen und den Fluch;

Und du sollst das Leben wählen,

damit du am Leben bleibst, du und deine

Nachkommen.

5. Mose Kapitel 30 Vers 19“.

Bluttransfusion – ja oder nein?

Das Häufchen Elend, auf dem Fenstersims in der obersten Etage des Wohnturms, heißt Tirza. Der Volksmund nennt das ehemalige Hotel Maiskolben. Das Gebäude ist rund und die Fenster wirken wie die Körner daran. Ein weiter, halblanger Rock mit Streublümchen Muster, bedeckt züchtig die Knie, die ihre heiße Stirn stützen. Das Mädchen umklammert ihre hochgezogenen Beine. Die kastanienbraune, lockige Haarpracht verdeckt die erschrockenen Gesichtszüge. Den weiten Ausblick über die Stadt nimmt sie nicht wahr. Er ist belanglos. Sie sitzt grübelnd da. Hinter ihr lag das Gespräch über die Entscheidung zwischen Leben und Tod. Sie ist aufgewühlt. Brigitte hatte sich für den Tod entschieden. War das notwendig?

Was würde ich wählen, wenn es von mir verlangt würde? Ein Sprung in die Tiefe aus dem 35. Stock wäre die schnellste Lösung. Dieses höchste Gebäude der Stadt ist zufällig ihr Predigtdienstgebiet. Sie kennt einige Bewohner persönlich und hat keine Schwierigkeiten, die Concierge zu passieren. Sie besucht ihre Interessierten, Zeugen Jehovas sprechen von ‚Interessierten‘, wenn sie mehrfach vorsprechen. Sie spricht gerne mit denen, die sie inzwischen kennen gelernt hat, denn sie sind aufmerksam und freundlich. Sie nehmen jeweils eine Zeitschrift oder ein Buch aus ihrem Angebot entgegen. Das bringt ihr Lob ein, wenn sie ihren monatlichen Berichtszettel abgibt.

Selten ist sie allein unterwegs. Das ist bei Zeugen Jehovas nicht üblich. Heute hat Schwester Marta wegen ihrer Migräne abgesagt. Tirza ist es recht. Auf das Gespräch mit der netten Frau hatte sie sich speziell vorbereitet. Es betraf ihren Standpunkt zur Bluttransfusion.

Die Tageszeitung hatte einen langen Artikel, zum Tod einer Mutter, veröffentlicht, die eine lebensrettende Bluttransfusion abgelehnt hatte. Sie war Zeugin Jehovas, hatte nach der Entbindung ihres zweiten Kindes einen Blutsturz. Die Ärzte hätten den Blutverlust mit einer Gabe Fremdblut ausgeglichen. Das lehnte die Mutter entschieden ab. Für gläubige Zeugen Jehovas ist die Hoffnung auf die Auferstehung und das ewige Leben wichtiger. Sie bezahlte die Loyalität gegenüber ihrem Gott, der die Verwendung von Blut angeblich verboten hat, mit ihrem Leben. Sie wählte den Tod. Ihre beiden Kinder sind darum Halbwaisen. In der Versammlung der Zeugen Jehovas wird ihre Standhaftigkeit gefeiert. Sie sagen, dass alle Versuche des Teufels, ihre Loyalität zu brechen, gescheitert sind. Sie ist, nach Auffassung der Gläubigen, in der Gewissheit gestorben, dass Jehova sie in der Auferstehung mit ewigem Leben belohnen wird. Dann wird sie wieder mit ihren geliebten Kindern vereint sein und für immer glücklich im Paradies auf Erden leben. Da das Gottesgericht unmittelbar bevorsteht, ist die Trennung nur von kurzer Dauer.

Tirza versetzte sich in Gedanken in die Situation ihrer Großeltern. Sie sind seit vielen Jahrzehnten Gläubige. Früher nannte man sie Bibelforscher. Ihre Religion war von den Nationalsozialisten verboten. Wer bei einer illegalen Tätigkeit erwischt wurde, kam ins KZ Dachau. Sie wurden denunziert. Beide hatten die Wahl. Unterschreiben, dass sie ihrem Glauben abschworen. Das bedeutete die sofortige Freilassung. Falls sie sich weigerten, blieben sie in Haft. Damals verloren viele Glaubensbrüder ihr Leben, weil sie die Unterschrift verweigerten. Oma und Opa hatten Glück. Sie überlebten die Haft. Sie danken Jehova für seinen Schutz bis auf den heutigen Tag. Tirza schauderte bei diesen Gedanken.

Sie ließ das Gespräch mit der netten Wohnungsinhaberin, nochmals Revue passieren. Mit der Hilfe ihrer Mutter hatte sie sich speziell zu diesem Thema gründlich vorbereitet. Ihre Mama ist allgemeine Pionierin. Sie setzt regelmäßig neunzig Stunden im Monat ein, um den Menschen die gute Botschaft der Rettung, zu predigen. Mama ist eine Expertin für schwierige Fragen. „Wir müssen uns heute mit dem Thema Bluttransfusion vertraut machen, bevor wir in den Dienst gehen“, sagte sie zu Tirza. „Lass uns Punkte aus dem ‚Unterredungsbuch‘ heraussuchen. Wir legen uns am besten Spickzettel in unsere Bibeln“. Mama war für den Dienst mit einer älteren Glaubensschwester verabredet. Sie kannte ihr Taschenlexikon, das Unterredungsbuch, in-und auswendig. Tirza befolgte ihre Anregungen bereitwillig.

„Ja, ich notiere mir die Bibeltexte 1. Mose 9,3-4: Außerdem Apostelgeschichte 15,28-29 die Wiederholung des Gebotes für die Christen: Denn der heilige Geist und wir selbst haben es für gut befunden, euch keine weitere Bürde aufzuerlegen als folgende notwendige Dinge: 29 euch von Dingen zu enthalten, die Götzen geopfert wurden, sowie von Blut und von Erwürgtem und von Hurerei. Wenn ihr euch vor diesen Dingen sorgfältig bewahrt, wird es euch gutgehen. Bleibt gesund!

Wie wir uns verteidigen, steht auf den Seiten 75 bis 80 in ‚Unterredungen anhand der Schriften‘. Ich markiere die Seiten mit einer Büroklammer, dann finde ich sie, ohne lange zu blättern“.

Auf diese Weise gerüstet, war Tirza sicher und bereit, alle Einwände zum Thema Bluttransfusion zu überwinden. Sie war froh, eine Verabredung zu haben. Denn am Nachmittag des Vortages hatte sie keine Gelegenheit, ihren Standpunkt zu erklären. An jeder Türe verwies man empört auf den Zeitungsartikel. Nach zwei Stunden frustrierender Ablehnung beendeten sie vorzeitig und entmutigt ihren Dienst.

Voller Überzeugung erklärte Tirza der Wohnungsinhaberin, Frau Winter: „Wir Zeugen Jehovas halten uns genau an die Gebote Gottes, die in der Bibel überliefert sind. Unmittelbar nach der Sintflut gab Gott Noah ein Gebot, dass ihm erlaubte das Fleisch von Tieren zu essen, nicht aber deren Blut. Tirza schlug ihre Bibel bei 1. Mose Kapitel 9, die Verse 3 und 4 auf, die Neue Welt Übersetzung der Zeugen Jehovas.

Jedes sich regende Tier, das am Leben ist, möge euch zur Speise dienen. Wie im Fall der grünen Pflanzen gebe ich euch gewiß das alles. 4 Nur Fleisch mit seiner Seele — seinem Blut — sollt ihr nicht essen.“

Ihre Gastgeberin sagte „einen Moment bitte, ich werde das in meiner Bibel nachschlagen“, sie hatte eine Übersetzung aus dem Pattloch-Verlag. Nachdem Tirza den Text der Neuen Welt Übersetzung gelesen hatte, wiederholte Frau Winter die Verse. Sie lauteten in ihrer Bibel:

Alles, was sich regt und lebendig ist, diene euch zur Nahrung; wie das Grünkraut gebe ich euch alles. 4) Jedoch lebendiges Fleisch, mit seinem Blut noch verbunden, sollt ihr nicht essen.

Wenn man den Vers vier mit der unverständlichen Formulierung ‚lebendiges Fleisch, mit seinem Blut‘ übersah, bestand Übereinstimmung. Daher fuhr Tirza fort und wiederholte, was sie aus dem Unterredungsbuch gelernt hatte:

„Wer ein Tier, zu Nahrungszwecken schlachtet war verpflichtet, es gewissenhaft ausbluten zu lassen. Ein erwürgtes, in einer Falle verendetes oder tot aufgefundenes Tier wäre zur Nahrung ungeeignet. Desgleichen war es verboten, etwas zu essen, was Vollblut oder auch nur Blutbestandteile als Zusatz enthält. Das bestätigt der Bibeltext aus 3. Mose 17,13-16 in dem gesagt wird, dass die Seele des Tieres sein Blut ist. Wir Zeugen Jehovas gehorchen diesem göttlichen Gebot und lehnen daher eine Bluttransfusion ab“. Daraufhin fragte Frau Winter: „Stimmen wir überein, dass im Vers 13 sowohl den Israeliten als auch den Fremden das Gebot gegeben wird, Tiere die sie für ihre Ernährung jagen, ausbluten zu lassen?“ „Ja, genau so verstehen wir das“, bestätigte Tirza.

„Der Vers 14 erklärt demnach, dass Blut als Symbol für Leben gilt, nicht wahr?“ Wieder stimmte Tirza nachdrücklich zu.

„Doch warum richtet sich dieser Vers ausdrücklich nur an die Israeliten und nicht an die Fremden im Land und warum wird hier von ‚Lebewesen‘ gesprochen, das könnten ja Menschen sein? In diesem Fall wird die Übertretung sogar mit der Todesstrafe bedroht.

In Vers 15, ist wieder eine allgemeine Regel aufgestellt, die sowohl Fremde als auch die Israeliten betrifft. Niemand wird mit dem Tod bedroht, der das Fleisch eines verendeten Tieres aß, obwohl es nicht ausgeblutet war. Sie mussten nur die Kleider waschen und bis zum Abend als unrein gelten. Wie erklären Zeugen Jehovas diese unterschiedlichen Anweisungen?“

Tirza war aus ihrem Konzept gebracht. Auf diese Frage hatte sie keine vorbereitete Antwort. Die Unterschiede waren ihr bisher nicht aufgefallen. Brav, wie sie es gelernt hatte, antwortete sie: „Im Moment kann ich ihnen diese Frage nicht beantworten. Ich notiere sie und werde mich zu Hause extra darauf vorbereiten.“

„Das ist sehr gut, dann bitte ich noch um die Erklärung, wie man aus dem Bibelzitat die Aussage ableiten kann:

Desgleichen sollte nichts gegessen werden, was Vollblut oder auch nur Blutbestandteile als Zusatz enthält. Jedes Fleisch enthält Blutbestandteile. Ich schließe daraus, dass es nicht verboten war, sie zu essen. Ein Tier, das zur Nahrung getötet wurde, sollte ausbluten. Im Falle von verendeten Tieren müssen, aus hygienischen Gründen, die Kleider gewaschen werden. Wer dieses Fleisch gegessen hat, gilt bis zum Abend als unrein, damit sichergestellt war, dass er sich nicht infiziert hatte. Das war eine Schutzvorkehrung für das Volk. Sie verhinderte Seuchen.“

Das klang für Tirza logisch. Der Widerspruch war ihr nie aufgefallen. Kleinlaut sagte sie zu, auch diese Frage zu notieren und nach einer Antwort zu suchen.

Frau Winter hatte erreicht, was sie beabsichtigte. Die Schülerin war bereit, selbst nach Antworten zu suchen. Sie nutzte die Gelegenheit und präsentierte eine eigene Erklärung. „Ich habe mir darüber schon Gedanken gemacht. Ich fände es plausibel, dass der 14. Vers für die Israeliten eingeschoben wurde. Sie sollten damit von Kulthandlungen abgehalten werden, die in ausländischen Religionen üblich waren. Zum Beispiel bei religiösen Zeremonien das Blut von Menschen und Tieren in dem Glauben zu trinken, dass dies besondere Kräfte verleiht. Dann ist das kein Gebot für den Blutgenuss oder zum medizinischen Gebrauch. Es unterstreicht das Gesetz der Israeliten, Götzendienst mit der Todesstrafe zu belegen.

Der Vers 15 ist ein Hygienegebot. Das Volk war in der Wüste. Tote Tiere konnten Krankheitskeime enthalten, die eine Seuchengefahr darstellten. Das Waschen und Absondern für einige Stunden war eine sinnvolle Vorschrift, um das Volk zu schützen. Die Bemerkung im Vers 16, wer sich nicht daran halten würde, wäre schuldig, passt dann ins Bild. Wer leichtsinnig handelt und riskiert, eine Krankheit in das Lager einzuschleppen, wäre tatsächlich schuldig.“

„Ehrlich gestanden ist mir das bisher nie aufgefallen. Ich danke Ihnen für diese Gedanken und ich verspreche, dass ich mich um eine Antwort bemühen werde.“ Tirza empfand volle Bewunderung für diese Frau mit den tiefschürfenden Gedanken. Wie war das möglich? Sie war ein ‚Weltmensch‘, warnte ihr ‚gut geschultes Gewissen‘. ‚Die Wahrheit‘ haben wir Zeugen Jehovas. Es war ihre absolute Verpflichtung, den Irrtum herauszufinden. Sie verabredeten ein weiteres Treffen. Tirza verabschiedete sich tief beeindruckt.

Doch anstatt ihren Dienst fortzusetzen, wie es ihre Pflicht wäre, saß sie verwirrt hier auf der Fensterbank. Hatte Schwester Margit ihre Kinder ohne Not im Stich gelassen? Das konnte, ja das durfte nicht sein! Jehova verlangt doch nichts Unredliches von seinen Dienern.

„Ist alles in Ordnung?“ Die Frage des Hausmeisters erschreckte Tirza. Normalerweise begegnete man niemandem in den Fluren. Die Bewohner und Gäste benützten die Aufzüge.

Rasch sprang sie von der Fensterbank. Er kannte sie, denn sie besuchte die Leute im Wohnturm seit Langem von Tür zu Tür als Zeugin Jehovas. Sie versicherte eilig, „ja, ja, alles in Ordnung. Ich bewunderte das Panorama der Stadt.“ Sie schnappte rasch ihre Verkündigertasche und wünschte einen schönen Tag. In der festen Überzeugung, dass sie in ihrer Bibliothek eine Antwort auf die Fragen finden würde, begab sie sich entschlossen auf den Heimweg.

Die bohrenden Gedanken blieben in ihrem Kopf hängen. Wo war die Erinnerung an die Erklärung zu diesem Bibeltext? Sie war so vertieft in ihre Grübelei, dass ihr die Straßenbahn vor der Nase abfuhr.

Da war es wieder, das Gefühl versagt zu haben. Mama hätte sicher die Antwort aus dem ff gegeben. Sie war ein wandelndes Lexikon. Oma und Opa sind mächtig stolz auf ihre einzige Tochter. Sie haben sie gewissenhaft in der ‚Zucht und dem autoritativen Rat‘ des ‚treuen und verständigen Sklaven‘ erzogen. Wie sie es im Wachtturm Studium oder im Buch Studium gelernt hatten. Mama war fleißig, gehorsam und‚ eifrig beschäftigt im Werke des Herrn‘. Jedenfalls behauptete Oma das immer, wenn sie Tirza ermahnte, Eifer für das Königreich zu zeigen. Tirza hatte so ihre Zweifel. Mama wirkte manchmal mutlos oder freudlos. Passte das in die Vision von dem Glück, das man durch den Vollzeitdienst angeblich empfand? Sie hätte Mama gerne gefragt, aber sie kannte die Antwort. Es ist alles in Ordnung mein Kind, ich bin nur etwas müde. Diese Standardantwort würde sie jedem geben, um sich die fragwürdige ‚Ermunterung‘ mit dem Tenor, sich mehr und glaubensvoll anzustrengen, zu ersparen.

Pfff, fauchte Tirza verächtlich, ohne die verwunderten Blicke der Umstehenden zu bemerken. Der letzte Besuch des‚ Kreisaufsehers‘, anlässlich der ‚Dienstwoche‘, kam ihr in den Sinn. Die Vorzeigefamilie Pönnich war vorbildlich gastfreundlich. Papa strebte das Amt des Ältesten an. Gastfreundschaft üben gehörte zu den Voraussetzungen für eine Empfehlung. Darum war die Einladung Pflicht. Die Pflicht, als Haupt der Familie die Führung zu übernehmen und die Kinder in ‚Unterwürfigkeit‘ zu erziehen, waren weitere Prüfkriterien. Mama ist seit Jahren im ‚Vollzeitpredigtdienst‘. Hausfrau und ‚allgemeine Pionierin‘ zu sein ist vorbildlich.

Die Enkeltochter von KZ-Überlebenden wurde vorbildlich in der Wahrheit erzogen. So erfüllte Tirza ebenfalls alle Bedingungen, die von einer ‚geistiggesinnten‘ Zeugin Jehovas zu erwarten waren.

Trotzdem fragte Bruder Kluppach beim Mittagstisch, aufgesetzt jovial und überfreundlich, wie es Mama geht. Das war rhetorisch gemeint, denn er wartete nicht auf ihre Antwort, sondern fuhr fort, er hätte volles Verständnis dafür, dass sie als vorbildliche Hausfrau, liebevolle Ehefrau und Mutter, ein großes Pensum an Arbeit zu bewältigen habe. Sie sei ein Vorbild für die Ehefrauen in der Versammlung. Wie er zum wiederholten Male festgestellt habe, sei ihre Wohnung stets sauber und gepflegt. Zudem übernähme sie vorbildlich viele freiwillige Arbeiten bei der Betreuung der Betagten, in der Pflege des Königreichssaales und bei der Bewirtung von uns reisenden Aufsehern. Das verdiene Lob und Anerkennung. Darum, so fügte er gönnerhaft hinzu, würde er darüber hinwegsehen, dass Mama, im vergangenen ‚Dienstjahr‘, zweimal das monatliche ‚Stundenziel‘ nicht erreicht hatte. Er hätte gesehen, dass sie die zwei Fehlstunden jeweils im darauffolgenden Monat nachgeholt hätte. Das wäre vorbildlich.

In Tirza kochte es innerlich. Sie hatte miterlebt, wie sich Mama abstrampelte, um ihr Ziel zu schaffen. In den fraglichen Monaten lag sie mit hohem Fieber im Bett. Tirza hatte ihr Hausarbeit abgenommen. Mama hatte bis spät in die Nacht Zeugnisbriefe auf Todesanzeigen geschrieben, um das Stundenziel zu erreichen. Die Zeit, die man für solche Briefe, mit einer tröstenden Botschaft und einer Broschüre über die Auferstehungshoffnung aufwendete, zählte zur Predigtdienstzeit. Trotzdem war sie zu erschöpft, um das Gesamtziel zu schaffen. Es war Mama peinlich, darauf angesprochen zu werden. Warum hat Papa sie nicht verteidigt? Spätestens, als dieser pseudo liebevolle Hirte, Mama ermahnte, ihr ‚persönliches Studium‘ keinesfalls zu vernachlässigen und ein intensives ‚Gebetsleben‘ zu führen, hätte Papa darauf verweisen müssen, dass er, das Haupt der Familie, die Verantwortung übernimmt. Uns gegenüber betont er es ständig. Mama und ich hatten das nie zu vergessen.

Nachdem sich die Gäste an dem üppigen Mahl gebührend bedient hatten, lobten sie die Kochkunst der Hausfrau, bedankten sich artig für die Gastfreundschaft und verabschiedeten sich, um ihre wohlverdiente Ruhepause zu genießen. Tirza stand mit Mama vor dem Küchenchaos. „Warum hat er das getan? Er hätte mir unter vier Augen sagen können, dass er unzufrieden ist. Seine Frau hat mit spitzen Ohren zugehört. Bestimmt weiß es schon heute Nachmittag Sigrid und morgen die ganze Versammlung“. Mama kämpfte mit den Tränen. Tirza seufzte tief bei diesen Erinnerungen. Sie wurde sich bewusst, dass ihre Gedanken in gefährliche Bahnen abdrifteten. Das ist eine zu kritische Einstellung. Sie hatte schon wieder Schuldgefühle. Eine kritische Haltung gegenüber ‚denen, die unter euch die Führung innehaben‘ ist ein rebellischer Geist, der dem Gebot der Demut widerspricht.

Hin und wieder versucht sie, mit ihrer Schulfreundin Alzira, zu sprechen. Sie war vor einem Jahr die Neue in der Schule. Ihre Eltern siedelten von Brasilien nach Deutschland um. Dagegen hatte sie, unterstützt von der brasilianischen Mutter, protestiert. Sie demonstrierte Desinteresse am Unterricht und benahm sich aufsässig. Davon waren einige Mitschüler beeindruckt. Sie bewunderten sie für ihren scheinbaren Mut. Alzira hatte kein Problem mit seltsamen Vornamen. Sie hatte selbst einen portugiesischen. Für Alzira war ihr Kleidungsstil kein Grund zum Lästern. Sie war selbst eigenwillig gekleidet.

Tirza befolgte den Sittencodex ihrer Glaubensgemeinschaft, der oft ihrem eigenen Geschmack widersprach. Ihre Eltern waren streng und vorbildlich linientreu. Sie erlaubten selbst in der Schule keine moderne Jeans oder enges T-shirt mit Aufdruck.

Alzira war in Brasilien auf verschiedenen internationalen Schulen. Die Tochter eines Diplomaten erlaubte sich immer wieder, gegen Normen zu verstoßen. Das hatte ihr etliche Strafversetzungen eingebracht. Die Erfahrung mit dieser Klasse 9 B war für sie neu. Sie wurde trotz ihrer Eigenwilligkeit toleriert. Wer Frau Fitz, die engagierte Lehrerin kannte, verstand, warum das so war. Sie vermittelte den Schülern beispielhaft den Wert der Vielfalt. Sie förderte die Gabe des Querdenkens, des selbst Denkens. Die beiden Mädchen Tirza und Alzira fanden, trotz ihrer gegensätzlichen Erfahrungen, die Gemeinsamkeiten und kamen sich näher.

Tirza befolgt zum Beispiel den Tipp der Freundin, ihren langen Rock im Bund hochzukrempeln, bevor sie das Schulgelände betritt. „So sieht es wenigsten etwas modischer aus“.

Leider verstand Alzira nur Bahnhof, wenn Tirza versuchte, über ihre Sorgen oder den Frust in ihrem Alltag zu sprechen. Tirza verwendete die Gruppensprache. Alzira kannte sie nicht. Es nervte Tirza, lang und breit zu erklären, dass der ‚Treue und verständige Sklave‘, die Leitung der Religionsgemeinschaft ist, und nicht, wie Alzira überrascht vermutete, Bedienstete der Zeugen Jehovas.

Tirza erzählte entrüstet von einem ‚Ältesten‘. Alzira fragte prompt, wie alt er sei. Da war wieder eine Erklärung fällig. Er war jung, aber zu einem ‚Ältesten‘ von der ‚Sklavenklasse‘ ernannt. Er hat sich die Beförderung mit Fleiß und Einsatz für die Interessen des, von den Zeugen Jehovas propagierten, himmlischen Königreiches Christi verdient. Er hatte die Voraussetzung der ‚Lehrfähigkeit‘. Das bedeutet im Zeugensprech, dass er die Glaubenslehren fehlerlos vertritt und weitergibt. Nur Männer werden für dieses Amt ernannt. Ehrgeizige Männer manchmal schon in jungen Jahren. Ihnen werden wichtige Positionen und Verantwortungen übertragen. Von den Mitgliedern der Versammlung wird Gehorsam ihren Anweisungen gegenüber gefordert, weil sie, wie es heißt, durch die Leitung des Heiligen Geistes, ernannt werden. Das sei ein biblischer Grundsatz, denn der Text in der Bibel gibt die Anweisung: ‚gehorcht denen, die unter euch die Führung übernehmen und seid unterwürfig‘.

Neulich erwähnte Tirza, dass ihre Mutter eine ‚Pionier-Verkündigerin‘ sei.

„Ich dachte, die Pioniere gab es bei Hitler“. Ups – schon wieder ein Erklärungsbedarf.

„Es bedeutet, dass meine Mutter Vollzeit predigt – äh nicht auf der Kanzel oder so, sondern sie hat sich dazu verpflichtet, wenigstens 90 Stunden im Monat nach Menschen zu suchen, die sich für unseren Glauben interessieren. Sie schafft das entweder von Tür zu Tür, auf der Straße oder bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Mit unseren Veröffentlichungen erklärt sie ihnen die Bibel. Wer die Prüfung mit den Tauffragen besteht, bekommt grünes Licht und wird Mitglied. Sie bringt ihnen halt unsere Glaubenslehren bei“.

„Boah, das ist ja krass“, fand Alzira. Sie schüttelt oft nur verständnislos den Kopf, wenn Tirza erklärt, dass sie aus Glaubensgründen keinen Geburtstag feiert oder nicht an einer Party teilnimmt.

Tirza wäre liebend gerne bei der Klassenfahrt dabei gewesen, doch in ihrer Familie ist eine Abweichung von dem ‚Rat‘ des ‚treuen und verständigen Sklaven‘ undenkbar. Es gab so viele Momente, in denen Tirza die Ausgrenzung aus der Klassengemeinschaft mit voller Wucht traf. Ihre seltsame Sprache war ein Grund. Doch ebenso die Verbote und Gebote. Sie hatte stets freundlich zu sein, gewissenhaft ihre schulischen Aufgaben zu erledigen. Die Klassenkameraden nannten sie Streberin. Tirza hatte sich so zu benehmen, dass es keinen Anlass dafür gab, ‚Schmach auf den Namen Jehovas‘ zu bringen. Davon hatten ihre Mitschüler keine Ahnung.

Tirza schaffte es mit exzellenten Noten, einem freundlichen, hilfsbereiten Wesen, bei den Lehrern, wegen des angepassten Verhaltens, beliebt zu sein. Für die Mitschüler war das vor allem in den jüngeren Jahrgängen oft ein Grund, sie zu mobben.

„Tirza, hahaha“, lachten sie. „Was ist das denn für ein komischer Name!“

Sie hatte keine Lust, diesen spottenden Kids zu erklären, dass ihre Mutter diesen Namen aus der Bibel gewählt hatte. Weil sie wie eine der fünf Töchter des israelitischen Mannes Zelophad, Anspruch auf ein Erbteil im neuen irdischen Paradies hatte.

Tief in ihre Gedanken versunken, stieg sie in die nächste Straßenbahn. Sie brauchte eine Strategie. Mama kannte sicher die Antwort. Durfte sie mit ihr reden? Es war ihr peinlich, dass sie die Frage nicht beantwortet hatte. Zu Hause angekommen, räumte sie nicht einmal ihre Sachen auf. Sie holte den Index aus dem Bücherschrank und suchte nach Erklärungen zu dem Bibeltext. Alle Wachtturm und Erwachet Jahrgänge, standen in Reih‘ und Glied da. Zusätzlich die Bücher und Broschüren sowie Druckschriften, aus dem Nachlass von ‚Glaubensbrüdern‘. Schon wieder so eine Eigenheit ihrer Sprache. Zeugen Jehovas waren alles ‚Brüder‘. Die weibliche Form der Anrede, Schwester, wurde nur in der persönlichen Anrede benützt.

Tirza war sicher, es bedurfte nur eines kurzen Nachschlagens und die Frage wäre geklärt. Sie fand prompt zwei Einträge. Im Band 1 des Lexikons ‚Einsichten über die Heilige Schrift‘ unter dem Stichwort Blut:

Da das Blut so eng mit den Lebensfunktionen verbunden ist, sagt Gottes Wort, die Bibel, die Seele sei im Blut: […] aus dem gleichen Grund, aber noch deutlicher auf diese Verbindung hinweisend, sagt die Bibel: „Die Seele von jeder Art Fleisch ist sein Blut“ (3. Mose 17:14). In Gottes Wort wird sowohl das Leben als auch das Blut als heilig betrachtet.

Tirza wundert sich, dass nur der Anfang des Verses zitiert ist. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass er ausdrücklich an die Israeliten gerichtet ist. Darum ist uns das bisher nicht aufgefallen. Diese Antwort wird Frau Winter nicht zufriedenstellen. Die zweite Quelle war das Erwachet vom 22. Oktober 1990, Seite 15. Tirza schlägt den Artikel auf und liest:

Die Wissenschaftler mit ihrer gesamten Intelligenz sind nicht in der Lage, alle Funktionen des Blutes zu verstehen, geschweige denn, sie nachzuahmen. […] Und wäre es nicht vernünftig, anzunehmen, daß dieser übermenschliche Schöpfer das gute Recht hat, zu bestimmen, wie das, was er geschaffen hat, gebraucht werden sollte? Die Bibel ist ein Buch, das sich in puncto Blut nicht in Schweigen hüllt. In 3. Mose 17:14 heißt es: „Die Seele von jeder Art Fleisch ist sein Blut.“ Natürlich nicht in buchstäblichem Sinne, denn die Bibel sagt auch, daß der lebende Organismus selbst die Seele ist. Vielmehr ist das Leben aller Seelen so abhängig von Blut und so eng damit verbunden, daß das Blut passenderweise als eine Flüssigkeit betrachtet wird, die das Leben repräsentiert und heilig ist.

Genau das ist unsere Einstellung, seit ich denken kann. Tirza erinnert sich an ungezählte peinliche Situationen beim Einkauf von Wurstwaren. ‚Wird für diese Wurst Blutplasma im Bindemittel verwendet‘? Hatte sie zu fragen. Die Verkäuferin war überfragt. Sie fragte den Chef und der versicherte regelmäßig, das wäre sicher nicht der Fall. Dann durfte die Wurst gekauft und mit gutem Gewissen gegessen werden.

Eines Tages kam wieder einmal ein ‚Kreisaufseher‘. Der Oberaufseher, der alle halbe Jahre in der Versammlung nach dem Rechten sah. Er redete davon, dass wir den ‚Weltmenschen‘ nicht vertrauen könnten.

Es war zum Mäusemelken, seit Alzira in der Klasse war, fand sie ihre eigene Sprache seltsam. ‚Weltmenschen‘ – sind nicht alle Menschen von dieser Welt? Schon, aber für uns Zeugen Jehovas bedeutet Welt eben automatisch ungut. Im Gegensatz zu uns, wir sind in der Wahrheit und nicht in der Welt. Darum sind wir die Untadeligen. Warum kommen mir oft Zweifel daran? Hat ‚Satan meinen Sinn verblendet‘?

Wie dem auch sei. Nach einer flammenden Rede des ‚Kreisaufsehers‘ darüber, dass alle gekochten Wurstwaren mit Bindemitteln, die Blutbestandteile enthalten, produziert werden, waren diese Produkte tabu. Aus die Maus. Bei Familie Pönnich wurde keine Kochwurst mehr gekauft. Die Hähnchen werden bei der industriellen Schlachtung nicht ausgeblutet, wetterte er. Folglich gab es bei uns keine Hähnchen mehr. Es wurde obsolet, den reisenden Aufsehern, die wir zu verköstigen hatten, solche verdächtigen Nahrungsmittel zu servieren.

Ein Königreich für ein gegrilltes Hähnchen, seufzte Tirza und wunderte sich, dass wieder nur der erste Satz des Bibeltextes aus dem 3. Buch Mose zitiert war und wieder gab es keinen Hinweis darauf, dass es nur ein Teilzitat ist. Wieder keine Erklärung dazu, warum diese Anweisung ausschließlich den Israeliten galt. Blut ein Synonym für Leben, das leuchtet ein. Doch wie ergibt sich daraus ein absolutes Verbot, Blut in geringsten Bestandteilen zu verwenden oder es medizinisch zu gebrauchen um Leben zu schützen?

Es half nichts, sie kam nicht umhin, mit Mama zu sprechen. Sie räumte ihre schwere ‚Verkündiger Tasche‘ auf. Warum fielen ihr in letzter Zeit so viele Sondervokabeln aus der Zeugen Sprache auf. ‚Verkündiger Tasche‘ – für Alzira war so eine schwere Ledertasche, die sie eigens bei einer Manufaktur von Zeugen Jehovas bestellt hatte, völlig fremd. Sie war in der Abmessung auf die Bücher und Druckschriften der Wachtturm Gesellschaft zugeschnitten und hatte eine säuberliche Innenausstattung, damit die Zeitschriften, Bücher, Haus zu Haus Notizbücher, Lexikon, Stifte übersichtlich und griffbereit parat waren. Alzira hatte keine Ahnung davon, wie schwer die vollbepackt auf die Schulter drückte. Nach drei Stunden ‚Haus zu Haus Dienst‘ wäre es direkt legitim, das Sklavendienst zu nennen. Mein Nacken ist dann verspannt und die Schultern schmerzen. Mama klagte oft über Migräne.

Beim Mittagessen, erzählte Tirza doch von Frau Winter und ihrer Frage zu dem Bibeltext. „Ich finde keine Erklärung, warum der Genuss von erstickten Tieren offenbar erlaubt war“.

„Seltsam, ich erinnere mich nicht, dass es dazu eine Abhandlung gab“, wundert sich Mama Margit. Sie beschlossen, in der Versammlungsbibliothek nachzuforschen.

Ein Schicksal berührt die Herzen.

Das Pausenzeichen unterbrach eine lebhaft geführte, kontroverse Diskussion der Klasse 9 B. Die Lehrerin, Frau Fitz, hatte mit der Klasse die Frage diskutiert, wie zeitgemäß Religion und Glauben sind. Die Schüler äußerten freimütig ihre Meinung dazu. Sie hatten den Bericht in der Tageszeitung gelesen. Die Mutter eines 4-jährigen Mädchens lehnte eine lebensrettende Bluttransfusion ab und starb nach der Geburt ihres zweiten Kindes. Es gab ein Bild von der Beerdigung und dem kleinen Mädchen am Grab. Die Großmutter äußerte sich entsetzt über die religiöse Haltung ihrer Schwiegertochter. Die Ärzte bedauerten, dass sich die Patientin nicht umstimmen ließ. Sie wählte lieber den Tod, als gegen ihr Glaubensgebot zu verstoßen. Sie hatten die zweifelsfreie Patientenverfügung zu beachten. Die Klasse war in zwei Lager gespalten. Die einen waren dafür, dass Patientenverfügungen unter allen Umständen zu respektieren seien. Andere fanden, dass eine religiöse Begründung nicht ausreicht, um über Leben oder Tod zu entscheiden. Es müssten ethische Komponenten hinzugezogen werden. Frau Fitz kannte ihre Klasse. Die Meinungen könnten sich verfestigen und zu einer Spaltung führen. Sie beobachtete, wie ihre Schützlinge ihren Disput fortsetzten. In kleinen Gruppen wurde das Für und Wider der Meinungen heftig debattiert. Die Mehrheit lehnte es entschieden ab, eine Mutter sterben zu lassen, weil es angeblich Gottes Wille sei. Vor allem vier Schüler, die sich im Laufe der Stunde in Rage geredet hatten, beobachtete Frau Fitz aufmerksam. Sie behielt sie im Auge, weil sie besorgt um Tirza war, die einzige Zeugin Jehovas in der Klasse. Es bestand die Gefahr, dass sie wegen ihres Glaubens angegriffen wird. Tirza hielt sich, üblicherweise, abseits von den Gruppen. Obwohl sie zu allen Mitschülern freundlich war. Sie war ein hochaufgeschossenes, schlankes Mädchen, das niemals mit Jeans in die Schule kam. In ihren bunten Röcken, die ihre Beine manchmal fast bis zu den Knöcheln bedeckten, grenzte sie sich optisch von den übrigen Schülern aus. An diesem Tag trug sie ihre lachsfarbene Hemdbluse ordentlich bis zum letzten Knopf geschlossen. Sie benützte ein dezentes Augen-Make-up, das ihre großen, dunklen Mandelaugen betonte. Auffallend war ihr kastanienbraunes, gelocktes Haar, das ihr über die Schulter reichte. Frau Fitz hatte nie beobachtet, dass sie Markenkleidung oder -schuhe trug. Bei Schmuck war sie zurückhaltend. Sie hatte eine Armbanduhr und zwei silberne Ringe an ihren feingliedrigen Ringfingern. Wer sie aufmerksam beobachtete, sah ein sensibles Mädchen, das nur verhalten, aber prägnant gestikulierte. Sie vermittelte den Eindruck, als läge ein düsterer Schleier über ihr. So wirkte sie eher wie eine reife Frau und nicht wie eine lebensfrohe 17-Jährige.

Sie ertrug Alzira scheinbar ungerührt, die wild gestikulierend auf sie einredete. Sie stand fast reglos da, die linke Hand mit ihrer rechten fest umklammert. Für Tirza eine charakteristische Haltung.

Alzira hatte wieder eine schwarze Frisur mit lila Strähnchen. Kurz und asymmetrisch geschnitten, war es ein Struwwelkopf. Piercings zierten ihre Ohren und die linke Augenbraue. Alzira liebte kräftiges Make-up und grell mehrfarbig lackierte Fingernägel. An diesem Tag trug sie eine rund ausgeschnittene, mit exotischem Muster bedruckte Tunika zu ihren Marken-Jeans. Ihre Hochplatowschuhe waren, wie immer, ein Hingucker. Alzira genießt es, den Wohlstand ihrer Eltern zu zelebrieren. In den vergangenen Monaten ist sie zu einer engagierten Schülerin mutiert, die von der Klasse bewundert wird. Ihr Wort gilt bei den Mitschülern.

Diese Entwicklung hätte Frau Fitz vor einem Jahr nicht unbedingt erwartet. Alzira protestierte trotzig gegen die Entscheidung ihrer Eltern, von Brasilien, der Heimat ihrer Mutter nach Deutschland, der Heimat ihres Vaters zu ziehen. Sie hatte Schwierigkeiten mit der Sprache und dem Land. Sie wurde von ihrer Mutter offenbar darin bestärkt, nur das Allernötigste zu tun und ihren Aufenthalt nur vorübergehend zu akzeptieren. Doch je mehr Freunde Alzira an der Schule fand, desto ehrgeiziger wurde sie, was sich positiv auf ihre schulischen Leistungen auswirkte.

Alzira war mit Timo zusammen. Er war die Leitfigur bei den Jungen in der Klasse. Timo war in einer Kampfsportgruppe und trainierte Judo und Teak Wan Do. Er war sportlich lässig gekleidet und ließ seine Tattoos von den Mitschülern bewundern. Der Mehrzahl der Klassenkameraden wurden Tattoos von den Eltern nicht erlaubt oder die finanziellen Mittel erlaubten sie nicht. Timo sah die Welt pragmatisch. Leben und leben lassen. Diese harmlosen Spinner, die ihre Heftchen auf der Straße hochhielten oder ab und zu an der Haustüre klingelten, hatten ihn bisher nicht sonderlich interessiert. Sie trollten sich immer brav, wenn man kein Interesse hatte. Religion war für ihn sein Sport. Er sah bisher keinen Grund, das zu ändern.

Der Vierte in der Gruppe war Mark. Er war das Sorgenkind der Lehrerschaft. Sein Vater war Alkoholiker. Nach der Scheidung seiner Eltern fand die Mutter Arbeit im Kaufhaus. Doch wegen der momentanen Wirtschaftskrise wurde sie entlassen. Sie leben von Harz 4, was die Wünsche eines 17-Jährigen nur unzureichend befriedigte. Mark hatte wenig Selbstvertrauen. Alzira und Timo waren seine Freunde. In der Schule waren die drei immer zusammen. Doch in der Freizeit war Mark oft allein. Frau Fitz registrierte häufig einen bedrückten, mit Sorgen beladenen Jungen. Sie beobachtete, dass ihm die stille Tirza gefiel. Aber Tirza schloss sich niemandem in der Klasse an. Sie stand grundsätzlich abseits.