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Magisterarbeit aus dem Jahr 2008 im Fachbereich Soziologie - Allgemeines und Theorierichtungen, Note: 1,0, FernUniversität Hagen, Sprache: Deutsch, Abstract: Wenn ein Mensch mit einem Körper weiblichen oder männlichen Geschlechts zur Welt kommt, sich mit diesem aber nicht identifizieren und die damit verbundenen Rollen- und Verhaltensanforderungen nicht erfüllen kann spricht man von einer Störung der Geschlechtsidentität. Kommt ein dringender Wunsch hinzu, den eigenen Körper an den des anderen Geschlechtes mittels medizinischer Maßnahmen anzupassen, spricht man von Transsexualität beziehungsweise von Transidentität. Bisher wurde dieses Thema aus psychologischer, medizinischer, politischer und historischer Perspektive wissenschaftlich bearbeitet. Das Anliegen dieser Arbeit ist es, diesen interdisziplinären Umgang mit dem Thema durch einen soziologischen Blickwinkel zu erweitern. Hierzu sollen zunächst die bestehenden Ansätze vorgestellt werden: So beschäftigt sich der zweite Teil der Arbeit mit Transidentität als Krankheit. So wird herausgearbeitet, wie sowohl im medizinischen als auch im psychologischen Kontext mit Transidentität umgegangen wird, wobei diese beiden Bereiche eng miteinander verknüpft sind. Dabei werden die Probleme der Symptomatik, Diagnostik und der Differentialdiagnostik diskutiert, die eher in den Bereich der Psychologie fallen. Die Medizin beschäftigt sich vorwiegend mit der hormonellen und chirurgischen Umsetzung des Wunsches nach einem Geschlechtswechsel. Auch darauf wird näher eingegangen. Des Weiteren wird das Phänomen der Transidentität aus historischer Sicht betrachtet, wobei der Schwerpunkt auf dem Wandel der begrifflichen Verwendung liegt. Im Folgenden wird Transidentität aus juristischer Perspektive betrachtet. Hierbei wird das geltende Transsexuellengesetz vorgestellt. Dieses regelt alle Fragen der Namens- und Personenstandsänderung und ermöglicht ein Zustandekommen scheinbarer Paradoxien. So kommt es vor, dass eine transidente Person bereits ihren Vornamen geändert hat, aber in ihren Personalien noch in ihrem ursprünglichen Geschlecht aufgeführt ist. Auf diese Weise kommt es zu Formulierungen wie „Herr Marliese Müller“, oder „Frau Matthias Meier“. Der dritte Teil der Arbeit beschäftigt sich mit der Methode des narrativen Interviews.
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Transsexualität/Transidentität Evelyn Kleinert
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Transsexualität/Transidentität.
Die Betrachtung zwei erzählter Lebensgeschichten vor dem Horizont der
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Vorwort
Die Fragen nach der Geschlechtszugehörigkeit beschäftigen mich schon seit einigen Jahren. Dieses Feld warf für mich immer wieder Fragen auf, die zum Teil auch unbeantwortet blieben. Vor diesem Hintergrund wollte ich mich in meiner Abschlussarbeit ursprünglich mit der Konstruktion von Geschlecht und somit von „Männlichkeit“ und „Weiblichkeit“ auseinandersetzten. Während der Literaturrecherche stieß ich schließlich auf Berichte über transsexuelle beziehungsweise transidente Menschen. So war mein Interesse geweckt und meine Abschlussarbeit hatte eine neue Ausrichtung.
An dieser Stelle möchte ich meinem Betreuer Prof. Dr. Dr. Heinz Abels dafür danken, dass er einem solch exotischen Thema offen gegenüber steht und als Thema für die Magisterarbeit angenommen hat.
Weiterhin danke ich meinem Mentor Dr. Thomas Schäfer und der Leipziger Studiengruppe, für die vielen Anregungen, Hilfestellungen und spannenden Diskussionen. Ich danke Kerstin Dittrich für die große Hilfe bei der Auswertung der Interviews und die kritische Auseinandersetzung mit der Methode.
Sarah Linke, Sonja Kühnle, Nicole Mörsch, Anne Cordes und Falk Hahmann danke ich für das Lesen, Anmerkungen machen, Kritisieren und natürlich für das entgegengebrachte Interesse. Prof. Dr. Elmar Brähler und Katrin Rockenbauch von der Abteilung Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie danke ich für ihr Interesse und die Literaturhinweise. Ganz besonderer Dank gebührt meinen InterviewpartnerInnen und sowie den beiden Selbsthilfegruppen für ihre Offenheit und ihre Unterstützung.
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5.1 „Ich gehörte meinem biologischen Geschlecht nie richtig an.“
„Identität“ als Kontinuität und Gleichheit in der Zeit ................................................. 70
5.2 „Die anderen müssen mich in meinem Wunschgeschlecht erkennen“
Die Bedeutung der Interaktion für die Identität .......................................................... 73
5.3 Die Inszenierung der Identität ...................................................................................... 79
6 Zusammenfassung .............................................................................................................. 91
Literaturverzeichnis ............................................................................................................... 93
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Wenn ein Mensch mit einem Körper weiblichen oder männlichen Geschlechts zur Welt kommt, sich mit diesem aber nicht identifizieren und die damit verbundenen Rollen- und Verhaltensanforderungen nicht erfüllen kann spricht man von einer Störung der Geschlechtsidentität. Kommt ein dringender Wunsch hinzu, den eigenen Körper an den des anderen Geschlechtes mittels medizinischer Maßnahmen anzupassen, spricht man von Transsexualität beziehungsweise von Transidentität.
Bisher wurde dieses Thema aus psychologischer, medizinischer, politischer und historischer Perspektive wissenschaftlich bearbeitet. Das Anliegen dieser Arbeit ist es, diesen interdisziplinären Umgang mit dem Thema durch einen soziologischen Blickwinkel zu erweitern.
Hierzu sollen zunächst die bestehenden Ansätze vorgestellt werden: So beschäftigt sich der zweite Teil der Arbeit mit Transidentität als Krankheit. So wird herausgearbeitet, wie sowohl im medizinischen als auch im psychologischen Kontext mit Transidentität umgegangen wird, wobei diese beiden Bereiche eng miteinander verknüpft sind. Dabei werden die Probleme der Symptomatik, Diagnostik und der Differentialdiagnostik diskutiert, die eher in den Bereich der Psychologie fallen. Die Medizin beschäftigt sich vorwiegend mit der hormonellen und chirurgischen Umsetzung des Wunsches nach einem Geschlechtswechsel. Auch darauf wird näher eingegangen. Des Weiteren wird das Phänomen der Transidentität aus historischer Sicht betrachtet, wobei der Schwerpunkt auf dem Wandel der begrifflichen Verwendung liegt. Im Folgenden wird Transidentität aus juristischer Perspektive betrachtet. Hierbei wird das geltende Transsexuellengesetz vorgestellt. Dieses regelt alle Fragen der Namens- und Personenstandsänderung und ermöglicht ein Zustandekommen scheinbarer Paradoxien. So kommt es vor, dass eine transidente Person bereits ihren Vornamen geändert hat, aber in ihren Personalien noch in ihrem ursprünglichen Geschlecht aufgeführt ist. Auf diese Weise kommt es zu Formulierungen wie „Herr Marliese Müller“, oder „Frau Matthias Meier“.
Der dritte Teil der Arbeit beschäftigt sich mit der Methode des narrativen Interviews. Es wird erläutert, warum die Wahl auf eine qualitative Forschungsmethode im Allgemeinen und das narrative Interview im Speziellen gefallen ist. Auch auf die Art der Stichprobe und auf die Art des Feldzuganges wird näher eingegangen. Bei den Befragten handelt es sich zum einen um eine Mann-zu-Frau-Transsexuelle, die sich im Alter von 49 Jahren entschieden hat, ihr Leben kontinuierlich als Frau führen zu wollen. Der zweite Interviewpartner ist ein 22jähriger Mann, der als Mädchen zur Welt gekommen ist. Anhand dieser Interviews sollen die jeweiligen Lebensgeschichten anhand der Methode von Gabriele Rosenthal rekonstruiert werden.
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Im vierten Teil dieser Arbeit geht es darum, die beiden Lebensgeschichten in Bezug zu einigen soziologischen und psychologischen Identitätstheorien zu setzten. Das unter 3.2.1. beschriebene induktive Vorgehen führt zur Auswahl der theoretischen Positionen von Erik H. Erikson, George Herbert Mead und von Erving Goffman.
So handelt es sich bei dieser Arbeit um eine Theoriekombination, bei der psychologische und soziologische Basistheorien miteinander verknüpft werden.
Das Konzept von Erikson fokussiert die Entwicklungsfähigkeit der Identität, und zwar über den gesamten Lebenszeitraum. Dabei geht Erikson neben der Veränderbarkeit der Identität auch von einer gewissen Gleichheit und Kontinuität aus. Diese Kontinuität herzustellen, ist eine Aufgabe, die an jedes Individuum gestellt wird. Mit der Theorie des symbolischen Interaktionismus von George Herbert Mead und der Theorie der personalen und sozialen Identität nach Erving Goffman soll das Problemfeld der Geschlechtsidentität aus soziologischer Perspektive betrachtet werden. Mead rückt das jeweilige Gegenüber in den Mittelpunkt der Untersuchung. So entsteht die Identität laut Mead erst, indem sich das Individuum vorstellt, was seine Mitmenschen von ihm halten, d.h. aus einer Kombination von Selbst- und Fremdbild. Auch bei Goffman kommt dem sozialen Gegenüber eine entscheidende Bedeutung zu. Er betrachtet das Individuum als eine Art Schauspieler, der sich selbst spielt. So nimmt er an, dass das Individuum ein Interesse daran hat, den Eindruck den es vermittelt, zu kontrollieren. Nach einer inhaltlichen Zusammenfassung der Ergebnisse im fünften Teil der Arbeit, folgt eine kritische Auseinandersetzung im sechsten Teil. Hierbei sollen die Schwierigkeiten benannt werden, die in Bezug auf die Umsetzung des theoretischen Anspruchs des narrativen Interviews aufgetreten sind.
Methodische Bemerkung zum Umgang mit Personalpronomen:
Die in dieser Arbeit erwähnten Personen werden in dem Geschlecht angesprochen, welches sie zum jeweiligen Zeitpunkt ausleben. Damit wird ein Geschlechtswechsel in Form der entsprechend veränderten Personalpronomen verdeutlicht. Auch wenn sich andere AutorInnen aus Gründen der besseren Lesbarkeit und Verständlichkeit dafür entscheiden, bei dem Ursprungsgeschlecht zu bleiben, möchte ich aus Respekt vor dem Wunsch der Betroffenen nach Anerkennung in ihrem Identitätsgeschlecht über sie berichten. So kommt es vor, dass innerhalb der Einzelfallrekonstruktionen aus dem kleinen Jungen eine erwachsene Frau wird und aus dem Mädchen ein Mann.
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Da es sich bei Transidentität um eine Störung der Geschlechtsidentität1handelt, sollen an dieser Stelle kurz einige Begriffe erläutert werden.
Die Geschlechtsidentität bezeichnet einen zentralen, in der kindlichen Sozialisation erworbenen Bestandteil des Selbstkonzeptes. In der Regel ist die Ausrichtung der Geschlechtsidentität irreversibel. Sie beruht auf der Vorstellung der Geschlechterkonstanz und geht mit einer mehr oder minder generalisierenden und typisierenden Selbst- und Fremdwahrnehmung einher. Neben den genitalen Unterschieden bilden die Geschlechtsrollen und Geschlechtsstereotype, die geschlechtsspezifischen Aktivitäts- und Emotionalitätsmuster mit ihren kulturellen Wertungen den Inhalt der Geschlechtsidentität (Wienold 1995, S. 235).
Eingebettet ist die Geschlechtsidentität in das Konzept der Identität. Sie ist ein Teil davon. Der Begriff „Identität“ (lat. idem, „dasselbe“), als eine psychoanalytisch-sozialpsychologische Bezeichnung, beschreibt ein kontinuierliches inneres Sich-Selbst-Gleichsein. So entsteht durch die dauerhafte Übernahme bestimmter gesellschaftlicher Rollen und Gruppenmitgliedschaften und deren Anerkennung von Außen eine Kontinuität im Selbsterleben eines Individuums (Hörnig, Klima 1995, S.66).
Die Übernahme bestimmter gesellschaftlicher Rollen beinhaltet ein entsprechendes kommunikatives Handeln zwischen Interaktionspartnern, die sich an Normen orientieren, welche unabhängig von einem gerade aktuellen Interaktionsprozess bestehen. “Unter Rollen sind folglich sozial definierte und institutionell abgesicherte Verhaltenserwartungen zu verstehen, die komplementäres Handeln von Interaktionspartnern ermöglichen. Die Rollenpartner teilen somit Bedeutungssysteme, die umgangssprachlich definiert werden. Rollen zu lernen, bedeutet daher zugleich auch, Klassifikationsregeln zu lernen, in denen eingefangen ist, was in einer Rolle für relevant gehalten wird.“ (Krappmann 2000, S.98) Transgender versus Transidentität
Ein weiterer Begriff, der in den Diskussionen so genannter „queerer“ Ansatzpunkte häufig auftaucht, heißt „Transgender“. Damit war in den siebziger Jahren eine spezifische Form der Transidentität gemeint, bei der die Betroffenen ihr soziales Geschlecht wechseln, ohne das anatomische Geschlecht hormonell oder chirurgisch zu verändern (vgl. Kap.2.3). Seit Beginn der neunziger Jahre fungiert „Transgender“ eher als eine Art Sammelbegriff für die unterschiedlichsten Formen und Praxen uneindeutiger geschlechtlicher Existenzweisen (Beger
1Die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD, engl.: International Classification of Diseases) ordnet Transidentität zu m einen zu den „Störungen der Geschlechtsidentität“: ICD-10: F64.0, sowie zu den „Sexuellen und Geschlechtsidentitätsstörungen“: DSM-IV (Sonnenmoser 2008, S. 174).
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et al. 2002, S. 210). So zählen neben Transidenten auch Transvestiten, Cross-Dresser (Menschen, die zumindest zeitweise die Kleidung des anderen Geschlechts tragen), Drag Kings (Frauen, die in einer „männlichen“ Rolle auftreten), Drag Queens (Männer, die in einer „weiblichen“ Rolle auftreten) und bewusst androgyne Menschen zur Kategorie Transgender (Sonnenmoser 2008, S. 174f) Gleichzeitig wird im Begriff „Transgender“ implizit eine Kritik an Transidentität formuliert.
So wird unter „Transgender“ eine Kritik am Paradigma der Zweigeschlechtlichkeit verstanden, welche von gesellschaftlichen Zwängen befreien soll, in dem es Geschlechtergrenzen überschreitet oder ad absurdum führt. „Transidentität“ hingegen fügt sich als Konzept nahtlos an die Idee der Geschlechterbinarität (vgl. Kap. 4.2).
Die Begriffe Transidentität und Transsexualität werden in der Literatur synonym verwendet. Der häufiger gebrauchte Begriff der Transsexualität scheint zu induzieren, dass es sich um eine Störung der Sexualität handelt. Transidentität ist jedoch keine sexuelle Deviation, kein Problem der Sexualität, sondern vielmehr ein tiefer greifendes Problem der Geschlechtsidentität. Deshalb habe ich mich entschieden in der vorliegenden Arbeit den Begriff der Transidentität zu verwenden, unabhängig von der Begriffswahl in der zitierten Originalliteratur. Der Begriff Transidentität kann jedoch ebenfalls irreführend sein, da sich auch die Identität der Betroffenen nicht unbedingt verändert. Diese wird häufig als konstant wahrgenommen. Was sich verändert, beziehungsweise verändern soll, ist der als „falsch“ erlebte Körper (vgl. Kap.2).
Um den Begriff „Transidentität“ in einem Satz zu definieren, ließe sich feststellen: Transidente Menschen leben in der ständigen inneren Gewissheit, sich im falschen Körper zu befinden. Sie empfinden sich eigentlich dem anderen Geschlecht zugehörig (de Silva 2005; Eicher 1992; Reinhardt 2005; Rüffer-Hesse, Hartmann 2004, Sonnenmoser 2008).
Ihr Selbstbild widerspricht somit ihrer körperlichen Erscheinung. Sie nehmen ihr körperliches Geschlecht zwar realistisch wahr, empfinden dieses aber als subjektiv falsch. Dabei werden sowohl die körperlichen Merkmale des Ursprungsgeschlechts abgelehnt, als auch die daran geknüpften gesellschaftlichen Rollenanforderungen. Dabei leiden die Betroffenen sehr unter der Diskrepanz zwischen der erlebten Geschlechtsidentität und den körperlichen Voraussetzungen. Sie versuchen den Leidensdruck dadurch zu mindern, indem sie die typische Kleidung des Gegengeschlechts tragen, entsprechendes Ausdrucks- und Rollenverhalten erlernen und mit Hilfe von hormonellen und chirurgischen Eingriffen versuchen, den Körper an das subjektive Erleben anzugleichen.
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Auf der rechtlichen Ebene versuchen die Betroffenen den Vornamen und den Personenstand, die jede Person in ihren Ausweisen einem Geschlecht zuordnen, der erlebten Geschlechtidentität anzupassen (Reinhardt 2005, S.6; de Silva 2005, S. 261; Rüffer-Hesse, Hartmann 2004).
Die Transidentität kann bei beiden Geschlechtern auftreten. So gibt es biologische Männer, die sich selbst als Frauen wahrnehmen, so genannte Mann-zu-Frau-Transidente (MzF). Und es gibt biologische Frauen, die sich als Männer identifizieren, Frau-zu-Mann-Transidente (FzM). Außerdem unterscheiden einige AutorInnen noch zwischen homosexuellen und nichthomosexuellen Transidenten (Smith et al. 2005). Daran zeigt sich, dass die Transidentität unabhängig von der sexuellen Orientierung besteht.
In Bezug auf die Epidemiologie stellt Reinhardt (2005, S. 9) fest, dass heute ca. 8000-10000 transidente Menschen in Deutschland leben. Sonnenmoser (2008, S. 174) spricht von 2000-6000 Betroffenen.
Über die Entstehung von Transidentität bestehen derzeit unterschiedliche Annahmen: Vermutungen über somatische Ursachen reichen von einer hormonellen Beeinflussung des Fötus mit gegengeschlechtlichen Hormonen während der Schwangerschaft, über Störungen in nicht genauer identifizierbaren Arealen des Gehirns, bis hin zu Störungen des Glykoproteinhaushaltes (Green 2007, S. 121f). Als psychodynamische Ursache wird ein zum Teil unbewusster Wunsch der Eltern vermutet, ein Kind anderen Geschlechts zu haben. Auch ein Fehlen des gleichgeschlechtlichen Elternteils, oder dessen negative Besetzung stehen im Verdacht, eine positive Identifikation mit dem eigenen Geschlecht zu verhindern (Sonnenmoser 2008, S. 175). Unter den Betroffenen und ihren Angehörigen ist die Annahme eines angeborenen Defektes weit verbreitet. Diese Meinung wird zum Teil auch von den behandelnden PsychologInnen und ÄrztInnen vertreten. Keine dieser Annahmen konnte sich bisher in als anerkannte Lehrmeinung durchsetzen. Da eine Prüfung einer solchen These den Rahmen einer Magisterarbeit sprengen würden, wird Transidentität für diese Arbeit als ein soziales Faktum vorausgesetzt.
Die Frage nach der Entstehung von Transidentität, lässt sich nicht in dem Sinne beantworten, dass ein Zeitpunkt in der Geschichte auszumachen wäre, an dem dieses Phänomen zum ersten Mal aufgetreten ist. Vielmehr wird angenommen, dass es Transidentität in allen Kulturen und zu jeder Zeit gab. Hirschauer vergleicht Transidentität mit einem seltenen Insekt oder einem neuen Elementarteilchen, das nur endlich im 20. Jahrhundert entdeckt wurde, „d.h. korrekt beschrieben, von anderen Syndromen abgetrennt und schließlich erfolgreich behandelt“ (Hirschauer 1992, S.55), auch wenn die Resultate der medizinischen Behandlung noch recht unvollkommen und für die meisten Betroffenen nicht vollends zufrieden stellend sind.
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Weiter schreibt Hirschauer über die Bedeutung der Medizin: „In der Medizin wird also meist mit dem Konzept der Transsexualität geographische und historische Universalität beansprucht.“ (Hirschauer 1992, S.55) Das heißt, dass verschiedenste Phänomene des Geschlechtswechsels in anderen Kulturen und Epochen aus heutiger Perspektive und mit heutigen Konzepten betrachtet und unter dem Begriff der Transsexualität zusammengefasst werden. Die fortlaufende Erneuerung des Konzepts hat dazu geführt, dass die Sexualwissenschaft des 20. Jahrhunderts Transsexuelle identifiziert, wo die des 19. Jahrhunderts „Homosexuelle“ erkannte und die Medizin des 17. Jahrhunderts über „Hermaphroditen“ sprach. So kommt es im Laufe der Geschichtsschreibung zu einer zunehmenden Ausdifferenzierung von heute als verschieden betrachteter Phänomene.
Hirschauer geht es nicht darum, die Einheit des Gegenstandes mit einem Ursprung zu unterstellen und sagt mit Foucault: „Das tröstliche Spiel der Wiedererkennung ist zu sprengen. Wissen bedeutet auch im historischen Bereich nicht ‚wiederfinden’ und vor allem nicht ‚uns wiederfinden’“ (Foucault 1977 zit. nach Hirschauer 1992, S.56) Vielmehr geht es ihm um eine Genealogie des Gegenstandes, um „eine ‚Ahnenreihe’ von Phänomenen mit zunächst verworrenen Verwandtschaftsverhältnissen.“ (Hirschauer 1992, S.56) In Bezug auf Transidentität besteht die Verwandtschaft zu den Konzepten der Homosexualität und des Hermaphroditismus, die Hirschauer in einem allgemeinen gesellschaftlichen Problem sieht: der Unterscheidung von Geschlechtern. Die Aussagekraft von anatomischen Unterschieden und die Einteilung von Menschen in die zwei Kategorien „männlich“ und „weiblich“ stellt eine kulturelle Leistung dar und ist nicht vordiskursiv vorhanden (vgl. Butler 1995, Hirschauer 1992). Hirschauer definiert zwei routinemäßige Methoden, durch welche die Geschlechtszugehörigkeit durch die Gesellschaft konstruiert wird. Zum einen ist dies die Inspektion der Genitalien eines jeden Neugeborenen und zum anderen „die ‚Alltagsmethode’ der kommunikativen Geschlechtszuschreibung aufgrund von Kleidung, Mimik, Habitus usw.“ (Hirschauer 1992, S. 56) Irritationen entstehen bei diesen Routinen, wenn die Geschlechterkategorien sowohl in ihrer Eindeutigkeit, als auch in ihrer Konstanz bedroht werden. In der abendländischen Kultur führten
- uneindeutige Genitalien in der Geburtssituation (Hermaphroditismus)
- die Wahl gleichgeschlechtlicher Partner für sexuelle Kontakte (Homosexualität)
- die Öffentliche Beanspruchung der Darstellungsweisen und des Titels des anderen Geschlechts (Transidentität)
zu Problemen bei der Kategorisierung. Um mit solchen Problemfällen umzugehen, wurden Sonderverfahren der Geschlechtsbestimmung entwickelt. Damit verbunden waren jeweils verschiedene Formen der Diagnose und Benennung, politische und juristische Verfahren der Zuweisung, sowie technische Methoden der Geschlechtsdetermination.