Traumatisierte Kinder in der Schule - Helga Kohler-Spiegel - E-Book

Traumatisierte Kinder in der Schule E-Book

Helga Kohler-Spiegel

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Beschreibung

Traumatisierungen finden wir nicht nur bei Kindern und Jugendlichen mit Kriegs- und Fluchterfahrungen. Die Anlässe und Ursachen sind vielfältig, ebenso wie die Reaktionen der Kinder. Helga Kohler-Spiegel informiert mit Schaubildern, wie unser Gehirn auf traumatischen Stress reagiert und welche Symptome sichtbar werden. Fallbeispiele aus der Praxis und Übungen zeigen anschaulich, wie Lehrkräfte Kinder mit Traumatisierungen erkennen, in der Akutsituation unterstützen und langfristig stabilisieren können. So wird deutlich, welche Möglichkeiten Lehrkräfte haben, Schule als guten Ort für Kinder und Jugendliche zu gestalten.

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Cover

Haupttitel

Inhalt

Über die Autorin

Über das Buch

Impressum

Hinweise des Verlags

Helga Kohler-Spiegel

Traumatisierte Kinder in der Schule

verstehen – auffangen – stabilisieren

Patmos Verlag

Inhalt

Vorwort

Es beginnt im Guten … Frühe Erfahrungen am Beginn des Lebens: Bindung

Wenn dem nicht so ist …

Was ist ein Trauma?

Zum Begriff

Ursachen und Differenzierungen

Menschen mit Fluchterfahrungen

Zurück zu den Kindern: Traumatisierung Eine Annäherung, ein erstes Verstehen

Der Stress bleibt

Überlebensstrategien

Was passiert im Gehirn? Traumaverursachte Veränderungen im Gehirn

Reaktionsmuster und Überlebensstrategien

Das Notprogramm

„Häschen“ und „Denker“

Andere Darstellungen – ein Beispiel

Enttraumatisierungsprogramme

Wenn die Unterstützung fehlt … Posttraumatische Belastungsstörung

Was ist eine Posttraumatische Belastungsstörung?

Unterscheidungen in der Diagnose

Zentrale Symptome

Symptome bei Kindern und Jugendlichen

Trigger und die Gefahr von Retraumatisierung

Ein Zwischenstopp, eine kurze Zusammenfassung

Traumatisierte Kinder und Jugendliche – Möglichkeiten der Unterstützung in der Schule

Grundlegend: Was ist zu tun?

Die pädagogische Fachperson, das heißt: mich selbst im Blick haben

Pädagogische Einrichtungen: Ein „guter Ort“ für Kinder und Jugendliche

Selbstberuhigung lernen: konkrete Impulse

Für Kinder mit Fluchterfahrungen

Was auch passieren kann: Besondere Kinder in besonderen Situationen

Was ist im akuten Notfall zu tun?

Bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung

Unterstützungssysteme und professionelle Hilfen

Und was macht Traumatherapie?

Ein Exkurs: Krisenintervention

Traumatisierte Kinder in der Schule verstehen – auffangen – stabilisieren Ein vorläufiger Schluss

Literatur

Vorwort

Das Leben schlägt Wunden. Körperlich wie seelisch. Wir sind es gewohnt, in einem Erste-Hilfe-Kurs medizinisches Grundwissen zu entwickeln, um schnell zu helfen. Für den „psychischen Notfall“ und dessen Erstversorgung gibt es so etwas nicht. Warum eigentlich nicht? Die Nicht-Ver­sorgung eines medizinischen Notfalls ist gravierend und ist als „unterlassene Hilfeleistung“ strafbar. Die Nicht-Versorgung eines psychischen Notfalls ist genauso fatal (vgl. Krüger 2015, 18).

Kinder und Jugendliche mit Kriegs- und Fluchterfahrun­gen haben unser Bewusstsein und den Blick für Trauma­tisierungen auch im pädagogischen Kontext geschärft. Und es wurde deutlich: Anlässe und Ursachen für Traumatisierungen bei Kindern sind vielfältig, ebenso die Reaktionen und die längerfristigen Symptome.

Eine erste Szene: Selina, ein etwa sechsjähriges Kind, erlebt einen Hunde-Angriff. Die Aufmerksamkeit ist auf die medizinische Versorgung der Verletzungen gerichtet. Die emotionale Beruhigung durch die Nähe eines zugewandten Menschen und der Abbau der inneren Er­regung werden wenig beachtet.

Es kann auch uns selbst betreffen …

Dieses Buch handelt nicht nur von Kindern, sondern auch von uns selbst. Zumindest manchmal. Denn wir selbst waren Kinder, und wir selbst erleben auch als Erwachsene Situationen, die traumatisierend sein können. Daher gilt auch für uns, was im Buch an Hilfen für Kinder beschrieben ist. Scheuen Sie sich nicht, auch Ihrer Seele Hilfe zu leisten oder für Ihre Seele Hilfe zu holen.

Es beginnt im Guten … Frühe Erfahrungen am Beginn des Lebens: Bindung

Zuerst: Der Beginn unseres Lebens war – hoffentlich – begleitet.

Stellen Sie sich vor: Sie tragen ein Baby auf dem Arm, Sie lächeln das Kind an, das Kind nimmt Ihre Gesichtszüge wahr, es nimmt diese auf und lächelt zurück. Sie lächeln wieder, Sie verknüpfen das Lächeln mit Worten, vielleicht mit einem Summen, einer Melodie. Das Kind nimmt zu den Gesichtszügen den Klang Ihrer Stimme auf, es reagiert mit seinen Möglichkeiten, immer in Resonanz zu Ihrem Ausdruck. So entsteht Dialog, so wächst Bindung.

Für den Aufbau dieser frühen Bindung ist der Blickkontakt mit dem Baby von zentraler Bedeutung. Über die Augen werden die Gefühle miteinander abgestimmt und koordiniert.

Stellen Sie sich nochmals vor: Sie tragen ein kleines Kind auf dem Arm, Sie reagieren auf das Baby, und das Baby reagiert auf Sie. Jede Handlung und jede Veränderung werden vom Reden begleitet, was immer Sie tun, begleiten Sie mit Worten. Und selbstverständlich gehören zu dieser Fein-Abstimmung Berührung und Körperkontakt. Auch dies ist von zentraler Bedeutung: Sie sind auch körperlich mit dem Baby in Beziehung, Sie tragen das Baby und stillen bzw. nähren es, Sie wickeln und baden es, Sie cremen es ein, Sie liebkosen und streicheln es.

Intuitiv verstärken Erwachsene die Mimik, erhöhen die Stimme, unterstützen die Kommunikation mit intensivem Gesichtsausdruck. Durch Stimme und Worte, durch körpersprachliches Zuwenden erfährt das Kind die Botschaft: „Ich sehe dich, ich komme mit dir in Kontakt, ich bin da.“ Vermutlich ist es gut verständlich, dass diese Botschaft wohltut: „Ich bin ganz da für dich.“ Im Gegenüber lernt bereits das Baby, die Gesichtszüge der Bezugsperson wahr­zunehmen und zu verstehen. Es lernt, wie sich Gefühle im Gesicht zeigen, wie Reaktionen gesteuert werden können, wie ein Hin und Her, ein Dialog entsteht. Das Baby wird angeregt, auf die Mimik und Stimme zu reagieren – das Gehirn ist hoch aktiv, schafft Verknüpfungen, bildet sich aus.

Für menschliches Lernen sind diese Erfahrungen zentral. Denn das Baby lernt dadurch auf kognitiver Ebene,

dass sein Verhalten eine Reaktion bei seiner Bezugsperson verursacht und herbeiführt, dass es also mit seinem Tun andere steuern und etwas bewirken kann;dass es vorhersehbare Zusammenhänge zwischen Ereignissen gibt, was die Welt durchschaubar, steuerbar und sicher macht.

Es lernt emotional,

dass die Bezugsperson ihre Reaktion auf den Erregungszustand des Babys abstimmt und diesen reguliert. Damit kann das Kind im Verlauf der Entwicklung auch lernen, sich selbst zu regulieren und zu beruhigen;dass seine Gefühle verstanden werden, dass es Trost spen­det, wenn man die eigenen Gefühle mitteilt und teilt.

Dies bildet – neben angeborenen Anteilen – die Grundlage der Persönlichkeit. So entsteht und wächst Bindung.

Deshalb: Als Kinder sicher und geborgen zu sein sowie ausreichend gut beantwortet und begleitet zu werden, ermöglicht uns, auch mit anderen Menschen, mit der Welt und mit uns selbst ausreichend gut umgehen zu können. Es ermöglicht uns auch, hilfreiche Verarbeitungsmöglichkeiten zu entwickeln für die Szenen, die wir erleben und die uns das Leben zumutet.

Wenn dem nicht so ist …

Was aber geschieht, wenn dem nicht so ist, wenn ein kleines Kind nicht gut beantwortet wird? Eindrücklich ist dies im „Still face experiment“, d.h. dem „Experiment des bewegungslosen Gesichts“, sichtbar, in einem kurzen Video von Edward Tronick:

https://www.youtube.com/watch?v=apzXGEbZht0

Ein Kind ist es gewohnt, von Mutter (oder Vater oder Geschwister oder einer anderen Bezugsperson) beantwortet zu werden, also Aufmerksamkeit und Zuwendung zu bekommen. Die beiden sind in Kontakt, reden und spielen miteinander, stimmen ihre Gefühle aufeinander ab, kommen in Dialog. Das Baby erlebt, dass es beantwortet wird. Dann wendet sich die Mutter ab und zeigt für zwei Minuten ein „still face“, ein bewegungsloses Gesicht, und beantwortet das Baby nicht. Die Mutter reagiert nicht auf die viel­fältigen Kontaktangebote des Kindes, und schnell wird das Kind irritiert, ärgerlich, verunsichert, gelähmt, resignierend, verzweifelt. Eindrücklich wird sichtbar, was in uns Menschen vorgeht, wenn wir nicht beantwortet werden. Beim kleinen Kind kommen diese Reaktionen sehr schnell, nach einer Minute beginnt das Kind bereits, alle seine Möglichkeiten zu nutzen, um die Mama wieder in Kontakt zu holen, um von Mama wieder beantwortet zu werden. Wenn wir älter werden, haben wir (hoffentlich) mehr Möglich­keiten entwickelt, wie wir den Kontakt zu anderen auf konstruktive Weise wiederherstellen können, und vor allem haben wir (hoffentlich) gelernt, wie wir uns selbst beru­higen können.

Zugleich ist aus Forschungen bekannt, dass Kinder, die äußerlich ruhig wirken, dennoch innerlich unruhig und erregt sind, wenn sie nicht oder zu wenig oder unklar beantwortet werden. Man kann ein Kind auch dadurch verwirren, dass es manchmal sehr viel, fast zu viel Zuwendung erlebt, und dann wieder sehr wenig Beachtung erfährt. Wenn ein Kind mit solch hoch widersprüchlichen Beziehungsangeboten aufwächst, kann dies beim Kind zu Verwirrung führen. Denn das Kind erlebt, dass es die Zuwendung des Erwachsenen nicht beeinflussen kann, dass die erwachsene Bezugsperson nicht planbar und verlässlich reagiert, sondern willkürlich und für das Kind nicht steuerbar.

Selbstverständlich erlebt jedes Kind „Frustrationen“, Momente, in denen kein Gegenüber da ist, in denen keine andere Person auf das Kind reagieren kann oder will, in denen niemand das Kind „beantwortet“. Dies ist nicht nur nicht zu verhindern, dies ist einem Kind auch dosiert zu­zumuten – es dient, so heißt es fachlich, dem Aufbau von „Frustrationstoleranz“. Das meint, dass ein Kind auch lernen muss, sich mit sich selbst zu beschäftigen, mit sich selbst zu spielen, sich selbst zu beruhigen und zu trösten.

Wenn aber ein Kind vermehrt und wiederholt dem „still face“ ausgesetzt ist, wenn ein Kind häufig nicht und/oder widersprüchlich beantwortet wird, dann ist seine Sicherheit in dieser Welt irritiert, dann sind seine Verarbeitungsmöglichkeiten eingeschränkt. Dann kann es sein, dass das Kind gar nicht oder nicht mehr damit rechnet, dass es von seinen Bezugspersonen beantwortet wird. Das Kind wird sich vermutlich alleingelassen fühlen, es kann störend, laut und zappelig sowie aggressiv reagieren. Oder es kann sich zurückziehen und eher depressiv reagieren.

In belastenden Situationen kann ein Kind oft nicht mit Worten, sondern nur mit Veränderungen in seinem Verhalten und/oder in seinen Gefühlen und Stimmungen zeigen, dass etwas nicht gut ist. Wenn es Erwachsene gibt, die dies wahrnehmen, ist es möglich, Kinder in diesen Belastungen zu unterstützen, sodass sie neue Verarbeitungsmöglich­keiten und Verhaltensweisen entwickeln können. Und das Kind erlebt, dass es nicht alleine ist, dass es Menschen gibt, die Sicherheit und Orientierung geben, die helfen, mit Situationen umzugehen, die insofern überfordern, als sie nicht mit den bisher vorhandenen Verarbeitungsmöglichkeiten gelöst werden können. Dann brauchen Kinder besondere Unterstützung, um mit einer solchen besonderen Situation besser umgehen zu können. Wenn dies aber Situationen sind, die das Kind überraschen, die auf das Kind einstürzen, ohne dass das Kind etwas tun kann, wenn das Kind der Situation ausgeliefert ist und niemand da ist, das Kind in dieser Situation zu schützen oder ihm zu helfen, sprechen wir von „Traumatisierung“.

Was ist ein Trauma?

Zum Begriff

„Trauma“ heißt im Altgriechischen „Verletzung, Wunde“. Medizinisch meint der Begriff „Trauma“ eine Schädigung, Verletzung oder Verwundung lebenden Gewebes, die durch Gewalteinwirkung von außen entsteht. Dies kann z.B. eine Verletzung durch einen starken Schlag oder Stoß gegen ein Körperteil sein. Medizinisch gehört die Traumatologie zur Unfallchirurgie. Im übertragenen Sinne werden in Medizin und Psychologie auch schwere seelische Verletzungen als „Trauma“ oder als „Psychotrauma“ bezeichnet.

Unter Psychotrauma versteht man also ein kurzes oder länger andauerndes, einmaliges oder sich wiederholendes, meist unerwartetes dramatisches Ereignis von außen, das beim betroffenen Menschen eine massive, leidvolle seelische Erschütterung nach sich zieht, weil seine Verarbeitungsmöglichkeiten überflutet und damit ausgeschaltet sind. Das Ereignis wirkt sich auf die Stabilität seines Selbst und seines Weltbildes in der Weise zerstörerisch aus, dass er nicht mehr in der Lage ist, Vertrauen in die Welt und positive Vorstellungen von seiner Zukunft zu haben (vgl. Friedmann u.a. 2004, 11f).

Am Beispiel Mobbing lassen sich diese Begriffe verdeutlichen: Die betroffene Person ist seelisch erschüttert, weil wir zwar wissen, dass es solche Erfahrungen gibt, wir aber (fast) immer davon ausgehen, dass es andere, nicht uns selbst betrifft. Erleben zu müssen, die Situation nicht mehr steuern zu können, sich ausgeliefert und ohnmächtig zu fühlen, führt zum Verlust von Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zu handeln und zu gestalten, Situationen zu meistern und für sich selbst zu sorgen. Auch das Bild von der Welt ist betroffen; denn diese Erfahrung nimmt die Sicherheit, mit dem eigenen Verhalten beeinflussen zu können, wie die anderen mit mir umgehen. Die Dynamik länger andauernder Ohnmacht führt weiter dazu, dass das Gefühl sich verstärkt, nicht steuern zu können, vielmehr hilflos und bedroht zu sein. Dies wiederum erhöht erneut die Ohnmacht und die Hilflosigkeit … Die ganze Person ist betroffen, Körper und Gefühle und Gedanken und Seele. Eine Klientin beschrieb es mir so: Es ist, als wäre vom ganzen Körper die Haut abgezogen, als wäre der ganze Körper eine große klaffende Wunde. Es gibt am ganzen Körper keine heile Stelle mehr …

Ursachen und Differenzierungen