Inhaltsverzeichnis
Eingangstext
Vorbemerkung
Dem Heiligen auf der Spur
Hinführung
Grundlegung - im Voraus
Copyright
Eingangstext
Seit meiner Kindheit
Seit meiner Kindheit bin ich den Menschen auf der Spur. Ich fragte viel. Ich blieb sitzen, wo viele gingen. Ich lasse die Menschen nicht aus den Augen. Seit meiner Kindheit bin ich den Menschen auf den Fersen. Auf diesem Weg hab ich viel von Gott entdeckt.
Vorbemerkung
Vielleicht denken Sie beim Lesen dieses Buches manchmal: »Das ist wie bei mir, das kenne ich. Dieses Beispiel, das könnte ich sein …« Ich kann Ihnen versichern, es sind keine konkreten Einzelpersonen in den Beispielen beschrieben. Es sind zu Szenen verbundene Situationen aus unterschiedlichen Kontexten, die zusammen gesehen und gebündelt wiederum Szenen ergeben, die sich erzählen lassen, weil sie nicht mehr von einer konkreten Person handeln, sondern von dem, was Menschen, vielleicht Sie, vielleicht ich, in bestimmten Situationen erleben - und insofern hoffe ich, dass Sie beim Lesen manchmal denken: »Dieses Beispiel, das könnte ich sein …«
Ich wünsche Ihnen gute Begegnungen mit sich und gute Erfahrungen mit dem »Heiligen«.
Dem Heiligen auf der Spur
Hinführung
Wie spatzen sind meine wünsche freche unmusikalische vögel oft habe ich sie weggescheucht auch den einen oder anderen zu boden getroffen mit meiner analytischen schleuder und mir einfach vorgenommen ohne spatzen zu leben in einem wohnschacht zum beispiel hell erleuchtet gar nicht besonders schmutzig hübsche sachen zum aussuchen und einwickeln finde ich dort die trag ich von einem ende der u-bahnstation zum andern warum nicht gleichmäßig mein leben zubringen ohne die störenfriede arglos kommen sie wieder suchen mich auf und besetzen das land wie oft habe ich sie weggescheucht freche unmusikalische vögel wie spatzen ihr meine wünsche
Dorothee Sölle1
»Wie spatzen ihr meine wünsche…« - Es ist in unserer Kultur gut möglich, »gleichmäßig das leben zuzubringen«, ohne Störenfriede, ohne innere Sehnsucht wahrzunehmen. Es ist in unserer Kultur gut möglich, auch ohne Religiosität, ohne Spiritualität, ohne Transzendenz - »ohne Spatzen« zu leben. Und doch gibt es Momente, in denen eine Dimension spürbar wird, die faszinierend ist, oft schwer zu benennen, eine Begegnung vielleicht, in der es um dich und um mich geht, in der ich erkannt werde, in der ich dich wirklich wahrnehme, ein Erlebnis von Versöhnung, oder ein Abschied, der traurig und verzweifelt und dankbar zugleich macht. Wir haben manchmal alte Worte, die diese Dimension erfassen sollen, »Gnade« zum Beispiel, oder »Schuld«, auch »Liebe«, irgendwie etwas »Heiliges«.
Mich interessiert, wie dieses »Heilige« erfahrbar ist, wie dieses »Heilige« präsent ist in einer Welt, die - wie gesagt - auch ohne »Heiliges« funktioniert, in der Menschen ohne »Heiliges« leben können. Mich interessiert, was sich verändert - in meinem Leben, in meinem Handeln, in meinem Denken, in meinem Empfinden -, wenn ich mit dem »Heiligen« rechne. Und mich interessiert auch, wie ich das denken kann, ohne meine aufgeklärte Vernunft zu missachten, wie ich das erfahren kann, auch wenn es vor der aufgeklärten Vernunft manchmal schwer einzuordnen ist. Die Gegenwart ermöglicht ein »Sowohl-als-auch«, vielleicht ist es gegenwärtig auch gefordert, diese Spannung auszubalancieren, auszuhalten. Beides ist möglich, kritisch bewusst und zugleich »fromm« zu sein. In der Musik, in der Kunst, in der Natur, im Versunkensein, im Lesen und Nachdenken … - wenn ich ganz bei mir bin, kann ich ganz in »Andacht« sein, um das alte Wort zu nutzen. In einer Ordnung, in einem Rhythmus aufgehoben sein, auch wenn heute Rhythmisierungen von Zeit verloren gehen und gemeinsame Rhythmen weniger werden, - wir können uns am eigenen Rhythmus orientieren: meine eigene Tagesgestaltung, meine Wochenend-, meine Sonntagsgestaltung. Mir ist wichtig, den eigenen Rhythmus zu finden, in einer, in meiner »Ordnung« aufgehoben zu sein.
»Heilig« - ein paar Stichworte geben uns eine Spur zum Verstehen: Im Hebräischen meint die Wortwurzel »q-d-sch« »getrennt sein«, »anders sein«. Gelesen als »qadosch« wird das Wort übersetzt mit »heilig« und beschreibt »das Besondere«. Im 3. Buch Mose, im Buch Levitikus 19,2, ist Israel gerufen: »Heilig sollt ihr sein, denn heilig bin Ich, der Ewige, euer Gott.« »Kiddusch« - Segen, Heiligung geschieht in jedem jüdischen Gottesdienst. Und bei der jüdischen Hochzeit wird die Zeremonie des Ansteckens des Hochzeitsrings als »kidduschin« bezeichnet: »Heiligung«, weil Braut und Bräutigam einander »etwas Besonderes« sind. Der Begriff kann differenziert werden, doch eine gemeinsame Definition, wo sich »das Heilige« zeigt, eine Verbindlichkeit in Wahrnehmung, Definition und Ausdruck des Religiösen ist verloren, sie gilt - wenn überhaupt - für Teilgruppen. Darin liegt viel Freiraum und Freiheit. Diese Pluralisierung erlaubt eine selbstverständliche Vielfalt, sie erlaubt Auswahl und verlangt Entscheidung.
Präsenz des »Heiligen« - es ist lohnend, diesem »Heiligen« auf die Spur zu kommen, etwas zu entdecken, was - in anderer Form - sehr wohl immer wieder da ist, Momente von »Andacht«, von »Ergriffensein«. Sie sind lohnend - diese Momente, in denen wir eine Dimension über uns selbst hinaus erahnen, in denen wir erleben, berührt und begleitet zu sein. Vermutlich gibt es diese Momente auch in Ihrer Erfahrung? Wenn Sie in Ihrem Alltag berührt sind von einem Hauch, einer Spur von Glück und Liebe und Gnade … Wenn Sie dem begegnen, was von vielen Menschen »Gott« genannt wird … Wenn für einen Moment spürbar wird, dass Zuwendung ein Geschenk ist: Nicht-verdient ist es einfach da, das Gefühl, da mag mich jemand wirklich … Vielleicht gibt es solche Momente, in denen bewusst wird, dass viel Wichtiges im Leben nicht selbst erarbeitet und verdient ist - ein Lächeln, ein unerwarteter Anruf und die Nachfrage »Wie geht es dir?«.
Wie würde sich mein Leben verändern, wenn ich mit dem »Heiligen« rechnete, wenn ich denke, es könnte - für einen Moment - spürbar werden, es könnte »einbrechen«, mich faszinieren und vielleicht sogar erschüttern.
»…Wenn die Propheten einbrächen durch Türen der Nacht mit ihren Worten Wunden reißend in die Felder der Gewohnheit …
Wenn die Propheten einbrächen durch Türen der Nacht und ein Ohr wie eine Heimat suchten -
Ohr der Menschheit du nesselverwachsenes, würdest du hören? …«,
so Nelly Sachs2, im Horror der Nazi-Vernichtung. Auch ohne dieses Entsetzen beschäftigt mich, wie es wäre, wenn - für einen Moment - erfahrbar würde, was Menschen mit »Gott«, mit dem »Heiligen« in Sprache fassen.
Grundlegung - im Voraus
In den Szenen eines Lebens wird konkret, was Menschen auch in »großen« Worten ausdrücken: Sehnsucht und Heimat, Gewalt, Schuld und Erlösung … Der Blick auf die Szenen des Lebens ermöglicht, dass ich Erlebtes nicht bewerten muss, sondern wahrnehme, was ist - gelebtes Leben, mit Schönem und Traurigem, mit Schuld und Zynismus. Ich kann Gewalttätiges sehen und Sanftes, Verletztes und Verletzliches, ich kann einen Menschen sehen, mich selbst oder andere, ich kann sehen, einfach sehen. Das verändert den Blick, deswegen ist nicht einfach alles »gut«, was wir Menschen tun, sondern es ist Ausdruck der jeweiligen Person, wie sie die Situation wahrnimmt, deutet und damit umgeht - manchmal unbeschwert und offen, manchmal kleinlich und festgefahren, manchmal ängstlich und destruktiv … In den Szenen des Lebens wird »Heiliges« sichtbar.
In der Perspektive der jüdisch-christlichen Tradition ereignet sich »Gott« in Biografien. Jede Generation fragt neu nach dem, was die Menschen »Gott« nennen, nach einer Kraft, die Welt und Kosmos zusammenhält, vielleicht nach einer »Person«, die hinter allem steht. Immer wieder fasziniert mich, wie sich in Biografien von Menschen »Gott« ereignet, wie in Entwicklungen und Brüchen von Menschen Gott erfahrbar wird.
Was wir erleben, kann im Blick auf Religion, im Blick auf den eigenen Glauben reflektiert werden. Was wir erleben, kann zur »Theologie« werden, indem ich im Blick auf mich selbst, auf die Menschen, auf die Welt und auf Gott hin bedenke, reflektiere, was ich da erlebt habe, was das Erlebte bedeutet. »Gott« kann dem Menschen vielfältig sichtbar werden, durchscheinen in den Erfahrungen des eigenen Lebens, in Natur und Schöpfung.
In der christlichen Tradition (wissend darum, dass ich das Christliche nicht verstehen kann ohne seine ältere Schwester, das Judentum) sind Natur und Kosmos Geschöpfe Gottes, »Sehenswürdigkeiten«, welche die Schönheit der Schöpfung deutlich machen. Der ganze Kosmos ist geprägt von Zeit und Raum, der Struktur des menschlichen Denkens. In dieser Struktur kann der Mensch sich orientieren und Sicherheit finden. Der Mensch selbst aber ist Bild, Abbild Gottes, so ist es im Hymnus, in dem Lied am Anfang der Bibel im 1. Buch Mose, Genesis 1, 27 überliefert. Es ist, wenn man Menschen ansieht, eine gewagte Sichtweise: Im Menschen ist Gott sichtbar. Jeder Mensch - ungeachtet seiner individuellen Fähigkeiten und Eigenschaften - ist Bild und Abbild Gottes. Es bleibt eine Provokation, den Menschen mit all seinem Elend, seinen Grenzen, seiner Boshaftigkeit und seinen Verquerungen so groß zu denken. Es ist ein Grundgedanke jüdisch-christlicher Tradition, dass sich Gott im Menschen, im Leben von Menschen, in Zeit und Endlichkeit, in der gemeinsamen Geschichte, in den Biografien einzelner Menschen ereignet:
Wie uns Gott erscheint
Die Orte Die Zeichen Die Namen Jabbok: Engel, kämpfend bis zur Morgenröte. Für die, die aushalten in der Nacht. Gott von Angesicht zu Angesicht: Er, der segnet.
Horeb: Brennender Dornbusch. Das Elend gesehen, den Klageschrei gehört. Für alle, die weinen: Ich werde da sein.
Wüste: Wolkensäule bei Tag für die Wegsuchenden. Feuer in der Nacht für die in der Finsternis. Er, der vorangeht.
Horeb, Berghöhle: Nicht im Erdbeben oder Sturm, im Feuer nicht mehr, sondern im Säuseln, kaum spürbar. Für die, die ein leises Zeichen verstehen: Stimme eines dünnen Schweigens.
Bethlehem: Glanz in der Nacht, Worte des Friedens, Kind in der Krippe. Für alle Wartenden: Immanuel, Gott mit uns.
Joop Roeland3
Copyright © 2008 Kösel-Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH Umschlag: Elisabeth Petersen, München Umschlagmotiv: Masterfile, Düsseldorf, 700-163736, Foto: Daryl Benson
eISBN : 978-3-641-03617-9
www.koesel.de
Leseprobe
www.randomhouse.de