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Die Träume der Menschen erschaffen Wesen und Abläufe in der Traumwelt. Doch alles, was in der Traumwelt geschieht, wirkt sich auf das Geschehen auf der Erde aus. Und wie so oft droht das Böse über das Gute zu siegen. Den Geschwistern Sean und Zoë gelingt es schon als Kinder in die Traumwelt zu gelangen. Als junge Erwachsene nehmen sie den Kampf gegen die bösen Mächte auf. Doch bevor man überhaupt an den Sieg denken darf, gilt es, die Sieben Tore in Besitz zu nehmen.
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Seitenzahl: 316
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TRAUMWELT
Peter Braukmann
Inhaltsverzeichnis
TRAUMWELT
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Vorwort
Von Gabriele Haefs
Peter Braukmann kennen wir inzwischen als Verfasser von Krimis und Thrillern – und jetzt versucht er es mit Fantasy? Das ist auf jeden Fall spannend. Und eigentlich ist das Grundthema ja nicht so unterschiedlich. Schon in seinem ersten Roman, „Die Inseln“ hatte er einen Helden, der eigentlich nur in Ruhe sein normales Leben führen wollte, aber die Verhältnisse waren nicht so, und also musste der Held dann irgendwann zum Rächer werden und zur Waffe greifen. Das passt doch zu Fantasy, es ist ein schließlich vielfach wiederkehrendes Motiv, dass angehende Held nichts Böses ahnt, dann aber von Wesen aus einer anderen Welt aufgesucht wird. In der anderen Welt herrscht große Not und nur unser Held kann diese Welt retten. In guten Fantasy-Romanen wird auch erklärt, warum gerade dieser Held diese gewaltige Aufgabe meistern und sozusagen zwei Welten retten kann – denn immer ist es so, dass auch unsere diesseitige Welt verloren ist, wenn die jenseitige zum Teufel geht. In guten Fantasy- Romanen erfahren wir, was unseren Helden auszeichnet, warum gerade er auserwählt ist. Weil wir es mit einem guten Fantasyroman zu tun haben, kommen wir bald dahinter, was unseren Sean auszeichnet, und könnten uns zufrieden der Handlung hingeben. Sean aber wächst mit seiner Aufgabe und immer neue Begabungen kommen ans Licht – die wir hier nicht schildern können, wir wollen ja nichts von der Spannung wegnehmen. Ein Fantasyheld muss, wie früher die Märchenhelden, natürlich gute Helfer und Helferinnen haben, und die stellen sich auch in diesem Buch nach und nach ein, und wenn nicht alle Helfer, die er gern hätte, gleichermaßen geeignet sind, dann, damit unser Held nicht übermütig wird, und damit nicht alles zu glatt geht.
Der Fantasyheld muss die Anderwelt und damit auch seine eigene retten - und hier unterscheiden sich die Helden von Buch zu Buch. Einige können einfach so von einer Welt zur anderen überwechseln, andere nur einmal, dann dürfen sie nicht mehr zurück, noch andere bleiben in der diesseitigen Welt, retten die jenseitige sozusagen vom hiesigen Ufer und sehen die gerettete nur aus der Ferne. Peter Braukmanns Sean ist eine Mischung aus diesen drei Urformen, was der Handlung ein besonderes Tempo gibt. Und die Helfer sind mal das eine, mal das andere, und das erhöht natürlich die Spannung.
Wir sehen daran, dass der Autor gern mit den vorgegebenen Formen experimentiert. Wie ein klassischer Märchenerzähler fischt er sich aus der Tradition, was gerade für seine Geschichte am geeignetsten erscheint. Ist in den gängigen Fantasy-Romanen die Gegenwelt fast immer eine Art stilisiertes Mittelalter, so spiegelt sie hier die diesseitige von heute wider. Genauer gesagt, es gibt auch die uns vertraute mittelalterliche Fantasy-Welt, denn die jenseitige Welt in diesem Roman ist ungeheuer vielschichtig und facettenreich, und bewohnt wird sie von einer Vielzahl von Wesen, von denen uns einige auf unangenehme Weise bekannt vorkommen. Denn was wäre ein Fantasyroman ohne ein reichhaltiges Angebot an richtig fiesen Schurken? In der Gegenwelt gibt es Drachen und Feen und Zwerge, die sich Richard Wagner nicht tückischer hätte ausdenken können, aber es gibt auch Banker und abgehalfterte Politiker, und den Feinden rückt man in der anderen Welt nicht nur mit Zaubersprüchen und dem vergifteten Dolch im Gewande zu Leibe, sondern im Notfall und je nach Situation auch mit dem Maschinengewehr. Wir sehen schon, wir haben es mit einem außergewöhnlichen Fantasyroman zu tun. Der schwedische Mystiker Swedenborg hat den Himmel (denn in Swedenborgs Visionen gibt es keine Hölle) ungefähr so beschrieben: Alles wie auf der Erde, nur extremer, das Gold glänzt stärker, die Reichen wohnen in leuchtenden Marmorpalästen, die Armen in Elendsquartieren, gegen die die Slums von Manchester, wie Friedrich Engels sie beschrieben hat, geradezu gemütlich wirken. Wer wo wohnt, so Swedenborg, entscheidet sich nach Tugend und Moral. Wer in der Gegenwelt, in die der tapfere Sean nun wandert, wo wohnt, birgt folglich allerlei Überraschungen.
Die Frage ist natürlich immer, siegt der Held, also: Siegt am Ende das Gute und können die Welten erst einmal weiter bestehen? Aber die zweite Frage ist dann auch, kriegen sich die Liebenden, beziehungsweise, wer kriegt wen? Ohne zu viel zu verraten, kann angedeutet werden, dass sich das nicht in allen Fällen so eindeutig klären lässt, und das ist die besonders gute Nachricht: Es muss demnächst mindestens einen weiteren Band geben!
© 2018 Peter Braukmann, 7eichener Str. 32, 01662 Meißen
Alle in diesem Buch geschilderten Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären zufällig und nicht beabsichtig
Der Mond war eine große, silberne Scheibe, die inmitten eines klaren Sternenhimmels hing. Ganz rund war er. Und hell war es im Zimmer. Hörte man da gar ein Käuzchen rufen? Oder war alles nur Einbildung? Nebel kam auf, die dürren Äste der blattlosen Bäume streckten sich in die Höhe. Irgendwo da draußen krächzte ein Rabe. Irgendwie bedrohlich klang der raue Ruf durch das offene Schlafzimmerfenster bis an die Ohren des kleinen Jungen, der in seinem Bett unter der Decke versteckt schlief.
Der Junge erschrak. Er wachte auf und spitzte die Ohren. Nichts war zu hören. Wahrscheinlich hatte er nur geträumt. Von Flida, der weißen Wölfin, die seine beste Freundin war und mit der er durch die weite Steppe Sibiriens zog, den selbstgebauten Bogen fest in der Hand, die Pfeile im Köcher auf seinem Rücken. Auf seiner Brust blinkte eine silberne Spange, die seinen Umhang aus Bärenfell zusammenhielt.
Nur geträumt, sagte sich der kleine Sean. Schade, er drehte sich auf die andere Seite, zog die Decke ans Kinn und schlief fast augenblicklich wieder ein. Bald hörte man nur seine regelmäßigen Atemzüge und ab und zu ein feines Schnarchen. Der Junge schlief tief und friedlich. Draußen zog eine Wolke vor die helle Mondscheibe und verdunkelte sie, so dass die Landschaft fast vollkommen im Dunkeln lag. Ein Falke stieß steil aus den Wolken herab. Er landete neben dem Käuzchen auf einem Birkenast – ungewöhnlich. Ein Falke und ein Käuzchen, in trauter Eintracht? Das Käuzchen drehte einmal den Kopf und die feinen Ohrfedern stellten sich auf. Der Falke reckte seinen Schnabel.
„Was tut er?“, fragte der Falke.
„Er träumt.“
„Gut.“
Der Falke putzte sich schnell unter dem rechten Flügel, wo ihn etwas juckte, dann richtete er sich wieder an den Kauz.
„Träumt er von Karikam?“
Der Kauz verdrehte die Augen.
„Er hat noch nie von Karikam geträumt. Er träumt wieder von dem weißen Wolf!“
Der Falke stieß einen heiseren Schrei aus.
„Der weiße Wolf, immer wieder dieser weiße Wolf. Das ist falsch, das ist langweilig, was brauchen wir einen weißen Wolf? Wir brauchen Karikam.“
„Er träumt vom weißen Wolf und der Steppe. Er träumt ein Steppenjäger zu sein, der mit Pfeil und Bogen auf zweihundert Schritt einem Falken das linke Auge ausschießen kann.“
„Papperlapapp,“ fuhr der Falke dazwischen. „Er soll was Vernünftiges träumen. Wir brauchen einen Traum, der uns wirklich weiterbringt. Dieser Steppenjägerquatsch hilft uns nicht. Sag ihm das.“
Der Kauz schüttelte kaum merklich den Kopf.
„Du bist ein Dummkopf, Hawkan. Du weißt, dass ich ihm es nicht sagen kann. Genauso wenig wie du. Quindiquel kann es, aber Quindiquel ist verschwunden, verschollen, verloren – oder hast du andere Neuigkeiten?“
Der Falke schwieg, was Antwort genug war.
Quindiquel war der Name eines weißen Wiesels. Und Quindiquel war ein Traumsprecher. Er konnte in Träume eindringen, mit dem Träumer sprechen, seine Träume beeinflussen, wenn es notwendig war. Und oft war es notwendig. Lebensnotwendig für ihre Welt. Eine Welt die sich aus den Träumen der Menschen zusammensetzte. Genaugenommen war es eine Parallelwelt, eine geformte Welt aus Träumen. Sie war abhängig von allem, was die Menschen erträumten, ob Tag- oder Nachttraum. Ihre Welt war abhängig von den Träumen. Und mancher Mensch war ein mächtigerer Träumer als andere. Wenige waren so gewaltig, dass ihre Träume die Welt von Hawkan zerstören könnten.
Hawkans Welt hieß Memrom – und sie war größtenteils wunderschön. Aber es lauerten Gefahren in ihr. Und die größte aller Gefahren war das Heer der Dunklen Macht, das sich im Inneren von Memrom verbarg und nur darauf aus war, alle schönen Träume zu verschlingen und alle bösartigen zuzulassen. Niemand in den friedvollen Teilen der Traumwelt wusste, wer für die Existenz dieses Heeres verantwortlich war. Selbst Quindiquel war an dieser Stelle vollkommen machtlos. Er hatte versucht, es herauszufinden, oft, viel zu oft. Das Heer war so alt wie die Welt Memrom. Zu Beginn war es nur ein kleiner Traum und ein kleines Heer gewesen. Doch mit den Jahren und Jahrhunderten war das Heer gewachsen, größer, stärker, gemeiner, hinterlistiger und gewalttätiger geworden. Und Memrom fing an, das Heer zu fürchten. Doch keine der Traumwesen Memroms hatte die Kraft, es entscheidend zu bekämpfen. Alle, die es versucht hatten, starben. Am Weitesten waren noch die Elfen gekommen. Sie hatten vor mehr als fünfhundert Jahren ein Heer aufgestellt. Sie hatten das Dunkele Heer in eine Falle zu locken versucht. Doch sie waren verraten worden, denn die Feinde hatten überall Verbündete. Gestalten, die anderen bösen Träumen entsprangen. Traumfeiglinge, schwach und dennoch gierig nach Macht. Ein solches Wesen hatte dem Dunklen Heer vom Zug der Elfen berichtet. Und so lockte der Feind die Elfen in eine Falle. Der Kampf war erbittert, gnadenlos. Die Elfen wehrten sich, rangen und hofften auf gute Träume, die ihnen helfen würden. Indes, der wirklich große, gute Traum kam nicht, und sie wurden geschlagen. Die Elfen, die nicht vernichtet wurden, flohen in die Dunklen Wälder im Westen Memroms. Und seither wuchs das Heer, breitete sich aus. Den ganzen Süden Memroms hatte es sich schon einverleibt und jetzt richtete sich sein Interesse auf den Norden.
Die Legende sagte, dass ein Träumer kommen werde, dessen Träume den bösen Träumen standhalten könnten. Dass diese Träume gut genug wären, den Feind ernsthaft zu bekämpfen, ihn zurückzudrängen, ja sogar, ihn zu vernichten. Dieser Träumer würde den Helden Karikam erträumen. Karikam – seit vielen Jahrhunderten schon war der Name Karikam ein anderes Wort für Hoffnung. Und so suchten die Traumlauscher, Wesen wie das Käuzchen, nach dem Karikam – Träumer. Doch leider bislang ohne jeden Erfolg.
Auf die Träume der Menschen konnte niemand Einfluss nehmen. Sie träumten und fügten so dem Land Memrom Stücke hinzu, neue Landstriche, neue Schicksale, immer wiederkehrende wundersame Ereignisse – aber bislang hatte niemand Karikam geträumt. Auch der kleine Junge nicht, obwohl seine Träume viel versprachen. Normalerweise hätte das Wiesel Quindiquel mit dem Jungen in Kontakt treten müssen. Aber Quindiquel hatte seine Kraft offenbar noch nicht in die richtige Richtung gelenkt. Und noch bevor die Traumleser den kleinen Jungen entdeckt hatte, war das Wiesel plötzlich verschwunden. Und mit ihm die Fähigkeit, auf die Träume der Menschen Einfluss zu nehmen.
„Es ist Zeit“, krächzte der Falke. „Ich muss weiter.“
„Gut, Pass auf dich auf und gibt nicht auf in deiner Suche nach Quindiquel.“
Der Falke hob sich in die Lüfte. Er kreiste noch einmal über der Birke und als die Wolken sich am Mond vorbei geschoben hatten, das Licht wie aus Silber gemacht auf Berg und Tal schien und alles zauberhaft beleuchtete, schoss er mit großer Geschwindigkeit in Richtung Westen davon.
Er wird das Wiesel nie und nimmer finden. Das Wiesel ist verloren und mit ihm Memrom, wenn nicht ein Wunder geschieht, dachte das Käuzchen und stieß einen Laut aus, den wir Menschen sicher als tiefen Seufzer bezeichnet hätten.
Es sei denn, der Junge, der dort in seinem Bett schläft, fängt endlich mal einen vernünftigen Traum an. Keine Steppenläuferabenteuer mehr. Der Junge muss von Memrom träumen – und zwar bald, ehe der Wurm alles durchsetzt und verschlungen hat, ehe Memrom nicht mehr ist.
Es wurde wirklich Zeit. Zeit zum Rückzug, dachte der Kauz.
Unten im Zimmer wieherte ein digitaler Wecker, unbarmherzig laut und der Junge steckte missmutig den Kopf aus den Kissen. Schnell drückte er den Stillknopf und das Wiehern hatte ein Ende. Genau wie die Nacht. Denn noch ehe der Junge sich wieder in die Kissen kuscheln konnte, öffnete sich die Tür. Der blondgelockte Kopf seiner Mutter schaute herein. Sie knipste das Licht an. Frohgelaunt rief sie:
„Aufgewacht, die Sonne lacht.“
Der Junge knurrte etwas Unverständliches, doch seine Mutter saß schon auf der Bettkante. Sie wuschelte durch sein Haar, das ebenso lockig wie das seiner Mutter war, blond und schulterlang. Das schmale Gesicht mit den grauen Augen und der geraden Nase strahlte nicht. Die Lippen aufeinandergepresst, die Stirne kraus. Es war unverkennbar, dass der Junge überhaupt kein Interesse an der lachenden Sonne hatte.
„Mensch Mama, es ist November. Da regnet es und es wird immer kälter. Von wegen ‚Sonne lacht!‘“
„Komm, Sean, steh auf. Die Nacht ist vorüber.“
„Ist so gemütlich.“
„Das Frühstück wartet, Papa wartet und deine Schwester ist auch schon auf den Beinen.“
„Na gut.“
Seine Mutter stand auf, doch im Türrahmen blieb sie kurz stehen, wandte sich noch einmal um und fragte:
„Hast Du wieder was geträumt heute Nacht?“
„Na klar.“
„Das musst Du uns gleich erzählen, ja?“
Der Junge nickte begeistert, schubste sein Bettzeug mit den Beinen in die Luft und sprang mit einem Satz aus dem Bett.
Draußen war es immer noch finster. Der Mond hatte sich zurückgezogen, die Nebel lösten sich auf, es tagte.
Das Käuzchen war verschwunden, der Birkenast war leer.
„Kommst Du auch schon?“, fragte seine Schwester Zoë mit dieser Große – Schwester-Stimme, dieser gelangweilten Coolness, die Sean jedes Mal aufs Neue ärgerte.
„Didieidididi,“ äffte er den Tonfall nach und setzte sich auf seinen Platz.
„Wenigstens ist Sean schon angezogen“, bemerkte Papa zwischen Brötchen kauen und Zeitung lesen.
„Was möchtest du zum Frühstück aufs Brötchen haben?“ Mamas tägliche Standartfrage.
„Wie immer“, die tägliche Standartantwort.
Während Mama die Brötchen für jetzt und später mit Nutella bestrich, diskutierten die Kinder über das Fernsehprogramm von gestern. Beide waren ein gutes Jahr auseinander. Zoë war gerade acht Jahre alt geworden und ging in die zweite Klasse. Sean, noch sechs Jahre alt, besuchte jeden Morgen mit zunehmender Unlust den Kindergarten. Da er im späten Juli zur Welt gekommen war, hatten Mama und Papa entschieden, ihn lieber ein weiteres Jahr spielen zu lassen. Das war ja auch erst prima. Aber jetzt, wo er doch täglich immer älter wurde, konnte er es gar nicht mehr erwarten, aus dem Kindergarten rauszukommen.
Papa schaute auf die Küchenuhr und dann auf sein Mädchen im Schlafanzug.“
„Mach hin, Kind, es wird Zeit. Dir bleiben fünf Minuten, dann müsst ihr aber los.“
Zoë erledigte das jeden Morgen wiederkehrende Ritual mit Gelassenheit. Während Papa ihr Schulbrot im Tornister verstaute, Mama im Bad ihr langes Haar bürstete, Sean genüsslich in das dritte Nutella Brötchen biss, zog Zoë lässig Schlüpfer, Hemdchen, Socken, Kleid und Schuhe an und stand schon an der Haustür, als Mama aus dem Bad stürzte und wie jeden Morgen irgendetwas ganz Wichtiges suchte, aber es eben gerade partout nicht finden konnte.
„Ich such es nachher für dich, Schatz“, sagte Papa.
„Danke.“
Ein flüchtiger Kuss im Hinaushetzen. In einundzwanzig Minuten fuhr die S-Bahn, da blieben nur noch fünf Minuten – kaum zu schaffen und dennoch, sie schafften es, wie jeden Morgen.
Als die Tür ins Schloss gefallen war, setzte sich Papa wieder an den Frühstückstisch, goss frischen Tee nach und unterhielt sich mit Sean über die neusten Arbeiten am selbstgebauten Flitzebogen aus Nussbaumholz, ließ sich darüber aufklären, welche Pfeile dem Romanhelden seines Sohnes, Eragon, zum Schuss ins Ziel verhalfen und was es da noch alles zu besorgen gäbe, damit auch Sean endlich die Meisterschaft seines Helden erreichen könnte.
Pünktlich um sieben Minuten nach Acht verließen Vater und Sohn die Wohnung und radelten die kurze Strecke zum Kindergarten.
„Sieh mal, Papa, da, Flitzeflink!“, rief Sean.
„Wo?“
„Da, im Baum, da vorn!“
„Die Kastanie meinst du?“
„Den großen Baum da, guck, da oben springt es.“
Jetzt sah auch Papa das Eichhörnchen, das geschickt über die kahlen Äste hastete, um in einem Astloch auf halbem Wege zum Gipfel zu verschwinden. Es lugte noch einmal frech hinaus, sicherte nach rechts und links, und dann verschwand das Köpfchen in seiner Höhle im Baum.
„So möchte ich auch mal klettern können“, schwärmte Sean.
Wenn er gewusst hätte, wie bald schon er so klettern müsste, um zu überleben, hätte er vielleicht nicht so sehnsüchtig in den Baum gestarrt.
„Weiter geht’s!“, rief Papa und trat in die Pedale.
Sean war recht klein für sein Alter. Die meisten Jungen und Mädchen, die in seinem Alter waren, waren gut und gern einen halben bis ganzen Kopf größer als er. Mit seinen blonden Lockenhaaren und der zierlichen Gestalt wirkte er manchmal sogar wie ein Mädchen. Doch niemand wäre auf die Idee gekommen, ihn deshalb zu necken, sich über ihn lustig zu machen oder ihn nicht zum Freund haben zu wollen. So zierlich er auch gebaut war, so zerbrechlich er wirkte, so zäh war er. Und kräftig. Kaum ein anderer Junge konnte so geschickt wie er an der Kletterstange hochklettern. Kaum ein anderer hatte auch seine Ausdauer, und dies nicht nur im Sport. Wenn sich Sean für etwas richtig interessierte, dann hängte er sich rein, ließ nicht locker, bis er alles wusste.
Sean interessierte sich für eine Menge Dinge. Lediglich am Rechnen fand er nicht so großen Spaß. Aber Lesen und Schreiben mochte er. Er ging ja noch nicht in die Schule, aber seit seine große Schwester eingeschult worden war, verfolgte er ihre Lese- und Schreibübungen mit größtem Interesse, machte ihr alles nach und lernte so nebenbei eine Menge von dem, was ihn eigentlich erst in der ersten Klasse erwarten sollte.
Alle Themen, die mit der Welt zu tun hatten, sei es nun geografischer, naturwissenschaftlicher oder künstlerischer Natur, rissen ihn mit, ließen ihn nicht los. Er sog praktisch jedes Wort von den Lippen der Erzieherin in sich auf, sah mit Vorliebe Wissenschaftssendungen auf dem Kinderkanal, lieh sich in der Bücherei DVDs über Ritter, Erdbeben, Tiere, Vulkane und Dinosaurier aus.
„Welches Land entdeckte Kolumbus und wohin wollte er eigentlich?“
Sean wusste es.
„Wie entsteht ein Vakuum?“ Die Antwort war kein Problem für Sean. Oder „Wer war Leonardo da Vinci?“ Ein Klacks, die Frage zu beantworten.
Deswegen war er aber noch lange kein Naseweis oder Angeber. Er war ein ganz natürlicher Junge, der sich gern balgte, dreckig machte, Fußball und Indianer spielte. Er war eben auf die Art neugierig, die man auch wissbegierig nennt.
Fast jeder wäre gern sein Freund gewesen, aber Sean – und das war nun wirklich etwas seltsam – war lieber für sich allein. Er spielte zwar mit allen, schloss sich nicht aus, doch am allerliebsten war ihm seine eigene Gesellschaft. Es kam schon vor, dass er unter einem schattigen Baum saß und vor sich hinträumte, wenn die anderen im See badeten. Mit seinen Träumen fühlte er sich wohl. Seine Phantasie kannte keine Grenzen. Und wenn er mit seinem Lieblingswolf Flida über die weite Savanne lief, den Langbogen aus Ebenholz und den Köcher auf dem Rücken, dann spürte er ein unbeschreibliches Gefühl der Freiheit, der Unendlichkeit, ein Kribbeln in seinem Magen, ein wohltuendes Glücksgefühl, das sich nur dann steigerte, wenn er davon träumte, fliegen zu können. Dieser Traum, der ihn selten in der Nacht aufsuchte, war das Größte. Dann stand er meist auf einem hohen Berg. Über ihm wölbte sich ein strahlend blauer Himmel. Zu seinen Füßen Täler voller Grün, mit silbern glitzernden Flüssen und Seen, mächtigen Bäumen, ganz ohne Straßen, Häuser, Autos, Menschen. Und dann ließ er sich fallen, einfach so, aber er stürzte nicht. Er schwebte. Dann bewegte er die Arme auf und ab wie die Schwingen eines Vogels. Und mit der Bewegung hob er sich in die Höhe, flog dahin wie ein Adler. Alles in ihm wurde so leicht, so leicht wie man es nicht beschreiben konnte. Sein ganzes Inneres füllte sich mit einer wohligen Wärme und in ihm stieg ein Glücklich sein auf, dass er um alles in der Welt gern festgehalten hätte. So flog Sean über diese wunderschönen Täler in warmer Sommerluft dahin, durchstieß kleine Wolken, ohne es regnen zu lassen, glitt dicht über der Oberfläche der Meere dahin, gefolgt von Delfinen, die mit lachenden Gesichtern neben ihm aus dem Wasser sprangen. Das war ein Traum, so schön, wie man es sich nur wünschen konnte.
Wenn Sean nach einer solch durchträumten Nacht am Morgen erwachte, fühlte er sich richtig ausgeschlafen. Dann konnte ihn am Tag nichts schrecken. Nun, wirklich schreckte ihn ja auch nichts. Er kam ja gut mit seinen Mitmenschen aus, hatte keine Feinde, die ihn von hinten anrempelten oder ihm auflauerten, um ihn zu verhauen.
Mit Mama und Papa war alles in Butter, seine Schwester war zwar eine Nervensäge, aber dennoch liebte er sie. Was also sollte ihn schrecken?
Die Sternenkindergruppe, also die Kinder, die nach dem Sommer in die Schule kamen, machte heute Morgen einen Ausflug in den nahegelegenen Wald zum „Schwarzen Teich“. Der „Schwarze Teich“ war ein kleiner Tümpel voller Kaulquappen und Libellen im späten Frühjahr, voller Frösche und Entenfamilien im Sommer, und im Herbst fielen hier die schönsten Blätter von den Bäumen, wuchsen Waldbeeren und Pilze und sogar Esskastanien gab es in Hülle und Fülle. Auf all das war die Gruppe heute aus. Sammeln war das Arbeitsthema der Woche. Sammeln und erfahren. Welcher Pilz ist giftig? Wie unterscheidet man eine Esskastanie von einer Gemeinen? Welches Blatt gehört zu welchem Baum? Nicht, dass diese Themen der Gruppe neu waren. Eigentlich hatten sie jeden Herbst damit zugebracht. Dennoch machte es jedes Mal einen riesigen Spaß. Bei der Aufgabenverteilung vor dem Abmarsch hatte Sean das Pilzsammeln zugeteilt bekommen. Vor allem sollte er nach Hallimasch und wenn möglich nach Pfifferlingen Ausschau halten. Zusammen mit Lilli und Martin hatte er einen Korb und ein kleines Messerchen bekommen und nun stapften die drei durch das Unterholz. Mit Zielstrebigkeit, denn schließlich kannten sie die guten Plätze noch vom letzten Jahr.
„Ich geh mal rüber in den Birkenhain“, sagte Sean. Die anderen wussten Bescheid und nickten. Sie suchten weiter auf den Moosplätzen im Mischwald. Hier würde sich keiner verlaufen. Der Wald war wie ihr zweites Zuhause.
Durch die kahlen Birken schien die Sonne warm auf Seans Rücken. Er ging langsam in gebückter Haltung, den Blick auf den Boden gerichtet. Da standen ja schon ein paar Pilze. Fliegenpilze, deren rote Hauben Sean frech angrinsten. Weiter vorn sah er etwas Gelbes schimmern, und tatsächlich, neben einem umgestürzten Baum, dessen Wurzeln sich groß und klagend in den Himmel reckte, stand eine Gruppe Pfifferlinge. Seans Herz machte vor Freude einen Salto. Er kniete nieder und wollte gerade beginnen, die Pilze zu ernten, als er ein Geräusch vernahm. Gleich neben ihm, aus dem Baum schien es zu kommen. Ein Wimmern, ganz leise nur, aber doch deutlich zu hören. Sean ließ das Körbchen stehen und fasste stattdessen das Messer fester. Vorsichtig näherte er sich dem Wurzelwerk des Baumes. Mit jedem Schritt wurde das Wimmern etwas lauter. Der Baum war groß und mächtig gewesen, so dass die Wurzeln dreimal so groß wie der Junge waren. Je näher er kam, desto mehr deckte ihn deren Schatten ein. Dann war die Sonne ganz und gar verschwunden. Die Wurzelstränge waren überall. Mit getrockneter Erde behaftet, sahen sie aus wie knöcherne Hände und Arme, die nach ihm zu greifen schienen. Und vor ihm schien es, als wäre dort ein Loch im Baum, eine Öffnung, die ins Innere führte. Sean umfasste das Messer noch fester, als ob ihm die kleine Klinge etwas nützen könnte. Mit der linken Hand schob er einen Wurzelstrang zur Seite, um besser sehen zu können. Das Messer hielt er vor sich gestreckt, als er sich bückte, um die Öffnung zu untersuchten. Er strich mit der linken Hand vorsichtig über den Rand des Loches, das zur Hälfte von Astwerk bedeckt war. Als er ein kleines Ästchen aus dem Astwerk ziehen wollte, stürzte diese plötzlich in sich zusammen. Erschrocken sprang Sean einen Schritt zurück. Die Öffnung war nun deutlich zu sehen, fast ganz rund und im Durchmesser etwa so groß wie ein Autoreifen. Und das Wimmern, das Wimmern kam laut und deutlich aus dieser Öffnung. Sean hatte Furcht vor dem Unbekannten, das ihn erwartete. Doch die Neugier siegte. Ganz langsam näherte er sich der Öffnung. Dunkel gähnte ihm das Loch entgegen. Er ärgerte sich, keine Taschenlampe dabei zu haben. Vorsichtig schob er das Gesicht nach vorn und bemühte sich, in der dunklen Höhle etwas zu erkennen. In diesem Augenblick fiel ein Sonnenstrahl über seine Schulter und beleuchtete für einen Moment den hinter der Öffnung liegenden Hohlraum. In diesem Moment sah der Junge das Wiesel.
Das Wiesel war zwischen zwei großen Steinen so eingeklemmt, dass es sich nicht befreien konnte. Und das will schon etwas heißen bei einem Tier, das sich durch die engsten Öffnungen zwängen kann. Seine intelligenten Augen schauten Sean fragend an, es wimmerte auch nicht mehr. Der Junge trat noch einen Schritt näher.
Ob ich es anfassen kann, ohne dass es mich beißt? dachte Sean.
Natürlich kannst du mich anfassen und ich werde dich nicht beißen. Du bist schließlich meine Rettung, dachte das Wiesel zurück. Der Junge hörte die Gedanken des kleinen Tieres in seinem Kopf, laut und deutlich. Verwirrt horchte er in sich hinein. Er schüttelte den Kopf.
„Das gibt es doch nicht“, murmelte er vor sich.
„Es gibt mehr als du denkst“, hörte er das Wiesel denken. „Also, mach mich endlich frei. Es schmerzt. Die Steine, sie drücken auf meinen Rücken.“
„Du, du sprichst in Gedanken mit mir?“
„Nein, ich denke mit dir, und nun mach schon.“
Das Wiesel zuckte ungeduldig mit der kleinen Schnauze, seine Barthaare vibrierten und seine Augen nahmen einen ungeduldigen Ausdruck an. Fast menschlich, dachte Sean.
„Hör zu, Sean“, knurrte es, „zum Philosophieren oder Kaffeeklatsch bleibt uns noch jede Menge Zeit. Vorausgesetzt, du bewegst dich endlich und nimmst diese Steine von meinem Kreuz. Sonst kann es sein, dass ich sterbe, noch ehe du deine Neugier befriedigen kannst.“
Sean streckte die Hand nach dem großen Stein aus, der auf dem Rücken des Wiesels drückte, und versuchte ihn hoch zu heben. Doch der Stein bewegte sich keinen Zentimeter. Er nahm beide Hände zur Hilfe und drückte und zog, aber nichts passierte. Seltsam, wie eingemauert, dachte er.
„Kann hinkommen. Ich bin ja nicht freiwillig hier. Die beiden Wesen, die mich hierher geschleppte haben, haben irgendwie an den Steinen rumhantiert, ehe sie mich einklemmten.“
„Was denn für Wesen?“, fragte der Junge erstaunt.
„Genauso Blödmänner wie du, nur älter. Lass Dir was einfallen, mein Rücken schmerzt, ich habe Hunger und Durst.“
„Du bist ganz schön frech für Deine Lage, findest du nicht?“
„Na gut, was machst du nun?“
„Ich will versuchen, hier oben mehr von der Rinde und der Erde wegzuräumen. Dann kann ich die Steine besser greifen“, sagte Sean. Er begann sogleich, seine Überlegungen in die Tat umzusetzen. Jetzt half ihm sein Messerchen wirklich weiter. Mit der scharfen Klinge schälte es sich durch das Wurzelholz, bog es weiter auseinander, riss es an einigen Stellen entzwei, und schließlich hatte er Platz geschaffen, um sich selber in die Öffnung zu drängen und so über die Steine zu gelangen. Tatsächlich, bei näherer Betrachtung sah es so aus, als wären die Steine mit einer Masse zusammengeklebt.
„Da werde ich einen Hammer brauchen, oder einen dicken Stein. Warte mal, ich will mich hier mal umsehen.“
Sean suchte die Umgebung des umgestürzten Baumes sorgfältig ab. Und er hatte Glück. Er fand einen keilförmigen Stein, den er dann wie einen Hammer benutzte. Nach vielen Schlägen, begleitet von Schmerzlauten und groben Flüchen des Wiesels, gelang es dem Jungen, den Stein zu lockern und endlich ganz zu entfernen. Das Wiesel war frei. Aber es hüpfte keineswegs sofort aus der Öffnung. Nach einer lahmen Bewegung fiel es gleich wieder auf die Erde und jammerte:
„Ich kann mich nicht mehr bewegen. Oh weh, oh weh, mein Kreuz. Hoffentlich haben sie es mir nicht zerschlagen. Ich spüre meine Füße nicht.“ Und es machte Geräusche, die wie das Weinen eines kleinen Kindes klangen. Mitleidig nahm der Junge das Tier und wiegte es in seinem Arm. Dabei streichelte er das weiße Köpfchen und flüsterte:
„Es wird bestimmt alles wieder gut. Ich nehme dich erst einmal mit zu mir nach Hause und wenn es dir nicht besser geht, gehen wir zum Tierarzt. Mein Papa weiß bestimmt Hilfe.“
Noch ehe das Wiesel darauf antworten konnte, hörten sie lautes Knacken im Unterholz, Lachen und Kichern und dann brachen Lilli und Martin wie zwei durchgedrehte Wildschweine aus dem Unterholz.
Beide schwenkten stolz ihre gefüllten Pilzkörbchen und jauchzten vor Freude.
„Wir haben tausende Pilze gefunden und was hast du?“, fragte Martin und zeigte auf das leere, am Boden liegende Körbchen von Sean.
„Ich habe ein Wiesel“, sagte Sean und jetzt bekamen seine beiden Freunde große Augen.
„Was um alles in der Welt willst du mit einem kranken Wiesel?“, fragte Papa seinen Sohn aufgeregt. „Das Tier kann ja sonst was haben, Tollwut zum Beispiel, so zahm wie der tut. Ich will damit sofort zum Tierarzt.“
Dagegen hatte Sean nun wirklich nichts einzuwenden. Gesagt, getan. Das Wiesel, das mittlerweile in dem Katzenreisekorb der Familie untergebracht war, schwieg zu der Angelegenheit. Es hatte überhaupt nichts mehr von sich hören lassen, seit die anderen Kinder im Wald aufgetaucht waren. Einerseits war es Sean ganz recht, dass er sich nicht mit den Gedanken eines Tieres auseinandersetzen musste. Andererseits nagten Zweifel an ihm, ob das Tier überhaupt je gesprochen oder ob er sich das Ganze nur eingebildet hatte. Egal, erst einmal musste herausgefunden werden, was mit dem Wiesel los war. Sie fuhren zum Tierarzt, der das Tier sofort eingehend untersuchte. Das abgenommene Blut wurde ins Institut geschickt und der Arzt meinte, er wolle das Wiesel über Nacht in der Praxis behalten, bis das Ergebnis des Bluttestes am kommenden Morgen vorläge. Dagegen hatte natürlich keiner etwas einzuwenden, und da auch das Wiesel nichts dachte, war Sean zufrieden.
Am Abendbrottisch musste er der ganzen Familie noch einmal ausführlich von seinem Fund erzählen. Allerdings ließ er weg, dass das Wiesel mit ihm gesprochen, also gedacht hatte. Das hätte ihm sowieso keiner geglaubt, und sich der Lächerlichkeit preiszugeben war nicht seine Absicht.
„Das Kerlchen ist ja wirklich unglaublich zahm“, meinte Papa. „Wir wollen nur hoffen, dass es keine Tollwut hat. Das wäre ja was. Wir müssten uns impfen lassen, genau wie alle anderen, die mit dem Tier in Berührung gekommen sind. Wer, sagtest du noch, hat es angefasst?“
„Na, Lilli und Martin und später Franz und Frau Minde.“
„Keine Tollwut wäre die beste Lösung!“, stellte Papa noch einmal fest. Das hoffte auch Sean, der nun auf dem Weg ins Badezimmer war, um sich bettfertig zu machen.
„Wie soll ‘n das Wiesel heißen?“, fragte Zoë zwischen zwei Putzeinheiten mit der elektrischen Zahnbürste. Darüber hatte Sean in der ganzen Aufregung noch gar nicht nachgedacht.
„Weiß nicht”, antwortete er. „Vielleicht hat es ja schon einen Namen.“
„Hä?“, machte seine Schwester und verzog das Gesicht zu einer Grimasse.
„Ach nix, vergiss es.“
Ausgerechnet bei seiner Schwester hätte er sich beinahe verplappert. Zoë würde er jedenfalls nichts von den Zwiegesprächen mit dem Wiesel berichten. Die zog ihn schon immer mit seinen Träumen auf, das reichte ihm eigentlich. Und überhaupt, erst einmal mussten sie herausfinden, ob das Wiesel gesund war. Dann war noch gar nicht besprochen worden, was mit ihm weiter geschehen sollte und drittens würde er nach alledem mal in Ruhe testen, ob das Tier nun sprach oder er ein kompletter Spinner war. „Morgen wissen wir mehr“, hatte Mama gesagt. Und Mama hatte immer recht.
Jetzt lag er in seinem Bett, Mama saß auf der Bettkante und las ihm seine Gute-Nacht-Geschichte vor. Sean war ganz müde von den Abenteuern des Tages. Noch ehe Mama das Kapitel zu Ende gelesen hatte, fielen ihm die Augen zu. Mama lächelte vor sich hin und strich ihrem Sohn die Locken nach hinten. „Schlaf gut und träum was Schönes“, flüsterte sie, küsste ihn auf die Stirn und löschte die Nachttischlampe. Ganz leise schloss sie die Kinderzimmertür und stieß auf Papa, der ebenso vorsichtig aus dem Zimmer von Zoë geschlichen kam.
„Sie schläft“, sagte er leise. Dann nahmen sich Mama und Papa in den Arm und gingen ganz leise und vorsichtig die Treppe hinunter ins Wohnzimmer.
Früh am Morgen klingelte das Telefon. Es war die Tierarztpraxis. Papa hatte den Hörer ans Ohr gepresst und nickte immer wieder, sagte „aha“ und „soso“, während er ein wirklich ernstes Gesicht machte.
„Na prima“, sagte er schließlich. „Vielen Dank, wir kommen dann heute Morgen bei Ihnen vorbei. Auf Wiederhören.“ Papa legte den Hörer auf und alle starrten ihn erwartungsvoll an. Doch Papa sagte erst einmal gar nichts, setzte sich mit dieser wichtigen Miene auf seinen Küchenstuhl und nippte an seinem Kaffee.
Typisch Papa, dachte Sean. Immer einen auf Show machen.
Papa räusperte sich. „Ich habe eben mit der Tierklinik telefoniert.“
„Ach wirklich“, fiel ihm Zoë ins Wort. „Ich dachte, es war der Gebrauchtwagenhändler wegen der kaputten Klingel an Mamas Fahrrad. Nun sag schon, was los ist.“
Papa wirkte keineswegs resigniert, dass seine Show derart unterbrochen wurde. Er war ja schließlich an so einiges gewöhnt in seiner Familie.
„Nun, ich habe mit Doktor Prätorius persönlich gesprochen, also der Arzt sagt, dass das Wiesel“, hier schob Papa noch eine theatralische Pause ein. dass das Wiesel kerngesund ist. Keine Tollwut, alles in Ordnung.“
Am Tisch brach allgemeiner Jubel aus. Sean war von seinem Stuhl aufgesprungen, er klatschte in die Hände vor Freude und selbst Mama strahlte.
„Allerdings – und das ist merkwürdig, meint Doktor Prätorius, hat er bei dem Wiesel überhaupt nichts feststellen können. Nicht mal den kleinsten Bluterguss. Du hast doch gesagt, es wäre zwischen zwei schweren Steinen eingeklemmt gewesen, Sean.“
Sean nickte zu Bestätigung. „Und ich musste mich richtig anstrengen, die Steine von ihm wegzubekommen. Komisch, ich hätte gedacht, das Wiesel habe sich wenigsten eine Rippe gebrochen.“
„Nein, mit dem Tier ist alles in Ordnung, Wir sollen es heute Morgen noch abholen. Doktor Prätorius empfiehlt, es auch gleich wieder im Wald auszusetzen, wo es hingehört.“
„Och nö, Papa, einen Tag möchten wir den kleinen Kerl schon noch hierbehalten“, maulte Zoë. Und natürlich beeilte sich Sean, ebenfalls sein Interesse zu unterstreichen, das Wiesel nicht sofort in den Wald zu bringen. Schließlich gab es da noch eine Menge unbeantworteter Fragen. Sprach das Wiesel wirklich oder hatte er sich alles nur eingebildet? Und wenn es sprach? Wieso konnte es das? Wieso verstand er ein Tier? Also musste das Wiesel erst einmal wieder mit nach Hause kommen.
Natürlich hatte Papa nichts anderes erwartet. Er drückte sich natürlich ein wenig herum, sagte etwas von einem Käfig und wer den Dreck wegmachen würde, wenn das Wiesel irgendwo hinmacht und was so ein Wiesel frisst und trinkt. Es fehlte eigentlich nur das Argument mit den Nachbarn, die etwas einwenden könnten.
Da es ein Wochenende war, hatten die Kinder Zeit, das Wiesel abzuholen. Also radelten Sean und Zoë nach dem Frühstück in die Tierklinik und kamen mit vor Glück strahlenden Gesichtern zum Mittagessen mit dem Wiesel im Katzentransportkorb nach Hause.
Papa war gar nicht zu Hause. Er müsse noch einen Artikel schreiben, meinte Mama, und sei zur Recherche unterwegs. Gut so, dachte Sean. Zu seiner Mutter sagte er:
„Wir bringen den Käfig in meine Zimmer, da kann nichts passieren.“
Was sollte auch schon passieren? Im schlimmsten Fall hätte Mama darauf bestanden, das Tier im Wohnzimmer zu parken. Doch Gott sei Dank schien sie mit den Gedanken irgendwo ganz woanders zu sein. Sie murmelte nur:
„Jaja, ist gut. Seht nur zu, dass ihr gleich wieder runterkommt, das Essen ist fertig.“
Schnell huschte Sean mit dem Wiesel die Treppe hoch.
In seinem Zimmer angekommen, sperrte er die Tür ab. So etwas tat er natürlich sonst nie und er war sich nicht sicher, wie lange es dauern würde, bis seine Schwester versuchte zu ihm zu kommen, und dann nöhlend und laut schreiend an der Türklinke herumfingerte. Egal, er brauchte eine kurze Zeit allein mit dem Wiesel.
Das Tier lag in dem Katzentransportkörbchen eingerollt und schien zu schlafen. Sean klopfte ein paarmal auf die Plastikwand und das Wiesel öffnete endlich ein Auge und blinzelte ihn an.
„Aha, aufgewacht. Und? Verstehst du mich noch?“
Das Wiesel drehte ihm demonstrativ den Rücken zu und rollte sich wieder zusammen. Sean ärgerte sich. Er klopfte heftiger auf den Käfig.
„Halloooo!“
Keine Reaktion. Nicht mal ein Zucken.
„Hallöchen, Herr Wiesel, ich spreche mit Ihnen!“
Nichts.
Dafür bewegte sich die Türklinke und draußen polterte jemand gegen die Tür. Wie erwartet, fing Zoë sofort an zu lärmen.
„Eh, was soll ‘n das? Wieso hast du dich eingeschlossen? Mach sofort die Tür auf aber ein bisschen plötzlich!“
Um die Dringlichkeit zu unterstreichen, drückte sie ohne Unterlass die Klinke runter und trat gegen das Türblatt.
„Aufmachen!!!“
Sean resignierte. Das Wiesel sagt ja doch nichts. Enttäuscht wandte sich der Junge der Tür zu und griff nach dem Schlüssel.
„Heute Nacht, wenn alle schlafen, dann reden wir“, hörte Sean plötzlich laut und deutlich in seinem Kopf. Es sprach also doch.
Erleichtert drehte Sean den Schlüssel auf und während er sich vor der aufspringenden Tür mit einem Satz zur Seite in Sicherheit brachte, dachte er:
„Okay, heute Nacht, wenn alle schlafen.“.
Alle schliefen. Die ganze Wohnung war still, mucksmäuschenstill. Fast ganz mucksmäuschenstill. Zoë schnarchte in ihrem Bett vor sich hin. Aber nur ganz leise.
Sean lag unter seiner Decke und starrte aus dem Fenster. Er schlief nicht. Er war mit allen anderen zu Bett gegangen. Mama hatte die Gute-Nacht-Geschichte vorgelesen, wie jeden Abend. Küsschen, Licht aus. „Schlaf schön und träum was Süßes.“ Tür zu.
Sean hatte noch ein paar Sekunden gewartet und als Mama nicht noch einmal die Tür öffnete, war er leise aufgestanden und zum Katzenkäfig gegangen. Das Wiesel hatte sich zusammengerollt, den Rücken ihm zugewandt.
„He“, sagte Sean leise. „He du, bist du wach?“.