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Ein neuer Fall für den Privatdetektiv Steffen Schröder. Eine internationale Stadtentwicklungsfirma plant in Meißen ein Großprojekt umzusetzen. Der einzige Mann, der diesem Plan im Weg steht, wird ermordet. Die Ermittlungen der Polizei führen zu keinem Ergebnis. Da wird Steffen Schröder beauftragt, auf Mallorca zu ermitteln, wo die Firma bereits ein ähnliches Projekt realisiert. Und schon bald gerät Schröder in Gefahr, sein Herzen, seinen Verstand und sogar sein Leben zu verlieren.
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Seitenzahl: 234
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Falsche Engel küsst man nicht
Peter Braukmann
Für Sylvia
Copyright © 2017 Peter Braukmann
All rights reserved.
ISBN: 9 783961 112807
Im Vertrieb der Nova MD GmbH , Raiffeisenstr. 4, 83377 Vachendorf
Peter Braukmann
Peter Braukmann, geboren 1953, war von 1983 bis 1989 Produzent von Kabarett-Schallplatten und Radiosendungen, etwa mit Else Stratmann (Elke Heidenreich), Gerd Dudenhöffer, Ernst Stankovski und vielen anderen. Es folgte von 1991 bis 2004 redaktionelle Arbeit beispielsweise für Monty Python, Samstag Nacht, Die Wochenshow oder Hausmeister Krause, ausgezeichnet mit dem deutschen Comedy Preis. Seit 2005 lebt Peter Braukmann als freier Autor und Kulturmanager in Meißen. Falsche Engel küsst man nicht ist sein fünfter Roman.
Der Autor dankt Gabriele Haefs für ihre unermüdliche Hilfe und Udo Jäger aus Meißen, der das Titelbild fotografiert hat.
Alle in diesem Buch geschilderten Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären zufällig und nicht beabsichtigt
Frühjahr. Der Mai kann so schön sein. Wenn die Sonne sich häufiger blicken lässt und die Blätter an den Bäumen den Rest der Welt mit einem frischen grünen Schimmer belegen, der Herz und Seele wärmt, wenn man ihn denn wahrnimmt. Der Mann hatte das Frühjahr schon seit seinen frühen Kindertagen besonders geliebt. Ein neues Leben nahm Fahrt auf. Überall wuchs es in prächtigen Farben. Steuerte auf den Sommer zu. Dann kam der Herbst. Die meisten Arbeiten waren getan, die Felder abgeerntet, der Wein in Fässer gefüllt. Goldene Ähren lagen auf den Altären, die Kartoffelfeuer waren ausgebrannt. Alles schien getan zu sein. Die Welt wartete auf den Winter, den eisigen Tod und die Wiedergeburt im Frühjahr. Was für ein stimmiger Zyklus. Alles hatte seinen Platz, alles war richtig. Alles lief in ruhigen Bahnen. Selbst die irrsten Experimente der Menschen konnten den Lauf der Jahreszeiten nicht verändern, auf den Kopf stellen oder gar nichtig und vergessen machen. Und wenn dann erst der Regen fällt. Nicht der grobe Guss, der vom Himmel stürzt und die Menschen in die Häuser treibt. Der feine Regen, der wie Staub auf Haar und Schultern fällt. Schottischer Regen, angenehme Feuchtigkeit, die auf Blättern eine glänzende Haut bildet. Tropfen auf Blättern, die in der Sonne blitzten wie fein geschliffene Edelsteine.
Der Mann hatte eine braune Breitcordhose angezogen, dazu einen rostroten Pullover aus Irland, Schafswolle, braune Wildlederschuhe. Seine Barbourjacke war alt, verschlissen, an den Taschen erste Risse. Aber der Reißverschluss funktionierte noch einwandfrei und die Wachsbeschichtung erneuerte er jedes Jahr von Hand. Um 7:30 Uhr verließ er das Haus, den Hund an der Leine. Golden Retriever, Modehund, aber gut erzogen. Er brauchte die Leine nicht, doch die war Vorschrift. Und da waren die anderen Menschen. Die Besserwisser, die mit dem angeborenen Zeigefinger, die zu jeder Zeit und jedem Anlass ihren Senf dazugeben müssen. Einfach nicht das Maul halten können. "Hier ist Leinenzwang". Oder "Ihr Rasen könnte auch mal wieder gemäht werden." All jene, für die dieses Land bereits das Paradies war. Voll mit Vorschriften, Regeln, die angeblich dazu da waren, das freiheitliche Miteinander zu sichern. Eine seltsame Definition von Freiheit.
Ein zarter Regen war niedergegangen. Die Luft war gefüllt mit einer großen Frische. Der Mann öffnete die hintere Tür seines Autos und ließ den Hund auf die Hundedecke springen. Dann stieg er ein. Er fuhr ein paar Kilometer aus der Stadt. In der Nähe des Radwanderweges, der hier durch ein kleines Gehölz und dann durch Wiesen führte, parkte er seinen Wagen. Hier ging er jeden Morgen spazieren.
Er zog die frische Frühlingsluft tief in seine Lunge ein, dann nahm er dem Hund die Leine ab. Der Hund rannte wie gestochen den Weg entlang, bellte ein paar Freudenschreie aus sich heraus, dann hockte er sich in das Gras an der Seite, pinkelte und kackte, sprang auf, rannte bellend weiter. Den Mann erfüllte ein Gefühl tiefer Befriedigung. Er öffnete seinen Geist und erlaubte der morgendlichen Ruhe mit all ihrer Schönheit, in ihn einzudringen. Der Hund lief voraus, der Mann folgte ihm gemächlichen Schrittes.
Der Radfahrer hatte es eilig. Er hatte es immer eilig. Schließlich fuhr er ein viertausendsoundsoviel Euro teures Rennrad einer Firma mit bekanntem Namen. Er steckte in einem Renntrikot aus Polyester. An seinen Füßen trug er Radrennfahrerschuhe und an seinen Händen Radrennfahrerhandschuhe. Auf dem Kopf hatte er einen Radrennfahrerhelm. Alles leuchtete in den Farben eines bekannten Rennstalls, passend zum Rad. Nicht dass der Radfahrer beruflich Rad fuhr. Nein, das tat er seinem Körper zu Liebe. Jeden Tag, in den Farben eines erfolgreichen Rennstalls. 25 Kilometer hin und 25 Kilometer zurück, alles auf höchstem Niveau. Der Mann hatte selber höchstes Niveau. Er war schließlich ein besonderer Mann. Er leitete vielleicht eine Consulting Gesellschaft, war ein wichtiger Mann mit wichtiger Meinung. Vielleicht war er auch Abteilungsleiter oder Personalchef oder hatte die Aussicht, in Kürze eine ähnliche Position zu erringen. Dafür musste er fit sein, an Körper und Geist. In einem gesunden Körper ruht ein, ups, falsches Zitat. Und dennoch passte es zu dem Mann in seinem schnittigen Anzug auf dem turboschnellen Rad. Den Blick stetig nach vorn, Hindernisse wurden aus dem Weg geradelt. So wie der Kerl da vorn, der die Frechheit besaß, auf dem Radwanderweg spazieren zu gehen. Wann auch immer wieder ein rundes blaues Schild auftauchte, auf dem überm Strich Mutter mit Kind und unterm Strich ein Rad abgebildet waren, wandte er seinen Blick davon ab. Denn diese Strecke war nur für den Mann auf dem Rennrad angelegt worden. Die Schilder waren ein Irrtum irgendeiner Behörde. Jetzt sah er den Hund des Spaziergängers. Der Hund, der auf der rechten Seite des Weges auf dem Grünstreifen herumschnüffelte. Das geht ja nun gar nicht.
Und schon war er heran, rauschte lautlos an dem Spaziergänger vorbei, hob die rechte Hand mit dem Stinkefinger in die Höhe und schrie: „Nimm deinen Scheißköter an die Leine, Arschloch!".
Der Mann beobachtete seinen Hund, der friedlich neben dem Radwanderweg im Gras schnüffelte. Das Rennrad war nicht zu hören. Lautlos schoss es heran und vorbei. Der Mann bemerkte den ausgestreckten Stinkefinger und hörte die Beleidigung, die der Fahrwind ihm entgegentrug. Der Hund reagierte in keiner Weise, hatte die Schnauze tief in einen Maulwurfhügel vergraben und wedelte heftig mit dem Schwanz. Der Mann zog seine rechte Hand aus der Tasche seiner Barbourjacke, umklammerte die Glock mit Schalldämpfer mit beiden Händen, ging in Schusshaltung, visierte und schoss zweimal schnell nacheinander. Der Radfahrer wurde geradezu von seinem Rad katapultiert, stürzte vorn über den Lenker, schlug hart mit dem Gesicht auf dem Asphalt auf und rutschte mehrere Meter darüber hinweg. Das Fahrrad überschlug sich, prallte auf dem Vorderreifen auf, wurde erneut in die Höhe geschleudert und krachte schließlich neben seinem Fahrer auf den Asphalt. Der Mann bückte sich, sammelte die beiden Patronenhülsen auf, ließ sie in seiner Hosentasche verschwinden, dann ging er mit ruhigen Schritten auf den am Boden liegenden Fahrradfahrer zu. Der lag halb auf dem Rücken, unter dem sich schnell eine Blutlache ausbreitete. Der Radfahrer sah ihn an. Ein angstvoller, erstaunter Blick. Seine Lippen formten sich zu seinem Namen, hauchten ihn.
„Tja“, sagte der Mann und lächelte. „Sie hätten das Angebot annehmen sollen. Aber jetzt: Eins, zwei, drei – Chance vorbei.“
Er schoss dem Radfahrer direkt zwischen die Augen. Dann steckte er die Glock wieder in die Manteltasche, hob auch hier die Patronenhülse auf, pfiff nach seinem Hund und schlenderte um die Wegbiegung, hinter der er den Pfad in den Wald betrat. Minuten später war er im Goldgelb der Bäume untergetaucht.
Der Wagen glitt fast lautlos dahin. Seit vor zwei Jahren unfassbare Zuschüsse und steuerliche Vorteile beim Erwerb eines Elektrofahrzeuges gesetzlich geregelt worden waren, explodierte der Markt. Die neuen Batterien aus Amerika, mit denen eine Speicherkapazität von bis zu 700 km Fahrleistung gewährleistet wurde, hatten den Automarkt praktisch von heute auf morgen auf den Kopf gestellt. Ein Segen für das Klima, mochte man meinen, und eine Maschine zum Gelddrucken für die Autohersteller und den weiteren Markt. Und auch die Recyclingbetriebe rieben sich die Hände ob der fast unüberschaubaren Masse an Gebrauchtfahrzeugen, die niemand mehr kaufen wollte und die deshalb in den Verwertungskreislauf überführt wurden.
Der Mann fuhr einen dunkelblauen Tesla. Der Hund lag auf einer Decke auf dem Rücksitz und döste vor sich hin. Das Innere des Wagens wurde angenehm vom Sound einer uralten Produktion eines längst vergessenen Musikers ausgefüllt. Tubular Bells von Mike Oldfield. Heute eine digitale Hybridfassung, klar wie Quellwasser, aus den im Wagen unsichtbar verteilten 10 Lautsprechern erklang jeder Ton perfekt hörbar und ausgewogen gebettet in den gesamten Sound. So beruhigend, so einfühlsam, so schlicht ergreifend. Der Mann hatte die drei Patronen in seiner Waffe ersetzt und diese in dem Handschuhfach des Autos verschwinden lassen. Jetzt fuhr er Dank Tempomat mit 130 km auf der Autobahn in Richtung Berlin, die untergehende Sonne vor Augen. Es quälten ihn keinerlei Gewissensbisse. Sicher, er hatte einen Menschen kaltblütig ermordet. Aber so etwas hatte er ja schon vorher getan. Der Radfahrer war genau nach Plan gekommen. Und dann noch die provokante Art, die Beleidigung und die geringe Wertschätzung, die er seinem Hund gegenüber an den Tag gelegt hatte. Diese Überheblichkeit, diese Arroganz, zum Kotzen. Der Mann war mit sich zufrieden, er ruhte in sich und die Musik umspielte seine Seele. Er fragte sich nicht, ob der Radfahrer vielleicht Familie hat, ob daheim eine Mutter auf ihn wartete, die seiner Hilfe bedurfte. Diese Fragen waren einfach nicht relevant. Er hätte halt das Angebot annehmen sollen. Sein Pech. Der Tesla glitt von der Autobahn auf eine Tankstelle. Zeit für eine Tasse Kaffee und einen kleinen Imbiss.
Der Fahrradweg war abgesperrt. Keiner kam hier durch und die Polizeibeamten an den Absperrbändern hatten alle Hände voll zu tun, die verärgerten Fahrradfahrer zu beruhigen.
Am Tatort war die Spurensicherung bei der Arbeit. Der Polizeiarzt hatte die Leiche eingehend untersucht und zum Abtransport freigegeben. Er wollte noch am selben Tag die Obduktion durchführen.
Gläser stand in seinem abgetragenen Mantel am Tatort und beobachtete die Kollegen bei der Arbeit. Er sah übernächtigt aus. Sein Haar war ungekämmt. Zum wiederholten Mal fuhr er mit der Hand durch die Haarpracht, was die Frisur auch nicht verbesserte. Gläser war Hauptkommissar bei der Mordkommission Dresden. Sein junger Assistent trat zu ihm.
„Was gibt’s?”, knurrte Gläser schlecht gelaunt.
Der Assistent räusperte sich. Dann hielt er Gläser einen Personalausweis hin.
„Den hatte der Tote in seiner Tasche”, sagte er.
„Der Mann heißt Mathias Gruber, 52 Jahre alt, wohnhaft in Meißen.”
„Schon gut”, schnauzte Gläser und nahm dem Mann den Personalausweis aus der Hand. Er studierte das Dokument. Dann gab er es dem Assistenten zurück.
„Checken Sie mal die Anschrift. Sonst noch was?”
Der Assistent nickte.
„Hier, das Handy hatte er bei sich.”
„Und? Können wir damit jetzt schon was anfangen? Also, ist es eingeschaltet?”
„Ja. Ich habe das Register bereits überprüft.”
„Und?”
„Nun ja, da gibt es ein paar Einträge, die zu seinen Angehörigen gehören. Da haben wir einen Eintrag mit Mutter oder einen mit Maria, vielleicht seine Frau.”
„Überprüfen Sie die Nummern, ehe wir da anrufen. Verstanden?”
Der Mann nickte.
„Dann mache ich mich mal an die Arbeit.”
„Ich bitte darum, aber Zackzack”, befahl Gläser und folgte dem Mann zu dem nahestehenden Spezialfahrzeug, in dem er sich augenblicklich einer Computerabfrage widmete.
„Habt ihr schon was für mich?”, rief Gläser den Männern von der Spurensicherung zu.
Einer der in weiße Schutzanzüge gekleideten Männer blickte hoch.
„Bis jetzt nicht viel”, sagte er. „Drei Einschüsse. Zwei in den Rücken, Steckschüsse. Und einer in die Stirn. Durchschuss. Das Projektil haben wir, ziemlich deformiert. Sieht nach 9 mm aus, Handfeuerwaffe. Das ist alles.”
„Ist ja nicht viel”, maulte Gläser.
„Den Mörder kann ich dir nicht liefern, Gläser. Das ist dein Ding.”
Dann wandte er sich wieder seiner Arbeit zu.
Gläser schnaufte verärgert. Warum um alles in der Welt knallt jemand einen Fahrradfahrer ab?
Er schüttelte seinen Kopf.
Sein Assistent trat an ihn heran.
„Herr Gläser.”
„Was ist?”
„Ich habe einige der Telefonnummern überprüft. Eine gehört zu einer Immobilienverwaltung in Meißen. Möglicherweise sein Arbeitsplatz?”
„Und, haben Sie da angerufen?”
„Ich dachte, das sollten Sie besser machen.”
„Dachten Sie? Aha. Vielleicht haben Sie recht. Geben Sie mal her.”
Der Assistent reichte ihm einen Zettel. Gläser nahm sein Handy und wählte die Nummer, die auf dem Zettel stand.
Eine Frauenstimme meldete sich.
„Guten Tag, Gläser mein Name. Ich würde gern mit Herrn Gruber sprechen”, sagte Gläser.
„Der Chef ist noch nicht im Haus. Kann ich etwas ausrichten?”, fragte die Frau.
Na dann, dachte Gläser, dann wird er auch nicht mehr kommen. Zu der Frau sagte er:
„Ich fürchte, Ihr Chef wird nicht mehr kommen. Noch einmal, mein Name ist Gläser, und ich bin Hauptkommissar bei der Mordkommission. Ihrem Chef ist etwas zugestoßen und ich werde jetzt zu Ihnen kommen. Bitte behandeln Sie dieses Telefonat diskret. Wo finde ich Sie in Meißen?”
Stille. Offenbar musste sich die Dame sammeln. Dann nannte sie Gläser eine Adresse und er versprach, in einer halben Stunde bei ihr zu sein. Gläser hastete zu seinem BMW.
Ich schloss die Wohnungstür ab, drehte mich um und gab den Haustürschlüssel Annemarie.
„Danke, Schröder“, sagte sie und ließ den Schlüssel in ihrer Handtasche verschwinden.
Das war es dann wohl. Annemarie war meine Lebensgefährtin – gewesen. Wir hatten uns vor gut fünf Jahren ineinander verliebt. Sie war meine Traumfrau. Wesentlich jünger als ich, wunderschön und liebreizend. Ich hatte sie kennengelernt, als ich dringend das Fachwissen eines Computerfachmanns bei einem meiner Fälle benötigte, den ich als Privatdetektiv bearbeitete. Eines kam zum anderen. Dann waren wir ein Paar. Annemarie war einer dieser Internetfreaks, vor dem keine Firewall sicher war. Sie verdiente damit einen Haufen Geld. Ich brauchte nicht mehr zu arbeiten, was mir irgendwie gefiel. Nach einem dramatischen Zwischenfall, bei dem ich fast erschossen worden wäre, hatten wir meinen Heimatort Meißen verlassen und waren nach Berlin gezogen. In unserer wunderbaren Wohnung über den Dächern der Hauptstadt hatten wir schöne, intensive Jahre verlebt. Dann, vor gut einem Vierteljahr, eröffnete sie mir, dass sie einen Job bei Google in den USA angeboten bekommen hatte, den sie unbedingt machen wollte. Ich hatte keinen Bock auf die Staaten. Und so entschieden wir uns zur Trennung. Auf Zeit? Für immer? Egal, es war die Entscheidung von zwei erwachsenen Menschen, die beide wussten, dass nichts für immer war. Also verkaufte Annemarie unsere Wohnung samt Inventar. Wir teilten das Geld und versprachen einander, uns nicht aus den Augen und dem Herzen zu verlieren. Leichter gesagt als getan.
Als sie jetzt so vor mir stand, lächelnd und mit hängenden Schultern, wollte ich sie nicht gehen lassen. Doch die Würfel waren gefallen. Sie nahm mich in ihre Arme und drückte mich.
„Mach es gut, Schröder“, flüsterte sie in mein Ohr und hauchte mir einen Kuss auf die Lippen. Dann drehte sie sich um und ging die Treppe hinunter, ohne sich noch einmal umzusehen. Ich stand da, wie ein begossener Pudel. Ich riss mich zusammen und verließ das Haus, in dem wir so viele glückliche Stunden verlebt hatten. Mir war zum Heulen. Doch dazu wollte ich es nicht kommen lassen. Auf der Straße winkte ich nach einem Taxi und ließ mich nach Moabit fahren in meine Lieblingskneipe „Walhalla“. Die Kneipe war gerammelt voll. Champions League. Auf der Großbildleinwand verlor Borussia Dortmund gerade gegen Real Madrid. Ich ergatterte einen Platz im hinteren Bereich. Das Spiel verfolgte ich halbherzig. Vielleicht sollte ich nach Meißen zurückkehren? Dort hatte ich noch immer meine Wohnung, die leer stand. Ordentlich angetrunken beschloss ich, dahin zurückzukehren. Das Fußballspiel endete, die Fans verließen frustriert die Kneipe. Nach einem weiteren Bier und einem Tequila brachte mich ein Taxi zurück nach Kreuzberg zu meinem Auto. Ich klappte den Beifahrersitz nach hinten, wickelte mich in eine alte Decke ein, die ich für solche Fälle im Wagen hatte, und schlief ein. Nach einer traumlosen Nacht wachte ich am nächsten Morgen um sechs Uhr auf. Ich stieg aus, pinkelte in die Büsche, dann startete ich mein Auto und begab mich in Richtung Meißen.
Kurz vor acht Uhr parkte ich am Kleinmarkt, bezahlte für einen ganzen Tag, schnappte mir meine Reisetasche von der Rückbank und marschierte über den Marktplatz in die Burgstraße zu meiner alten Wohnung. Ich war über drei Jahre nicht mehr hier gewesen. Entsprechend sah die Wohnung aus. Es roch nach abgestandenem Leben, Spinnengewebe dominierten. Es war kalt. Aber sonst war alles beim Alten. Ich öffnete alle Fenster, stellte den Kühlschrank an. Im Schlafzimmer war das Bett gemacht, wie ich es verlassen hatte. Ich warf mich in die Kissen und fiel in einen tiefen Schlaf. Ich war Zuhause ohne zu wissen, was das für mich bringen würde.
Gläser hatte die Schnauze gestrichen voll. Das Immobilienbüro war voller junger, schöner Menschen. Jeder von ihnen, ob Mann oder Frau, versicherte im Brustton der Überzeugung, dass ihr Chef der netteste, kompetenteste, fairste Mensch der Welt gewesen war. Natürlich hatte er keine Feinde. War überall beliebt. Das Geschäft lief wie geschnitten Brot. Immerhin befanden sich jede Menge interessanter Immobilien im Stadtkern von Meißen im Besitz von Mathias Gruber.
Ja, der Chef war jeden Morgen Fahrrad gefahren. Egal, ob es regnete, schneite oder die Sonne schien. „Kontinuität ist die Grundlage jeden Erfolges“, war sein wichtigster Aussagesatz gewesen. Eine Frau gab es nicht in seinem Leben. Nein, homosexuell sei er nicht gewesen. Sicher gab es manchmal kleine Affären, aber nichts auf Dauer. Dazu gab es gar keine Zeit. An erster Stelle stand der Beruf, der Erfolg, das Geld und die Anerkennung.
Gläser gähnte. Dann nahm er einen tiefen Schluck aus dem Bierglas, das vor ihm auf dem Tisch in seiner Stammkneipe stand, einem griechischen Restaurant namens „Goldener Ring“ in Meißen. Vor zwei Jahren hatte er sich entschlossen, von Dresden nach Meißen zu ziehen. Hier waren die Mietpreise noch zu ertragen. Gläser hatte Glück gehabt und eine schöne Wohnung in der Altstadt bekommen.
Und nun war der Immobilienhai Mathias Gruber tot. Einfach von seinem teuren Fahrrad heruntergeschossen.Wie es nach den ersten Erkenntnissen aussah, gab es keinen Grund für den Mord. Schön, es war sicher noch viel zu früh, um auch nur ein Zwischenergebnis anzustreben. Dennoch, der Instinkt sagte Gläser, dass er es hier mit einem kniffeligen Fall zu tun hatte. Wahrscheinlich hatte der Mörder spontan gehandelt, dachte Gläser. Hat einen x-beliebigen Menschen abgeknallt. Das hätte sicher auch irgendwer anderer als dieser Gruber sein können. Wenn der Instinkt Gläser nicht täuschte, dann kam eine Menge Arbeit auf ihn zu. Um Klarheit zu bekommen, hatte er den Prokuristen der Firma aufgefordert, eine Übersicht über alle Geschäftsabläufe der vergangenen Monate zusammenzustellen. Der Mann hatte ihm zugesagt, dies kurzfristig zu erledigen.
Gläser trank sein Glas leer und bestellte beim Barkeeper Ralf ein neues und einen doppelten Ouzo. Aus dieser Sackgasse half ihm auch ein guter Rausch nicht. Aber ein guter Rausch machte es erst einmal leichter.
Gläser hatte echt beschissen geschlafen. Jede Menge schlechter Träume.
Als er an diesem Morgen das Polizeipräsidium betrat, umschlich ihn ein ganz ungutes Gefühl. Er sollte recht behalten. Er war kaum an seinem Platz angekommen, als er zu einer Besprechung gerufen wurde. Im Konferenzraum traf er auf eine Ansammlung von Menschen, von denen er außer dem Polizeipräsidenten und der Oberstaatsanwältin niemanden kannte.
Der Polizeipräsident bat die Anwesenden Platz zu nehmen. Dann ergriff er das Wort.
„Wie Sie sehen, meine Damen und Herren, haben wir heute eine erweiterte Runde. Ich darf die Oberstaatsanwältin Frau Regina Müller und den Hauptkommissar Herrn Gläser begrüßen. Des weiteren Herrn Hajo Krause aus dem Innenministerium der Staatskanzlei Dresden.“
Gläser konnte einen genervten Grunzer nicht unterdrücken.
„Herr Gläser“, fuhr der Polizeipräsident fort. „Ich bitte um eine kurze Zusammenfassung der bisherigen Ermittlungsergebnisse.“
Gläser räusperte sich.
„Darf ich erfahren, wieso wir hier in so prominenter Runde beisammen sind?“
„Dürfen Sie“, sagte der Polizeipräsident. „Mathias Gruber war nicht irgendwer. Sein Immobilienbesitz in Meißen und die damit verbundenen wirtschaftlichen Aktivitäten prägen das Stadtbild von Meißen entscheidend. Gruber war eng mit Oberbürgermeister Overstolz befreundet. Im Zusammenwirken mit dem Wirtschaftsentwickler der Stadt, Herrn Schmitthuber, waren und sind Grubers Planungen außerordentlich wichtig für die weitere Zukunft der Stadt Meißen. Dazu kommt, dass Gruber einen engen, auch politischen Kontakt zur Landesregierung pflegte. Kurzum, auch die Landesregierung hat ein gesteigertes Interesse an einer schnellen Aufklärung. Also, was haben Sie?“
„Nun, zum jetzigen Zeitpunkt herzlich wenig. Ich warte auf die Informationen aus Grubers Büro, welche Verhandlungen, Planungen und so weiter in den letzten Monaten durchgeführt wurden. Eventuell ergeben sich so Erkenntnisse, die den Mord aus der augenblicklichen Niemandszone heraus in einen konkreten Zusammenhang bringen.“
„Auf den Punkt gebracht, Herr Gläser, Sie haben also nichts Konkretes“, stellte Staatssekretär Krause fest.
„Exakt. Das ist auch heute, einen Tag nach dem Mord nicht unbedingt zu erwarten. Lassen Sie uns bitte unsere Arbeit tun. Ich verspreche Ihnen, das dies absoluten Vorrang hat.“
Krause schnaufte ärgerlich.
„Das erwartet die Landesregierung auch von Ihnen, Gläser. Also halten Sie sich ran.“
Gläser nickte.
„Gut, meine Damen und Herren. Dann an die Arbeit.“
Der Polizeipräsident schlug seinen Aktenordner zu und damit war die Sitzung beendet.
Gläser sammelte seine Unterlagen zusammen. Das hatte er auch noch nicht erlebt. Da geschah ein ganz normaler Mord und sofort stand die Landesregierung auf der Matte. Das stank doch gewaltig. Da war doch mehr im Spiel, als das Geschäft eines Immobilienhais. Er benötigte umso dringender das Material des Prokuristen. Ihm war nach einem doppelten Espresso, und zwar einem richtigen. Nicht diesen Miniplastikmüll aus der Kaffeemaschine im Präsidium. Er verließ wortlos sein Büro. Als er aus dem Gebäude trat sah er einen Mann, der an einem Laternenpfahl lehnte und ihn frech angrinste. Pavel Ostrofki. Ostrofski winkte ihm mit einer Hand zu, dann kam er auf ihn zu. Das hatte Gläser gerade noch gefehlt. Ostrofski, der König der Unterwelt Dresdens. Was wollte der denn von ihm?
„Tag, Gläser“, rief Ostrofski fröhlich. „Sie sehen ja ganz schön beschissen aus.“
Gläser grunzte irgendetwas Unverständliches.
„Da hilft ein doppelter Espresso. Ich lade Sie ein, wenn Sie nichts dagegen haben“, schlug Ostrofski vor.
„Wenn es sein muss“, antwortete der Hauptkommissar.
„Gehen wir zu dem italienischen Restaurant am Pulverturm. Da gibt es den besten Espresso der Stadt.“
„Woher wollen Sie das wissen, Ostrofski?“
„Es gehört mir“, meinte der gut gelaunt.
„Aha. Wieso habe ich mir das schon gedacht?“, knurrte Gläser.
„Weil Sie es wissen, Gläser. Sie wissen doch alles über mich. Kommen Sie schon. Ich habe irgendwie das Gefühl, dass Sie meine Hilfe brauchen können.“
Gläser hatte nicht nur zwei doppelte Espresso getrunken. Dazu genehmigte er sich das ausgezeichnete Tiramisu. Seine Laune besserte sich mit der Qualität der eingenommenen Genussmittel.
„Also, Gläser“, hob er an. „Der Mord in Meißen bereitet Ihnen Kopfschmerzen, stimmt’s?“
Gläser nickte.
„Sie wissen ja sicher, dass ich auf Rente bin. Ich habe alle Zeit der Welt und immer noch, sagen wir es mal vorsichtig, die einen und anderen Kontakte. Ich habe große Lust, ein wenig rumzuschnüffeln. Vielleicht finde ich ja heraus, wer dieser geheimnisvolle Killer ist. Was meinen Sie?“
Gläser schüttelte sein Haupt.
„Der Edelkriminelle Pavel Ostrofski will den Privatermittler spielen. Was soll das denn?“
„Na ja, vielleicht aus Langeweile.“
„Hören Sie doch auf mit dem Blödsinn, Ostrofski. Was treibt Sie wirklich an?“
„Wenn ich ehrlich sein soll, dann befürchte ich, dass der Killer gerade erst angefangen hat. Wenn das so ist, dann werdet ihr bald völlig am Rad drehen. Jeden Stein umwenden, wie ihr es nennt. Das kann für meine Freunde, die heute meine Geschäfte weiterführen, eventuell hinderlich sein. Und eines kann ich Ihnen garantieren. Was immer Sie aus dem Büro vom Gruber an Informationen bekommen werden, wird nur die halbe Wahrheit sein.“
„Aha, was wissen Sie, was ich wissen muss?“, sagte Gläser.
„So nicht“, entgegnete Ostrofski. „Warten Sie ab, was Sie an Informationen bekommen. Dann reden wir weiter.“
„Das ist mir, ehrlich gesagt, zu schwammig, um mich auf einen Deal mit Ihnen einzulassen.“
„Verstehe ich“, lächelte Ostrofski und schob eine Visitenkarte über den Tisch.
„Meine persönliche Telefonnummer. Wenn Sie es sich überlegt haben, rufen Sie mich an.“
„Ich habe keine Lust, mit Ihnen ein Geschäft einzugehen.“
„Ach, Gläser. Nun seien Sie mal nicht so. Wir wissen doch beide, wie der Hase läuft. Wenn wir beide in der Sache kooperieren, dann können wir den Ball flachhalten und im besten Fall den Kerl schnell aus dem Verkehr ziehen. Das ist in beiderseitigem Interesse.“
Gläser grübelte. Dann nickte er und sagte:
„Okay. Wir werden sehen. Was auch immer kommt, das bleibt unter uns. Inoffiziell, ist das klar?“
„Gut. Sagen Sie mir, wo wir stehen und dann mache ich mich an die Arbeit.“
Gläser bestellte noch einen Espresso.
Ich wachte gegen acht Uhr auf. Ich hatte traumlos und unerwartet gut geschlafen. Draußen schien die Sonne. Nach einer ausgiebigen Dusche und einer sorgfältigen Rasur entschloss ich mich, erst einmal in der Stadt zu frühstücken und dann einzukaufen. Ich zog meinen schwarzen Cordanzug an, dazu ein schwarzes Hemd, ohne Krawatte, und bequeme schwarze Wildlederslipper. Die Burgstraße war reichlich unbelebt. Viele der Geschäfte standen leer. Es gab ein paar Boutiquen, ein gehobenes Schuhgeschäft, auch der Billigklamottenladen war noch da. Der vietnamesische Betreiber stellte gerade seine Klamottenständer auf den Gehweg. Das Journalcafé gegenüber der Frauenkirche hatte geöffnet. Ich bestellte ein Frühstück mit Rührei und Wurst und Käse, dazu einen doppelten Espresso mit Wasser. Ich hatte gerade eine Gabel Ei mit einem Schluck Kaffee heruntergespült, als ein weiterer Gast das Café betrat. Ich traute meinen Augen nicht. Es handelte sich um Hauptkommissar Gläser, den Weggefährten aus lange vergangenen Tagen. Es war schon lustig zu beobachten, wie der Glanz des Wiedererkennens über sein Gesicht huschte, als er mich wahrnahm. Er trat an meinen Tisch und breitete die Arme aus.
„Junge, Junge, wenn das nicht Steffen Schröder ist. Lass dich umarmen.“
„Was um alles in der Welt tust du denn hier“, fragte ich.
„Du wirst es nicht glauben, Schröder, ich wohne in Meißen. Aber was machst du hier? Ich dachte, du bist in Berlin.“
Er setzte sich zu mir und ich berichtete ihm von meinem traurigen Ende mit Annemarie und meiner augenblicklichen existenziellen Leere.
„Da habe ich eventuell eine gute Therapie für dich“, meinte Gläser. Dann erzählte er mir von dem Mord an Mathias Gruber, Ostrofskis Angebot und seiner Ratlosigkeit, wie es mit dem Fall weitergehen sollte.
„Das ist doch genau dein Ding“, sagte Gläser. „Du bist ein begnadeter Privatermittler, dann ist da noch Andrea, der alles über Ostrofski weiß.“
Andrea war mein bester Freund. Und er war die rechte Hand des Gauners Ostrofski. Ein Bilderbuchkrimineller, mit dem ich vor Jahren einen Deal gemacht hatte, aus dem sich eine ungewöhnliche Freundschaft entwickelt hatte. Ich ließ Andrea mit all seinen Machenschaften in Ruhe. Im Gegenzug stand er mir zur Seite, wenn es echt brenzlig wurde. In der Vergangenheit hatte er mir oft den Rücken freigehalten und das eine oder andere Mal hatte er sogar mein Leben gerettet.
„Ich habe nichts zu tun, Gläser. Also warum nicht?“
Das war vielleicht der Strohhalm, an den ich mich klammern konnte, um nicht in meinem Seelenschmerz unterzugehen.
Gläser grinste über sein ganzes Gesicht, als er sagte:
„Abgemacht. Ich lasse dir alles zukommen, was ich habe. Und du klärst den Fall.“
„Witzbold“, entgegnete ich und wir schlugen ein.
Gläser hatte sich verabschiedet. Ich blieb noch ein wenig sitzen und trank einen weiteren Kaffee, da klingelte mein Telefon.
„Hier Sonnemann“, meldete sich eine bekannte Stimme. Sonnemann war Staranwalt mit Praxis in Meißen. Wir hatten häufiger miteinander zu tun gehabt. Dabei war mir Sonnemann ein fairer, offener Partner gewesen.
„Hallo Herr Sonnemann, lange nichts voneinander gehört.“
„Wo stecken Sie, Schröder. In Berlin? In Irland?“
„Sie werden es nicht glauben. Ich bin in Meißen und frühstücke gerade im Journal Café.“
„Wow. Wie kommt’s?“