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Im 14. Jahrhundert haben es die Bewohner des Ortes Trautskirchen nicht unbedingt leicht. Sie müssen mit extrem kalten Wintern, Überschwemmungen, Hungersnöten und Überfällen zurechtkommen. Die Trautskirchner, wie Odo und seine Familie, arbeiten und kämpfen sich bestmöglich durch die harten Jahre. Auch dank des weisen Einsiedlers Wilhelm, der im nahegelegenen Dunkelwald sein Zuhause hat, kommen sie durch diese schwierige Zeit. Gerade als sich die Lage für die Dorfbewohner erneut zuspitzt, kündigt sich ein neuer Grundherr an, der das Leben der Dorfbewohner entscheidend verändern könnte.
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Seitenzahl: 611
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Alexander Hetzer, aufgewachsen im idyllischen Trautskirchen (Mittelfranken), entdeckte schon in früher Jugend seine Liebe zur Literatur und Poesie.
Von dieser Leidenschaft profitieren bis heute all seine Schüler, die er seit 2010 an unterschiedlichen bayerischen Schulen, u.a. in Deutsch und Geschichte sowie Sozialwesen, unterrichtet.
Besondere Kreativität zeigt er in diversen Schulmaterialien, zahlreichen Projekten sowie Kirchweihzeitungen, Lehrermagazinen und etlichen Presseartikeln.
Auf sein Erstlingswerk „Familie Rotfisch geht auf Reisen“, folgte 2024 die Fortsetzung „Kim Rotfischs neues Abenteuer“. Nach diesen Kinderbüchern, die er für seine Söhne schrieb, stellt das aktuelle Werk, „Trautskirchen – Schatten eines Dorfes“, seinen ersten historischen Roman dar.
Personen
Georg, der Schäfer
Melchior, sein Hund
Benjamin, sein Enkelsohn
Wilhelm, ein Einsiedler, der alleine im Dunkelwald lebt
Max, Wilhelms halbzahmer Wolf
Odo, der Findling aus dem Wald
Ännlin, Odos (Halb-)Schwester
Margarete, Odos Mutter
Eduard, der Schäfer und Odos Stiefvater
Eleonore und Otto, die Eltern von Eduard
Jobst und Lina, die Eltern von Margarete
Dieter, der Müller mit seiner Frau Eva
Bettl und Hans, die Eltern Dieters
Anselm, Pfarrer
Martin, Schankwart
Constantin, ein Alchemist
Lambert, verwitweter Schmied und den Kindern Sibert, Hans, Peter und Gundl
Konrad, der Steinmetz und seine Frau Agnes mit den Eltern Walter und Ennlin
Reinhard, der Zimmermann mit Frau Sophia und den Kindern Adam und Ingmar
Falk, ein weiterer Schäfer und Vater von Rudolf
Magnus, der Totengräber
Ursel, die Frau von Magnus und die Kinder Wenzel, Guda und Volmar
Heinrich, ein Bauer mit seiner Frau Emma und den Kindern Jakob, Dorothea, Katharina und Bruno
Kasimir, ein Bauer mit seiner Frau Gertrud und den Kindern Barbara und Johann
Gerald, ein Bauer und seine Frau Klara mit den Kindern Eckard und Hubertus
Tagelöhner Albert, Diethard, Theo, Josef und Ferdinand
Historische Persönlichkeiten:
Kaiser Karl IV.
Arnold von Seckendorff und seine Frau Clementia
Eppelein von Gailingen
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Als sich der Vorhang der Nacht langsam und unbeobachtet über das Dorf und die Hügel legte, brachte Georg gerade sein letztes Schaf in den provisorisch aufgestellten Nachtpferch. Sein treuer Hund Melchior war seit vielen Jahren stets zuverlässig an seiner Seite geblieben und so war es auch heute. Zufrieden lächelnd streichelte der alte Schäfer das Tier. „Mein guter Junge. Du und ich – für immer. Auf dich kann ich mich verlassen, egal was kommt.“ Beide waren schon im Herbst ihres Lebens angekommen und waren sich so nahe, wie man sich eben nur sein konnte. Sein Schäferhund genoss die Zuneigung und leckte an der Hand seines Herrn. Sie kannten sich schon so lange, dass er sich ein Leben ohne seinen treuen Begleiter gar nicht mehr vorstellen konnte. Niemand kannte den alten Georg besser als sein Hund. Im Dorf und der unmittelbaren Umgebung wurde allerlei gemunkelt, meist leeres Geschwätz und uninteressante Gerüchte, woher er sein Wissen über Medizin hatte. Daran war er gewöhnt, sie vertrauten ihm schließlich, auch wenn er nicht in ihrer Mitte wohnte. Er wusste über vieles Bescheid. Wenn sich ein Mensch oder ein Tier verletzte, konnte er meist helfen. Er schiente und heilte Brüche, Schnittwunden und sogar entzündete Verletzungen konnte er durch sein geschultes Wissen über die heimische Pflanzenwelt wieder in Ordnung bringen. Aber ein Arzt? Nein, das war er nicht. Er hatte das alles, was er wusste, von seinem Vater, Großvater und den anderen Vorfahren gelehrt bekommen. Schäfer gaben schon immer ihr Wissen von Generation zu Generation weiter, das war alles. Das Dorf brachte auch oftmals kranke Kinder zu ihm, was für ihn einen großen Vertrauensbeweis darstellte. Er sah sie sich intensiv an, untersuchte sie und heilte sie, so gut er konnte. Das Lächeln in den gesunden Kinderaugen war ihm Lohn genug, Geld hatte er noch nie genommen. Georg half gern und war froh, ab und an gebraucht zu werden – ein ehrlicher Dank war ihm mehr wert, als alles Geld der Welt. Er war nie sehr gesprächig, doch war den Dorfbewohnern seine Meinung wichtig. Sie kamen zu ihm, um ihn um Rat und nach seiner Ansicht zu fragen. Er hatte die besondere Gabe, den Menschen direkt ins Herz zu sehen. Er erkannte, ob es jemand ehrlich mit ihm meinte, oder ob er etwas im Schilde führte. Ebenso gerne war er auch für sich allein – mit Ausnahme seines treuen Schäferhund-Freundes Melchior. Mit ihm verband ihm eine tiefe Zuneigung. Sie konnten miteinander Schweigen und sich dennoch sicher sein, dass sie sich immer auf den anderen verlassen konnten. Bedingungslose Liebe eben – vom ersten Tage an. Das Tier hatte ihn gerettet. Gerettet vor sich selbst, nachdem seine Frau gestorben war. Melchior war es, der ihn wieder zurück ins Leben geführt, ihm neuen Mut gegeben hat. Mit ihm war alles einfacher.
In aller Seelenruhe steckte sich der alte Schäfer sein Pfeifchen an, ließ sich auf dem Hügel über dem Dörfchen Trautskirchen nieder, legte seinen langen Hirtenstab neben sich auf den Boden, seufzte einmal tief und genoss die Stille. Gedankenversunken beobachtete er die einzelnen Sterne, die langsam am Himmel erschienen und diesen erleuchteten. Seine dunklen, gezeichneten Augen lagen unter kräftigen Augenbrauen, sein Haar zeigte schon deutliche graue Stellen und der lange Bart war bereits völlig ergraut, doch das machte ihm nichts. Solche Oberflächlichkeiten interessierten ihn nicht. Wie alt er wirklich war, wusste er selbst nicht mehr. War es wichtig? Er konnte seine tägliche Arbeit noch gut alleine verrichten und selbst beschwerliche Wege stellten für ihn kein Hindernis dar, Georg brachte seine Schafe immer wohlauf an sein Ziel. Seine Bewegungen waren nicht mehr so unbeschwert wie noch vor einigen Jahren, wirkten eher bedächtig und ruhig, aber sicher. Der sichelförmige Mond stand hoch über ihm am Himmelszelt und der graublaue Schatten der Nacht legte sich langsam immer tiefer ins Tal. Der Ort ging schlafen. Sein Ort. Seine Heimat. Sein Trautskirchen.
Der Schäfer beobachtete einen Schwall Pfeifenrauch, der seinen Mund verließ und sich auf dem Weg in Richtung der feuchten Wiese verlor. Waren wir alle so vergänglich wie der Pfeifenrauch? Er kannte seine Herde und seinen Ort wie seine Westentasche, auch das nahe Umland hatte er schon mehrere hundert Male durchzogen und lieben gelernt. Im Zenntal, in welchem sich sein Trautskirchen befand, war er geboren worden und dort werde er auch seine letzte Ruhestätte finden. So war es ihm vorgesehen. Immer wenn lautes Geschrei oder das Geräusch der arbeitenden Bevölkerung mit dem Wind zu ihm getragen wurde, wich Georg zu seiner Schafherde auf der Weide aus. Von Weitem waren hin und wieder auch Rufe zu hören, doch die ließen ihn meist kalt, denn sie störten seine Schafe auch nicht. Sie fühlten sich bei ihm sicher, außerdem wurden sie von seinem treuen Schäferhund gehütet und beschützt. Wenn er dann durch seine Herde spazierte, ließen sie sich nicht einmal beim Fressen stören. Das war schließlich das, was sie fast den ganzen Tag lang tun sollten. Früh am Morgen ließ er die Schafe aus dem Pferch, dem Nachtlager sozusagen, und ging mit ihnen auf die Weide. War das Gebiet dann abgegrast, zogen sie alle zusammen weiter und suchten sich die nächste Wiese aus. Dazwischen gab es je nach Temperatur ein bis zwei Stunden Pause zum Wiederkäuen im Schatten oder zum Trinken an einem Bachlauf. Die Schafe waren genügsam, genau wie er. Die Wiesen, auf denen sie grasten, waren nicht immer saftig und grün, manchmal waren sie sogar steinig und dürr. Dennoch wurden alle immer satt. Auch Georg selbst hatte keine großen Ansprüche. Er bekam all das, was er zum Leben brauchte, direkt von der Natur: klares Quellwasser sowieso, frische, schmackhafte Pilze oder knackigen Feldsalat – Schafmäule nannte er ihn – der Tisch der Natur war reich gedeckt. Je nach Jahreszeit pflückte er sich auch frisches Obst von den Bäumen, denn er wusste selbstverständlich wo die besten Birnen und Äpfel zu holen waren. Oft hatte er auch ein paar Scheiben Brot dabei, die er von den Dorfbewohnern bekam und welche er gewiss mit seinem treuen Schäferhund teilte. Er lebte für seine Schafe, das ganze Jahr hindurch, sein ganzes Leben lang, kein einziger freier Tag und trotzdem machte er es nach wie vor gerne. Einen richtig festen Wohnsitz hatte er, seitdem er Witwer war, nicht mehr, denn er war schon immer dort am liebsten, wo seine Schafe waren. Und das war das, was er seit er das erste Mal mit seinem Großvater auf die Weide ging, wollte. Da war er vielleicht zwei Jahre alt gewesen. Seitdem war viel passiert. Zufrieden lächelte Georg und streichelte wieder seinen besten Freund, Melchior, der sich auf den Rücken rollte und seine vier Pfoten in die Höhe reckte. Das war das Leben! Diese Freiheit täglich zu spüren, die frische Luft seiner Heimat einzuatmen und die Ruhe zu genießen, das war es, was Georg glücklich machte. Er ließ seinen Blick über das Tal und das dort befindliche Dorf schweifen und hätte zufriedener nicht sein können. Er lebte mitten in der Natur, konnte sich nichts Schöneres vorstellen. Als dann auch noch die Amseln ihr melodisches Abendlied anstimmten, durchfuhr seinen Körper wieder einmal ein Glücksschauer, der sich bis in seine Zehenspitzen ausbreitete.
„Großvater?“
Er hörte jemanden rufen und obwohl es nun mit der angenehmen Stille vorbei sein würde, fühlte sich Georg nicht gestört.
„Groooßvaaater!“
Die Stimme wurde lauter und durchdringender.
„Groooooßvaaaater! Bist du da?“
„Ich bin hier, Kleiner. Schrei nicht so, du hast mich ja gefunden“, antwortete er ruhig und entspannt.
„Ich habe dich schon überall gesucht. Sitzt du schon lange hier? Ich wollte eigentlich früher kommen und dir noch mit den Schafen helfen, aber ich musste mit Vater noch den Zaun ausbessern. Da konnte ich nicht früher.“
„Kein Problem, mein Junge.“ Georg lächelte und streichelte seinem Enkel Benjamin sanft über den Kopf, während er erneut an seiner Pfeife zog. „Ich bin froh, dass du da bist. Setz dich doch zu mir und Melchior.“
Der kleine Junge setzte sich zwischen den alten Schäfer und seinen Hund und begann sofort damit, den Vierbeiner zu kraulen. Mit großen Augen sah er seinen Großvater an und lächelte, als dieser beim Ausatmen mit dem Rauch seiner Pfeife Ringe formte und sie langsam zu Boden tanzten. Dann drehte er sich ein wenig zur Seite und lehnte sich mit dem Rücken an seinen Großvater. Dieser nahm ihn in den Arm und seine Augen strahlten so sehr, wie sie es nur selten taten.
„Du, Großvater?“, Benjamin sah Georg mit großen, neugierigen Kinderaugen an, die der Schäfer so liebte. „Meinst du, ich kann auch einmal ein so toller Schäfer wie du werden?“
Der Alte lächelte still. „Ach, Ben, ich glaube, dass du ein noch viel besserer Schäfer als ich werden wirst. Aber du hast ja auch noch so viel Zeit. Vielleicht möchtest du ja lieber ein Bauer werden, wie dein Vater. Oder du wirst ein Handwerker. Zimmermänner oder Schmiede werden doch immer gebraucht.“
„Nein, nein. Da hätte ich ja nichts mit Tieren zu tun. Und ich wäre nicht in der Natur. Ich möchte wirklich gerne die Schafe treiben, mit ihnen leben, einen so tollen Hund wie Melchior an meiner Seite haben und dann abends, genau wie du, die Stille der Nacht genießen. Es gibt doch nichts Schöneres, oder?“
Georg konnte nicht widersprechen. Sein Enkelsohn hatte es auf den Punkt gebracht. Besser hätte er es nicht sagen können. So lächelte er glücklich und drückte Benjamin fest an seine Brust, dass diesem der lange, graue Bart im Gesicht kitzelte.
Nach einigen Minuten löste sich der Kleine von der Umarmung, sprang auf und lief eilig davon.
„Was ist, Ben? Was machst du?“
„Ein guter Schäfer muss des Nachts ein Feuer haben, hast du mir einmal erklärt, jetzt ist es schon fast ganz dunkel und du hast weder Holz noch ein Feuer hier.“
In solchen Momenten war Georg mehr als stolz auf Benjamin und war sich sicher, dass er der Richtige war, irgendwann in Zukunft seinen Platz einzunehmen.
Wenige Augenblicke später hatte der Junge einige Äste und sogar ein paar dickere Stämme trockenes Holz herbeigeschleppt und es zu einem Haufen aufgetürmt. Unter das Holz hatte Benjamin etwas Zunder und Flachshaar zusammengeknäult, um das Feuer entfachen zu können. Jetzt ging es für ihn darum, seinem Großvater zu beweisen, dass er es schon allein konnte. Er hatte jetzt oft genug zugesehen, wie er es gemacht hatte. Bestimmt zwanzig Mal war es ihm erklärt worden, jetzt wollte er zeigen, dass er es ohne fremde Hilfe konnte. Benjamin holte den aus Eisen geschmiedeten Feuerschläger aus der Tasche seines Großvaters, schlug erst vorsichtig, dann immer fester entlang des Feuersteins herunter, wodurch die Funken begannen, Richtung Feuerstelle zu fliegen. Seine Augen glänzten und man konnte in ihnen erkennen, dass er sich aus tiefstem Herzen wünschte, dass es klappte. Endlich fiel ein Funke in das leicht brennbare Material, der groß genug war, nicht sofort zu verglühen. Benjamin kniete sich vorsichtig vor das Holz und blies sanft hinein, er hauchte dem Feuer Leben ein. Langsam aber sicher entstand eine helle Flamme, die sich immer weiter vergrößerte und nach wenigen Augenblicken eine angenehme Wärme und ein Gefühl von Geborgenheit verbreitete.
„Ha ha ha. Siehst du, Großvater? Ich kann es!“ Stolz sah Benjamin Georg an und freute sich.
„Das hast du wirklich gut gemacht. Du brauchst mich bald ja gar nicht mehr“, lächelte der alte Mann.
„Ich werde dich immer brauchen, Großvater.“
„Weißt du, Ben, so wie der Tag und die Nacht ihre Zeit haben, so haben auch die Menschen ihre Zeit. Wenn eine neue, junge Generation heranwächst, dann muss die alte weichen, das ist der Lauf der Welt. So ist es mit allem. Der Kreislauf des Lebens kann von uns Menschen nicht beeinflusst werden.“
„Ja. Das Glück der Herde, es kommt und geht.“ Benjamin sah seinen Großvater etwas nachdenklich an.
„So ist es.“ Der Alte nickte mit geschlossenen Augen.
Eine Weile war es still. Nur das Knacken des flackernden Feuers war zu hören. Georg sah auf das Dorf hinab und dann seinen Enkel an.
„Ben? Weißt du eigentlich wie alt unser schönes Trautskirchen schon ist?“
„Nein, Großvater. Bestimmt schon sehr, sehr alt.“
„Ja, das stimmt. Es wurde im Jahr 1278 offiziell gegründet, obwohl es wahrscheinlich schon seit dem Jahr 800 als kleines Dorf oder Siedlung existiert.“
„Das ist ganz schön alt“, staunte Benjamin.
„Und seit vielen, vielen Jahren leben unsere Familie und unsere Ahnen in diesem Dorf. Es gab gute Zeiten und schwierige Zeiten, aber wir haben es immer wieder geschafft, durchzukommen. Wir wollten immer hier in der Gegend bleiben. Auch, weil wir einen besonders guten Zusammenhalt im Dorf haben. Das ist viel wert.“
„Genau. Weil es hier einfach schön ist. Warum soll ich woanders hin, Großvater? Hier haben wir doch alles, was wir brauchen: Freunde, Familie, unsere Tiere, Arbeit. Alles was wir benötigen, gibt es hier in Trautskirchen.“
„Und alles, was du wissen musst, kannst du von der Natur lernen.“
„Und von meinen Eltern. Und von dir.“ Benjamin lächelte und auch sein Großvater musste grinsen.
„Hast du dir nie Gedanken darüber gemacht, warum zum Beispiel alle Vögel bei Tag zwitschern und nur die Nachtigall nachts singt?“
Benjamin legte die Stirn in Falten und zwickte seine Augen zusammen. „Nein, das habe ich nicht. Weißt du, warum sie nicht bei Tag singt?“
Der Alte zog noch einmal an seiner Pfeife und blies den weißen Rauch aus seinen Nasenlöchern. „Ja, das weiß ich. Ich höre sie sehr gerne. Ihr klarer, wohltuender, flötender Pfeifgesang ist mir der liebste Ton im ganzen Tierreich. Und die Nachtigall ist schlau! Hör zu, Ben, die männliche Nachtigall singt einerseits, um Weibchen anzulocken und sie zu beeindrucken, andererseits erklärt sie sich aber auch als Besitzer des Gebietes und schreckt damit andere Männchen ab. Diese merken dann, dass der Bereich bewohnt ist und ziehen weiter, ohne sich zu streiten. Bei Tag gäbe es zu viele andere Vogelstimmen, die mitsingen würden. Nachts können sie sich ungestört unterhalten. Das ist auch wichtig für uns Menschen. Wir können alle Schwierigkeiten ohne eine handgreifliche Auseinandersetzung lösen, wenn wir nur miteinander reden.“
„Wir können wirklich viel von der Natur lernen, Großvater.“ Einen Moment schwiegen beide, dann war es Benjamin, der die Stille durchbrach: „Erzählst du mir wieder eines deiner Märchen? Ich kenne niemanden, der die alten Geschichten so schön erzählt, wie du.“
„Ich glaube, heute ist die Zeit für eine wahre Geschichte gekommen, Ben. Was denkst du?“
Die kleinen Augen begannen zu strahlen und durch die Spiegelungen des Feuers in seinen Augäpfeln konnte man fast meinen, dass sie brannten. „Oh ja, das wäre toll. Welche Geschichte ist es denn?“
Zufrieden schmunzelte Georg und erklärte: „Eine Geschichte unserer Vorfahren. Sie wurde mir von meinem Vater und meinem Großvater erzählt. Und sie hatten sie wiederum von ihren Ahnen erzählt bekommen.“
„Oh, wie spannend! Ich will sie hören!“ Benjamin richtete sich auf und legte eine Hand auf den Unterarm seines Großvaters. Sanft drückte er zu und legte seinen Kopf etwas schräg.
„Na dann mach es dir bequem. Sie ist dauert eine Weile, aber jedes Wort ist wahr. Es ist das, was dein Ur-Ur-Ur-Großvater Eduard erlebt und mündlich an die späteren Generationen weitergegeben hat. Genau so hat es sich vor vielen, vielen Jahren hier in Trautskirchen zugetragen…“
Zu jener Zeit lebte ein Einsiedler im Dunkelwald nördlich von Trautskirchen. Sein Name war Wilhelm und er hatte sich vor etlichen Jahren dazu entschlossen, nicht mehr im Dorf wohnen zu wollen, sondern lieber für sich alleine mitten in der Natur zu sein. Seine sehnigen Arme und der drahtige Körper hatten durch sein Waldleben schon einiges mitmachen müssen, doch durch sein sonnengebräuntes, freundliches, wenn auch gezeichnetes Gesicht wirkte seine Gestalt angenehm. Der Wald, sein Wald, hieß nicht umsonst „Dunkelwald“, denn das war es, was er war: dunkel. Ein geheimnisvoller Ort, an denen sich selbst die mutigsten Männer hier und da fürchteten. Man war irgendwie nie sicher und es kam einem so vor, als würde man von tausenden Augen beobachtet, wenn man sich dort aufhielt. Diese geheimnisvollen Kraftorte in diesem tiefen, finsteren Wald zogen seit vielen Jahrhunderten schon die Menschen an und Wilhelm konnte von sich behaupten, dass sich niemand dort so gut zurechtfand wie er. Er kannte jede Wurzel und jeden Baumstamm wie seine eigene Westentasche. Dennoch hatte er Plätze, die er besonders liebte und zu denen es ihn immer wieder hinzog. In diesem uralten Wald wuchsen Buchen, Eichen und Ulmen sowie Lärchen, aber auch Linden waren immer wieder zu finden. Allesamt standen manchmal kerzengerade in die Höhe und an einer anderen Stelle sah man sie als bizarr geformte, in sich verschlungenen Naturriesen wachsen. Die Nadelbäume, die immer wieder dazwischenstanden, waren in der Unterzahl, dennoch gaben sie ein rundes Bild ab. So waren es doch die Tannen, Fichten und Eiben, die sehr geschätzt waren, da sie im Sommer wie im Winter grün waren.
Einer von diesen besonderen Plätzen war die althergebrachte Druidenquelle, eine sagenumwobene Kultstätte, an der schon die alten Kelten saßen und ihre Rituale abhielten. Im Winter führte sie stets frisches Wasser und im Sommer war dieser Ort kühl und schattig. Sie war umgeben von einigen Birken und Sträuchern, sodass sie nicht so leicht zu sehen war und an der Stelle, an der das Wasser aus der Erde trat, hatte sich ein kleiner Tümpel mit kristallklarem Wasser gebildet. Hier war er besonders gern. Hier konnte er die Erdenergie und Naturkräfte spüren. Sie durchfuhren seinen Körper, der dadurch aufgeladen wurde. Diese Quelle war für ihn gleichzeitig Wasserspender und Kraftort, wo er sich gerne aufhielt, um zu neuer Stärke zu finden oder um seine Ahnen um Rat zu fragen. Hier fühlte er sich ihnen so nahe wie nirgends sonst. Wenn hier langsam die Sonne über den Baumwipfeln verschwand und sich ihre letzten, schwachen Strahlen in Richtung Druidenquelle kämpften, dann entstand jeden Abend aufs Neue eine gespenstisch anmutende Szene. Große und kleine funkelnde Spiegelungen im Wasser erschufen eine erhabene Szenerie. Mächtige, zum Teil bizarr anmutende, Bäume streckten sich in Richtung Himmel und ihre unförmigen Wurzeln, die aus dem Boden ragten schienen nach den Menschen an der Oberfläche zu greifen. Die umliegenden bemoosten Steine unterbrachen die fingerähnlichen Greifwerkzeuge der Bäume neben der Quelle, ein ungewöhnlicher, geheimnisvoller und gleichzeitig erschreckend angenehmer Platz im Dunkelwald. Diesen Ort kannten nicht viele Menschen und er wollte, dass dies so blieb. Seit Jahrhunderten erzählten sich die Menschen Geschichten über angebliche Menschenopfer, die hier an dieser Stelle durchgeführt wurden. Die Druiden töteten dort ausgewählte Personen mit einem Dolchstoß oberhalb des Zwerchfells, um anschließend aus ihren Todeszuckungen die Zukunft herauszulesen. Es wurde auch erzählt, dass hier Menschen in Weidengeflechten gefesselt und anschließend angezündet wurden, um den großen Göttern Brandopfer zu schenken. Vielleicht war dies grausam und bestialisch, aber waren solche Praktiken tatsächlich blutrünstiger und barbarischer als Menschen zu erhängen oder so genannte Hexen auf dem Scheiterhaufen bei lebendigem Leib anzuzünden? Wohl nicht. Dennoch war er mit dieser Meinung in der Minderheit und behielt sie lieber für sich. Kam doch das Gebot Hexen und Zauberer zu verbrennen von der Kirche und alles, was diese Institution veröffentlichte oder befahl, wurde umgesetzt. Außerdem hatte der Druidenkult einige wirklich interessante Blickwinkel: So gaben die Meister das umfangreiche Wissen ausschließlich mündlich an ihre Schüler weiter, so mussten sie ein ausgezeichnetes Gedächtnis mitbringen. Die Lehrlinge folgten ihren Meistern im Alter von sieben bis zwölf oder dreizehn Jahren an einen geheimen Ort, inmitten des Dunkelwaldes. Wilhelm vermutete, dass dieses Versteck hier in der Nähe der Druidenquelle gewesen sein musste, das spürte er einfach. Außerdem mochte er den Gedanken, dass die Druiden in ihrem Ort Richter waren. Sie hatten alle Autorität und Machtbefugnisse zur Urteilsverkündigung in Streitfällen, egal welcher Art: Verbrechen, Mord, Erbschaft oder der Verlauf einer Grenze. Sie allein entschieden, wer Recht bekam und bestimmten die Härte der Strafe und die Höhe der Belohnung. Hielt sich jemand nicht an die Urteile oder bezweifelte eine Entscheidung, so hatten die Druiden die Möglichkeit, diesen zu bestrafen. Vor ihnen war tatsächlich jeder gleich. Nicht wie heutzutage, wo doch Adlige oder höher geschätzte Persönlichkeiten des Dorfes oftmals bevorzugt oder nicht einmal angeklagt wurden. So waren diese erbarmungslosen Zeiten vielleicht doch gar nicht so schlecht gewesen. Und die Menschen waren es schließlich, die dieses Ungleichgewicht erschaffen hatten. Und genau diese Menschen waren es nun, die durch Rodungen den Wald bedrohten. Ja, er wusste, dass sie es nicht mit böser Absicht taten, aber machte es das besser? Unwissenheit und Torheit halfen dem Dunkelwald schließlich auch nicht.
Er hatte schon einen Teil seiner alten Stärke einbüßen müssen, da sie bei Hohenroth ein großes Randgebiet von ihm abholzten, um Häuser, Scheunen und Ställe zu bauen. Dies machte Wilhelm traurig und ehrlich gesagt auch ein wenig wütend. Warum konnten sie den Wald nicht mit seinen Augen sehen? Es war an ihm, diese Einzigartigkeit zu bewahren und alles zu versuchen, die Menschen fernzuhalten. Dass die Wälder rund um Trautskirchen vor seiner Zeit gerodet worden waren, um Platz zum Leben zu schaffen, das war ihm verständlich. Er mochte den Gedanken immer noch nicht, obwohl der Anfang des Ortes bereits viele hundert Jahre zurücklag, doch es ging ihm einfach nicht in seinen Kopf, wieso es jetzt nicht damit genug war. Das Dorf war schön und hatte eine passende Größe – sich jetzt auf Kosten des Dunkelwaldes weiter zu vergrößern wollte er allerdings nicht akzeptieren. Darum war er im Dorf auch als Waldschrat oder Wald-Willi verschrien. Ein Außenseiter und Einzelgänger eben, seit er sich von der Dorfgemeinschaft entfernte, um für sich alleine zu leben. Sie verstanden es bis heute nicht, dass er sich nur von dem ernährte, was ihm die Natur schenkte. Er tötete keine Lebewesen, um sich an ihnen zu laben. Er aß nur dann Fleisch, wenn er ein verstorbenes Tier fand, das noch nicht so lange verschieden war, dass der Verfall bereits eingesetzt hatte. Er kam gut zurecht und hatte sich dadurch im Laufe der Jahre ein beachtliches Wissen über essbare Pilze, Kräuter, Früchte, Nüsse und Beeren angeeignet. Nur er und sein Wald. Und seit einiger Zeit der Wolf Max an seiner Seite, auch wenn dieser immer wieder für eine gewisse Zeit verschwand. Mehr brauchte er nicht. Und nach mehr strebte er auch nicht.
Ein anderer Lieblingsort befand sich am östlichen Ende des Dunkelwaldes, das majestätische Eichenwäldchen, das bei den Trautskirchnern im Volksmund nur als „Acherwäldla“ bekannt war. Von dieser Anhöhe aus konnte man das gesamte Zenntal überblicken und bei gutem Wetter sogar bis zum Nachbarort nach Neuhof sehen. Die sich anschließende kleine Schlucht aus Sandsteinfelsen wurde bei schönem Wetter von den Sonnenstrahlen aufgeheizt und auch jetzt, obwohl es schon November war, konnte man spüren, dass sich dort die Wärme etwas länger hielt. Hier wurde schon seit einiger Zeit kein Stein mehr geschlagen, der bessere Steinbruch war nicht weit in der Nähe von Merzbach zu finden. Dort schlugen sie auch heute noch die Steine, doch es war nie genügend Ertrag zu machen, um die Häuser daraus zu bauen. So wurden sie vor allem für Ausbesserungen an der Dorfkapelle genutzt. Hier am Acherwäldla und in der Umgebung um Trautskirchen konnte man sie eher als Felsenkeller nutzen. Es wurden Schächte und Höhlen in den Stein gehauen, um dort Vorräte zu lagern. Die Äpfel, Birnen und manchmal das Getreide, das hier aufbewahrt wurde, hielt sich dort deutlich länger. Aber eine Besonderheit hatten sie hier in Trautskirchen doch: Zwei der vier vorhandenen Felsenkeller waren unterirdisch miteinander verbunden, darum dienten sie nicht mehr als Lagerort. So konnte man von jenem am Acherwäldla unter dem Ort hindurchgehen und kam auf der anderen Seite, am ebenfalls mit einem Wäldchen bewachsenen Kellerbuck, einem kleinen Hügel in der Nähe des Flüsschens Zenn, heraus. Dieses, teils verzweigte, Gängesystem, was einem Labyrinth ähnelte, war nur den Einheimischen bekannt und wurde als gut gehütetes Geheimnis bewahrt. Selbst die Zugänge wurden so gut es ging getarnt, um nicht für Aufsehen zu sorgen. Der Bau der Vielzahl von Gewölben und Gängen wurde bei der Arbeit sehr genau überwacht, denn hier durfte kein Fehler passieren, um zu verhindern, dass die Standfestigkeit des Untergrunds für das Dorf nicht gefährdet wurde. Etwaige Verstöße der Arbeiter hätten die gesamte Konstruktion einstürzen lassen und somit den gesamten Ort gefährden können und das wollten sie tunlichst vermeiden. Aber bekanntermaßen ging alles gut und so hatten sie seit der Zeit ein faszinierendes Labyrinth von verzweigten Gängen, Treppen und Wegen, welches unter dem dort entlangführte. So hatte es ihm sein Großvater als Kind erzählt. Eine Geschichte, die er nicht oft genug hören konnte und jedes Mal lauschte er gebannt den Worten des alten, weisen Mannes. Da der Eingang von einem größer wuchernden Holunderbusch verdeckt wurde, war er nur für diejenigen zu entdecken, die wussten, wo sie suchen mussten. Hier waren es vor allem die wärmespeichernden Steilwände, die Pflanzen und Tiere zum Verweilen einlud. Entsprechend wucherten hier Farne und Pilze aus dem Boden und die alten, umgestürzten Bäume waren mit sattgrünem Moos bewachsen. Diese altehrwürdigen Bäume, starke und widerstandsfähige Eichen, strahlten schon immer eine gewisse Verborgenheit, etwas Besonderes, aus. Die Lichter in der Mitte der Baumgruppe zwischen den grünlich-blau schimmernden Rinden und dem Laub auf dem Boden zogen Wilhelm magisch an. Er stand oder saß oft stundenlang dort, nur um dem Rauschen des Laubes und dem Gesang der Vögel zu lauschen. Die Eichen waren für ihn besondere Geschöpfe des Waldes, da sie sehr groß und unglaublich alt wurden – selbst für Bäume. Bereits in den alten Zeiten, in der die Germanen hier herrschten, waren die Eichen heilige Bäume. Der Volksmund erzählte, dass damals die Frauen und Männer zu den Druiden mit brennenden Fackeln in den Händen ins Acherwäldla gingen, sie verneigten sich und beteten gemeinsam. Dies taten sie immer zur Sonnenwende. Einmal, um den Sommer zu begrüßen und das andere Mal, um ihn wieder zu verabschieden. Und diese alten Eichen standen schon zu diesen Zeiten, widerstanden Wind und Wetter, überlebten Gewitterstürme sowie Donnerbrausen – dieser Baum konnte bis zu tausend Jahre alt werden. Sie standen also schon in den früheren Zeiten genauso da, wie jetzt auch. Bei den Germanen hieß die Eiche „Fürst der Wälder“, denn auf ihnen wurden häufig die kostbaren Misteln gefunden, die von den Druiden aufwändig geerntet und anschließend für ihre rituellen Feiern verwendet wurden. Für Wilhelm konnte jeder einzelne dieser majestätischen Bäume seine Geschichte erzählen, die Menschen hatten nur verlernt zuzuhören und sie zu verstehen. Da half es auch nichts, dass es Tradition in Trautskirchen war, immer zur Sommersonnenwende ein großes Feuer anzuzünden und ein Fest für alle Dorfbewohner abzuhalten. Es war schön, keine Frage, und man konnte für ein paar unbeschwerte Stunden den harten Alltag vergessen, aber es war dennoch überflüssig, wenn man den eigentlichen Grund des Feuers nicht mehr wusste. Die Menschen hatten einfach den engen Bezug zur Natur und den alten Geschichten verloren, sie arbeiteten nur mit ihr zusammen, um ernährt zu werden.
Wilhelm und sein teils zahmer Wolf gingen gerade eine letzte Nachtrunde spazieren. Herbstliche Nebelschwaden durchzogen den Dunkelwald, die selten vorhandenen Lücken in den Wolken und dem Blätterdach gaben den goldleuchtenden Mond frei, um ihn nur wenige Augenblicke später wieder zu verschlucken. Ein kühler Wind blies durch die Äste, so zog der Mann den Kragen seines Mantels ein wenig höher. Die feuchte Kälte kroch dennoch beständig höher, bis sie seinen Nacken erreicht hatte. Jetzt war es klar: Der Sommer war zu Ende. Ab und an war es ihm so, als würden schemenhafte Gestalten in seiner Nähe erscheinen und ihn umkreisen. Diese geisterähnlichen Wesen versuchten auch sein Gesicht zu streifen, ihn zu berühren, ihn in eine bestimmte Richtung zu lenken. Jedenfalls war es ihm so. Doch er vermag nicht, sie zu berühren, da sie ebenso schnell wieder verschwanden, wie sie gekommen waren. Waren sie wirklich? Erschienen sie nur vor seinem inneren Auge? Einerlei. Für ihn waren sie echt. Diese verdammten Vorahnungen hatte er schon des Öfteren gehabt und meist traten sie dann auch ein. Was es genau war, konnte er nicht sagen, aber er spürte deutlich, dass etwas in der Luft lag. Dieses Gefühl wurde immer stärker und legte sich wie ein schwarzer Schatten auf seine Seele und drohte ihn zu erdrücken. Er hielt kurz inne, atmete tief ein und aus, sah sich nach allen Richtungen um, doch konnte nichts erkennen.
„Welch eine seltsame Nacht“, sagte er mehr zu sich selbst als zu seinem Wolf Max.
Wilhelm blickte zu seinem Begleiter nach unten, der ihm keinen Schritt von der Seite wich, nur hier und da einmal in den dichten Nebel spähte und leise fauchte. Irgendetwas war da. Das konnte er fühlen, aber bisher hatte er noch keinen Beweis. Im fahlen Mondlicht mischte sich das düstere Grau mit den matten Farbtönen der Umgebung und dem Nebel. Der leichte Wind trieb sein Spiel mit dem nächtlichen Spaziergänger, denn die Gräser und Nebelschwaden wechselten die Konturen und Umrisse immer wieder, sodass er sich gar nicht konzentrieren konnte, denn bereits nach wenigen Augenblicken war das Gesehene wieder verflogen. Diese schwere Stille beklemmte den Mann und seinen Begleiter, dennoch waren sie fest entschlossen, nicht umzukehren oder zurückzuweichen. Sie waren schließlich im Dunkelwald zuhause und wollten wissen, was dort vor sich ging. Der Mond schien weiterhin böse durch den Wald, doch das unerbittliche Schicksal – oder die Geister seiner Ahnen – wollte ihn noch nicht erlösen. Er tappte weiter buchstäblich im Dunkeln. Er war - wie jeder Mensch – ein Augentier, so verließ er sich fast ausschließlich auf das, was er sehen konnte. Aber wenn nachts im Dunkeln immer weniger Verlass auf seine Augen war, so spielte sein Gehör und sein Gefühl eine immer größere Rolle. Jetzt war es wieder einmal soweit: Er musste sich auf sein Gespür verlassen. Er lauschte also den Stimmen des Waldes: Dem Rauschen, dem Knistern, dem Strömen, dem Rascheln und dem Knirschen. Der Wald hatte so viel zu erzählen und er hörte gerne zu. Die Dunkelheit, die nun unaufhaltsam immer weiter eintrat, ließ die Fledermäuse, die Könige der Nacht, erwachen. Welch ein faszinierendes Schauspiel, wie sie in traumwandlerischer, instinktiver Sicherheit ihre Beute jagten und allen Hindernissen auswichen, ohne anzustoßen. In solchen Nächten kommt dir das eigene Atmen laut, manchmal sogar zu laut, vor, denn in dieser allumfassenden Stille wachsen die kleinsten Geräusche ins Unermessliche. Er gab sich nun bewusst voll und ganz der Dunkelheit hin, versuche sie in sich aufzunehmen und wieder einmal eins zu werden mit dem Wald. Er wollte seine durch die Zivilisation und den Fortschritt geschwächten Urinstinkte wieder zum Leben erwecken. Eine Übung, die Wilhelm schon eine ganze Weile nicht mehr gemacht hatte. Er schloss nun bewusst die Augen und malte mit den Geräuschen, die er wahrnahm, Bilder in seinem inneren Auge. So konnte er seinen Wald sehen, obwohl er doch die Augen nicht geöffnet hatte.
Auf einmal war da dieses Geräusch. Dieses Mal war er sich sicher, dass es zu jemandem gehörte, der real war. Auch sein Vierbeiner schnupperte und sah eindeutig in die Richtung, aus welcher das Geräusch kam. Wilhelm und Max stapften einen leichten Abhang hinauf durch das moosig-glitschige, von Wurzeln durchzogene Unterholz und gingen dem Geräusch entgegen. Er musste sich immer wieder an einem der majestätischen Bäume abstützen, um nicht zu fallen und den Anschluss halten zu können. Wenn seine Sinne ihm keinen Streich spielten, dann kam er dem Klang näher. Seit jeher übte der Nebel schon auf die Menschen eine besondere Kraft aus. War hier jemand aus dem Dorf gekommen, um Zeit für sich zu haben? Das glaubte er ehrlich gesagt nicht. Nicht im November und nicht heute, da es so kühl war. Im trüben Dunst des Waldes klangen Töne plötzlich dumpf, dafür waren sie aber um ein Mehrfaches weiter zu hören. Die Landschaft wirkte still und das genau verschaffte ihm eine massive innere Unruhe. Jetzt war er sich ganz sicher: Schritte. Jemand war hier und er musste herausfinden, wer das war. Dieser unebene Untergrund machte das Vorankommen wirklich beschwerlich und der hügelige Anstieg, der vor ihnen lag, erschwerte es zusätzlich. Dennoch war sich Wilhelm sicher, dass er der Person näherkam. Immer deutlicher und lauter waren die stolpernden und ungleichmäßigen, stapfenden Schritte zu hören. Er musste ganz nahe sein. Einige der Bäume glänzten noch im fahlen Mondlicht in ihrem bunten Blattgefieder, während andere schon völlig nackt dastanden und ihre Blätter verloren hatten. Diese bedeckten den Boden und machten ihn durch die Feuchtigkeit zu einer nicht zu unterschätzenden Gefahr. Er spürte nichts mehr von der Kälte. Keinen Gedanken verschwendete er an die Wassertropfen, die sein Gesicht entlangliefen und vom Kinn auf seinen Mantel tropften. Seine Gedanken waren besessen von der fremden und geheimnisvollen Person vor ihm. Max lief jetzt etwa eine halbe Körperlänge voraus, sicherte sich aber immer wieder ab, dass sein Begleiter noch folgen konnte. Dann erspähte er die Person endlich mit seinen eigenen Augen. Eine verschwommene, graue Figur etwa fünfzig Schritte vor ihm. Die Kapuze tief ins Gesicht gezogen kämpfte sich die Gestalt durch den Dunkelwald. Unsicheren Schrittes und offensichtlich wankend setzte sie einen haltlosen Schritt vor den anderen, nicht wissend, ob der nächste zum Sturz führen würde. Wilhelm war sich sicher, dass das hier vor ihm kein Ortskundiger war. Keiner, der regelmäßig durch Wälder spazierte. Doch er vermochte noch nicht zu sagen, ob es nicht doch ein Dorfbewohner oder ein Fremder war. Wie ein Raubtier, das seiner Beute nachstellte, um sie aus dem Hinterhalt zu packen, folgte er der Person so unauffällig, wie er nur konnte. Er hatte sie jederzeit im Blick und wandte seine Augen nicht mehr von ihr ab. Wenn ihm sein Urteilsvermögen nicht völlig abhandengekommen war, so trug die Gestalt etwas in ihrer rechten Hand. Es konnte aber auch sein, dass der Arm verletzt war und sie deswegen eine gewisse Schonhaltung eingenommen hatte. Für ein sattelfestes Urteil befand er sich noch in zu großer Entfernung. Was führte sie nur im Schilde? Nachts bei Nebel im Dunkelwald? Das verhieß nichts Gutes – da war er sich sicher. Mit einer ruckartigen Bewegung riss die seltsame Gestalt ihren Kopf nach hinten und sah in seine Richtung. Hatte sie ihn entdeckt? Gehört? Oder gar gesehen? Er hielt inne und seinen Atem für einen Moment lang an. Er wollte keinesfalls gefunden oder erkannt werden. Trotz der offensichtlichen Schwäche und Unsicherheit stapfte die wundersame Person weiter, immer in Richtung Teufelstisch.
Dieser pilzförmige Stein inmitten des Dunkelwaldes erinnerte die Menschen seit Generationen an einen einbeinigen Tisch. Er stand seit jeher auf einer kleinen Lichtung, umgeben von weiteren bemoosten und bewachsenen merkwürdigen Steinformationen. Dieser besondere Stein hieß Teufelstisch, weil eine alte Trautskirchner Sage besagte, dass einst, in vergangenen Zeiten ein Wandergeselle durch den Dunkelwald schritt, auf dem Weg zum nächstgelegenen Dorf, um dort um Unterkunft, etwas zu essen und eine Arbeit zu ersuchen. Leider verlief er sich im finsteren und dichten Wald so sehr, dass er nicht mehr wusste, wie er herauskommen konnte. In seiner Verzweiflung merkte er nicht, wie er immer im Kreis lief und völlig vom rechten Weg abkam. Von Weitem sah er auf jener eben erwähnten Lichtung dann einen älteren Mann an einem Tisch sitzen, der speiste und trank. Da der Fremde ausgehungert und sehr durstig war, sprach er den Alten an und bat ihn um eine Gabe. Der Alte drehte sich zu ihm herum, lud ihn ein, sich zu ihm zu setzen und weil der Fremde so hungrig war, fielen ihm nicht die rot funkelnden, böse blitzenden Augen auf. Nachdem er sich sattgegessen hatte, spürte er, dass etwas mit dem Alten nicht stimmte und so versuchte er, nachdem er sich artig bedankt hatte, sich zu verabschieden. Dies gestattete der alte Mann allerdings nicht und dem Fremden fuhr ein ängstlicher Schauer durch die Glieder. Zu spät für den armen Wanderer, plötzlich verbogen sich die Glieder und Knochen des Alten und unter schrecklichem Knacken verschlangen sie sich ineinander. Jetzt war es ihm klar: Er hatte mit dem Teufel höchstpersönlich gegessen! Das Letzte, was man durch den Dunkelwald und hinunter ins Dorf schallen hören konnte, war der Todesschrei des Wanderers, der vom Teufel persönlich gepackt und durch den Wald, eine Schlucht hinab, fortgezerrt wurde. Diese Böschung am Waldrand wurde fortan auch von den Menschen nur noch „Teufelsschlucht“ genannt. Als die Trautskirchner einige Zeit später den Tisch auf der Lichtung entdeckten, war ihnen sofort klar: „Hier hielt der Teufel Mahl!“ So versuchten sie künftig diesen Ort zu meiden, denn es war ihnen nicht wohl bei diesem Gedanken. Sie befürchteten, auch vom Teufel angelockt und verschleppt zu werden, da er stets neue Opfer suchte.
Kannte die fremde Person diese Sage nicht oder ging sie bewusst an diesen rätselhaften Ort? Wilhelm folgte der nur schemenhaft zu erkennenden Person immer weiter und war sich mit jedem Schritt klarer darüber, dass das Ziel der Teufelstisch sein musste. Zu eindeutig hielt sie darauf zu. Mit einem Mal hielt sie inne, lehnte sich an einen der vielen Bäume und atmete einige Augenblicke tief durch. Offensichtlich fiel es der Person sehr schwer, voranzukommen. Dies verwunderte den Einsiedler nicht, denn selbst er, der ortskundig und an den Waldboden gewöhnt war, hatte Mühe, nicht zu stürzen. Einige tiefe Atemzüge später machte sich die geheimnisvolle Gestalt wieder auf, sie steuerte noch immer gezielt auf den sagenumwobenen Ort zu. Wilhelm und Max kamen etwas näher, doch noch immer war der Nebel zu dicht, um die Gestalt zuzuordnen. Dann war es soweit: Der Teufelstisch war direkt vor ihr. Die beiden Verfolger duckten sich in kurzer Entfernung zum Geschehen in eine Hecke und warteten gespannt darauf, was jetzt passieren würde. Nur noch drei Schritte, dann stünde die dunkle Figur direkt vor dem Steingebilde. Doch nur geschah etwas, das er nicht erwartet hatte: Sie schritt direkt vor den Tisch, die letzten Schritte sahen so aus, als würden sie bewusst und wohlüberlegt getätigt. Dann öffnete die Person langsam und bedächtig den dunklen Mantel und gab ein kleines Bündel frei, das auf den Teufelstisch gelegt wurde. Was hatte sie nur vor? Jetzt durchfuhr ihn ein kalter Schauer, der seine Sinne nochmals schärfte und ihn frösteln ließ. Sein halbzahmer Wolf Max war mucksmäuschenstill in die Hecke geduckt, es war ihm so, als würde er ebenso gespannt sein, wie Wilhelm selbst. Dann schloss die Person den Mantel wieder und zog die schwere, vom Nebel durchnässte Kapuze ab. Was er jetzt sah, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Er kannte die Person. Er wusste genau, wer sie war. Auch wenn er durch den Nebel noch immer nicht einwandfrei sehen konnte, so war er doch nahe genug, um sie zweifelsfrei zuordnen zu können. Und es war tatsächlich eine Frau, die hier alleine durch die Dunkelheit stapfte! Diese hellblonden, gelockten, schulterlangen Haare erkannte er unter tausenden heraus. Sie schienen ihm sogar in dieser finsteren, unheimlichen Stunde entgegen zu leuchten. Auch wenn er ihre himmelblauen Augen nicht erkennen konnte, sah er sie vor seinem inneren Auge ganz deutlich. Sie gehörten Margarete. Einer jungen Frau von vierzehn – vielleicht fünfzehn – Jahren, die überall beliebt war. Männer drehten sich nach ihr um, wenn sie einen Raum betrat, was schon zu dem einen oder anderen Streit zwischen Ehepaaren geführt hat. Ein besonderes Kind von zarter Gestalt, das jetzt, da sie im heiratsfähigen Alter war, nur noch darauf wartete, wann sie denn vom richtigen Mann gefragt werden würde. Neben ihrer umwerfenden Schönheit war es vor allem ihr liebes Wesen, das alle an ihr schätzten. Doch was machte gerade sie hier im Dunkelwald? Jetzt war Wilhelm kurz davor, sie anzusprechen und ihr seine Hilfe anzubieten, doch er entschied sich dazu, auf seine innere Stimme zu hören, und es nicht zu tun. Er wollte weiter beobachten, was passierte. Vorsichtig, ja fast zärtlich, nahm Margl – so wurde Margarete, seit sie ein kleines Kind war, genannt – das Päckchen hoch und drückte es vorsichtig an ihre feuchte Wange. Konnte es das sein, was er dachte? Nein, das war doch nicht möglich! Sie wiegte das Lumpenbündel zärtlich in ihren Armen und er glaubte, ein leises Jammern zu vernehmen. Wie gebannt beobachtete der Einsiedler das Geschehen und bemerkte nicht, wie ihm dabei der Mund offenstand. Sie wiegte ein Kind – ihr Kind! Das leise Quäken des Neugeborenen durchschnitt die beklemmende Stille der Nacht und fuhr Wilhelm direkt ins Herz. Was tat sie hier? Margl hob das Lumpenbündel zu ihrem Mund, küsste das Kleine auf die Stirn, umschloss den kleinen Kopf mit dem Stoff, legte es vorsichtig und schweren Herzens auf den Teufelstisch, drehte sich um und lief schnellen Schrittes davon. Während sie sich die Kapuze über den Kopf zog, stolperte sie und fiel auf den nassen Untergrund, wahrscheinlich hatte sie eine Wurzel übersehen. Sie drehte sich noch einmal um und fasste sich mit ihren beiden Händen vors Gesicht, sie konnte ihre tiefe Traurigkeit nicht verbergen. Wilhelm spürte sie am eigenen Leib. Auch er verbarg sein faltiges Gesicht in seinen Händen. Er ließ sie gehen, ohne sie anzusprechen und ohne sie davon abzuhalten. Die innere Zerrissenheit der jungen Frau fuhr ihm tief ins Mark und ihr Leid kroch ihm tief ins Herz. Für einige Augenblicke trug er die gesamte Last der Situation auf seinen Schultern und drohte, daran zu zerbrechen, doch dann besann er sich. „Max, wir sind aus einem ganz bestimmten Grund heute Nacht hier gelandet.“ Er war sich sicher, dass ihn eine übergeordnete Kraft hierher gelotst hatte, war er doch schon einige Zeit nicht mehr am Teufelstisch gewesen. Ob das nun Gott gewesen war, die Natur selbst, oder das Schicksal, das interessierte ihn eigentlich nicht. Aber er wusste, dass er genau jetzt nur hier sein sollte und nirgendwo anders! „Dieses Kind wird heute Nacht nicht sterben.“ Er sah seinen Wolf an und wartete vergebens auf eine Reaktion. In welch einer Misere musste eine Frau denn stecken, wenn sie ihr Erstgeborenes weggab? Gewiss, reich waren ihre Eltern nicht, doch waren sie auch nicht bettelarm und ein Maul mehr zu stopfen wäre durchaus möglich gewesen. Auch Margl selbst war eine fleißige und lernfähige Haushälterin und Schneiderin – was hatte sie also dazu getrieben? Oder war etwa doch etwas an der alten Sage dran, dass der Teufel höchstpersönlich Menschen hierherlockte, um neue Opfer zu erhalten? Was auch immer es war, er fand es schrecklich und konnte den armen Wurm nicht hier zurücklassen. Langsam und behutsam näherte er sich dem Steintisch auf der kleinen Lichtung, zögerte allerdings den letzten Schritt zu machen. Dann stupste ihn Max vorsichtig mit seiner Schnauze an und signalisierte ihm damit, dass er der gleichen Meinung war. Der Mann nickte seinem Wolf still zu, streckte seine Arme aus und packte zu. Fast panikartig riss er das Knäul an sich und begrub es unter seinem dichten, warmen Mantel. „Lass uns so schnell es geht zurück zu unserer Hütte gehen.“
Einige Zeit später kamen sie unversehrt aber frierend an der Holzhütte Wilhelms an. Diese Unterkunft hatte den Begriff „Haus“ wahrlich nicht verdient, aber die hatte alles, was er brauchte. Einen Platz für eine Feuerstelle, umgeben von Steinen, um stets genug Wärme im Inneren zu haben, eine kleine Öffnung im Holzdach, um den Rauch abziehen zu lassen und eine Tür, die er mit einem Haken verschließen konnte. Er schlief in einer Ecke des kleinen Raumes auf dem aus trockener Erde gestampften und befestigten Boden, der im Schlafbereich mit etwas Stroh bequemer gestaltet wurde. Einen Herd gab es nicht, aber er hatte an der Decke eine eiserne Kette befestigt, an welcher ein Topf hing, mit dem er direkt über dem Feuer seine Nahrung zubereiten konnte. Der große Holzlöffel, der schon einige Jahre zählte, stand darin. Er packte das Kind vorsichtig aus und legte das Kleine in sicherem Abstand, aber möglichst nahe an das Feuer, denn er war sich nicht sicher, ob es fror. Seltsamer Weise war es den ganzen Heimweg über still gewesen und auch jetzt, da es in einer völlig fremden Umgebung war, schrie es nicht. Max beschnupperte es vorsichtig und leckte sanft an seinem Arm. Was aßen solch kleine Kinder eigentlich? Er konnte es schließlich nicht säugen! Die einzige Lösung war die vom Vortag übrig gebliebene Ziegenmilch, die er von einem der Hirten bekommen hatte, zu erwärmen und sie dem Kind einzuflößen, in der Hoffnung, es nicht dadurch erkranken zu lassen. Außerdem konnte er jetzt selbst auch eine warme Stärkung recht gut gebrauchen. Die Leinen, in die der kleine Wurm gewickelt war, wechselte er gleich nachdem sie angekommen waren, da er keine Erkältung riskieren wollte. So steckte er es in eines seiner Oberhemden, um es warm zu halten und wusch seinen Stoff grob aus. Bis zum Morgen würde er getrocknet sein. Nachdem es von der Suppe gegessen hatte und friedlich in seinen Armen eingeschlafen war, ergriff ihm eine Welle der Zufriedenheit, wie er sie schon sehr lange nicht mehr gefühlt hatte. Auch Max lag ganz entspannt zusammengerollt vor der Eingangstür und schloss langsam die Augen. Nur Wilhelm konnte nicht gleich schlafen. Zu viele Gedanken kreisten in seinem Kopf herum. Warum hatte Margarete das Kind weggegeben? Warum ließ sie es dort allein zurück? Was war da nur geschehen? Er konnte genau erkennen, dass dies keine leichte Entscheidung für sie war. Sie war offensichtlich verzweifelt und rang mit sich selbst – doch was hatte sie dazu bewogen, ihr kleines Kind dem sicheren Tod zu überlassen? Ohne Antwort auf diese quälenden Fragen glitt er langsam ins Reich der Träume und verlebte eine bedrückende sowie zugleich angespannte Nacht mit wenig Erholung, sein Inneres war zu sehr beschäftigt, um zu ruhen.
Am Morgen blickte er in zwei dunkelbraune Augen, die ihn ansahen und ganz genau musterten. Er setzte sich vorsichtig auf und legte das Kind behutsam zur Seite. Nachdem er ihm erneut etwas warme Ziegenmilch gegeben hatte, ließ er Max raus. Er brauchte seinen Rundgang, den er stets auf eigene Faust erledigte und welcher manchmal fast den ganzen Tag dauerte, wenn er denn überhaupt zurückkam. Ab und an kam es auch vor, dass er erst einige Tage später zurückkam. In der momentanen Situation wäre das auch nicht allzu schlimm gewesen. Wilhelm selbst aß nur ein Stück Brot, das er noch übrighatte, da ihm diese ganze Situation etwas auf den Magen geschlagen war. Er wollte und konnte nicht mehr zu sich nehmen. Nach dem erneuten Wechseln der Kindswäsche wurde ihm bewusst, dass er gerade erst festgestellt hatte, dass er einen – zumindest auf den ersten Blick – gesunden Jungen vor sich hatte. Das war ihm gestern bei aller Aufregung gar nicht aufgefallen gewesen. Nun saßen sie da. Er, Wilhelm, der Einsiedler und ein Kind. Irgendwie befremdlich. Er hatte sich noch die halbe Nacht darüber den Kopf zerbrochen, was er denn nun tun wollte. Besser gesagt, was er tun musste. Er war nur zu einer einzigen Möglichkeit gekommen: Er musste Margarete darauf ansprechen. Behutsam, vorsichtig und äußerst sensibel. Aber es blieb ihm nichts anderes übrig. So nahm er seinen Reisigkorb, leerte diesen, legte ihn mit einer Decke aus und steckte den kleinen Jungen hinein. Außerdem umwickelte er ihn mit einem weiteren Tuch ein, dass es ihn nicht frieren würde und um ihn kurz vor dem Dorf bedecken zu können, um kein Aufsehen zu erregen. Er schlüpfte in seinen Mantel, schnallte sich den Korb auf den Rücken und nahm seinen Gehstock, den er selbst aus einem dicken Ast einer Esche geschnitten hatte. Er brachte die perfekten Eigenschaften mit und war ihm bisher über all die Jahre stets ein treuer Begleiter. Das Holz der Esche war elastisch, aber noch robust genug, um ihn nutzen zu können. Ideal für seine Zwecke. So stapfte der Einzelgänger also mit seinem menschlichen Gepäck in Richtung Trautskirchen. Von seiner Hütte im Dunkelwald aus musste er nur einem kleinen Trampelpfad nach Westen folgen, der ihn dann ein wenig bergab zum Mettenbach führte. Diesen kleinen Fluss lief er dann so lange entlang, bis der Wald immer lichter wurde und schließlich in der Teufelsschlucht endete. Danach sah er schon Trautskirchen. Etliche Nuss- und Obstbäume schlossen sich hier an den Dunkelwald an und trugen noch in voller Pracht. Auch wenn es nachts bereits kalt war, hatten sie noch viele Früchte, die unter anderen Umständen das Interesse des Einsiedlers geweckt hätten. Schließlich war der Tisch des Herrn hier reichlich gedeckt und er bediente sich gerne an dem, was die Natur bot. Aber heute nicht. Nun musste er nur den Wiesen ins Tal folgen und kam dann direkt auf einen befestigten Weg, der unmittelbar ins Dorf führte. Im kühlen Herbst und unter diesen ungewissen Voraussetzungen konnte er die Strecke nicht so genießen, wie sonst. In der Natur veränderte sich viel, nicht nur das Laub der Bäume färbte sich kunterbunt und fiel langsam herab, nein, auch andere Pflanzen und die Tierwelt bereitete sich auf den nahenden Winter vor. Doch all diese kleinen Anzeichen, die Wilhelm sonst so liebte und wirklich zu schätzen wusste, fielen ihm jetzt gerade nicht auf. Die Waldtiere wie Rehe, Hasen, Wildschweine und selbst die kleinen Mäuse, alle fraßen sich jetzt Speck an. Sie mussten das tun, um später in der kalten, eisigen Zeit davon zehren zu können. Sie suchten sich Eicheln, Kastanien, Früchte oder Beeren, um möglichst gut auf die kommende, schwierige Zeit vorbereitet zu sein. Aber auch die Menschen waren im Herbst aktiv. So begannen sie wieder weiter nördlich, bei Hohenroth, den Holzeinschlag vorzubereiten. Man brauchte schließlich auch als Mensch genügend Vorräte, hier eben Brennmaterial, um unbeschadet durch den Winter zu kommen. Nicht einmal die kunstvoll gestalteten Spinnennetze an den Wildblumen beachtete er und auch die kleinen Tropfen Morgentau fielen ihm nicht ins Auge. Zu wichtig war, was vor ihm lag. Vor allem, weil er noch immer nicht beurteilen konnte, wie das bevorstehende Gespräch verlaufen würde.
Mit jedem Schritt, den er dem Ort näherkam, wuchs sein Unbehagen und er war sich gar nicht mehr so sicher, ob dies die richtige Entscheidung war. Aber er wollte jetzt nicht mehr umkehren. Immerhin verhielt sich der kleine Wurm in seinem Korb auf dem Rücken ruhig und so hatte er eine Chance, dass seine Fracht nicht auffiel. Wilhelm durchschritt zügig, aber nicht hastend den Eingang, welcher am Dorfetter, der Umzäunung des Ortes, auf der westlichen sowie östlichen Seite freigelassen worden war. Zielstrebig bewegte er sich auf das Haus zu, das noch etliche Schritte vor ihm lag. Jenes Haus, in welchem Margarete und ihre Eltern zusammenlebten. Er hatte Glück, denn das Dorf erwachte gerade erst aus der Nachtruhe und so war es sehr ruhig. Niemand sprach ihn an, denn lediglich die Bauern, die zu ihren Feldern liefen oder die Wagen beluden, waren anzutreffen und sie hatten gerade Wichtigeres zu tun, als einer vorbeilaufenden Gestalt nachzusehen. Noch zwei Häuser, dann war er da. Solch heftiges Herzklopfen und eine derartige innere Verwirrtheit kannte er von sich gar nicht, doch er musste diese beiseiteschieben und allen Mut zusammennehmen. Außerdem erinnerte er sich kaum noch daran, wie man mit Menschen sprach. Wie lange war es wohl her? Monate? Ein Jahr? Er konnte es nicht mit Gewissheit sagen. Jedenfalls sehr lange. Nun stand Wilhelm verloren vor der großen, eichenen Eingangstür der Familie. Er wollte klopfen, doch seine Hände gehorchten ihm nicht mehr. Eine gefühlte Ewigkeit stand er regungslos da und starrte auf die Maserung, die sich abzeichnete. Mit einem Mal machte sich sein Arm selbstständig, hob sich und klopfte dreimal fest an das Eingangstor. Nach einem kurzen Augenblick der völligen Stille, hörte er aus dem Inneren eine Stimme, die Margaretes Vater Jobst gehörte.
„Nur herein!“
Wilhelm tat wie ihm gehießen. Er klopfte seine Stiefel auf der Treppe noch einmal ab, öffnete die Tür und wurde von der Dunkelheit des Hauses verschluckt. Vorsichtig ging er bedächtig zur Mitte der Stube, wo Margarete und ihre Eltern am Tisch saßen. Er konnte die Anspannung spüren – ihm war, als konnte er diese packen und schütteln.
„Wilhelm? Was treibt dich in unser Haus?“
Er konnte nicht antworten. Sein Hals war wie zugeschnürt und fühlte sich trocken an. Er drohte zu ersticken, als hätte man ihn einen massiven Stick um den Hals gelegt, den man nun zuzog. Erhängen konnte nicht schlimmer sein, als das Gefühl, das er gerade empfand. Er stand nur da. Unfähig, sich zu bewegen oder zu sprechen. Wie erstarrt blickte er in den Raum
Der Vater fragte erneut: „Wilhelm? Ist alles in Ordnung? Ist was mit dem Wald?“
Wilhelm nickte. Er zitterte am ganzen Körper und hoffte einfach, dass es nicht auffiel.
„Nun setz dich doch erst einmal zu uns an den Tisch und wärm dich auf. Dir ist bestimmt ganz kalt.“ Lina rückte einen Holzstuhl ein klein wenig nach vorne und er ließ sich darauf nieder. Immer bedenkend, dass er eine wertvolle Fracht in seinem Reisigkorb auf dem Rücken trug.
Schließlich hatte er sich ein wenig gefangen und begann zu sprechen: „Ihr fragt euch sicherlich, warum ich hier bin.“ Die Familie sah sich kurz an, antwortete aber nicht.
„Nun, ich weiß nicht, wie ich es euch sagen soll. Mir fehlen die Worte.“ Er machte eine Pause, legte seine rechte Hand auf dem Tisch ab, strich sich mit der linken über das Gesicht und ließ sie auf seinem Mund liegen. „Ich habe dich heute Nacht im Wald gesehen, Margl.“
Stille.
„Im Dunkelwald. Am Teufelstisch. Ich war gerade noch unterwegs, als du…“
Sie unterbrach ihn, konnte aber den Satz nicht beenden: „Hast du…?“ Dann konnte sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten und begann zu schluchzen. Ihre Mutter legte den Arm um ihre Schultern und versuchte ihr Trost zu spenden. Und auch der Vater sah beschämt und traurig auf den Boden.
Wilhelm griff nach hinten und nahm den Korb von seinem Rücken. Wortlos stellte er ihn zwischen seinen Füßen ab, hob die Tücher an und blickte zu Margarete. Sie erwiderte seinen Blick nicht, da sie noch immer an der Brust ihrer Mutter weinte. Jobst sah den Mann neben sich an und verstand, was hier geschah. Seine Augen öffneten sich schlagartig vor Erstaunen und da der Einsiedler meinte, eine gewisse Erleichterung zu erkennen, fiel es ihm leichter, den nächsten Schritt zu wagen. Er griff vorsichtig hinein und hob das in Leinen gewickelte Menschenbündel heraus. Jobst sprang ruckartig von seinem Stuhl auf und schlug die Hände über dem Kopf zusammen.
„Ein Wunder!“, rief er. „Margl, Lina! Seht her! Seht her, was uns Wilhelm mitgebracht hat! Ein Wunder!“
Er konnte seine Freude nicht mehr zügeln und nahm sich den Jungen vom Tisch. Mit tiefsitzender Liebe und Zuneigung drückte er seinen Enkelsohn an seine Brust und wollte ihn nie wieder loslassen. Für einen Moment glaubte Wilhelm, eine kleine Träne in den Augen des starken Mannes gesehen zu haben, doch diesen Gedanken verdrängte er schnell wieder, da er sich den beiden Frauen am Tisch zuwandte.
Margarete brach nun endgültig in Tränen aus, dieses Mal wohl aus Freude. Man konnte es nicht zweifelsfrei zuordnen, doch das war es, was Wilhelm glaubte. Sie und ihre Mutter Lina fielen sich jetzt um den Hals und küssten sich, wie man es nur aus großer, innerer Freude heraus tat. Die Mutter wischte mit ihren Fingern die Tränen der Tochter aus den Augenwinkeln, nahm das Gesicht von Margl in beide Hände, sah ihr tief in die Augen und sprach: „Das ist ein Zeichen, Kleines. Hörst du? Unser Junge lebt. Gott hat es so gewollt, dass ihn Wilhelm findet. Er bleibt bei uns.“
Margarete nickte, musste wieder weinen und fiel ihrer Mutter um den Hals. Jobst wiegte den Jungen immer noch in seinen Armen und sah diesen mit all der Liebe an, die ein Großvater überhaupt nur aufbringen konnte. „Lina hat recht. Es ist ein Gottesgeschenk, dass er heute Nacht nicht gestorben ist.“
Nun erhob sich Margarete langsam von ihrem Stuhl, strich sich die etwas zerzausten, aber immer noch schönen, blonden Haare aus dem Gesicht und klemmte sie hinter ihre Ohren. Vorsichtig und anmutig ging sie die Schritte auf ihren Vater zu, um ihren Sohn ein zweites Mal zu empfangen. Er war wiedergeboren – in dieser Nacht. Ihre blutunterlaufenen und von Tränen geschwollenen Augen leuchteten von tiefgreifender Liebe entflammt, als sie ihren Sohn wieder in die Arme schloss.
Mit ergriffener Stimme flüsterte sie „danke“ in Richtung Wilhelm. Noch nie zuvor hatte er ein so ehrliches Wort aus dem Mund eines Menschen gehört. In ihm stieg ein warmes Gefühl auf, das sich in jede Zelle seines Körpers ausbreitete. Er nickte und lächelte.
Jobst setzte sich zurück an den Tisch, nahm und küsste die Hand seiner Frau zärtlich.
Wilhelm fühlte sich nun sicher genug, um das Wort zu ergreifen. „Warum habt ihr den Kleinen denn seinem Schicksal überlassen? Ich spüre doch, wie sehr ihr alle an ihm hängt. Das passt irgendwie nicht zusammen.“
Lina nickte stumm. „Wir kennen den Vater nicht.“ Sie senkte beschämt ihren Kopf.
„Ich kenne ihn schon, Mutter.“ Margl schien nicht gerade begeistert darüber zu sein, dass ihre Mutter es so offen aussprach. „Er lebt nur nicht hier bei uns. Ich kenne ihn schon.“
„Ja, Kind.“
„Es war für uns mehr als schwierig, Wilhelm, glaube mir.“ Ihr Vater ergriff das Wort.
„Aber in einem Dorf wie Trautskirchen, in dem jeder jeden kennt, ist es fast nicht möglich, einen geeigneten Mann für Margl zu finden, wenn erst einmal bekannt wird, dass sie ein Kind von einem Fremden empfangen hat. Wer nimmt sie denn dann noch? Ihr Ruf wäre gänzlich ruiniert. Und wir können nicht ewig für sie aufkommen und wenn sie dann noch den Jungen hätte, wäre das nahezu unmöglich gewesen. Auch wenn sie unser einziges Kind ist, kommen wir so kaum über die Runden.“ Jobst räusperte sich. „Ja…und dann sind wir eben alle drei zu dem Entschluss gekommen, dass wir es weggeben. Eigentlich wollten wir es vor die Kirche legen. Vielleicht hätte es Pfarrer Anselm ja aufgenommen oder dem Kloster übergeben.“
„Darf ich noch etwas wissen?“, hakte der Einsiedler nach. „Wie konntet ihr die Schwangerschaft verbergen? Ich meine, im Ort muss es doch jemandem aufgefallen sein, oder?“
Wieder antwortete Jobst. „Wir haben es erst spät erfahren. Margl kam zu uns und sagte, dass spürte, dass sich unter ihrem Herzen etwas bewegte. Wir waren wie vom Donner gerührt, das kannst du uns glauben. Schnell war klar, dass wir ihren Ruf nicht verkommen lassen wollten und haben daher versucht, den wachsenden Bauch so gut es ging zu verdecken. Und die letzten zwei Monate hat sie dann fast nur noch im Haus und unserem Garten verbracht. Dann fiel es nicht so sehr auf.“
„Und die Geburt“, sagte Margarete, „die mussten wir hier im Haus ohne Hebamme bewältigen. Wir wollten nicht riskieren, dass eine der Hebammen unser Geheimnis ausplauderte. Ich hatte nur meine Mutter an meiner Seite, die sich an meine Geburt erinnerte und mich nach bestem Gewissen vorbereitete. Vater hat währenddessen die Jungfrau Maria angerufen und um unser Heil gebetet.“
„Und schließlich ist dann auch alles gutgegangen. Trotzdem konnten wir uns nicht richtig freuen“, erwähnte Lina traurig.
„Es war unser größtes Glück und gleichzeitig unser größter Albtraum“, erklärte Jobst.
Wilhelm nickte verständnisvoll und spürte die Verzweiflung in der Stimme des Mannes, das war nicht aufgesetzt, es war ihm ernst.