9,99 €
Ein guter Hüter stellt sein Haus über alles. Über den König, über das Land, über die Familie, über sein eigenes Leben.
Violet Sterling hat die letzten sieben Jahre im Exil verbracht und sehnt sich zurück nach Burleigh House. Als eines der sechs Großen Häuser Englands brachte Burleighs Magie einst der ganzen Gegend und auch Violet Glück und Zufriedenheit. Zumindest bis der Verrat ihres Vaters alles zerstörte. Jetzt, nach dessen Tod, hat Violet die Chance, in ihr Zuhause zurückzukehren. Aber Burleigh ist nicht mehr so wie in ihrer Erinnerung. Die Seele des Hauses schreit vor Trauer und Schmerz. Während seine gequälte Magie das Land verwüstet, muss Violet entscheiden, wie weit sie bereit ist zu gehen, um ihr Haus zu retten – bevor ihr Haus alles zerstört, was sie je gekannt und geliebt hat.
Düster, packend und absolut einzigartig – dieser faszinierende historische Fantasy-Roman ist perfekt für Fans von »Hazel Wood« und »Caraval«.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 501
LAURA E. WEYMOUTH
Kalte Magie,
flammender Zorn
Aus dem Englischen
von Petra Koob-Pawis
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
Erstmals als cbt Taschenbuch November 2022
Copyright © 2019 by Laura E. Weymouth
Published by Arrangement with Laura E. Weymouth
© 2022 für die deutschsprachige Ausgabe
cbj Kinder- und Jugendbuch Verlag in der
Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
»A Treason of Thorns« bei HarperTeen, an imprint of HarperCollins Publishers
Aus dem Englischen von Petra Koob-Pawis
Covergestaltung: Jessie Gangskn
Covermotive © 2018 by Garrigosa Studios
skn · Herstellung: UK
Satz: KCFG-Medienagentur, Neuss
ISBN 978-3-641-25562-6V005
www.cbj-verlag.de
Für Steph, den Hüter dieses Buches.
Und für The Pod, die meine Hüter sind.
Auf meinem Nachttisch steht eine mit Spitze verzierte Hochzeitseinladung. Da weiß ich mit absoluter Gewissheit, dass meine Mutter nicht mehr zurückkommt. Es war unvermeidlich, aber bisher ist es mir stets gelungen, das Unvermeidliche zu ignorieren.
Bis jetzt.
Die Wahrheit lässt sich nicht länger verleugnen. Da steht sie, geschrieben mit goldener Tinte, und verströmt den Rosenduft eines Eau de Toilette, der hauchzart zu mir herüberweht.
Eingerollt liege ich in meinem Bett und starre die Einladung an wie eine gefährliche Schlange.
»Violet.« Wyn, das Ziehkind meines Vaters, ruft mich leise von draußen. »Kann ich reinkommen?«
Er sieht nicht, wie ich nicke, wohl aber das Haus. Mit einem Klicken schiebt es den Riegel zurück, dann schwingt die Tür mit einem sanften Knirschen der Angeln weit auf. Ich blicke hinüber und sehe Wyn, wie er mit einem Becher Wasser vorsichtig den Raum durchquert, um nichts zu verschütten. Seit er in Burleigh House wohnt, bewegt er sich, als sei der Boden unter seinen Füßen mit unsichtbaren Glassplittern bedeckt, die ihn bei jedem falschen Schritt verletzen könnten.
Wyn stellt den Becher auf meinen Nachttisch, direkt vor Mamas Einladung, sodass die goldenen Buchstaben durch das Glas hindurch seltsam verzerrt aussehen. Wir sind beide erst acht Jahre alt, und immer ist jemand in der Nähe, der auf uns aufpasst – meistens sind das Jed und Mira, Papas Verwalter und seine Hauswirtschafterin. Aber in diesem Haus wissen sogar wir Kinder, dass wir aufeinander achten müssen.
Als Wyn neben mir Platz nimmt, schreckt der Efeu, diese tröstenden Blätter, mit denen mich Burleigh House sanft bedeckt hat, zurück – Burleigh und Wyn sind noch nie besonders gut miteinander ausgekommen. Im Kamin flackern purpurrote Flammen und die Lampe leuchtet in derselben Farbe. Armes altes Haus – es erträgt es genauso wenig wie Wyn, mich unglücklich zu sehen. In solchen Momenten, wenn Burleigh so warm und fürsorglich ist, vergesse ich manchmal, dass es zu den fünf Großen Häusern gehört, die mit mächtiger Magie über das Wohl von England wachen. Für mich ist das Haus schon immer mehr als das gewesen. Burleigh ist wie Wyn: Familie und Freund in einem.
Wyn rutscht ein Stück weg, schafft Platz zwischen sich und Burleighs zurückweichenden Ranken. Wenn Wyn jemand anderes wäre, hätte er mich längst gefragt, wie es mir geht. Aber er ist schon immer still gewesen, seit dem Tag, als mein Vater ihn aus einem Haus für Findelkinder in Taunton geholt und zu uns nach Hause gebracht hat. Seine Schweigsamkeit gefällt mir – ich habe noch nie verstanden, wieso man Probleme endlos zerpflücken muss. Ich möchte nicht darüber reden, dass Papa weggegangen ist, wieder einmal, um sich in London um die Belange des Hauses zu kümmern. Ich möchte nicht darüber reden, wie die Sorgen von Burleigh House durch die Holzdielen in mich hineinsickern und mein Herz pochen lassen, bis ich kaum noch atmen kann.
Und erst recht nicht möchte ich über Mama reden.
Ich schlinge die Arme noch etwas fester um meine Knie, am liebsten würde ich mich ganz klein machen und einfach verschwinden. Wyn sieht auf mich herunter, ernst und mit großen Augen. Ich weiß, dass er und das Haus die ganze Nacht mit mir wach bleiben und mich morgen auf Schritt und Tritt begleiten werden. Sie lassen mich nicht im Stich, niemals. Das Haus wird mich in Blumen wickeln und mich mit einem Nachtigallenlied in den Schlaf lullen, und Wyn – nun ja – Wyn schläft nie in seinem eigenen Bett. Er zieht es vor, mit einem Kissen auf einem Stapel Decken in meinem Wäschetrockenschrank zu übernachten.
Plötzlich muss ich daran denken, was Mama von all dem gehalten hat. Sie und mein Vater waren so gut wie nie einer Meinung, aber meine Zuneigung zu Burleigh und zu Wyn sorgte besonders oft für Streit.
»Das Haus muss für sie an erster Stelle stehen, Eloise«, pflegte mein Vater zu sagen. »Wenn Vi erwachsen ist, wird sie die nächste Hüterin sein. Burleigh wird sie erwählen, und wenn die Zeit gekommen ist, werde ich ihr den Schlüssel übergeben. Seine Majestät wird das gutheißen – du weißt, der König hat schon immer großes Interesse an Vi gezeigt. So und nicht anders lautet ihre Bestimmung.«
»Sie hat keine Ahnung, wer sie jetzt ist, und erst recht nicht, wer sie in Zukunft sein wird«, hat meine Mutter ihm entgegengehalten. »Wie soll sie das jemals herausfinden, wenn du sie an Burleigh House kettest und sie nie mit normalen Kindern spielen lässt?«
»Wyn leistet ihr Gesellschaft.«
»Er ist kein normales Kind.«
So ging es weiter, in endlosen Schleifen, hinter verschlossenen Türen. Vielleicht ahnten sie tatsächlich nicht, dass Wyn und ich draußen saßen und lauschten, vielleicht war es ihnen auch egal.
Aber jetzt hat das Streiten ein Ende. Meine Mutter ist in die Schweiz gereist, um dort ihre zweite Hochzeit mit einem ausländischen Baron zu planen.
»Wyn.« Ich setze mich auf und schaue ihn an. Ich muss wissen, dass es das alles wert ist. Ich muss wissen, dass ich diesen Verlust für einen höheren Zweck erleide.
»Ja?«, sagt Wyn und sieht mich mit seinen großen, ernsten Augen, die unter wirren sandfarbenen Haaren hervorblicken, an.
»Glaubst du, ich werde eine gute Hüterin sein?«
Wyn antwortet nicht. Er starrt den Efeu an, der die ganze Bettdecke überzieht – bis auf eine auffallend leere Stelle in seiner Nähe.
»Eine gute Hüterin stellt ihr Haus über alles«, sage ich halblaut zu mir selbst.
»Immer?«, fragt Wyn.
Ich strecke die Hand aus, und sofort winden sich grüne Efeuranken um mein Handgelenk und legen sich über das glatte rosafarbene Muttermal, das aussieht wie ein Armband aus filigranem Gitterwerk. »Immer. Sagt Papa. Eine gute Hüterin stellt ihr Haus über den König. Über das Land. Über die Familie. Sogar über das eigene Leben.«
»Aber was, wenn du deine Meinung änderst?«
Das ist völlig undenkbar. Selbst wenn meine Mutter weg ist, selbst wenn ich irgendwann erwachsen sein werde, mein Entschluss, Burleigh House zu dienen, wird sich nie ändern. Mein Vater, George Sterling, ist der perfekte Hüter, und wenn er, was nicht allzu oft vorkommt, zu Hause ist, achtet er darauf, dass ich meine zukünftige Aufgabe erlerne. Damit ich eines Tages in seine Fußstapfen treten kann und die beste Hüterin von ganz England werde. Unter den wachsamen Augen meines Vaters ist Burleigh aufgeblüht und hat unseren Grafschaften Frieden und Wohlstand geschenkt.
»Ich werde meine Meinung niemals ändern«, versichere ich Wyn. »Burleigh wird für mich immer an erster Stelle stehen, weil dieser Ort größer ist als du oder ich oder sonst wer.«
Obwohl mein strenger Vater darauf geachtet hat, dass ich diese Worte auswendig lerne, geht mir jedes Mal das Herz auf, wenn ich diesen Satz wiederhole. Seit ich denken kann, bedeutet Burleigh mir alles. Das Haus ist Mutter, Vater, Tröster und Freund. Ich bin entschlossen, ihm später all das zu vergelten.
»Mag sein, dass wir das Haus nicht verstehen und nicht mit ihm sprechen können, aber Burleigh hat West Country schon behütet, da waren du und ich noch gar nicht auf der Welt. Und das wird auch noch so sein, wenn es uns schon lange nicht mehr gibt. Es ist meine Pflicht als eine Sterling, diesem Ort zu dienen und ihm dabei zu helfen, gut für das Land zu sorgen. Mama hat das von Anfang an gewusst, Wyn. Sie ist immer eifersüchtig auf Burleigh gewesen. Sie hat nicht verstanden, warum das Haus es wert ist, dass man sich gut darum kümmert.« Ich halte inne und schlucke heftig, weil meine Kehle und meine Augen brennen.
Wyn starrt auf den Boden und sieht so klein und elend aus, wie ich mich fühle.
»Was genau ist ein gutes Haus?«, fragt er nach langem Schweigen. Ich runzle die Stirn, als ich sehe, wie er ein Efeublatt zerrupft. »Was macht ein gutes Haus aus? Müsstest du nicht etwas im Gegenzug für deine Fürsorge bekommen?«
Ich streiche mit dem Finger über den Efeu und beruhige die Stelle, die Wyn verletzt hat. Sofort wenden sich die Blätter mir zu wie Blumen, die sich zur Sonne drehen. »Ich erwarte nichts. Ein gutes Haus stellt sich selbst an erste Stelle, denn das Wohlergehen des Landes hängt von seinem eigenen Wohlergehen ab. Daher muss ein gutes Haus den Hüter auch sehr genau aussuchen und darf ihn, wenn Schwierigkeiten drohen, nicht schonen.«
Das Feuer flackert im Kamin, wie um meine Worte zu bestätigen.
»Violet.«
Als ich hochschaue und den Ausdruck in Wyns Augen sehe, verkrampft sich mein Magen. Genau diesen Ausdruck – ruhelos, unsicher, wie ein Tier bereit zur Flucht – hat er immer, bevor er den Vorschlag macht, den ich nur allzu gut kenne. »Lass uns weglaufen. Du musst nicht hierbleiben, und du musst auch keine Hüterin sein, wenn du nicht willst. Wir könnten zu deiner Mutter in die Schweiz gehen. Oder irgendwo anders hin. Du kannst es dir aussuchen. Hauptsache, wir gehen weg.«
Wind heult im Kamin, es klingt wie ein Schluchzen, und die Efeuranken auf meinem Bett weichen zurück, gleiten traurig zum Fenster, durch das sie gekommen sind. Aus Gewohnheit, und weil ich es nicht anders kenne, verwandelt sich mein Selbstmitleid in Zuneigung für Burleigh House.
»Sag so was nicht«, schimpfe ich Wyn. »Du weißt, dass ich nie weggehen würde. Mit solchen Vorschlägen ärgerst du Burleigh nur.«
Wyn lässt den Kopf sinken. Er sieht so niedergeschmettert aus, dass ich nicht weiß, wer mir mehr leidtut – er oder mein wehklagendes Haus.
»Schluss jetzt, Burleigh«, sage ich. Das Heulen hört sofort auf. »Ich gehe nirgendwohin.«
Dann lege ich die Arme um Wyn und seine Anspannung lässt ein wenig nach. Soweit das bei Wyn überhaupt möglich ist.
»Es tut mir leid wegen deiner Mutter«, flüstert er. Ich drücke ihn noch etwas fester.
»Mir nicht.« Ich äußere die Worte mit so viel Nachdruck, dass ich sie fast selbst glaube. »Mir nicht. Mir nicht. Ich habe dich und Burleigh. Und Papa, wenn er nicht gerade für das Haus unterwegs ist. Was könnte ich mir mehr wünschen?«
Nachdem Wyn sich von meinem Bett erhoben und in seine behelfsmäßige Schlafstatt im Schrank zurückgezogen hat, stehe ich auf und öffne eine Schublade in meinem Nachttisch. Ich nehme den Brief heraus, den Mama der Hochzeitseinladung beigelegt hat. An ihm haftet ihr Rosenduft noch viel intensiver als an der Einladungskarte. Ich atme ihn ein und denke daran, wie sie immer ihre Arme um mich gelegt hat.
An einem Satz bleibt mein Blick hängen. Dort ist die Tinte verlaufen und hat Flecken hinterlassen. Es sieht aus, als wären beim Schreiben Tränen geflossen.
Komm zu mir, Violet – ich möchte dir ein neues Zuhause geben.
Aber ich habe bereits ein Zuhause. Ich bin eine Sterling – ich bin in Burleigh House geboren, und eines Tages, das hoffe ich, werde ich eine Hüterin sein, die genauso klug ist wie mein Vater.
Eine gute Hüterin stellt ihr Haus über alles. Über den König, über das Land.
Über die Familie.
Ich knie mich neben den Kamin und übergebe Mamas Brief den mitfühlenden Flammen, die sich blau färben, als ich mit dem Ärmel meines Nachthemds über meine Augen wische.
»Denk an etwas anderes, irgendetwas. Das hilft«, höre ich Wyn aus dem dunklen Schrank sagen.
Ich hole zittrig Luft und fange an zu summen. Es ist ein Lied, das Papa mir immer vorgesungen hat, wenn er zu Hause war.
Blut für einen Anfang
Mörtel für ein Ende
Ob Freund oder Feind
Der Bannspruch bringt die Wende
Nimm des Bannes Pfand
Nimm es in die Hand
Binde die Macht des Hauses
Binde sie ans Land
Blut für ein Ende
Mörtel setzt’s in Gang
Im Herzen deines Hauses
Löse den Bann
Nimm dem Haus die Ketten
Befreie es auf ewiglich
Lass nichts für den König
Nichts für dich und nichts für mich
Das Erste Haus ist ein Gefängnis
Das Zweite Wohnsitz edler Damen
Das Dritte prächtiger Palast
Das Vierte geweiht in Gottes Namen
Das Fünfte birgt Quecksilber
Das Sechste reißt alles ein
Blut mischt sich mit Mörtel
Atem mit Gestein
Aber diesmal hat es nicht die erhoffte Wirkung. Auch dann nicht, als ich mich ganz fest auf die Worte konzentriere. Ich sehe Mamas Handschrift vor mir. Und ich muss daran denken, dass sie nie wiederkommt.
»Es war einmal ein Großes Haus«, murmle ich verzweifelt. Seit über einem Jahr habe ich Wyn keine Geschichte mehr erzählt. Das hatte ich nur am Anfang getan, bis er sich in Burleigh House eingelebt hatte. Aber in diesem Moment gibt es mir Halt: das Geräusch, wie Wyn sich in seinem Schrankbett einrollt, um mir zuzuhören, und die überwältigende, grüblerische Präsenz meines über alles geliebten Burleigh House, das ebenso aufmerksam meinen Worten lauscht. »Und dann gab es da die Sterlings, die für das Haus lebten und starben. Ihr Blut vermischte sich mit seinem Mörtel und ihre Gebeine ruhten in seinem Fundament.«
Als ich den Blick vom Kamin abwende, ist der Fußboden meines Schlafzimmers über und über mit Gänseblümchen bedeckt. Nach und nach gelingt es mir, die Traurigkeit über den Abschied von meiner Mutter tief in meinem Inneren zu verschließen, denn ich weiß genau: Ich werde alles für diesen Ort tun. Eines Tages wird sich auch mein Blut mit seinem Mörtel vermischen. Eines Tages werden auch meine Gebeine in seinem Fundament ruhen.
Neun Jahre später
Der flache Boden meines Bootes vibriert leicht unter meinen Füßen, als ein Sumpfhecht dagegenstößt. Die schimmernde, längliche Kreatur ist damit beschäftigt, womit ein Fisch eben beschäftigt ist, während ich nun schon seit fast einer Stunde reglos ausharre und mich von der sanften Strömung des Marschwassers hin und her schaukeln lasse. Für den Hecht bin ich praktisch unsichtbar, und nur ein unsichtbarer Jäger hat Erfolg.
Die Sonne brennt auf meinen ungeschützten Kopf herab und bringt meine zu einem langen Zopf geflochtenen Haare zum Glühen. Schweiß perlt zwischen meinen Schulterblättern und an meinem erhobenen Arm mit dem Fischspeer. Nichts kann mich so trösten wie dieser Augenblick, wenn sich alles ineinanderfügt und meine Gedanken sich auf ein einziges Ziel richten. Dann bin ich nicht mehr Violet Sterling, vertriebene Tochter eines rebellischen Adeligen, die schon viel zu lange von ihrer Familie getrennt ist. Alle Sorgen um meinen Vater und Wyn und mein Haus verschwinden, und ich werde wieder heil, werde wieder Vi aus den Sümpfen, die den Tag nie mit leeren Händen beendet.
In einem solchen Moment fällt alles von mir ab und ich bin ganz ich selbst. Ein ruhiger Kopf. Ein scharfes Augenpaar. Zwei Hände, schnell wie Quecksilber oder Wetterleuchten. Der Fisch dreht sich und zeigt seine glitzernden Schuppen in ihrer ganzen Pracht.
In einer Explosion aus Speer, Netz und trübem Wasser ziehe ich meinen Fang heraus. Der Fisch windet sich, und das Boot fängt an zu wackeln, aber ein schneller Schlag mit dem Beil, das unter der Sitzbank bereitliegt, macht dem Gezappel ein Ende. Mit einem zufriedenen Grinsen werfe ich meinen Zopf über die Schulter, dann wische ich mir den Schweiß von der Stirn und merke, dass ich mir wieder einmal einen schlimmen Sonnenbrand auf der Nase eingehandelt habe. Die Haut wird sich schälen und fleckig werden, und Mira wird mich schimpfen, doch das lässt sich jetzt nicht mehr ändern. Aber der Fisch wird für eine halbe Woche reichen, und so lange werden wir genug zu essen haben. In Momenten wie diesen gelingt es mir, die schleichende Angst abzuschütteln, die mich in den letzten Jahren begleitet hat, und sei es auch nur für eine Weile.
Aber noch während ich mich aufrichte und meinen Fang betrachte, kehrt das Gefühl zurück – dass ich weit weg von meinem Haus und trotzdem daran gebunden bin wie mit einem straff gespannten Seil. Dabei ist es nicht nur Burleigh House, das ich nicht hinter mir lassen kann.
»Was hältst du davon, Wyn?«, murmle ich. Inzwischen habe ich es mir zur Gewohnheit gemacht, mit ihm zu sprechen, wenn ich allein in den Sümpfen bin. Wobei ich stets darauf achte, dass niemand mich hört. Keine Ahnung, wer in diesem Moment tatsächlich mit Wyn redet – wer sein Schweigen und seine Stimmungen hinnimmt, wer ihn in seiner Nähe bleiben lässt, wenn die Nacht wieder einmal zu lang und zu dunkel ist, voller Geräusche und Schatten, die Wyn an Dinge erinnern, über die er nie sprechen wird. Ich kann nur hoffen, dass es ihm irgendwie hilft, wenn ich, so oft es geht, meine Stimme zu ihm aussende.
Inmitten des unwegsamen Östlichen Sumpflandes kann niemand meine geheime Unterhaltung hören außer endlosem Morast und zähem Schlick, der von Flussarmen durchzogen ist, die den Gezeiten unterworfen sind. An manchen Stellen hat man den Sumpf trockengelegt und ihm Weideland abgerungen. Bauernhöfe und Schafkoppeln scheinen willkürlich über das Marschland verteilt worden zu sein. Es ist ein verwirrendes Durcheinander, ein Labyrinth, aber ich kenne diesen Ort besser als jeden anderen, mit Ausnahme von einem. Die Strömung spricht eine Sprache, die ich gelernt habe, die Seevögel rufen mich, und der unverschämt blaue Himmel ist wie eine Landkarte, die gelesen werden will. Die Sümpfe sind ehrlich, wenn man sie versteht, und sie haben ihre ganz eigenen Regeln.
Aber sie sind nicht West Country, das fünf der südwestlichen Grafschaften Englands umfasst und von Burleigh House regiert und umsorgt wird. Die Sümpfe sind weit und flach und geradlinig in ihrer Wildheit. Ganz anders als das Hügelland der Blackdown Hills, in dem ich aufgewachsen bin und das auf den ersten Blick gezähmt scheint, mit seinen eingezäunten Weiden und Apfelbaumgärten, in dessen Tälern aber verborgene alte Schreine schlummern und in dessen Hecken machtvolle Zauber lauern. Und nichts in der Welt lässt sich mit dem einzigartigen, von Magie durchwirkten Burleigh House vergleichen. Deshalb fühlt es sich für mich auch nie an, als würde ich nach Hause zurückkehren, wenn ich, wie jetzt, ans Ufer zurückrudere. Wie sollte es auch?
Als ich unsere Hütte auf einer kleinen Anhöhe mitten im Nirgendwo erreiche, schickt die Sonne bereits ihr goldenes Licht bis weit ins Land hinein. Mira hat die Fensterläden aufgemacht und Jed sitzt auf den Eingangsstufen und schnitzt. Bevor wir ins Exil gegangen sind, hat er nie geschnitzt, aber damals war ich auch keine Fischerin.
»Na, Glück gehabt?«, fragt Jed, als ich das Boot an unserem schmalen Steg festbinde. Ich antworte, indem ich den großen Hecht hochhalte, was nur mit beiden Händen geht.
Jed stößt einen leisen Pfiff aus. Er ist ein stämmiger, bärtiger Mann mit wettergegerbter Haut und kurz geschorenen Haaren, die schon vor langer Zeit ergraut sind, und obwohl er mir in guten und in schlechten Zeiten zur Seite stand, liebe ich ihn am allermeisten dafür, wie treu er meinem Vater gewesen ist. Es gab keinen hingebungsvolleren Verwalter als ihn, egal ob mein Vater zu Hause war oder nicht. Als der König den Hausarrest über meinen Vater verhängte, waren sechs kräftige Männer vonnöten, um Jed in Schach zu halten. Er hat geschrien und sich gewehrt, als sie George Sterling in Burleigh House eingeschlossen haben, und er hat den Kampf erst aufgegeben, als das Eingangstor durch eine unüberwindbare steinerne Mauer ersetzt wurde.
»Mira wartet drinnen«, sagt Jed. »Sie … wir … müssen dir etwas sagen.«
Ich spüre, wie das Lächeln aus meinem Gesicht weicht. »Was …«
Bevor ich ihn fragen kann, höre ich Miras Stimme aus der Hütte. »Bring mir sofort den Fisch und wasch dir den Gestank von den Händen.«
Als ich die Hütte betrete, empfängt sie mich mit einem verärgerten Schnauben. »Du hättest schon vor Stunden zu Hause sein sollen.«
Mira regiert gerne mit eiserner Faust, aber Jed und ich wären hilflos ohne sie. Wir sind eine Familie – eine seltsame, ohne Zweifel, aber das Schicksal hat uns zusammengeführt, und es würde mir das Herz brechen, wenn ich sie verlöre.
Ich durchquere den kleinen Raum, in dem gekocht, gegessen und gewohnt wird und in dem sich hinter einem zugezogenen Vorhang auch Jeds und Miras Bett befindet. Eine Stiege führt hinauf unters Dach zu meiner Kammer, mehr Zimmer hat die Hütte nicht.
Mira wirbelt herum, als ich den Hecht auf den Küchentisch klatsche. Entsetzt blickt sie mich an.
»Violet Sterling, wie um alles in der Welt siehst du denn aus? Ausgerechnet heute hättest du rechtzeitig zu Hause sein sollen.«
Ich lehne mich an den Tisch, auf dem mein Prachtfang liegt, und ziehe die Schultern hoch, als könnte ich auf diese Weise das abwehren, was ich gleich zu hören bekomme. Wenn Wyn jetzt hier wäre, würde er schweigend an der Tür stehen, ein stummer Verbündeter in allen Dingen. Und wenn wir zu Hause wären, hätte Burleigh längst einen tröstenden Blütenteppich um meine Füße gelegt.
Werde ich mich jemals damit abfinden können, dass die beiden nicht bei mir sind?
»Warum? Was ist denn los?«, frage ich, nachdem ich meinen ganzen Mut zusammengenommen habe.
Jed kommt geduckt zur Tür herein und plötzlich ist die Hütte noch viel kleiner. »Heute war ein Besucher hier, der nach dir gefragt hat. Ein Bote des Königs.«
Alle Luft weicht aus mir. Ich sinke auf einen Stuhl und verschwende keinen Gedanken mehr an den Fisch.
»Seine Majestät ist aus Belgien zurückgekehrt und hat im Knight’s Arms in Thiswick Halt gemacht«, sagt Mira. »Er würde es sehr begrüßen, wenn sein einziges Patenkind ihm morgen Mittag einen Besuch abstattet, bevor er seine Reise fortsetzt. Der Bote sagte auch, dass es Neuigkeiten aus Burleigh House gibt.«
»Neuigkeiten?« Ich bringe das Wort kaum hervor, ohne dass meine Stimme bricht. Seit sieben Jahren hat es keine Neuigkeiten mehr aus Burleigh House gegeben. Und jedes Mal, wenn die Sonne untergeht, ohne dass es welche gibt, bin ich froh, denn das bedeutet, dass weit weg von hier mein Vater und Burleigh und Wyn einen weiteren Tag des Arrests überstanden haben.
Jed stellt sich hinter mich und legt seine Hände auf meine Schultern. »Er hat keine Einzelheiten preisgegeben, aber ich denke, du weißt selbst, was das bedeutet.«
Ich schlucke alle Fragen hinunter, denn ich weiß, dass Jed und Mira sie nicht beantworten können, und decke stattdessen den Tisch fürs Abendessen. Aber nachdem wir gegessen und das Geschirr abgeräumt haben, schleiche ich mich nach draußen, kaum dass Mira mir den Rücken zugedreht hat. Jed sieht mich, sagt jedoch kein Wort, als ich unser kleines Fischerboot ins Wasser schiebe und einsteige. Ich lege mich kräftig in die Riemen und das Boot setzt sich langsam in Bewegung.
»Violet!«, ruft Mira durch die offene Haustür. »Wo um alles in der Welt willst du denn hin? Es wird gleich dunkel!«
»Weg!«, antworte ich knapp und rudere, was das Zeug hält. Das Boot gleitet vorwärts, nimmt Fahrt auf und wird schneller, bis ich durchs Wasser pflüge und meine aufwallenden Gefühle hinter mir lasse wie ein treibendes Fangnetz. Ich weiß, Bewegung ist jetzt das Beste für mich – sie hilft gegen den Schmerz in meinem Herzen, das Bohren in meinem Magen, das Knirschen meiner Zähne. Ich rudere, bis meine Arme und mein Rücken wehtun. Bis wieder Schweiß zwischen meinen Schulterblättern perlt und die letzten Sonnenstrahlen des Tages zu meinen vielen Sommersprossen noch ein paar weitere hinzugefügt haben.
Als die Ruder schwer wie pures Blei werden, lasse ich das Boot mitten in der Flussniederung treiben. Vor mir erstreckt sich Wasser bis zum östlichen Himmel, der sich immer mehr verdunkelt. Ich wende mich von ihm ab und auch von der schier endlos erscheinenden, unruhigen Nordsee und blicke stattdessen nach Westen in die untergehende Sonne. Jenseits dieser strahlenden Pracht liegt meine Vergangenheit. Und meine Zukunft. Jenseits liegt mein Haus.
Blut und Mörtel, ich sehne mich mit jeder Faser danach. Mit jedem Knochen, jedem Atemzug. Ich dachte, das Ende des Arrests würde einen Keil zwischen mich und das Haus treiben, aber obwohl ich weiß, was geschehen ist – dass mein Vater tot ist, getötet von seinem eigenen Haus –, verspüre ich nur den schmerzhaften Wunsch, wieder bei Burleigh zu sein.
Morgen werde ich Seiner Majestät einen Besuch abstatten. Ich werde vor dem König sitzen, während er Mitleid heuchelt und mir mitteilt, dass das Todesurteil nach all den Jahren vollstreckt ist und ein neuer Hüter den Platz meines Vaters einnehmen wird. Ich werde tun, was getan werden muss, und mir weder Hass noch Furcht anmerken lassen, zum Wohl des Hauses. Denn nach dieser langen Zeit braucht Burleigh eine sanfte Hand.
Hausarrest ist eine schlimme Strafe, dazu gedacht, sowohl den Hüter als auch das Große Haus leiden zu lassen. Wenn ein Hüter des Verrats schuldig befunden wird, muss er den Schlüssel abgeben, mit dem er die Magie des Hauses lenkt, und darf keinen Fuß mehr vor die Tür setzen. Das Haus ist dazu verdammt, niemanden herein- oder hinauszulassen, bis der Hüter tot ist.
Aber ein Großes Haus kann nicht dauerhaft für das Wohlergehen eines Landes sorgen, wenn es keinen Hüter mit Schlüsselgewalt gibt, um seine Magie zu lenken. Früher oder später muss daher ein gutes Haus sich und das Land an erste Stelle setzen, ganz egal wie schwer ihm das fällt.
Vor der Haft meines Vaters hat es im Laufe der Jahre insgesamt fünf Hausarreste gegeben. Zwei Hüter haben sich selbst umgebracht, bevor das Haus es tun musste. Drei wurden von ihren Häusern getötet. So etwas ist nur möglich, wenn ein Arrest verhängt wurde, weil der Bann es den Großen Häusern ausdrücklich verbietet, ein Leben auszulöschen.
Mein Herz leidet mit Burleigh, das gezwungen war, etwas zu tun, was nicht in seiner Natur liegt und wozu es sich nie bereit erklärt hat. Aber wenn ich an Wyn denke, dann zerbricht mein Herz fast. Sieben Jahre sind vergangen, und ich begreife immer noch nicht, warum mein Vater einen Teil seiner Strafe einem Jungen aufbürden durfte, damit dieser wie er selbst hinter Mauern gefangen sitzt. Jedes Mal, wenn ich daran denke, sträubt sich mein Innerstes. Alles andere kann ich nachvollziehen – dass mein Vater den Arrest und die Verurteilung als Verräter riskiert hat, als er versuchte, unser Haus zu befreien, indem er dessen Urkunde stehlen wollte, die sich im Besitz des Königs befindet. In ganz England gibt es Menschen, die für eine Auflösung des Banns sind, ungeachtet aller damit verbundenen Gefahren.
Natürlich bin ich auf ihrer Seite. Natürlich möchte ich Burleigh House dem Griff des Königs entreißen. Seit William der Bannsprecher die Häuser an sich gebunden und ihre Besitzurkunden in seiner Gewalt hat, regiert die königliche Familie über die Großen Häuser. Hüter können die Magie bändigen, aber nur dem Bannsprecher müssen die Häuser bedingungslos gehorchen. Ich kann mir vorstellen, wie qualvoll es für meinen Vater gewesen sein musste, zuzuschauen, wie der König Entscheidungen traf, die nicht zum Besten von Burleigh waren.
Dennoch habe ich nie ganz verstanden, welchen Preis mein Vater für seinen fehlgeschlagenen Diebstahlversuch zu zahlen bereit war – und weshalb er nicht nur seine eigene, sondern auch Wyns Freiheit opferte. Und ich verstehe es auch jetzt noch nicht.
Ein guter Hüter stellt sein Haus über alles, ermahne ich mich selbst, um den Zorn niederzukämpfen, der mich bei dem Gedanken an Wyns Schicksal überkommt. Über die Familie. Über die Freunde. Dieser Grundsatz hat meinen Vater geleitet, ob ich sein Handeln nun begreife oder nicht.
Am Horizont verglimmt das Licht zu purpurner Glut. Schwalben segeln über das Wasser und weit über ihnen jagen Fledermäuse kreuz und quer über den Himmel. Während die Dunkelheit hereinbricht, wird die Luft um mich herum immer kälter und der Schweiß trocknet auf meiner Haut. Ich zittere, ein Salzmädchen allein auf einer Salzwiese.
Als die Sterne am Himmel nach und nach zum Leben erwachen, fange ich an, sie zu zählen. Das ist ein alter Trick, den Wyn und ich uns vor langer Zeit ausgedacht haben, als wir auf dem Dach des Hauses saßen. Wir waren zwei von Sorgen geplagte Kinder, die nachts nicht schlafen konnten, daher zählten wir die Sterne, bis die Angst verblasste. Damals hat es funktioniert. Ich konnte meine Furcht in Schach halten.
Doch seither verzähle ich mich immer, bevor die Angstflut verebbt, und auch heute ist es nicht anders als in all den Nächten, seit mein Vater und mein bester Freund in Burleigh eingeschlossen wurden. Als ich mich in den Sternen verloren habe, richte ich meine Aufmerksamkeit nach innen, so wie ich es gelernt habe, nachdem mir mein Herz und mein Haus genommen wurden. Ich tauche ein in das Labyrinth meiner Gedanken und zähle Ängste statt Sterne.
Ich habe Angst vor der Erinnerung, die mir das sorgenvolle Gesicht meines Vaters zurückbringt – seine ernsten Augen, sein gehetztes Lächeln. Hat er sich richtig entschieden? Werde ich eine würdige Nachfolgerin sein? Werde ich eines Tages das gleiche Schicksal erleiden wie er?
Ich habe Angst, dass ich mein Zuhause und Wyn niemals wiedersehen werde, dass ich mein Dasein hier in den Sümpfen fristen muss und nie auf etwas Besseres hoffen darf. Dass ich mich nie wieder mit mir im Reinen fühlen werde.
Ich habe Angst, Jed und Mira zu verlieren, so wie alles andere auch. Ich habe Angst vor dem Hunger, der uns jeden Winter heimsucht, wenn das Fass mit den Salzfischen immer leerer wird. Ich habe Angst vor dem Meer, das Leben schenkt, nur um anschließend die Küste mit Stürmen zu überziehen.
Alle Ängste steigen in mir hoch, und ich nehme sie, eine nach der anderen, verschließe sie in einer Schatulle und stelle sie in ein staubiges Regal im hintersten Teil meiner Seele. Ich weiß nicht, was ich sonst mit den Gedanken machen soll, die mir die Luft abschnüren, also räume ich sie weg wie faulende Äpfel vom letzten Winter oder matt angelaufene Schätze eines Drachen.
Die letzte Angst in der Schatulle ist folgende: Ich habe Angst vor dem König, schreckliche Angst. Aber Burleigh House ist wichtiger als meine Angst. Und so muss es auch sein.
»Ich möchte wieder in mein Zuhause«, flüstere ich mir und dem Nachthimmel und den Sternen zu.
Zuhause. Das Wort schmeckt wie Honig und Asche, wie Hoffnung und Reue. Ich weiß nur eines: Ich würde sogar dem Teufel persönlich gegenübertreten, wenn ich dadurch wieder in das Haus zurückkehren könnte, in dem ich aufgewachsen bin, um endlich zu erfahren, wie es meinem einzigen Freund aus Kindertagen geht. Der König ist schließlich nur ein wenig schlimmer als der Teufel und ich würde ihn anflehen und mit ihm verhandeln. Ich werde alles tun, was nötig ist, um dorthin zurück zu dürfen, wo ich hingehöre. Um das zu sein, wozu ich geboren wurde – Hüterin meines geliebten Hauses.
Die Ebbe hat eingesetzt. Die Wellen zerren an meinem Boot, ziehen mich nach Osten, weg von zu Hause. Zum ersten Mal seit Jahren stemme ich mich in die Ruder und halte dagegen.
Während ich nach Westen rudere, summe ich ein sehr, sehr altes Lied.
Blut für einen Anfang
Mörtel für ein Ende
Ob Freund oder Feind
Der Bannspruch bringt die Wende
Das Fünfte birgt Quecksilber
Das Sechste reißt alles ein
Blut mischt sich mit Mörtel
Atem mit Gestein
Seine Majestät ist ein Langschläfer. Ich nicht. Tatsächlich war ich bei Sonnenaufgang schon seit mehreren Stunden wach, in meinem Boot auf dem Wasser, mit einer abgedunkelten Lampe und meinem Fischspeer, und inzwischen habe ich sogar schon meinen Fang in Thiswick abgeliefert. Vor langer Zeit habe ich gelernt, dass es nichts Besseres gibt, um sich von den Sorgen abzulenken, als Arbeit.
Aber jetzt, wo das Treffen immer näher rückt, sitze ich im Schneidersitz in meiner Dachkammer auf meiner Pritsche. Nur eine Handbreit über meinem Kopf hängen getrocknete Zwiebeln und Rosmarinbüschel. Draußen ist die Welt in ein fahles Licht getaucht und die Möwen kreischen wehmütig auf ihrem Weg zum Meer. Ich blicke Richtung Küste. Irgendwo in mir drin ist eine Trauer, die sich kaum ertragen lässt. Damit habe ich nicht gerechnet, und ich bin mir auch nicht ganz sicher, wem sie gilt – meinem Vater oder Wyn oder meinem Haus oder mir selbst. Ich kann es mir nicht leisten, zusammenzubrechen. Nicht jetzt, wo Seine Majestät mich erwartet. Nicht jetzt, wo das Schicksal von Burleigh auf dem Spiel steht. Also schließe ich die Augen und dränge den Kummer so weit zurück, dass er nur noch ein leises Flüstern ist. Auch das gehört zu meinen vielen Ängsten – dass ich eines Tages mein Herz zu fest verschließe und es nicht mehr öffnen kann und für den Rest meines Lebens nichts mehr empfinde.
»Komm runter für ein schnelles Frühstück«, ruft Mira hoch. »Was auch immer passiert, ich möchte nicht, dass du dem König mit leerem Magen entgegentrittst.«
Aber ich bekomme keinen Bissen herunter. Nicht um alles in der Welt. Stattdessen rutsche ich auf Knien zu der verwitterten Truhe unter dem runden Fenster. Eine salzige Brise tänzelt zu mir herein und bläst ihre kühle Luft in meinen Nacken, während ich am Schloss der Truhe hantiere. Es klemmt ein bisschen, weil es schon so lange nicht mehr geöffnet worden ist. Als es schließlich aufspringt, klappe ich den Deckel hoch und stoße einen tiefen Seufzer aus.
Wir mussten Burleigh House überstürzt verlassen. Seine Majestät hatte meinen Vater in der Auffahrt von Burleigh House in Anwesenheit eines eilig einberufenen Gerichts verurteilt und angeordnet, dass ich bis zum Abend jenes Tages das Haus verlassen haben musste. Die wenigen Habseligkeiten, die ich mitnehmen konnte, habe ich in diese Truhe gesperrt. Ich brauche keine Erinnerungsstücke an mein Zuhause, wenn das Blut in meinen Adern sich ohnehin jeden Tag nach Westen sehnt.
Aber wenn es je einen richtigen Zeitpunkt gab, um die Truhe zu öffnen, dann jetzt. Ich krame zwischen einer einäugigen Porzellanpuppe, einer Zeichnung von Wyn und einem Kleid, aus dem ich längst herausgewachsen bin, bis ich auf einen getrockneten Efeuzweig stoße. Ich nehme ihn heraus und halte ihn behutsam in den Händen, als könnte er jeden Augenblick zwischen meinen Fingern zerfallen.
Miras Stimme dringt von unten zu mir hoch. »Violet, ich bitte dich, mein Schatz.«
»Hab keinen Hunger«, rufe ich zurück und blicke auf den Efeu, bis er vor meinen Augen verschwimmt.
Der Geruch nach feuchter Erde.
Regentropfen auf der Scheibe meines Schlafzimmerfensters in Burleigh House.
Das Gewicht einer schweren Reisetasche über der Schulter.
Die königliche Kutsche in der Auffahrt. Ich drücke mein Gesicht gegen die Scheibe, ein Kind, gerade einmal zehn Jahre alt, noch nicht bereit für all dies. Es ist Zeit zu gehen, Mira ist schon in mein Schlafzimmer gekommen, um zu fragen, ob sie mir beim Packen helfen soll. Ich habe sie weggeschickt, weil ich es nicht ertragen könnte, wenn jemand sieht, wie niedergeschmettert ich bin, weil ich Burleigh, den einzig wahren Halt in meinem Leben, verlassen muss.
Aber das Haus sieht es, und das schmerzt am allermeisten. Ich möchte tapfer sein, wie eine gute Hüterin, aber ich kann nicht verhindern, dass Tränen lautlos über meine Wangen rollen. Der Wind ächzt im Kamin, Regen schluchzt gegen die Fenster und weiße Trauerblumen sprießen in den Mauerritzen. Auf dem Weg zur Tür stolpere ich über eine meiner Puppen, die einsam auf dem Fußboden liegt. Meine Tasche rutscht herunter und platzt auf, die hastig gepackten Kleider fallen heraus.
Immer, immer ist es eine Kleinigkeit, die mir schließlich die Fassung raubt. Schluchzend knie ich mich zu den auf dem Boden verstreuten Kleidern, meine Schultern zittern, mein Magen verkrampft sich, mein Herz liegt in Trümmern. Das Haus erbebt in seinen Fundamenten, aber es hilft alles nichts.
Und dann, obwohl ich die Tür nicht höre, steht Wyn vor mir und hebt meine Sachen auf, stopft Schürzen und Strümpfe in meine Reisetasche. Als alles wieder verstaut ist, reicht er mir die Tasche. Ich blicke hoch. Auch sein Gesicht ist tränenbefleckt und blass.
»Es ist Zeit, Violet«, sagt er.
»Ich weiß«, erwidere ich. »Jetzt bekommst du endlich deinen Willen. Wir laufen zusammen weg.«
Wyns ohnehin schon kläglicher Blick wird noch unglücklicher. »Das habe ich nie gewollt. Das weißt du – ich habe nie etwas gewollt, was dir wehtut.«
Er ergreift meine Hand, eine rare Geste bei einem Jungen, der nur selten die Kluft zwischen sich und dem Rest der Welt überbrückt.
Ich schlucke und blicke auf unsere ineinander verschlungenen Finger. »Lass mich nicht los. Ich schaffe das nicht allein.«
»Du schaffst alles, wenn du das willst«, antwortet Wyn leidenschaftlich. »Alles, Vi, weißt du das denn nicht?«
Aber auf der Treppe und auf dem Weg nach draußen ist es seine Hand, die sich warm in meiner anfühlt und mich davor bewahrt, zusammenzubrechen.
Jed und Mira warten auf uns. Wir gehen zu ihnen und sehen, wie mein Vater auf den Eingangsstufen des Hauses erscheint, flankiert von einem halben Dutzend königlicher Wachen. Am Horizont ist Donnergrollen zu hören, der düstere Himmel kann nicht aufhören zu weinen, Wasser sammelt sich in breiten Pfützen auf dem Rasen, Regen tropft kalt auf meinen Nacken.
Als die Wachen meinen Vater nach draußen bringen und er uns entdeckt, presst er die Kiefer zusammen und sein Blick verdunkelt sich.
»Wyn, Violet.« Seine Stimme ist rau von den vielen durchwachten Nächten. »Kommt her zu mir.«
Wyn und ich schauen uns an, meine eigene Angst spiegelt sich in seinem Blick. Schweigend packe ich seine Hand fester und er erwidert meinen Griff. Gemeinsam gehen wir die Stufen hinauf, als aus der Kutsche des Königs lautes Lachen dringt. Seine Majestät wartet nur darauf, dass das Urteil an meinem Vater vollstreckt wird, aber sogar heute hat er drei Höflinge bei sich, damit sie zu viert eine Partie Whist spielen können. Am liebsten würde ich ihm die Karten wegnehmen und sie in Stücke reißen.
Mein Vater kann seine Arme nicht um mich legen, seine Hände sind hinter seinem Rücken gefesselt, aber er neigt ohnehin nicht zu Gefühlsbezeugungen. Ich lasse Wyn los und klammere mich stattdessen an meinen Vater und kämpfe gegen die Tränen an.
»Sei tapfer für das Haus, Violet«, flüstert Papa. Ich nehme meinen ganzen Mut zusammen und löse mich von ihm. Trost suchend taste ich nach Wyns Hand.
Aber bevor er meine Hand ergreifen kann, schüttelt Papa den Kopf. »Nein. Wyn, komm her.«
Wyn dreht sie zu ihm und blickt ihn mit großen Augen an.
»Komm jetzt, Wyn«, sagt mein Vater. »Du bleibst hier bei mir, wie wir es besprochen haben.«
»Was?« Meine Stimme hallt laut über den Rasen, obwohl der Regen alle Geräusche dämpft. Mein Vater weicht meinem Blick aus – er schaut Wyn an, der ihn stumm anstarrt, dann fast unmerklich nickt und sich von mir abwendet.
Die Tränen, die ich bisher zurückgedrängt habe, brennen sich einen Weg über meine Wangen, und tief in mir geht etwas zu Bruch.
»Papa, nimm mir Wyn nicht weg«, flehe ich ihn an. »Du und das Haus, und jetzt auch noch er? Das ist zu viel – ihr seid alles, was ich habe. Ich weiß nicht, wie ich ohne euch weiterleben soll. Du bringst mich noch um.«
»Sei nicht hysterisch, Violet«, sagt mein Vater unerbittlich. »Du versetzt Burleigh in Aufregung.«
»Weil Burleigh mich liebt«, stammle ich. »Und ich liebe Burleigh, das wissen alle. Bitte … lass Wyn gehen. Wenn du jemanden an deiner Seite brauchst, dann nimm mich. Ich bleibe freiwillig. Es macht mir nichts aus, das weißt du. Soll der König uns alle beide einsperren. Ich werde bei dir bleiben und alles tun, was du mir beigebracht hast. Ich werde eine gute Hüterin sein, die ihr Haus über alles stellt. Bitte, Papa, bitte.«
»Jed, kümmere dich um Violet«, sagt mein Vater. So unerschütterlich er sonst ist, diesmal bricht seine Stimme, als er meinen Namen sagt.
Jed tritt vor und nimmt meine Hand. »Miss Violet. Wir müssen gehen.«
Mira taucht an meiner anderen Seite auf und legt ihren Arm um mich. Aber ich kann meinen Blick nicht von Wyn losreißen, der mit hängenden Schultern und in stummer Hoffnungslosigkeit neben meinem Vater steht.
»Nein. Nein!« Ich schreie so laut, dass der König und seine Höflinge neugierig aus den Kutschenfenstern spähen. Aber das ist mir egal. Sollen sie nur zuschauen, wie ich eine Szene mache. »Das ist nicht fair – sieh dir Wyn an. Er möchte nicht bleiben! Lass ihn gehen und nimm mich dafür!«
Es stimmt, Wyns blasses Gesicht ist vor Kummer verzerrt. Er kommt die Stufen heruntergerannt und nimmt mich in die Arme. Ich halte ihn, so fest ich kann.
»Tu das nicht«, sage ich mit tränenerstickter Stimme. »Du musst das nicht tun, sie können dich nicht zwingen. Wir gehen zusammen fort. Wyn, lauf mit mir weg!«
»Nein«, sagt Wyn. »Ich kann nicht. Jetzt nicht mehr. Aber versprich mir eines.«
»Alles, was du willst.«
»Wenn du weg bist, dann bleib für immer weg. Komm nicht zurück.«
Ich habe keine Zeit, den Stich zu spüren, den mir Schmerz und Verrat versetzen, denn der Boden unter unseren Füßen wölbt sich plötzlich hoch und reißt uns auseinander. Ich taumle, stürze fast, und als ich mein Gleichgewicht wiedergefunden habe, steht Wyn bereits wieder an der Seite meines Vaters.
»Du musst gehen, Violet«, sagt mein Vater. »Denk an das Haus.«
Das tue ich. Immer. Ich denke immer an das Haus. Und auch jetzt straffe ich die Schultern und kehre meinem Vater den Rücken zu, gehe die ersten Schritte weg von allem, weg von meinem bisherigen Leben.
»Violet Helena Sterling«, ruft mein Vater mir hinterher. »Ich liebe dich.«
Diese Worte habe ich ihn noch nie sagen hören. Aber ich kann nicht antworten, denn wenn ich das tue, werde ich zu schreien und zu treten anfangen, bis sie mich an den Haaren von Burleigh House wegzerren. Ich gehe weiter, stumm, und als ich an der königlichen Kutsche vorbeikomme, blickt seine Majestät heraus.
»Es tut mir leid, Violet«, sagt er, doch in seinem Blick liegt kein bisschen Bedauern. »Aber Gesetz ist Gesetz, und dein Vater hat es gebrochen. Ich hätte ihn allerdings nicht für so schwach gehalten, dass er ein Kind mit für sich büßen lässt. Das mit dem Jungen ist wirklich äußerst seltsam.«
»Schweigt«, zische ich und lege in dieses Wort alle Verachtung, die ich mit meinen zehn Jahren aufbringen kann. »Seid einfach still. Ich will Euch nie wiedersehen.«
»Aber, aber«, erwidert der König tadelnd. »Spricht man so mit seinem Patenonkel? Wer, wenn nicht ich, soll sich um dich kümmern?«
Ich stelle mich an das Kutschenfenster – klein, voller Zorn, mit gebrochenem Herzen. »Ich habe einen Vater, und Ihr tötet ihn. Ich würde lieber sterben, als Eure Hilfe anzunehmen.«
»Ganz wie du willst«, sagt der König schulterzuckend. »Aber du befindest dich immer noch auf meinem Grund und Boden. Burleigh, zeig Miss Sterling den Weg nach draußen.«
Ein lautes Donnergrollen folgt seinen Worten, und plötzlich bin ich auf der Straße, jenseits des großen Tors. Nicht nur ich, sondern auch Jed und Mira. Ebenso die Kutsche und die königliche Garde. Durch das schmiedeeiserne Tor und den strömenden Regen hindurch sehe ich meinen Vater und Wyn auf den Eingangsstufen des Hauses stehen.
Der König steigt aus der Kutsche und geht zur Mauer, die das Anwesen eingrenzt. Als er die Hand ausstreckt, erbebt sich das Mauerwerk unter seiner Berührung. Aber er ist der Bannherr. Mein Vater kann die Magie von Burleigh House zwar lenken, doch es ist der König, der alle Macht in seinen Händen hält; er allein kann das Haus an ein Gebot binden und die Verpflichtung auch wieder lösen, und das Haus kann sich ihm nicht widersetzen.
»Burleigh House«, sagt Seine Majestät. »George Sterling ist des Verrats schuldig befunden worden. Ich übergebe ihn deiner Aufsicht. Lass niemanden hinein oder heraus, solange er lebt. Du wirst keinen neuen Hüter bekommen, bis die Strafe vollzogen ist.«
Stein knirscht auf Stein, als die Mauer dort, wo gerade noch das große Tor war, unaufhaltsam den Eingang verschließt. Vage nehme ich wahr, dass Jed zu dem immer kleiner werdenden Spalt stürzen will, aber die Wachen halten ihn zurück. Ich kann den Blick nicht von Wyn abwenden, dessen Umriss ich aus der Ferne noch sehen kann. Erst als der Zwischenraum ganz geschlossen ist, drehe ich mich um und spucke den König an.
Seine Majestät zieht ein sauberes Taschentuch aus der Tasche und wischt sich über das Gesicht.
»Eines Tages, kleine Violet, wirst du angekrochen kommen und mich anflehen«, sagt er und steigt in seine Kutsche. »Du bist die Tochter deines Vaters und ich kenne dich. George wird noch nicht einmal in seinem Grab liegen, da wirst du mich um den Schlüssel von Burleigh House anbetteln. Sterlings können dieser Versuchung nicht widerstehen.«
»Ich bin eine Hüterin«, fauche ich ihn an. »Ich bin geboren, um auf Burleigh aufzupassen, und ja, ich werde alles tun, damit es ihm gut geht. Für eine Hüterin steht das Haus an erster Stelle, selbst wenn das bedeutet, dass ich ein Ungeheuer wie Euch anflehen muss.«
Der König schüttelt den Kopf und greift in seine Tasche. Er zieht einen großen Schlüssel hervor und lässt ihn vor meinem Gesicht baumeln. Mir stockt der Atem – den in den Schlüsselkopf eingelassenen flachen grauen Stein würde ich überall wiedererkennen. Tausendmal habe ich gesehen, wie mein Vater in ruhigen Momenten mit dem Schlüssel herumspielte oder wie er ihn fest umklammert hielt, wenn er den Schutz des Steins benötigte, um die Magie des Hauses heraufzubeschwören. Es kostet mich meine ganze Selbstbeherrschung, nicht den Schlüssel zu schnappen und wegzulaufen.
»Ohne Schlüssel ist man kein Hüter, nicht wahr?«, sagt der König leise. »Leider muss Burleigh House nun ohne einen Hüter auskommen. Wir werden sehen, wie lange das gut geht. Wie lange es dauert, bis das Haus begreift, dass es ohne deinen Vater besser dran ist.«
Er steckt den Schlüssel weg. Trotzig halte ich seinem Blick stand, denn ich will nicht diejenige sein, die nachgibt.
»Das wird ein Spaß, wenn alles vorbei ist und du den Schlüssel haben willst«, sagt der König lächelnd. »Du wirst nach meiner Pfeife tanzen, das verspreche ich dir. Vorausgesetzt, ich übergebe den Schlüssel nicht an jemand anderen.«
Bei diesem Gedanken verschlägt es mir die Sprache. Die Vorstellung, der König könnte den Schlüssel an jemand anderen übergeben und Burleigh einen fremden Hüter aufzwingen, lässt mir das Blut in den Adern gefrieren. Ich schaue zu, wie die Kutsche davonfährt und die königlichen Wachen hinterhermarschieren. Vor mir erhebt sich die Mauer wie ein undurchdringlicher Wall aus Stein. Mit hängenden Schultern steht Jed vor der Stelle, wo einen Moment zuvor noch ein eisernes Tor gewesen ist.
Ich gehe über den Rasenstreifen und lege meine Stirn an die Mauer, die einst die Grenze meiner kleinen Welt war und jetzt ein Gefängnis umschließt.
»Pass auf ihn auf«, sage ich zum Haus. Ich fühle mich leer und hohl, als wäre in mir nichts als grauer Nebel. »Ich weiß, dass du nichts für Papa tun kannst, weil du auf dein eigenes Wohlergehen achten musst. Vielleicht dürfte ich das gar nicht fragen, vielleicht würde eine gute Hüterin das niemals tun … ach Burleigh, wenn es irgendwie geht, dann pass auf Wyn auf. Eines Tages, das verspreche ich dir, komme ich zu dir zurück und kümmere mich um dich.«
»Vi!«
Mira reißt mich aus meinen Erinnerungen, als sie mit sorgenvoll gerötetem Gesicht auf der obersten Stufe der Dachstiege erscheint.
»Kind, was um alles in der Welt machst du …« Als ihr Blick auf die geöffnete Truhe fällt, wird ihr Ton sanfter. »Es tut mir leid. Aber du musst etwas essen, auch wenn dir jetzt nicht danach ist.«
»Vielleicht trinke ich eine Tasse Tee? Ich komme gleich runter.«
Als sie weg ist, blicke ich auf die Efeuranke in meiner Hand. Auch wenn es eigentlich nicht sein kann, ist sie plötzlich wieder grün geworden. Die Blätter sind glänzend und frisch, so lebendig, als hätte ich sie gerade erst abgerissen. Ich drücke sie an meine Lippen und bringe sogar ein kleines, trauriges Lächeln zustande.
»Bald, Burleigh«, murmle ich. »Bald bin ich da.«
Der Efeu färbt sich grau, und ich spüre ein leichtes Prickeln von Magie, als Mörtel aus den Blättern rieselt. Im nächsten Moment sind sie komplett zerfallen, zurück bleibt knirschender Staub und der Geruch von altem Stein. Schmerz und Furcht kriechen wie kleine Ranken über meine Haut.
Ich kann meine Heimkehr kaum erwarten. Niemand, nicht einmal der König, wird sich mir in den Weg stellen können.
Thiswick, der nächstgelegene Ort zu unserer Hütte, ist an einer Kreuzung erbaut worden. Dort machen viele Reisende Halt, weshalb das Knight’s Arms zur Mittagszeit sehr gut besucht ist. Ich bahne mir einen Weg durch die geräumige Gaststube und halte Ausschau nach uniformierten Wachen oder dem leider nur allzu vertrauten Gesicht Seiner Majestät.
Ein Durchgang führt in ein privates Nebenzimmer, und dort sehe ich rote Livreen aufblitzen. Natürlich speist der König nicht mit dem gemeinen Volk – wie dumm von mir, das anzunehmen. Ich wische immer wieder meine feuchten Handflächen am Rock ab und schlängle mich an Händlern und Seeleuten und Kesselflickern vorbei. Kurz vor der Tür hält Dex, der Wirt des Gasthauses, mich auf. Er ist ein großer, breitschultriger Mann mit einem liebenswürdigen Lächeln und einem dunkelroten Muttermal, das auf seiner weißen Wange besonders auffällt.
»Willst du da wirklich rein, Vi?« Dex hat von Anfang an gewusst, wer ich bin und warum wir hierhergezogen sind. Manchmal denke ich, ganz England nimmt Anteil an dem traurigen Schicksal unserer Familie. Besonders West Country, wo die Leute angeblich die Tage seit der Haft meines Vaters im Kalender markieren und jeden Abend auf seine Gesundheit und nicht auf die des Königs anstoßen.
Auf wen sie wohl in Zukunft anstoßen?
Entschlossen straffe ich die Schultern. »Nein, ich will nicht. Aber ich muss. Der König hat Neuigkeiten vom Haus. Von meinem Vater.«
Dex stößt einen tiefen Seufzer aus und nickt. »Also ist es so weit. Ich fühle mit dir. Wir alle. Ich bin da, wenn du mich brauchst.«
»Danke, Dex.« Bevor meine Nerven mich im Stich lassen, trete ich über die Schwelle in den privaten Speisesaal.
Das Wirtshauspersonal ist durch die livrierten Diener des Königs ersetzt worden, die schweigend an der Wand stehen, bereit, auf den kleinsten Wink hin alle Wünsche zu erfüllen. Am Tisch sitzen einige Höflinge, nach der allerneuesten Mode gekleidet, mit Spitzen und Bändern. Die Frauen tragen hauchdünne Kleider mit unter der Brust angesetzter, hoher Taille, die Männer Gehröcke und Kniehosen und grelle Halstücher. Würde ich jetzt auch so aussehen, wenn mein Leben einen anderen Verlauf genommen hätte – farbenfroh und nicht von Kummer gezeichnet, modisch und herausgeputzt?
Im Vergleich dazu wirke ich traurig und trist in meinem schlichten Wollhemd und dem geflickten Rock. Wie ein Rohrspatz neben einem schillernden Eisvogel. Aber das ist egal. Ich habe keinen Stolz, keine Stellung, keinen Platz. Ich bin gekommen, um das Schlimmste zu hören, um mich nach dem Zustand von Burleigh House zu erkundigen und um den König, ganz wie er es vorausgesagt hat, anzuflehen, damit er mich nach Hause zurückkehren lässt.
Seine Majestät sitzt gelangweilt am Kopfende des Tischs, vor sich einen Teller mit Leckereien. Er ist ein dürrer Mann mittleren Alters mit dunklen, listigen Augen und einem hellen Teint, wie Menschen ihn haben, die kaum ins Freie gehen, und dazu einer Blässe, wie man sie sich nur an Spieltischen erwirbt.
Bei seinem Anblick überläuft es mich kalt. Dass er mein Patenonkel ist, stammt noch aus mittelalterlichen Zeiten, ein Relikt der alten Geiselschaft. Seit die Großen Häuser an die Krone gebunden waren, wurden die Kinder eines Hüters in die Obhut des jeweiligen Souveräns gegeben. Man könnte es für einen hübschen Gedanken halten – die königliche Familie dient denen, die den Häusern dienen. In Wahrheit ist es ein Mittel, um sich der Loyalität der Hüter zu versichern. Als ich klein war, hat Seine Majestät tatsächlich Interesse an mir gezeigt. Er hat mir Geschenke geschickt und auf seinen Reisen stets einen Abstecher nach Burleigh House gemacht. Er hat mir das Kartenspielen beigebracht, und als Kind war ich davon überzeugt, dass er und mein Vater Freunde waren.
Aber diese Vertrautheit und angebliche Freundschaft hat nicht gereicht. Sie hat den König weder dazu bewogen, meinem Vater gegenüber Gnade walten zu lassen, noch, mir gegenüber Milde zu zeigen.
Du wirst nach meiner Pfeife tanzen, hat er mir prophezeit. Tja, hier bin ich. Soll es ein Walzer oder eine Gavotte sein?
Ich verschränke die Arme hinter dem Rücken, damit der König meine zitternden Hände nicht sieht, und durchquere den Raum. Einer der Höflinge plappert vor sich hin, weshalb man mich am Tisch nicht sofort bemerkt.
Was ich jetzt brauche, ist nicht Furcht, sondern Wut, aber ich kann sie nicht aufbringen, daher muss ich mich mit der Sturheit einer Sterling zufriedengeben.
Ich räuspere mich. »Onkel Edgar«, sage ich so laut, dass alle es hören. Die Höflinge verstummen, ihre Augen weiten sich vor Erstaunen, weil ich es wage, ihn so anzureden, wie ich es als Kind getan habe. »Ihr wolltet mich sehen?«
Seine gelangweilte Miene macht einem amüsierten Lächeln Platz. Der Stuhl kratzt über den Boden, als er ihn zurückschiebt. Ich zwinge mich dazu, nicht zurückzuweichen, als der König seine Hände auf meine Schultern legt und mich auf die Wange küsst. »Violet Sterling, wo ist das hübsche Kind geblieben, das ich kannte? Du siehst aus wie ein Fischweib. Was würde dein Vater von dir denken?«
Die Höflinge kichern, in der Gewissheit, dass ihr angenehmer Tag durch nichts getrübt werden wird und ich nichts weiter als eine unliebsame Störung bin. Aber irgendwo in mir beginnt eine Saite zu klingen. Wenn ich schon für mein Haus tanzen soll, dann möchte ich führen und nicht geführt werden.
Also gehe ich am König vorbei und lasse mich auf seinen Stuhl am Kopfende der Tafel fallen. Das alberne Gelächter der Höflinge verstummt. Seine Majestät zieht missbilligend eine Augenbraue hoch und schnippt mit den Fingern.
Einer der Diener eilt mit einem weiteren Stuhl herbei. Der König nimmt Platz, beugt sich vor und stützt die Ellbogen auf die Knie, während seine Höflinge wieder nach dem Besteck greifen und so tun, als würden sie nicht genau verfolgen, was zwischen mir und dem König am Kopfende des Tisches passiert.
»Kein einziges freundliches Wort für deinen Patenonkel?«, sagt der König tadelnd. »Hast du in den Sümpfen deine guten Manieren verlernt? Ich habe nicht um deinen Besuch gebeten, nur um jetzt dein Schmollgesicht ansehen zu müssen.«
»Ich schmolle nicht, Eure Majestät«, sage ich. »Ich trauere. Ich werde immer trauern. Ihr habt mir alles genommen und dem Haus meiner Familie schreckliche Qualen zugefügt.«
Am Tisch werden verstohlene Blicke ausgetauscht. Die Höflinge ahnen, dass der Tag doch nicht so angenehm ereignislos verlaufen wird wie gedacht, dafür aber wesentlich spannender.
In dem verschlagenen Gesicht des Königs blitzt fast so etwas wie Bedauern auf. »Violet, glaubst du, es hat mir Spaß gemacht, deinen Vater unter Hausarrest zu stellen? Oder hören zu müssen, dass die Strafe ein Ende gefunden hat? George war ein Freund und der beste Hüter, den ich kannte. Ich habe ihn über alles geschätzt, bis er mich betrogen hat. Die Besitzurkunden der Häuser sind Teil des Geburtsrechts meiner Familie – und das seit achthundert Jahren. Er hat versucht, Burleighs Urkunde zu stehlen. Das kann ich nicht einfach hinnehmen. Dennoch schmerzt es mich, ihn verloren zu haben.«
Also hatte ich recht. Mein Vater ist tot. Ich blicke an Seiner Majestät vorbei zur Fensterfront des Speisezimmers und hinaus auf die Sumpflandschaft, die mir inzwischen so vertraut ist. Durch und durch vertraut und doch kein Zuhause. Ich weiß nicht, wen ich in diesem Augenblick mehr vermisse – meinen Vater, Wyn oder Burleigh.
»Wie ist es passiert? Ich meine, wie wurde der Arrest beendet?«, frage ich, weil es völlig nutzlos ist, mit dem König über die Verurteilung meines Vaters zu streiten. Wir werden immer verschiedener Meinung sein. Was Onkel Edgar Verrat nennt, ist für mich die Pflicht eines Hüters, dem Haus den Vorrang zu geben. Mein Vater wäre nie das Risiko eingegangen, wäre es nicht zum Besten des Hauses gewesen.
Der König tätschelt meine Hand, und ich widerstehe nur mit Mühe dem Drang, sie wegzuziehen.
»Wie du weißt, war ich mehrere Monate in Belgien«, fährt er fort. »Ich habe den Häusern einen Befehl erteilt, dass sie in meiner Abwesenheit Lord Falmouth gehorchen. Er hat zweimal Beobachter nach Burleigh entsandt, um dort nach dem Rechten zu sehen. Als die Boten wieder ein großes Eingangstor an der Stelle sahen, wo bisher nur Mauerwerk war, wussten sie, dass die Strafe vollendet war. Doch das Haus hat ihnen jeden Zugang verweigert. Falmouth musste höchstpersönlich nach Somersetshire reisen, und selbst dann versuchte das Haus noch, sich seinen Befehlen zu widersetzen. Es unternahm alles, um Falmouth draußen zu halten. Als dieser schließlich doch hineingelangte, fand er deinen Vater. Offenbar hatte George ohne den Schutz des Schlüssels Magie gewirkt, was letztlich zu seinem Tod führte. Auf diese Weise konnte er jedoch das unausweichliche Ende hinauszögern – jedes Mal, wenn die Magie des Hauses sich anstaute und ohne ein Ventil schweren Schaden anzurichten drohte, nahm er sie in seinen Körper auf.«
Der König schnalzt mit der Zunge. »Was für eine unschöne Art zu sterben.«
Ich balle meine Hände unter dem Tisch zu Fäusten und bohre meine Fingernägel in die weiche Haut. Ich brauche jetzt diesen Schmerz, um mich von der viel größeren Qual in meinem Inneren abzulenken. Durch die Magie des Hauses zu sterben, ist nicht nur unschön. Es ist ein langsamer und grausamer Tod. Und obwohl ich jetzt nicht darüber nachdenken kann, spüre ich, wie etwas in mir kaputtgeht. Etwas Junges, Nachgiebiges, Zerbrechliches ist in unzählige Teile zersplittert, die sich nie wieder zusammenfügen lassen.
Ein bisschen Magie, etwas Mörtel in den Adern – das ist unangenehm, richtet jedoch nicht allzu viel Schaden an. Das Blut spült den Mörtel fort und verdünnt ihn, er verlässt jedoch den Körper nie wieder wirklich. Übertreibt man es, kann dies das Leben verkürzen – um fünf oder zehn Jahre, wenn man altersschwach ist und anfängt, grauen Staub auszuhusten. Das ist der Mörtel, der sich in der Lunge festgesetzt hat.
Noch etwas mehr Magie, und der Tod ereilt einen schon in jungen Jahren, wenn der Mörtel das Herz oder das Gehirn erreicht – sei es ein Schlaganfall oder Wahnsinn oder Herzversagen. Wenn man eine große Menge Magie auf einmal in sich aufnimmt, wird sie einen auf der Stelle töten, die Venen mit Mörtel überfluten und den Körper vergiften.
Aber egal, ob der Körper viel oder wenig Magie ausgesetzt ist, ob viel oder wenig Zeit dazwischen vergeht, der Mörtel bleibt stets in ihm. Nach und nach kommt man dem Tod ein Stück näher. Das ist der Grund, warum es die Schlüssel der Hüter gibt – niemand kann sich erklären, wie ihre Magie funktioniert, aber sie erlauben es dem Besitzer, den Mörtel zu lenken, ohne selbst Schaden zu nehmen. Wenn man einen Schlüssel in Händen hält, fährt die Magie des Hauses durch einen hindurch, ohne eine Spur Mörtel zu hinterlassen. Mit so einem Schlüssel lassen sich die wundersamsten Dinge bewerkstelligen, wie zum Beispiel das Haus reparieren, das Land heilen, das Wetter lenken, die Ernte gedeihen lassen.
Das ist der wahre Grund, warum ich hier bin. Nicht nur, um die Wahrheit über den Tod meines Vaters zu erfahren. Burleigh hat jetzt nur noch mich und ich brauche diesen Schlüssel. Ich bin die Einzige, die für das Haus sprechen kann, und niemand außer mir kann die Nachfolge meines Vaters antreten.
Aber all das darf ich dem König nicht zeigen.
»Was ist mit Wyn?«, frage ich stattdessen, obwohl ich mich vor der Antwort fürchte. »Wie ist es dem Ziehkind meines Vaters ergangen?«
Der König zieht gleichgültig eine Schulter hoch. »Von dem Jungen war weit und breit nichts zu sehen. Was das bedeutet, weiß nur Burleigh House selbst. Hör zu, Vi, wenn das alles vorbei ist, sollten wir Vergangenes auf sich beruhen lassen. Wir tun es als Missverständnis ab und fangen neu an.«
»Was redet Ihr da?«, frage ich ungläubig. Die unterdrückte Trauer macht meine Stimme scharf und schneidend. »Ihr habt meinen Vater zu einem qualvollen Tod verdammt und das Haus gezwungen, das Urteil zu vollstrecken. Mein einziger Freund ist verschwunden, vermutlich seid Ihr auch schuld an seinem Tod. Wie könnte ich Euch da je vergeben?«