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Beschreibung

Widerspenstige Kurzgeschichten– Mölltaler Geschichten Festival Heuer findet das Mölltaler Geschichten Festival zum 8. Mal statt. Internationaler Wettbewerb: für zeitgenössische Kurzgeschichten aus Österreich, Deutschland, Italien, der Schweiz ... Lesungen im Mölltal im Herbst: Die besten Kurzgeschichten des Wettbewerbs werden von den Autor*innen im Mölltal präsentiert. Literaturpreis: Prämierung durch Fachjury und Publikumsjury in 4 verschiedenen Kategorien. Die Fachjury setzt sich aus Größen der österreichischen Literaturszene zusammen. Und eine Schreibwerkstatt: Nachwuchsautor*innen können mit renommierten Schreib-Expert*innen ihre Fähigkeiten verbessern. »Die Stimmen dieser Anthologie werden sich weiterentwickeln und das ist gut so, denn die Wege sind offen. Wer will, darf aber schon lesend auf die persönlichen Favoriten setzen.« Lydia Mischkulnig über den Vorgängerband »Sieben« Anthologie zum Festival Literaturpreis des Landes Kärnten für Kurzgeschichten Die 33 besten Geschichten zum Wettbewerbsthema »Trotzdem«

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2023 Verlag Anton Pustet

5020 Salzburg, Bergstraße 12

Sämtliche Rechte vorbehalten.

Herausgeber: ProMÖLLTAL

Lektorat: Martina Schneider

Grafik und Produktion: Nadine Kaschnig-Löbel

Coverillustration: Gabriele Pichler unter der Verwendung Adobe Stock/Dmitry Knorre

Auch als Hardcover erhältlich: ISBN 978-3-7025-1103-6

eISBN 978-3-7025-8110-7

www.pustet.at

Ausflüge in die Natur, Interessantes aus Kunst, Kultur und Geschichte, Inspiration und Genuss für Ihr Zuhause – entdecken Sie die Vielfalt unseres Programms auf www.pustet.at

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TROTZDEM

Kurzgeschichten

INHALT

VORWORT

EIN WENIG SCHILDKRÖTENLITERATUR MARKUS GRUNDTNER

DAS PRALINENGEHEIMNIS EDITH ANNA POLKEHN

KÖNIGSLOGE TANJA BEETZ

REGEL NR. 1 FANIE OAKLEY

PIZZERIA PARADISO HELMUT MICHAEL SCHMID

JOHANNA ROMANA KLÄR

BLAU WIE ENZIAN KATHRIN THENHAUSEN

EINE KARTE FÜR LILLY GUDRUN ZECHNER

SCOUT THOMAS JOSEF WEHLIM

DIE KÄSESUPPE BRIGITTE GRUBER

DAS REH KARIN LEROCH

VON LÖWEN, HUNDEN UND CREOLEN HELENA KÖSTER

DIE MÄNNER DES DORFES Z. ANA GRILC

TROTZ … ANSELM EDER

AUS DEM SCHATTEN URBAN COMPLOJ

KORFU VERLASSEN UND STERBEN MARC BENSCH

ZU TIEF PAUL JONA SCHÄFER

SORCHA UND DER BLAUE KATER PETRA ZEIL

DAS MÄDCHEN MIT HAAREN AUF DEN BRÜSTEN MILLAY HYATT

DIE SCHWERE DES HIMMELS JULIA ALINA KESSEL

RAIDER ULRIKE EGGERT

VATER MASCHATA DIOP

VERGRIFFEN KARL TSCHURTSCHENTHALER

DIE VIERTE SUPPE ANITA HETZENAUER

DIE PUPPE MATTHIAS EBERHARTER

EIN SOMMERHIMMELBLAUER MERCEDES MAIKE BRAUN

BABY-SHOPPING FRANZ-XAVER ROHRACHER

DAS LEBEN UND SEINE UNERWARTETEN FOLGEN CHRISTINA REPOLUST

DIE KURZGESCHICHTE, DIE NIEMAND HÖREN WILL REINHARD GNETTNER

E-MAILS AN CLAUDIA TAMIA ZWISCHENBERGER

STROMAUFWÄRTS GABRIEL SCHÜTZ

SUPER, SAGT SIE ERICH WIMMER

BERTLS LETZTES BUCH DENNIS STAATS

NACHWORT

AUTORINNEN UND AUTOREN

FOTOGRAFINNEN UND FOTOGRAFEN

VORWORT

Trotzdem – ein Wort, das in sich den Widerstand birgt und die Herausforderung, sich widrigen Umständen oder der sogenannten Normalität entgegenzustellen. Ein Trotzdem verlangt Mut und Unerschrockenheit und den Willen, den Begehrlichkeiten anderer den Gehorsam zu verweigern, während man fröhlich der Suche nach der inneren Wahrheit folgt.

Es kann aber auch gefährlich werden, wenn es nur darum geht, das eigene Ego, die eigene halsstarrige Haltung durchzusetzen.

Trotzdem … viel Vergnügen!

EIN WENIG SCHILDKRÖTENLITERATUR

MARKUS GRUNDTNER

Im vierten Monat ihrer Schwangerschaft konnte Karls Freundin ihn nicht mehr leiden. „Du bist wie Papà“, sagte Lucia und setzte nach: „Um dir aus dem Weg zu gehen, würde ich am liebsten zu ihm fahren.“

„Das ergibt keinen Sinn“, hielt Karl fest, als wäre es das Vorbringen eines gegnerischen Anwalts. Lucia handelte zuerst nach ihrem Herzen und irgendwann schaltete sich ihr Kopf ein.

Karl wusste, sie hatte einen Sinn fürs Schöne und Geschmackvolle, und war auf ihn als Mann aufmerksam geworden, weil er sich elegant kleidete und präsentierte. Karl wusste auch, dass sie nicht wusste, dass dies für ihn nur berufsbedingt war, aber nicht Ausdruck seines Innersten. Was er selbst nicht wusste, war, warum er sich dies überhaupt antat. Es war alles Arbeit und wenn er eines hatte, dann zu viel davon.

Seit Wochen sprach Lucia auch noch von Wickeltisch, Kinderbettchen und Kleiderschrank. Karl dagegen sprach von der Aufgabenliste seiner Kanzlei und sagte: „Uns bleibt genug Zeit. Es gibt Dringenderes.“

„Dann soll es so sein“, sagte Lucia, packte ihren Koffer und fuhr nach Triest. Zu ihrem Vater. Obwohl es weiterhin keinen Sinn ergab. Aber die Frage, was Sinn ergab und was nicht, lag, und das war Karl klar, außerhalb des Zuständigkeitsbereichs von Lucias Herzen. Karl nahm an, dass sie zum Meer wollte, ein Familienurlaub. Karl dagegen hatte seine Ruhe und seine Akten. Jeder bekam also, was er wollte; und jeder war unzufrieden damit.

Karl musste seine Akten erledigen, um jemals bei einem Familienurlaub dabei sein zu können. Doch hatten Karls Akten es so an sich, dass sie nie weniger wurden, manchmal verdoppelte sich ein Akt sogar und aus einem Verfahren wurden zwei. Aber so lief das bei ihm. Daher war es auch für niemanden eine Überraschung, als er bekanntgab, dass er Vater von Zwillingen werde – es war sein folgerichtiges Schicksal, immer die doppelte Arbeit machen zu müssen.

Um endlich eine komplett durchgestrichene To-Do-Liste vor sich zu sehen, aber auch, um nicht allzu viel über sich selbst nachdenken zu müssen, verbrachte Karl die Tage ohne Lucia mit Arbeit. Eine Nachricht von ihr riss ihn aus seiner Geschäftigkeit.

„Ich bin auf dem Weg zum Bus nach Hause,“ schrieb sie. „Zuerst war ich am Grab von Mamma, dann im Restaurant mit Papà. Er war überglücklich. Ich auch ein wenig. Bis er mir Ratschläge gegeben hat, wie ich mich in der Schwangerschaft verhalten solle. Ich habe es überhört. Leider konnte ich ihn tags darauf nicht weiter überhören (und übersehen). Die Stadt ist klein …“

Hier endete die Nachricht und Karl überlegte, was er antworten sollte. Doch Lucia setzte fort, schrieb: „Wenigstens hat er den Kindern ihr allererstes Geschenk gemacht“, und schickte ein Foto. Es waren zwei Baby-Süßwasserschildkröten in einer verschließbaren Plastikschale – die Schale mit Wasser gefüllt, eine Mini-Insel samt Plastikpalme mittendrin.

„Sie sehen pflegeleicht aus. Ich dachte, wir nennen sie Riccardo und Riccarda. Holst du uns alle am Abend vom Busbahnhof ab?“

„In Ordnung“, schrieb Karl und setzte sogleich einen neuen Punkt auf seine Liste. Den restlichen Tag recherchierte er, was er über Süßwasserschildkröten in Erfahrung bringen konnte. Danach erledigte er noch weitere Dinge und fuhr zum Busbahnhof. Als er dort ankam, stand Lucia vor dem Eingang, ihren Koffer neben sich und die Schildkrötenschale in der Hand. Es regnete. Der Wind heulte durch den Autobahnübergang. Sie trug ihr weites Sommerkleid. Auch nach sieben Stunden Busfahrt und einem ganzen Trimester schwanger mit Zwillingen sah sie aus, als käme sie vom Strand und wäre auf dem Weg zu einer Abendunterhaltung. Nachdem Karl noch Anzug und Krawatte von der Arbeit trug, wirkten die zwei, als würden sie gleich auf eine Cocktailparty weitergehen.

Lucia umarmte ihn und gab ihm einen Kuss aufs Ohr, dessen Schmatzen nachhallte.

„Geht es euch allen gut?“, fragte er.

„Die Kinder haben sich bei der Fahrt schlagend und tretend beschwert“, antwortete sie. „Sonst hat ihnen die Reise gefallen, besonders das Meer.“

„Wie geht es dir?“, fragte sie.

„Wir müssen über deine Schildkröten reden“, sagte er, nahm ihr die Schale aus der Hand und ihren Rollkoffer am Griff. In einem sachlichen Ton, den er sonst für Mandanten verwendete, die meinten, im Recht zu sein, jedoch weit davon entfernt waren, sagte er: „Du hast dir von deinem Vater zwei Bachschildkröten schenken lassen. Sie sehen klein und pflegeleicht aus. Sie bleiben aber nicht klein und sind auch nicht pflegeleicht. Männchen werden bis zu 18 Zentimeter groß, Weibchen über 20 Zentimeter.“

Karl ging los, Lucia folgte ihm und sagte ausnahmsweise gar nichts.

„Ich nehme an, du hast dich nicht um die notwendigen Papiere gekümmert, die Tiere über die Grenze zu bringen?“, fragte er.

„Nein“, sagte sie kleinlaut.

„Du hast sie also über die Grenze geschmuggelt. Somit bleiben Riccardo und Riccarda illegale Schildkröten.“

Sie überquerten die Straße und gingen zur U-Bahn.

„Um die Schildkröten artgerecht zu halten, brauchen wir ein vorläufiges Aquaterrarium und eine UV-Lampe. Das Becken muss fürs Erste mindestens 170 Liter fassen, mit einem Landteil, auf dem sich die Tiere ausruhen können. Die UV-Lampe montieren wir darüber. Sie muss auch den Flachwasserbereich – also die Rampe, die aus dem Wasser führt – mit anleuchten. Für den Bodengrund nehmen wir Sand, aber keinen Kies, denn im Kies versackt der Fäkalmulm. Kannst du dir unter ‚Fäkalmulm‘ etwas vorstellen?“

Lucia sah betreten drein und nickte.

„Gut, dann ist das Thema ‚Fäkalmulm‘ abgehakt.“

Sie nahmen den Aufzug und gingen zum Bahnsteig. Dort angekommen fasste Lucia nach Karls Oberarm und sagte: „Sie treten wieder.“

„Wer?“, fragte er, sah auf die Schale und ihren Bauch und hakte nach: „Die Kinder oder die Schildkröten?“

„Die Kinder natürlich“, sagte sie – atmete tief ein, tief aus – und fragte: „Was meinst du, wenn du sagst, wir brauchen ein vorläufiges‘ Aquaterrarium?“

„Die Tierhalteverordnung der Stadt Wien schreibt für ausgewachsene Bachschildkröten dieser Art ein Endbecken von 750 Litern vor.“

„Ein Endbecken?“

„Ja, ein Endbecken.“

„Wie alt werden sie?“

„20 bis 24 Jahre.“

„Das müssen wir also alles machen?“, fragte Lucia.

„Wir können eine Schildkrötenhaltung gut verwirklichen“, antwortete Karl, „aber wir müssen uns an die Tiere anpassen. Das war jetzt das Wichtigste zum Einstieg, wir müssen uns gründlich beraten lassen und ein wenig Schildkrötenliteratur lesen.“

„Ein wenig Schildkrötenliteratur?“, fragte Lucia. „Gibt es da keine andere Lösung?“

„Ja, die gibt es“, antwortete Karl. „Dafür braucht es nur einen kleinen Umweg.“ Er hob den Kopf und zeigte in Richtung des anderen Gleises, worauf Lucia ihn entgeistert ansah: „Das kann nicht dein Ernst sein.“

Sie wiederum zeigte auf den großen Mistkübel, der vor dem Gleis stand. Karl erkannte, dass sie wohl annahm, seine Lösung für die Schildkröten wäre deren Entsorgung als Abfall.

„Ach, du meine Güte, nein!“, sagte er. „Wir fahren zum Haus des Meeres – die haben eine Auffangstation. Ich habe vorhin angerufen. Sie nehmen die Tiere. Besser als dort können sie es gar nicht haben.“

Lucia atmete erleichtert aus, nickte und lächelte. Während der Fahrt öffnete Karl den Deckel der Schale und beobachtete Riccardo und Riccarda, die vermutlich erschöpft von der langen Reise waren. Karl war sich sicher: In Italien wären die beiden in ihrer Mini-Schale kein Jahr alt geworden.

„Ich soll dich von meinem Vater grüßen“, sagte Lucia. „Wie immer findet er dich großartig.“

„Weil ich Jurist bin?“

„Weil du Österreicher bist.“

„Dafür kann ich aber nichts.“

„Wenn ihr euch trefft, wird er dir stolz und in gebrochenem Deutsch erzählen, wie er einmal an der Universität eine Veranstaltung mit Otto von Habsburg organisieren durfte.“

„Ich kann es kaum erwarten.“

Im Haus des Meeres fuhren Karl und Lucia mit dem Lift hinauf und gelangten zur Tür „Eintritt nur für Mitarbeiter“. Er klopfte und sie traten ein. Drinnen begrüßte sie die Biologin, mit der Karl telefoniert hatte. Diese hielt Lucia ohne Umschweife eine Standpauke, gegen wie viele Gesetze sie verstoßen hatte, und welchen Riesenaufwand ausgewachsene Wasserschildkröten bedeuteten. Doch Karl sagte: „Das habe ich schon erledigt.“

So blieb Lucia der Rest der bösen Rede erspart und sie konnte sich von Riccardo und Riccarda verabschieden. Wieder vor der Tür strich Karl über Lucias Bauch. Anstatt den Aufzug zu nehmen, gingen sie zu Fuß, so sahen sie die Aquarien und Terrarien im Schnelldurchlauf.

„Was erzählst du deinem Vater über die Schildkröten?“, fragte Karl.

„Ach, er hat sie längst vergessen. Ich hätte es besser wissen müssen. Aber, wenn ich meinen Vater in guter Laune sehe, schaltet sich meine Vernunft aus.“

„Hattest du auch Haustiere?“

„In Triest hatte ich einmal eine Katze. Mein Vater hat sie mir geschenkt und ihr einen Namen gegeben. Sisi. Sie war so ein liebes Tier. Wenn es mir schlecht ging, ist sie zu mir gekommen, um mich zu trösten. Irgendwann wurde sie krank. Papà hat gesagt, ein Tierarzt wäre zu teuer.“

„Dein Vater hat also die Kaiserin sterben lassen?“

„Nicht komisch“, sagte Lucia.

„Ich ziehe die Frage zurück“, sagte er.

„Schon gut.“

„Es ist besser, einen Ausblick auf die Zukunft zu haben, als sich dauernd auf die Vergangenheit zu fixieren“, sagte Karl, als die beiden in die Eingangshalle kamen. Kaum hatte er fertig gesprochen, blieb er stehen. Lucia war schon beim Ausgang, drehte sich um und fragte: „Kommst du?“

„Nein, komm du mit mir“, sagte er, nahm sie an der Hand und ging mit ihr wieder zum Lift. Sie fuhren hinauf, ganz nach oben, und traten hinaus auf die Aussichtsplattform. Mitten in Wien überblickte das Paar die ganze Stadt. Die Regenwolken hatten sich zurückgezogen, die Sonne kam hervor. Alles glänzte.

„Bitte“, sagte er, „da ist dein Ausblick auf die Zukunft“. Er nahm sein Telefon heraus. Lucia sah auf die Stadt und sagte: „Schön, aber …“

„Nein“, sagte Karl und hielt ihr sein Smartphonedisplay vor die Nase, „diesen Ausblick habe ich gemeint.“

Er zeigte ihr die Fotos und Bestellbestätigungen von Wickeltisch, Kinderbettchen und Kleiderschrank. Das waren die anderen Dinge, die er heute erledigt hatte. Lucia bekam feuchte Augen und sagte: „Du hast mir ja einmal erklärt, dass Menschen nicht nur mit ihren Worten reden, sondern auch mit ihren Taten. ‚Konkludentes Handeln‘ hast du das genannt – durch das eigene Verhalten eine Willenserklärung abgeben, oder so ähnlich.“

Bevor Lucia wegen der Theorie der Willensbetätigung weinen musste, strich er ihr über die Wange und küsste sie. Dann trat er ans Geländer, warf einen Blick nach unten und sagte: „Um ein guter Vater zu sein, werde ich es in Zukunft so machen wie mit den Schildkröten.“

„Wie meinst du das?“, fragte sie und stellte sich neben ihn.

„Sind die Kinder ein zu großer Aufwand“, sagte er, „bringe ich sie in eine Auffangstation.“

„Weißt du was“, sagte Lucia, „es ist in Ordnung für uns alle, wenn du gelegentlich einfach gar nichts tust.“

DAS PRALINENGEHEIMNIS

EDITH ANNA POLKEHN

Da liegt sie, dunkelbraun, klein, mit perfektem Glanz. Auch die Größe ist ideal, nicht zu klein, nicht zu groß, das will keiner. Die Oberfläche glänzt verführerisch in zwei verschiedenen Farben, fein-dunkel die Ghanaschokolade, und etwas heller die aus duftenden Criollobohnen.

Lamias Meisterpraline.

Die zwei verschiedenfarbigen Glasuren sind perfekt getrennt, nichts ist verschmiert oder verlaufen, keine Hälfte ist größer oder kleiner und die Grenze zwischen den beiden Schokoladenfeldern ist gerade und exakt achtzehn Millimeter lang.

Für das Innere des Wunderwerks hat Lamia eine Füllung kreiert, die himmlischer nicht sein könnte. Pistazienmarzipan mit einem Hauch – aber wirklich nur einem Hauch – von Feigenlikör. Das grüne Marzipan, selbst hergestellt aus iranischen Akbari-Pistazien, den besten und größten, die es auf dem Markt gibt, ist ihr gut gelungen. Es ist fein und schmelzend und zwischen den Marzipanschichten, beide in zartem Grün, befindet sich schwarzer Sesamcrunch.

Wie sie den so hinkriegt, wollte ihr Lehrherr Alfred Moser schon immer wissen, aber Lamia verrät ihr Geheimnis nicht. Den Crunch macht sie nur, wenn in der Lehrküche vom Moser keiner da ist, so wie heute, am Sonntagvormittag.

Schwarzer Sesamcrunch ist ganz einfach, so einfach, dass ihr Chef wohl gar nicht darauf gekommen wäre, ihn zu versuchen. Die Sesamsamen werden ohne Fett trocken mit einem Hauch Blütenzucker angeröstet. Erst wenn sie handwarm sind, gibt sie die Tahiti-Vanille zu. Die verträgt es nicht zu heiß, sonst wird sie bitter. Die gerösteten Körner sind ansonsten naturrein, aber darauf wäre der Chef nie gekommen und Lamia hütet sich, dies preiszugeben. Für eine perfekte Praline müssen natürlich auch alle Zutaten perfekt sein und Lamia macht sich die Mühe, vor der Zubereitung schlechte Körnchen per Hand auszusortieren. Das ist wohl das größte Geheimnis, warum ihr Crunch so gut schmeckt, denn es ist nicht ein bitterer Sesamsamen dabei. Es ist wie beim Kaffeekochen, eine einzige verdorbene Bohne verdirbt die ganze Kanne, das hat Lamia schon als Kind zu Hause in Äthiopien von ihrer Mama Aleele gelernt.

Den Feigenlikör, intensiv aromatisch und von allerbester Qualität, hat Mama selbst gemacht, aus den Feigen, die im eigenen Garten in Debre wuchsen. Lamia hat den Likör mit einer Injektionsnadel in die obere Marzipanschicht geträufelt. Es darf nur ganz wenig sein, ein oder zwei Tropfen, sonst weicht die Masse auf und die schmelzende Konsistenz wäre verdorben. Doch es ist ihr alles gelungen, alles ist perfekt.

Nun fehlt nur noch die Dekoration auf der Praline. Dann ist sie fertig und sie kann sie morgen dem Team der Wirtschaftskammer, Abteilung Patisserie und Confiserie, genau so präsentieren. Denn dieses Wunderwerk wird sie bei der morgigen Meisterprüfung herstellen, und sechs andere Sorten auch.

Alle Pralinen, die sie bei der Prüfung anfertigen wird, müssen Eigenkreationen sein, aber es gibt spezielle Vorgaben: Dunkle Schokolade, helle Schokolade, weiße Schokolade, Frucht, Nüsse und alkoholische Füllung. Die siebte Sorte aber darf sich „Pralinengeheimnis“ nennen und die Chocolatierprüflinge müssen davon kein Rezept bereitstellen, wie es bei den anderen sechs Sorten erforderlich ist.

Lamia bewegt das winzige Schokoladenkonfekt auf dem leicht gekühlten Drehteller und begutachtet ihre Dekorationszutaten. Es steht ihr alles zur Verfügung, das macht die Entscheidung umso schwerer. Sie hat so lange überlegt, denn sie will kein überladenes Dekor. Ihr Meisterwerk soll durch Schlichtheit und erlesenen Geschmack auffallen.

Ihr Chef Alfred Moser ist hinter den Rezepten her, um sie dann als eigene Kreationen auszugeben. Er ist aber auch hinter Lamia her, wie der Teufel hinter der armen Seele, wie man in Wien sagt. Lamia kann schon gut wienerisch. Sie lernt schnell, nicht nur sprachlich und in ihrem Handwerk, nein, sie kann genauso schnell Leute einschätzen und die guten von den schlechten unterscheiden. Der Moser gehört zu den schlechten, diese Erkenntnis hat sie bereits in der ersten Arbeitswoche hier gewonnen. Trotzdem wollte sie niemals aufgeben, nein, ein Mensch wie Alfred Moser sollte ihr Leben und ihre Zukunft nicht kaputtmachen dürfen. Das kam überhaupt nicht in Frage. Bei jeder Beleidigung, bei jedem unangebrachten Wort, bei jedem abschätzigen Blick hat sich Lamia nur eines gedacht: Ich werde es trotzdem schaffen, jetzt erst recht.

Als Chef des Hauses, so hat der Moser gleich am ersten Tag gesagt, kenne er sich mit Schokolade aus und besonders mit solchen braunen und leckeren Schokopüppchen wie Lamia. Dazu hat er widerlich gelacht und ihr in den Po gekniffen. Ihre Hand hat ihm gleich draufgeschlagen, es war ein Reflex. Seither ist das Verhältnis schlecht und Alfred Moser legt ihr viele Steine in den Weg. Aber sie hat sich nicht beschwert, hat alles ausgehalten. Das Grabschen versucht er immer noch ab und zu, aber sie vermeidet den Kontakt, so gut es eben möglich ist. Ein wenig muss sie ihn noch ertragen, bis die Prüfung vorbei ist, und sie darf die ganzen Bemerkungen vom Moser nicht zu nah an sich heranlassen. Eine Chocolatierausbildung im besten Kaffeehaus in Wien machen zu dürfen, das ist wie Wasser in der Wüste zu finden, wie man in Afrika sagt. Ganz gleich, wie fies er ist, betet sie sich täglich vor, ich bestehe meine Prüfung trotzdem. Ich kann was. Ich schaffe das. Der kriegt mich nicht klein!

Lamia muss nicht mehr lange durchhalten. Morgen ist der große Tag, morgen ist die letzte all ihrer Prüfungen. Sie muss sieben Sorten Pralinenkreationen in einem festgelegten Zeitrahmen herstellen. Jeweils 24 Stück, alle gleichmäßig wie aus der Fabrik, alle köstlich. Für alle muss sie ein Rezept bereitstellen, außer für das „Pralinengeheimnis“. Da dürfen die Zutaten geheim bleiben. Und das ist auch gut so.

Nach dem praktischen Teil folgt dann auch noch eine halbe Stunde lang die mündliche Prüfung, die fürchtet Lamia viel mehr als das Pralinenmachen. Die schriftlichen Arbeiten und den Pflichtteil Praxis hat sie schon tadellos geschafft, auch wenn sie noch kein Ergebnis hat, so weiß sie doch, dass alles perfekt gelaufen ist. Aber das Mündliche fürchtet sie, denn da sitzt auch der Chef dabei, und wenn er sie anschaut, kommt die Angst wieder. Wenn er diesen gierigen, schleimigen Blick hat, fängt sie an zu frieren und zu zittern, dann ist es vorbei mit ihr. Es wird ihr nichts einfallen, obwohl sie doch alles weiß und kann.

Lamia dreht die Praline herum, betrachtet sie von allen Seiten, genießt den sanften Glanz der Schokolade und überlegt, wie sie den morgigen Tag überstehen soll. Und vor allem: Wie soll sie dieses Probestück dekorieren? Morgen muss es schnell gehen, da kann sie sich nicht so lange aufhalten. Vierundzwanzig kleine Pralinengeheimnisse muss sie machen. Und je vierundzwanzig der anderen Sorten auch.

Lamia nimmt aus ihrem persönlichen Materialköfferchen eine Spritze, zieht aus dem kleinen Medizinfläschchen, das Mama Aleele ihr geschickt hat, ein paar Tropfen glasklare Flüssigkeit auf und presst sie in die Praline. Mama hat ihr versichert, dass der Moser nichts riechen oder schmecken wird. In diesem Augenblick weiß Lamia schon, dass der Chef ihr nun nichts mehr tun kann und sie die Prüfung mit Bravour bestehen wird.

Ihr kleines braunes Meisterstück ist innen nun auf spezielle Weise gehaltvoll und außen fast perfekt, viel Deko braucht es nicht. Edel und schlicht soll es sein. Plötzlich weiß sie genau, wie die Praline auszusehen hat. Mit der goldenen Schriftfarbe aus der Tube schreibt sie ein schwungvolles, verschnörkeltes L auf die Oberfläche, L wie Lamia. Die Signatur der Künstlerin für ihr Werk. Die Goldfarbe verdeckt das winzige Loch, das die Nadel hinterlassen hat.

Puristische Perfektion.

Genial.

Und wunderschön.

Der Chef wird morgen nicht bei der mündlichen Prüfung dabei sein können, dafür hat sie nun gesorgt. Alfred Moser wird sich morgen den ganzen Tag vor Schmerzen krümmen und sich nicht weit von seinem Zuhause und der Toilette entfernen können. Frühestens übermorgen wird er wieder in der Schokoladenküche sein, aber dann ist Lamia nicht mehr da.

Keinen einzigen weiteren Tag wird sie mehr beim Alfred Moser in der Werkstatt stehen und sie wird sich nicht mehr beleidigen lassen. Sie wird ein eigenes Imperium aufbauen und die Pralinenmanufaktur Moser in Grund und Boden stampfen.

Lamia legt die Praline in ein kleines goldenes Plisseeförmchen, stellt dieses zu den sechs anderen auf ein goldenes Tellerchen und bringt ihre Probestücke hinauf ins Büro zu ihrem Chef.

KÖNIGSLOGE

TANJA BEETZ

Sollte der Ulf jetzt echt recht behalten? Sie hatte längst zurück sein wollen. Draußen war es duster und kalt und schneeig. So wie sich das gehörte für einen richtigen Weihnachtsabend. Und wer war nicht da? Die Reni.

Ulf saß auf dem roten Sofa und prostete ihm zu. Mit Bier, der Banause. An Weihnachten.

„Mach dir nix draus, Johnny“, sagte Ulf und parkte seine Füße mitsamt den Winterstiefeln auf dem Tisch. „Die Reni, die ist einfach eine Nummer zu groß für dich. Auf und davon ist die.“

Manchmal war der Ulf echt ein unsensibler Depp. Hätte er jetzt auch ein bisschen netter verpacken können. Also grade an Weihnachten, wo es ja um Heimkommen und Familie geht. Und um Liebe. Heißt doch ‚Fest der Liebe‘. Ja super, und jetzt ließ die Reni ihn so hängen.

Das hätte er nicht gedacht. Niemals. Vor fünf Monaten war das ganz anders gewesen. Da war sie neu in die Stadt gekommen, die Reni. Hatte nicht gewusst, wo sie hinsollte. Nach dem Weg hatte sie ihn gefragt.

„’tschuldigung, wo geht’s denn hier zum Amt?“

Klang ein bisschen altmodisch. Wer redete denn heute noch so? Zum Amt!

Er hatte erst einmal seine Sonnenbrille abgenommen und sie gemustert. Jeans und T-Shirt. Und um ihren Hals baumelte so eine große goldene Metallsonne an einem langen Lederband. So eine, wie er mal seiner Tochter geschenkt hatte. Als er noch eine Familie hatte. Damals …

„Ich bin die Renate“, sie hielt ihm ihre Hand hin. „Aber sag einfach Reni.“

„Johann, aber sag einfach Johnny.“

Gleich, als er ihre Hand berührt hatte, hatte er gewusst, dass das was werden würde mit der Reni. Er begleitete sie zum Amt.

„Magst erst mal bei mir bleiben?“, fragte er, als sie wieder rauskam.

„Ja, warum nicht?“ Sie nickte, ihr kurzer Pferdeschwanz wippte an ihrem Hinterkopf.

Da war Johnny jetzt doch überrascht, damit hatte er nicht wirklich gerechnet.

„Kennst mich ja gar nicht und kommst trotzdem mit?“

Sie zuckte mit den Schultern und lächelte.

„Ich hab keine Angst. Ich glaub, du bist ein ganz Netter.“

Stimmte natürlich. Das sagte man ihm ja überhaupt gern nach, dass er so ein vertrauenswürdiger Typ sei. Also ganz zurecht, weil er – doppelschwör – noch nie geklaut hatte oder irgendjemanden verletzt.

Sie richteten sich gemütlich ein. Das Sofa hatte er schon. Und den kleinen Schrank, in dem man Lebensmittel bunkern konnte. Ordnung hatte er gelernt in seinem Job. Das Lager der Schraubenfirma war bei ihm immer tipptopp gewesen. Bis es sich ausgeschraubt hatte, weil der Chef sich völlig verrechnet hatte. Leider insolvent, hieß es irgendwann.

Die Reni schleppte dann noch ein Tischchen an und einen Teppich. Heimelig war es, richtig heimelig.

Der Sommer mit der Reni war heiß und ihre Liebe war es auch, also nicht gleich heiß, aber sie wurde von warm zu sehr warm zu heiß. Wie in so einem Spiel, wenn Kinder mit verbundenen Augen etwas suchen. Kalt! Warm! Heiß! Gefunden! Seine Tochter hatte dieses Spiel geliebt.

Eines Tages war der Ulf aufgetaucht. Ständig stand der Kerl auf der Matte. Mann, der konnte vielleicht nerven.

„Lass ihn, der braucht halt ein bisschen Ansprache, weil er so allein ist“, sagte die Reni dann. „In meinen Kramerladen sind die Leute oft nur zum Reden gekommen und haben nix gekauft. Und? Hab ich sie deswegen rausgeschmissen? Natürlich nicht.“

Johnny sah das direkt vor sich, wie die Reni trotzdem immer allen zuhörte. Sie hatte so ein großes Elefantenherz. Das Herz eines Elefanten konnte bis zu 57 Zentimeter lang und 48 Zentimeter breit werden. Hatte er mal gelesen.

Ausgerechnet bei der Reni war dann das Wasser reingerauscht. Laden zerstört und die Wohnung auch. Nicht versichert, das war’s dann.

„Und wenn ihr etwas passiert ist?“ Johnny sprang auf und tigerte nervös herum. Er hatte sich so eine Mühe gegeben mit ihrem Weihnachtsgeschenk. Das durfte nicht sein, dass ihr was passiert war. Wegen der Reni als Person, nicht wegen dem Geschenk.

Ulf schlappte zum Schrank und machte sich ein zweites Bier auf. „Die ist weg. Ich geh dann auch mal.“ Er verschwand in die Dunkelheit.

Johnny tigerte weiter. Bestimmt hatte sie eine Freundin getroffen. Da hörte er Schritte. Im nächsten Moment stand sie vor ihm, die Mütze voller Eisklumpen.

„Endlich!“ Er umarmte sie.

„Boah, war ’ne Menge los heute“, sagte sie, stellte ihre Stofftasche neben sich und klopfte den Schnee vom Mantel.

„Egal jetzt.“ Er hielt ihr die Hände vor die Augen.

„Nicht schauen, Überraschung.“ Er schob sie aufs Sofa. „Lass die Augen zu.“

„Okay.“ Sie lächelte.

Dann schlurfte er davon. Herrgott, wo waren denn jetzt die Streichhölzer? Ach da, so … alles fertig.

„Kannst aufmachen.“

Sie blinzelte, dann wurden ihre Augen groß wie Bärentatzen.

„Für mich?“

„Für dich. Selbst gebaut. Fröhliche Weihnachten.“

„Ein Kamin!“, rief sie. „Aus Backsteinen!“

„So einen wolltest du doch!“

„Und wie!“

Reni stand auf und hielt die Hände übers Feuer. Er hatte eine Schnur um den Kamin gebunden. Daran hingen Socken. Sie zog eine Bockwurst aus einer Socke.

„Orangen waren alle“, sagte er.

„Ich mag Bockwurst eh lieber“, sagte sie und biss ab.

Dann kramte sie eine Konserve aus der Stofftasche hervor. „Ich hab auch etwas für dich. War die letzte Dose.“

„Linseneintopf!“, rief er. „Das wird ein Festessen!“

Während er den Eintopf erwärmte, machte sie sich auf dem Sofa lang.

„Vorsicht, heiß und fettig“, mahnte er, als er das Essen servierte. Die Löffel hatte er in Servietten gewickelt, die Weinflasche entkorkt.

„Hast dir ja richtig Mühe gegeben.“ Sie zwinkerte ihm zu.

„Für Sie, Majestät, nur das Beste.“ Er verneigte sich.

Nach dem Essen zog sie die Decke über sich und lehnte sich an ihn.

„Lies mir etwas vor.“

Er griff nach der Zeitung und schlug den Kulturteil auf.

„Willst von der Ballettpremiere hören? Die haben den ‚Nussknacker‘ vom Tschaikowski getanzt. In der Oper.“

„Oh ja.“ Das Holz knackte im Kamin.

Er strich die Zeitung glatt und las die Kritik. Ein Erfolg sei es gewesen, weil dicht und atmosphärisch und nostalgisch. Und all die Pirouetten und Sprünge!

„Mei“, sagte die Reni, „so ein Ballett tät ich auch gerne mal sehen.“

„Irgendwann kauf ich uns Karten“, flüsterte er. „Für die Königsloge.“

„Dann brauch ich aber noch ein Abendkleid.“

„Klar, das allerschönste Glitzerkleid.“ Er blickte auf den Stoffbeutel. „Die Tafel“ stand darauf. „Und eine passende Tasche dazu.“

Später kuschelte sich Johnny zu ihr unter die Decke. Er schloss die Augen, ihre Haarspitzen kitzelten an seiner Nase. Was für ein Glück, dachte Johnny, was für ein Glück, dass die Reni sich getraut hat, an jenem heißen Sommertag.

„Sti-hille Nacht, heilige Nacht, alles schläft, einsam wacht …“, sang er ihr leise ins Ohr.

Auf der Brücke über ihnen rumpelte eine Straßenbahn Richtung Innenstadt.

REGEL NR. 1

FANIE OAKLEY

Ein Einbruch ist keine große Sache. Bisschen wie Sex: rein, raus, keine zehn Minuten – easy. Ich breche die Tür so schnell und leise auf, dass es mich schon fast selbst anmacht, wie gut ich darin bin. In der Wohnung drücke ich die Tür geräuschlos wieder zu und sehe mich um. Alle Reichen wohnen gleich. Nicht genau gleich, natürlich, manche stehen auf Ölschinken und große Sessel und andere haben alles modern und weiß, als würden sie am allerliebsten direkt in einem Krankenhaus wohnen. Es gibt aber Sachen, die bei allen gleich sind: Schmuck ist im Schlafzimmer. Wenn Bargeld da ist, ist auch das im Schlafzimmer. Es gibt einen sauteuren Fernseher, irgendwas aus Pelz und mindestens drei Apple-Produkte. Am Ende des Tages alles meins. In jeder Wohnung gehe ich nach dem gleichen Prinzip vor. Struktur ist wichtig. Das ist Regel Nr. 2 bei einem Einbruch. Die Leute meinen immer, dass Einbrüche chaotisch sind und stellen sich vor, dass alles durchwühlt ist am Ende. Ist aber nicht so. Wenn ich mit einer Wohnung fertig bin, sieht eigentlich alles genauso aus wie vorher. Außer dass Sachen fehlen, natürlich.

In jeder Wohnung fange ich in der Küche an und checke dann zuerst in allen Zimmern einmal kurz die Lage, bevor ich mich an die Arbeit mache. Klingt vielleicht sinnlos, in die Küche zu gehen – ich will ja keinen Standmixer klauen – aber manchmal lassen die Leute so Sachen wie ein iPad einfach in der Küche liegen. Man muss immer gründlich sein, das ist Regel Nr. 3. Bei der Frau, die hier wohnt, liegt aber kein iPad in der Küche, sondern richtig viele leere Verpackungen von geliefertem Essen. Reiche Leute kochen nie selbst, haben aber immer den Kühlschrank voll. Die Frau, die hier wohnt, hat offenbar schon länger nicht mehr aufgeräumt. Man denkt immer, reiche Leute hätten alle eine Putzfrau. Ist aber nicht so. Manche Reiche wollen lieber selber putzen. Soll ja auch jeder tun, was ihm gefällt. Komisch finde ich’s trotzdem. In dieser Küche ist auf jeden Fall nichts zu holen. Am Kühlschrank hängt eine To-do-Liste:

Obst kaufen

Wäsche!!

Stadtwerke überweisen

Grabsteine Auswahl

Bestatter nochmal anrufen

recherchieren: Depression vs. Trauma