Troubletwisters - Der Sturm beginnt - Garth R. Nix - E-Book

Troubletwisters - Der Sturm beginnt E-Book

Garth R. Nix

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Beschreibung

Seid ihr bereit für den süchtig machenden Mix aus Grusel und Humor?

Jades und Jacks Leben steht auf einmal völlig Kopf. Erst ist aus unerfindlichen Gründen ihr Haus explodiert, sodass sie nun bei ihrer wildfremden Großmutter leben müssen. Seltsam genug, dass diese sich Oma X nennt. Noch viel seltsamer ist aber das, was in ihrem Gruselkasten von Haus passiert: Wetterfahnen wehen entgegen der Windrichtung, Türen erscheinen aus dem Nichts und verschwinden wieder, Katzen fangen an zu sprechen. Die Zwillinge verstehen absolut nicht, was all das zu bedeuten hat. Doch schneller, als ihnen lieb ist, erfahren sie, dass sie zu den Troubletwisters gehören: Und es wird ihre Aufgabe sein, gegen eine finstere, abgrundtief böse Macht anzutreten. Nun müssen Jade und Jack sich der Wahrheit stellen und ihre eigenen Kräfte entdecken. Aber sind sie dafür auch bereit?

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Seitenzahl: 374

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Aus dem Englischen vonAnne Brauner

cbj ist der Kinder- und Jugendbuchverlagin der Verlagsgruppe Random House

Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform

1. Auflage 2014

© 2014 der deutschsprachigen Ausgabe cbj, München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

© 2011 Garth Nix und Sean Williams

Die englische Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel:

»Troubletwisters – Book One«

bei Egmont Ltd, UK

Übersetzung: Anne Brauner

Lektorat: Silke Kramer-Goretzky

Umschlagkonzeption: Max Meinzold, München,

unter Verwendung eines Fotos von Shutterstock /©kornik

MP · Herstellung: AJ

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-10602-7www.cbj-verlag.de

Für Amanda und die Jungen, und für meine Mutter, die mich »verbucht« hat.

Sean

Wie üblich für Anna, Thomas und Edward und für alle Verwandten und Freunde

Garth

Inhalt

Prolog – Ein Blitz aus heiterem Himmel

1. Kapitel – Das Haus auf der Watchward Lane

2. Kapitel – Erst hier und dann wieder weg

3. Kapitel – Verlassen

4. Kapitel – Die Zwillinge auf dem Prüfstand

5. Kapitel – Das andere Portland

6. Kapitel – Im Schatten des Felsenbergs

7. Kapitel – Gefangene der Hexe

8. Kapitel – Machenschaften bei Mondschein

9. Kapitel – Jaide übernimmt das Kommando

10. Kapitel – Die Warnung der Katze

11. Kapitel – Jeder Zwilling für sich

12. Kapitel – Allein im Dunkeln

13. Kapitel – Wo Leben ist, ist …

14. Kapitel – Die Flut kommt

15. Kapitel – Die Flucht aus dem Abflussrohr

16. Kapitel – Bitte nie eine Katze um Hilfe

17. Kapitel – Hinter der blauen Tür

18. Kapitel – Etwas Wachsendes, etwas Gelesenes

19. Kapitel – Schatten-Jacks Rückkehr

20. Kapitel – Wissen ist die halbe Miete

21. Kapitel – Planierraupe

22. Kapitel – Die Musik verklingt

23. Kapitel – Blitze und Tiger

Epilog – Ein Handbuch des Bösen

Wie es weitergeht …

Prolog – Merkwürdigkeiten in der Nacht

1. Kapitel – Das Ungeheuer von Portland

2. Kapitel – Abenteuerliche Hausarbeit

3. Kapitel – Ein neugieriger Nachbar

Prolog Ein Blitz aus heiterem Himmel

In dem Jahr, als die Zwillinge zwölf wurden, änderte sich alles.

Es begann mit einer kleinen schwarzen Wolke, die über einem unauffälligen Vorort schwebte. Weder Jack noch Jaide nahmen sie zur Kenntnis, obwohl sie vor ihrem Haus Posten bezogen hatten. Sie erwarteten gespannt die Heimkehr ihres Vaters und konzentrierten sich auf die Straße und nicht auf den Himmel.

Als in der Ferne ein Taxi auftauchte, verrenkten sich die Zwillinge hoffnungsvoll die Hälse, doch es bog lange vor ihrem Haus ab. Enttäuscht sanken sie in sich zusammen.

»Ich wünschte, Dad würde nicht jedes Mal zu spät kommen«, sagte Jaide.

»Hoffen wir, dass wir diese Eigenschaft nicht von ihm geerbt haben«, erwiderte Jack brummig. Diesmal hatte ihr Vater einen ganzen Tag Verspätung … und war immer noch nicht in Sicht.

Jaide warf ihrem Bruder einen unfreundlichen Blick zu. »Wenn, dann hast sicher nur du sie, Jack. Ich komme nicht nach ihm.«

Das stimmte. Jaide hatte die grünen Augen, das rote Haar und die blasse Haut ihrer Mutter, bekam jedoch nie Sonnenbrand, während Jack wie der väterliche Zweig der Familie braune Augen, schwarze Haare und einen olivfarbenen Hautton hatte. Jedenfalls glaubten die Zwillinge, dass die Verwandten ihres Vaters so aussahen, denn sie hatten noch keine anderen Shields kennengelernt. Anscheinend wohnten sie weit weg und waren nicht sonderlich nett. Selbst ihre Mutter hatte die Verwandten ihres Mannes nur ein einziges Mal besucht, und soweit Jaide und Jack wussten, war das ganz und gar nicht gut verlaufen.

Jack wollte auf keinen Fall so werden wie sie. Seine Mutter sagte häufig, Gene wären nicht alles. Er wollte das gerne glauben.

Mehrere Hundert Meter hinter ihrem Haus bog die Wolke an der Kirchturmspitze rechts ab und drehte sich entgegen des Uhrzeigersinns, als hätte sie sich verirrt.

Statt ihres ersehnten Vaters kam erst mal der Postbote. Er lächelte ihnen zu und steckte etwas in den Briefkasten.

»Hey, vielleicht ist es eine Karte von Dad!«, sagte Jaide.

Hector Shield war Schatzsucher. Er war immer auf der Jagd nach versteckten Meisterwerken, die er Auktionshäusern und Galerien anbot. Zeitweise waren seine Postkarten länger unterwegs als er selbst.

»Wahrscheinlich nur wieder eine seiner Ausreden aus weiter Ferne«, murrte Jack.

Jaide schob ihren Bruder beiseite, griff in den Briefkasten und holte den Umschlag heraus.

»Er ist nicht von Dad«, sagte sie und musterte den cremefarbenen Brief neugierig. »Aber er ist für uns.«

Der Umschlag war aus dickem meliertem Papier, und die Adresse war in einer schnörkeligen, förmlichen Handschrift geschrieben, die sie beide nicht kannten. Dort standen ihre echten Namen, die ihre Mutter in dieser Ausführlichkeit nur benutzte, wenn es Probleme gab:

Jaidith Fennena Shield & Jackaran Kresimir Shield.

»Von wem ist er?«, fragte Jack und schaute Jaide über die Schulter.

Jaide drehte den Brief um, fand aber keinen Absender. Neben die Briefmarke war ein vierzackiger Stern gedruckt, der wie das Kompasssymbol auf einer Landkarte aussah.

Dieser Stern hatte etwas Beunruhigendes, fand Jack. »Willst du ihn nicht aufmachen?«, fragte er dennoch seine Schwester. Jack wollte lieber eine schlechte Nachricht hören, als noch länger auf die Folter gespannt zu werden und auf den Umschlag zu starren.

»Doch natürlich«, antwortete Jaide und versuchte, so ruhig und cool zu klingen wie immer. Jaide war nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen. »Kein Grund zur Hektik.«

Sie verschwieg ihm, dass der Brief auch in ihren Augen etwas ausstrahlte, das sie zögern ließ. Irgendwas … stimmte damit einfach nicht.

Sie fuhr mit dem Daumen unter die Lasche und riss sie auf. Es knisterte angenehm. Auf einmal roch es nach Salz und Sand, als wäre eine Meeresbrise über sie hinweggeweht – obwohl sie nicht einmal in der Nähe der Küste wohnten.

Jack merkte davon nichts. Als seine Schwester innehielt, nahm er ihr den Brief aus den Händen und zog die weiße Karte heraus. Vorne prangte wieder der vierzackige Stern, diesmal in Gold.

Es wurde kurz ein wenig dunkler, doch dann trieb die einsame schwarze Wolke weiter. Sofort war der Himmel wieder blau.

»Vielleicht sollten wir ihn erst Mum zeigen?«, überlegte Jack.

»Er ist an uns adressiert«, beharrte Jaide und schlug die Karte auf.

Auf der Innenseite standen wenige Zeilen in derselben etwas altmodischen Handschrift.

Liebe Troubletwisters,

da die Katzen schon länger unruhig sind, gehe ich davon aus, dass wir uns bald sehen.Liebe Grüße,

Oma X

»Oma wer?«, fragte Jack.

»Die Handschrift von Oma Jane sieht anders aus«, sagte Jaide. So hieß die Mutter ihrer Mutter, die zusammen mit der Tante der Zwillinge am anderen Ende der Stadt wohnte.

»Zeigt mal her.«

Jack und Jaide zuckten zusammen, als ihre Mutter nach der Karte griff. Sie hatten sie beide nicht kommen hören.

Nachdem Susan Shield die Nachricht gelesen hatte, presste sie die Lippen aufeinander und schloss kurz die Augen. Diese Reaktion verwirrte die Zwillinge.

»Der ist nicht für euch bestimmt«, sagte sie schließlich. »Vergesst das Ganze.«

»Aber der Brief war an uns adressiert«, sagte Jaide.

»Das weiß ich, aber das ist ein Versehen«, antwortete ihre Mutter entschieden.

Jack konnte sich nicht zurückhalten. »Was ist ein Troubletwisters?«, fragte er.

»Das tut jetzt nichts zur Sache. Vergesst es einfach«, erwiderte Susan. Die Zwillinge kannten diesen Tonfall nur zu gut, denn sie bekamen ihn immer zu hören, wenn sie etwas besonders Schlimmes angestellt hatten – zum Beispiel aufs Dach geklettert waren oder Sachen in der Mikrowelle hatten explodieren lassen.

»Aber wir haben gar nichts gemacht«, protestierte Jaide.

»Ich weiß«, sagte Susan. Sie ging in die Hocke und schloss ihre Kinder in die Arme. Wie immer wehrte Jaide sich dagegen, während Jack sich an seine Mutter schmiegte. »Wollt ihr nicht vielleicht eine Weile Trampolin hüpfen?«

»Haben wir schon gemacht«, sagte Jack.

»Und wer ist am höchsten gesprungen?«, fragte Susan.

»Ich!«, behaupteten beide Zwillinge. Dann sahen sie sich böse an und im nächsten Moment sausten sie los – durchs Haus, weil es ein ganz klein wenig näher war als außen herum zu laufen.

Susan sah ihnen nach. Kaum waren sie außer Sichtweite, las sie die Karte noch einmal. Dabei stellte sie fest, dass noch etwas in dem Umschlag steckte. Ein Stadtplan mit Anmerkungen. Wütend schob sie ihn zusammen mit der Karte in den Umschlag zurück und steckte ihn hinten in die Hosentasche.

»Wo bleibst du nur, Hector?«, rief sie verärgert, knallte die Briefkastenklappe zu und ging zurück ins Haus.

Eine halbe Meile entfernt verharrte die einsame schwarze Wolke über einer verlassenen Baustelle und schickte einen einzigen Blitz nach unten. Der darauffolgende Donner war so gedämpft, dass er auch von einem knallenden Auspuff hätte stammen können.

Die Zwillinge auf dem Trampolin merkten nichts davon. Jaide, die zwar vier Minuten älter, aber auch einen guten Zentimeter kleiner war, konnte zu Jacks Ärger viel höher springen als er.

»Glaubst du wirklich, ich bin Dad ähnlich?«, fragte Jack, während er keuchend nach Luft für den nächsten Sprung rang.

»Keine Ahnung. Wenn schon, dann kommen wir beide ein bisschen nach ihm.«

»Dann könntest du die Zuspätkommerin werden, und nicht ich.«

»Kann sein, aber ich bin auf jeden Fall schon mal der Hochhüpfchampion.«

»Nur weil du dich immer in die Mitte drängst.«

»Stimmt doch gar nicht!«

»Ich würde sagen«, meldete sich eine Stimme vom Gartenzaun, »dass ihr am liebsten beide immer in der Mitte springen würdet, wenn ihr könntet.«

Die Zwillinge hörten auf zu hüpfen und riefen einstimmig: »Dad?«

Über dem Gartenzaun erkannten sie den vertrauten Wuschelkopf von Hector Shield, der ihnen lächelnd entgegenkam.

»Besser spät als nie!«

Die Zwillinge fielen beinahe vom Trampolin, so rasch stürmten sie auf ihn zu.

»Endlich bist du da!«, rief Jack.

»Wieso hast du so lange gebraucht?«, fragte Jaide atemlos.

»Ich freue mich auch, euch zu sehen, Kinder.«

Die Zwillinge öffneten das Törchen und ließen Hector in den Garten. Er trug wie gewohnt Hose und Jackett aus knitterigem, blauem Cord und zog einen großen, schäbigen, schwarzen Koffer hinter sich her. Mit seinen langen Armen umfasste er die beiden Kinder mühelos.

Ihnen fiel zunächst nicht auf, dass sein Jackett versengt war. Doch als Jack das Gesicht im Hemd seines Vaters vergrub, wich er schnüffelnd zurück. Hector roch wie verbrannter Toast.

»Wieso bist du aus der anderen Richtung gekommen?«, fragte Jack.

»Mein, äh, Taxi hat mich in der falschen Straße rausgelassen.«

Jaide war es egal, wie ihr Vater nach Hause gekommen war, Hauptsache, er war wieder da. »Hast du uns was mitgebracht?«, fragte sie.

Hector lächelte Jaide an. Er brachte ihnen von seinen Ausflügen immer kleine Schätze mit. All seine Geschenke waren aufregend und sonderbar, wie zum Beispiel die antiken Aufziehpferde, die er im vergangenen Jahr aus Spanien mitgebracht hatte, oder die Kelche, aus denen die Maya bei festlichen Anlässen heiße Schokolade getrunken hatten – die hatte er ihnen zu Weihnachten geschenkt.

»Aber selbstverständlich«, sagte er. »Ich werde es euch feierlich überreichen, nachdem ich geduscht und Kaffee getrunken habe.«

Doch als sie sich umdrehten, um ins Haus zu gehen, blieben sie wie angewurzelt stehen. Susan stand mit verschränkten Armen und strenger Miene in der Tür.

»Ah«, sagte Hector. »Geht schon mal vor, ihr beiden. Ich glaube, eure Mutter will mit mir reden.«

Die Zwillinge packten den Griff des verbeulten Koffers, denn es war schon fast ein Ritual, dass sie ihn ins Haus trugen, sobald ihr Vater von einer seiner zahlreichen Reisen zurückkehrte. Außerdem waren sie froh, außer Hörweite ihrer vermutlich streitenden Eltern zu gelangen. Da ihre Mutter als Rettungssanitäterin im Schichtdienst arbeitete, verkomplizierte jede unerwartete Änderung der Pläne alles, was Schule, nachmittägliche Aktivitäten und ihre Arbeit betraf, beträchtlich.

»Ist der schwer«, keuchte Jack, als sie am Fuß der Treppe angelangt waren. Sie mussten einen Moment Pause machen.

»Das müssen riesige Geschenke sein!« Jaide ließ den Griff los und hob den Koffer von unten an. Gemeinsam meisterten sie die enge Kurve auf halber Strecke und schleppten den Koffer ins Schlafzimmer ihrer Eltern. Hier hingen mehrere Aquarelle eines Künstlers aus dem neunzehnten Jahrhundert, die ihr Vater in Paris entdeckt hatte und auf denen kleine Tiere und Vögel in viktorianischer Tracht abgebildet waren.

Die Zwillinge wollten den Koffer aufs Bett hieven, doch Jack verlor in letzter Sekunde den Halt und für Jaide allein war er zu schwer. Der Koffer krachte zu Boden. Jack konnte gerade noch zur Seite springen, da brach die angeblich unverwüstliche Plastikhülle mittendurch und der Inhalt fiel den Zwillingen vor die Füße.

Einen Augenblick lang standen Jack und Jaide vor Schreck stumm da.

Draußen im Garten rief ihre Mutter: »Aber Hector, du bist doch gerade erst wiedergekommen!«

Die Zwillinge starrten auf den kaputten Koffer.

»Dad wird bestimmt super sauer«, sagte Jaide. »Was sollen wir machen?«

»Ich fasse es nicht, dass er kaputtgegangen ist«, sagte Jack. »Er ist sicher schon tausend Mal hingeknallt.«

Jaide nahm die beiden Hälften des Kofferdeckels und hielt sie hoch.

»Sieh dir das an! Er ist verbrannt. Kein Wunder, dass er durchgebrochen ist.«

Jack begutachtete ebenfalls den Brandfleck, der quer über die Oberfläche lief. Der Koffer roch genauso wie sein Vater, als er ihn umarmt hatte.

»Könnte es sein, dass er einen Unfall hatte und deshalb zu spät gekommen ist?«

»Keine Ahnung.«

Jaide legte den verkokelten Deckel weg und musterte den Haufen vor ihren Füßen. Die meisten Sachen sahen ganz normal aus, Hemden und Socken, Unterwäsche und Toilettenartikel. Aber aus den Beinen einer besonders alten abgewetzten Cordhose lugte etwas hervor.

Als Jaide die Hose hochhob, fiel eine Eisenstange heraus. Rasch hob Jack sie auf.

»Aua!«, rief er, als ein heller blauer Funke seine Finger traf, und ließ die Stange aufs Bett fallen.

Die Zwillinge sahen sie sich genauer an. Doch es war nur eine Eisenstange, einen halben Meter lang, schartig und schrammig, wenn auch ohne Rostspuren.

»Nicht gerade ein tolles Geschenk«, sagte Jaide und nahm die Stange in die Hand. Diesmal gab es keinen Funken, doch ihr wurde schrecklich schwindelig.

Jaide schloss die Augen. Bestimmt würde es ihr gleich wieder besser gehen, doch das Gefühl wurde stärker.

»Was ist mit dir?«, fragte Jack besorgt, weil Jaide sehr blass geworden war.

»Nichts«, antwortete sie und schwankte nach rechts. Jack stützte sie und wollte ihr die Stange wegnehmen. Doch kaum berührte er das kalte Eisen, wurde auch ihm seltsam schwindelig.

Der Boden schien unter ihnen nachzugeben, die Decke sich zu neigen und die Ecken Ausbuchtungen zu bilden. Es war, als sähen die Zwillinge in einen Zerrspiegel.

»Was ist das?« Jacks Stimme dröhnte in Jaides Ohren wie ein Nebelhorn.

»Es liegt an der Stange!« Jaides Stimme quietschte wie Fingernägel auf einer Tafel.

»Lass los!«

»Geht nicht!« Sie schüttelte die Hand, doch sie konnte sie nicht von der Stange lösen.

Auch Jack schien daran festzukleben.

Die Wände schienen sich immer weiter zu verzerren, so sehr die Kinder sich auch bemühten, die Übelkeit niederzukämpfen und wieder klar zu sehen. Doch nun begannen ihre Ohren zu schmerzen, und es erklang eine Flüsterstimme, die erst so leise war, dass sie sie mehr erahnen als verstehen konnten. Doch sie wurde immer lauter und durchdringender, schien Besitz von ihnen zu ergreifen und erfüllte ihre Köpfe.

++Kommt zu uns, Troubletwisters. Gesellt euch zu uns! Willkommen, herzlich willkommen!++

Die Zwillinge wanden sich, wollten dem Raum und der Stimme entfliehen, doch sie konnten die Eisenstange nicht loslassen. Die Tür war nur noch ein winziges Viereck, verzweifelt versuchten sie, dorthin zu gelangen, aber der Sog der Stange war stärker.

++Wir sehen euch! Wir sehen euch!++, trumpfte die Stimme auf. ++So nah, so nah!++

Während die Stimme zu ihnen sprach, krochen die Tiere auf den Aquarellbildern aus den Rahmen, wurden zu unheimlichen, dreidimensionalen Wesen mit hervortretenden Augen, die ihren wilden Blick auf die Geschwister hefteten.

++Wir sehen euch! Wir sehen euch!++

Die Zwillinge schrien gleichzeitig.

Als Hector und Susan Shield den Schrei hörten und sich blitzschnell zum Haus umdrehten, erkannten sie es kaum wieder. Es war völlig aus der Form geraten. Das Dach, das normalerweise spitz zulief, war flach wie der Horizont, während der Schornstein sich fast vier Meter emporschraubte.

»Bleib hier!«, rief Hector, der sich eine Sekunde eher wieder gefangen hatte. Er hetzte durch die Tür und rannte die Treppe hinauf. Dann war er verschwunden, verschluckt von dem bizarr verformten Gebäude.

Im ersten Stock erfasste Jaide mittlerweile eine grausige Kälte, die von ihren Fingern hinauf in die Arme kroch. Sie nahm ihr alle Wärme und schwächte ihre Muskeln, sodass sie sich kaum noch wehren konnte. Bald würde sie ein willenloses Opfer sein, der Stimme ausgeliefert, die von ihr Besitz zu ergreifen suchte.

Jack indes versuchte, den bohrenden Blicken der Augenpaare auszuweichen, die ihn zu lähmen schienen. Er spürte, dass er verloren wäre, wenn ihm das nicht gelang. Doch die unheimlichen, weiß glühenden Augen schienen immer mehr zu werden und nach und nach den ganzen Raum zu erfüllen.

»Kinder!«

Ein strahlend heller, violettblauer Blitz schoss durchs Zimmer. Er traf die Eisenstange mit voller Kraft, und die Zwillinge wurden von der Wucht einer lautlosen Explosion weggeschleudert.

Endlich von der Stange befreit, schauten die verschreckten Geschwister zur Tür. Dort stand ihr Vater, in gleißendes Licht gehüllt, seinen Händen entströmte eine weitere violette Energiewelle. Sie schoss zu den Zwillingen, umschlang sie sanft und zog sie in Richtung Tür zu ihrem Vater.

Hector Shield schloss seine Kinder in die Arme und nahm die Eisenstange an sich.

Die weißen Augen im Raum glommen auf.

++Nein!++, schrie die Stimme. ++Sie gehören zu uns! Sie wollen zu uns gehören!++

»Niemals!«, donnerte Hector.

Er hob die Eisenstange über seinen Kopf und richtete sie gegen die Augen. Aus der Spitze zuckte grelles Licht, Blitze fuhren knisternd ins Zimmer und trafen zischend auf die weißen Augen. Doch egal wie viele Hector traf, sofort traten Dutzende neu an ihre Stelle. Die Zwillinge klammerten sich verzweifelt an ihren Vater. Auch wenn sie nicht verstanden, was hier vor sich ging, so war ihnen doch klar, dass sie alle in höchster Gefahr schwebten.

»Stellt euch hinter mich!«, krächzte Hector. Die Stange gab inzwischen nur noch ein paar schnell verlöschende Funken von sich. Die Augen schienen von allen Seiten näher zu rücken und der Boden wölbte sich in Trichterform. Sie konnten sich nicht länger halten, langsam begannen sie ins Rutschen zu geraten.

»Hinter … mich!«, rief Hector den Zwillingen noch einmal zu. »Und dann ab zur Treppe!«

++Kommt zu uns!++, wiederholte die Stimme, die jetzt sehr selbstgefällig klang, als wäre Hectors Befehl ein Ausdruck von Schwäche.

Jack schien wie gelähmt und rührte sich nicht, während Jaide ohne zu wissen warum, einen Schritt nach vorne machte.

»Nein!«, schleuderte sie der Stimme entgegen und brüllte den Augen mit aller Kraft entgegen: »Geht weg!«

»Jaide! Nicht …«, rief Hector, ließ die Stange fallen und drückte die Kinder an sich.

Eine dunkle heiße Welle schwappte durch den Raum und löschte die leuchtenden Augen aus. Im selben Moment ergriff ein warmer Windstoß Jaide. Hector und Jack konnten sie gerade noch packen. Der Sturm wurde stärker, um sie herum krachte es ohrenbetäubend.

»Runter!«, schrie Hector und drückte die Kinder zu Boden, als etwas – möglicherweise das Bett – über ihre Köpfe hinwegsauste und in die Wand krachte. Aus dem Schrank wirbelten Kleidungsstücke, und es hörte sich an, als würden Vögel mit riesigen Schwingen durch den Raum fliegen. Hector zog die Zwillinge rückwärts durch die Tür und warf sich über sie.

Die Wände krachten ohrenbetäubend, als das Dach erfasst wurde und davonflog.

Die Zwillinge schrien, aber dann hörten sie die beruhigende Stimme ihres Vaters, der sie fest umklammert hielt: »Ganz ruhig, Kinder. Alles wird gut. Atmet langsam ein und aus. Fünf Sekunden ein … eins … zwei … drei … vier … fünf – und fünf Sekunden aus …«

Während er zählte, lichtete sich die Dunkelheit. Jack befolgte die Anweisungen seines Vaters, obwohl sein Herz raste. Von oben schien die Sonne durch das große Loch ins Zimmer, wo eben noch das Dach gewesen war. Als Jaide spürte, wie ihr Bruder sich beruhigte, entspannte auch sie sich. Der Wind legte sich und verebbte allmählich ganz, gefolgt von einer unheimlichen Stille.

»Gut macht ihr das«, sagte Hector. »Schön langsam weiteratmen.«

Jack schloss kurz die Augen. Auf einmal erfasste ihn unglaubliche Müdigkeit, und er sah, dass auch Jaide fast wegnickte. Sie sanken in Hectors Arme, und er führte sie rasch die Treppe hinunter, wobei er sich mehrmals ängstlich umschaute. Auf halber Strecke kam ihm Susan entgegen.

»Bring sie raus«, drängte Hector. »Weg vom Haus.«

Susan packte die Kinder fest, sodass sie mit letzter Kraft wach blieben. Sie eilten die Treppe hinunter, in den Garten, durch das Törchen auf die Straße und weiter an einigen Häusern vorbei, bis Susan sie an einen Zaun lehnte und gründlich untersuchte.

Sie fühlte gerade ihren Puls, als ein unglaublich lauter Donner sie alle zusammenzucken ließ. Als sie zurückblickten, sahen sie eine schwarze Säule gesprenkelt mit winzigen hellen Lichtern über ihrem Haus aufsteigen. Am klaren Himmel darüber zuckten Blitze, und dann wurde plötzlich alles, was von ihrem Haus noch übrig war, in die Säule gesogen, herumgewirbelt und in einem Trümmerregen wieder ausgespuckt.

»Hector …«, flüsterte Susan schreckensbleich.

Die Trümmer trieben in einer riesigen Staubwolke über die Straße auf sie zu und Susan und die Zwillinge schlossen rasch die Augen. Als der Dunst sich verzogen hatte, sahen sie zu ihrer Erleichterung ihren Vater auf sich zukommen. Blut floss aus einer Wunde über dem linken Auge, und seine Cordjacke hing in Fetzen, doch er lebte. In der rechten Hand hielt er die Eisenstange.

Jack und Jaide waren sprachlos vor Erleichterung.

»Was hast du getan?«, fragte ihre Mutter.

»Susan, es ist nicht …«

»Nicht deine Schuld?« Ärgerlich zeigte sie auf die Eisenstange, die er in der Hand hielt. »Ich wusste, dass du nicht mit dem Flugzeug gekommen bist. Ich habe die Flüge geprüft, aber dann dachte ich, ich hätte vielleicht nicht richtig hingesehen und du hättest dein Versprechen doch gehalten.«

»Ich wollte sagen: Es ist nicht so einfach.« Hector hockte sich vor die Kinder und legte die Stange auf die Straße.

Jack blinzelte ihn an und kam allmählich wieder zu sich. Neben ihm rührte sich auch Jaide. Jack hätte gerne etwas gesagt, doch ihm fehlte die Kraft.

»Dad«, flüsterte Jaide. Das Sprechen strengte sie so an, dass sie kaum wusste, was sie sagte. »Unsere Finger haben … unsere Augen …«

»Ich weiß, Liebes«, sagte ihr Vater. »Alles wird gut, das verspreche ich euch.«

»Und wie soll das gehen?«, fragte ihre Mutter. »Wie soll alles gut werden, Hector? Unser Haus wurde gerade zerstört. Ihr wärt beinahe gestorben, du und die Kinder.«

»Wir wussten, dass es eines Tages so weit sein würde«, erwiderte ihr Vater leise. »Das Potenzial ist da und es wird sich entfalten, so oder so.«

»Sie war das!« Susan zog den Brief aus der Hosentasche und warf ihn ihrem Mann wütend ins Gesicht. »Sie ist daran schuld.«

Hector überflog die vier kurzen Zeilen und hockte sich ermattet auf die Fersen.

Jack wusste nicht, was er sonderbarer finden sollte – das, was gerade geschehen war, oder die Tatsache, dass seine Eltern nicht halb so überrascht waren wie er.

Währenddessen überlegte Jaide, was in aller Welt der Brief von der geheimnisvollen Oma X damit zu tun haben könnte.

»Man muss dem Ganzen doch ein Ende machen können«, sagte Susan und drückte die Kinder an sich. »Es muss einen Weg geben.«

»Sie hat nichts damit zu tun«, sagte Hector. »Aber die Kinder müssen jetzt zu ihr.«

Wir müssen zu ihr?, dachte Jaide. Was sollte das bedeuten?

Susan konnte ihre Angst kaum in Worte fassen. »Nein! Sie will bestimmt mit ihnen … Sie will sie benutzen … Ich lasse sie nicht gehen!«

»Sie wird sie nicht benutzen«, widersprach Hector entschieden. »Die Kinder entscheiden selbst. So wie ich, als ich mich für dich entschieden habe.«

»Nur ist es nicht dabei geblieben«, sagte Susan. Jedes ihrer Worte war schneidend. »Oder?«

In der Ferne übertönten Sirenen das Hundegeheul und das Gellen der Autoalarmanlagen.

Als ihr Vater sich umschaute, folgten Jack und Jaide seinem Blick. Aus den eingefallenen Mauern und Dachpfannen stieg Rauch auf; kleine Flammen tanzten in den Schatten.

»Die Zwillinge müssen los«, sagte Hector. »Nächstes Mal haben wir vielleicht nicht so viel Glück. Ich möchte, dass du sie zu meiner Mutter bringst, bevor sich ihre Gaben vollständig offenbaren.«

»Was für Gaben?« Jaide fand endlich die Kraft zu reden. »Was ist eigentlich los?«

Hector sah seine Kinder an. »Das kann ich euch jetzt nicht sagen, aber ihr werdet es bald herausfinden. Im Moment müsst ihr nur begreifen, dass es sehr wichtig ist, mit eurer Mutter zu gehen. Jetzt sofort.«

»Du lässt uns keine Wahl?«, fragte Jack.

»Wir haben alle keine Wahl.«

Jaide hatte es immer noch nicht begriffen. »Und was ist mit dir? Kommst du nicht mit?«

»Ja, Hector«, fragte auch Susan, »was ist mit dir?«

Ihr Vater sah sie gequält an. »Du weißt, dass ich nicht mitkommen kann, Susan. Wenn ich dort wäre, würde ich … euch nur in Gefahr bringen … so wie heute.«

Susan wandte sich ab und sah zu dem brennenden Haus zurück.

»Dann kannst du genauso gut sofort gehen«, sagte sie.

Hector nickte traurig. Er bückte sich und küsste die Zwillinge auf die Stirn. Dann nahm er die Eisenstange und richtete sich auf. Seine rußverschmierte Brille hing ihm schief auf der Nase

»Es tut mir leid«, sagte er. »Ich hoffe, meine Troubletwisters, dass ihr mich eines Tages verstehen werdet.«

Hector wandte sich an Susan, aber sie würdigte ihn keines Blickes, nicht einmal, als sich seine Schritte langsam entfernten.

Eine Minute später erklang das Echo eines gewaltigen Donners und eine einsame schwarze Wolke glitt in Richtung Horizont – ein Zeichen dafür, dass Jaide und Jack Shields normales Leben vorüber war.

1. Kapitel Das Haus auf der Watchward Lane

Alle beteuerten, wie viel Glück Jack, Jaide und Susan gehabt hätten, weil sie die Explosion und die Zerstörung des Hauses überlebt hatten.

»An Ihrer Stelle würde ich Lotto spielen«, hatte der Versicherungssachverständige gesagt.

Der Gutachter der Feuerwehr hatte ihm zugestimmt. »Eine Gasleitung geht normalerweise nicht nach und nach, sondern ganz plötzlich hoch. Sie sind die glücklichste Familie aller Zeiten.«

Doch die Zwillinge hatten ganz und gar nicht das Gefühl, Glück zu haben. Erst flog ihr Haus in die Luft, und jetzt waren sie mit dem Auto auf dem Weg zu ihrer unbekannten Großmutter, die ewig weit weg wohnte und bei der sie in Zukunft leben sollten.

»Ständig sagen alle, wir hätten Glück gehabt«, sagte Jaide, als sie nach einer kurzen Rast wieder ins Auto stiegen. »Wie kommt es dann, dass wir seit drei Tagen unterwegs zu einem abgelegenen Ort sind, von dem wir noch nie gehört haben? Und das, um eine Frau zu besuchen, die wir mit Sicherheit nicht leiden können? Dad ist wer weiß wo …«

»Es reicht!«, fauchte ihre Mutter. »Die Fahrt ist lang und anstrengend. Macht es mit eurem Gejammer nicht noch schlimmer. Wir habe keine Wahl, außerdem sind wir ja bald da…«

Sie fuhren eine Weile schweigend weiter, während Susan innerlich kochte und die Zwillinge schmollten. »Euer Vater kommt, sobald er kann«, sagte Susan dann mit leiser Stimme. »Er hat etwas Dringendes zu erledigen. Und wir haben wirklich Glück, dass wir noch leben und eure Großmutter euch so gerne bei sich haben möchte.«

Oma X wohnte in einer Stadt am Meer namens Portland. Doch ihr Portland war keins der bereits bekannten Portlands. Wie Jaide rasch im Internet recherchiert hatte, befand sich dieses Portland nicht einmal unter den ersten zehn Treffern. Die alte Kleinstadt hörte sich todlangweilig an. Es gab nur eine kleine Schule, zwei Parks, ein stundenweise geöffnetes Kino (ohne 3-D-Leinwand) und eine Hauptstraße mit weniger als zehn Läden. Zum nächsten Einkaufszentrum musste man vierzig Minuten mit dem Auto fahren. Für die Zwillinge hätte Portland genauso gut auf dem Mond liegen können, doch leider ohne die spannende Anreise mit dem Raumschiff.

»Sitzen wir hier jetzt auf Dauer fest?«, fragte Jack, als ihre Mutter langsam die Hauptstraße von Portland entlangfuhr und die Straßenschilder studierte. Einige waren so verblasst, dass man sie nicht mehr lesen konnte. »Ich meine, bis in alle Ewigkeit?«

»Nein«, sagte ihre Mutter. »Nur bis die Versicherung zahlt und unser altes Haus wieder aufgebaut ist.«

»Und warum können wir bis dahin nicht im Hotel wohnen? Oder bei Tante Marie?«

»Das hatten wir doch schon. Tante Marie hat mit Oma Jane alle Hände voll zu tun. Die Renovierung wird Monate in Anspruch nehmen, außerdem finde ich, dass uns ein Tapetenwechsel gut tut.«

Jaide wusste, dass es keinen Zweck hatte, ihre Mutter weiter aushorchen zu wollen. Während der Zerstörung ihres Hauses war etwas Sonderbares geschehen, und es gab eine Verbindung zwischen den durchgeknallten Visionen der Zwillinge, dem schnellen Verschwinden ihres Vaters und dem Umzug zu ihrer Großmutter. Doch ihre Mutter wollte absolut nicht mit ihnen darüber reden. Kaum war ihr Vater abgereist, tat sie so, als sei nichts Ungewöhnliches geschehen.

Eine Frage fiel Jaide noch ein, auf die sie vielleicht eine Antwort bekommen konnte. »Müssen wir Oma X zu ihr sagen?«

»Sagt einfach Oma.«

»Wofür steht denn das X?«

»Keine Ahnung.«

»Du weißt nicht, wie Dads Mutter heißt?«

»Nein«, erwiderte ihre Mutter fahrig und seufzte. Sie blickte zwischen dem selbst gezeichneten Stadtplan, den Oma X geschickt hatte, und dem GPS-Bildschirm hin und her. Mit einem ärgerlichen Schnauben fuhr sie rechts ran. »Ich verstehe das einfach nicht. Wir sind gerade an der Crescent Street und der Dock Road vorbeigefahren. Dazwischen gibt es kein Schild ›Watchward Lane‹ und in der Datenbank des Navis gibt es die Straße auch nicht.«

»Sie hat gesagt, wir sollen von Osten kommen«, sagte Jaide und hielt den Stadtplan hoch. Am Rand standen gestochen scharf geschriebene Anweisungen.

»Es kann doch keinen Unterschied machen, woher wir kommen«, sagte Susan. Doch dann wendete sie. »Anscheinend sind wir dran vorbeigefahren. Wir müssen wohl oder übel umkehren.«

»Warum sagt sie Troubletwisters zu uns?«, fragte Jaide.

»Sie ist alt«, antwortete Susan. »Wahrscheinlich ist es eine Bezeichnung von früher, so eine Art Kosename.«

»Das gefällt mir aber nicht«, sagte Jaide. »Wir verursachen doch keinen Trouble.«

»Doch«, sagte Susan. »Manchmal macht ihr schon Ärger.«

Jack sah aus dem Fenster und entdeckte aus dem Augenwinkel eine schmale Gasse zwischen einer Buchhandlung und einem Eisenwarengeschäft. Er musste blinzeln und verlor sie kurz aus den Augen, doch dann entdeckte er das Sträßchen wieder im Rückspiegel.

»Da!«, rief er. »Wir sind dran vorbeigefahren! Neben dem Laden mit den tausend verschiedenen Leitern davor.«

»Gut aufgepasst, Jack!«, sagte Susan. Sie machte erneut kehrt. »Da ist diese blöde Straße ja endlich!«

Sie fuhren in die kleine Gasse mit Kopfsteinpflaster, die im Zickzack zwischen zwei Häuserreihen verlief und dann einen kleinen Hügel hinauf führte. Sie endete in einer Sackgasse vor einer großen, weiß getünchten Steinmauer, auf der Wasserspeier in Form von Katzen und Hähnen angebracht waren. Der Torbogen war gerade groß genug für das Auto, und das Tor selbst stand offen.

Susan fuhr hindurch und gelangte über die lange gekrümmte von Pappeln gesäumte Einfahrt zum Hauseingang. Nachdem sie den Motor ausgeschaltet hatte, blieben sie alle noch kurz sitzen und sahen schweigend aus dem Fenster.

Das Haus war alt; die ehemals rosafarbenen Mauersteine wirkten stumpf. Über dem zweiten Stock thronte ein sogenannter Witwengang aus Holzschindeln, eine Art Dachgarten um das außergewöhnlich steile Dach. Es gab mehrere Schornsteine, die sogar den Giebel überragten, und auf dem höchsten war eine Wetterfahne in Form eines zunehmenden Mondes mit den dazugehörigen Sternen angebracht. Sie zeigte unverdrossen nach Südwesten, obwohl der Wind für alle sichtbar die Kronen der Pappeln von Osten her beugte.

»Wetten, dass es drinnen muffelt?«, sagte Jaide.

»Es gibt bestimmt kein warmes Wasser.«

»Wir müssen es nehmen, wie es ist«, sagte Susan. »Schließlich haben wir keine andere Wahl, dank eurem Va…«

Sie biss sich auf die Zunge. Jack wartete gespannt, was sie noch sagen würde.

Weder er noch Jaide glaubten die offizielle Geschichte von dem Gasleck, das sich rasch vergrößert und zu der Explosion geführt haben sollte. Leider konnten sie sich aber auch nicht erklären, was stattdessen passiert war. Sie hatten miteinander darüber gesprochen, über ihre Erinnerung daran, den Koffer ihres Vaters nach oben getragen und danach eine Eisenstange angefasst zu haben. Und plötzlich war alles verschwommen und verzerrt gewesen, Augen hatten sie angestarrt – und am Ende war das ganze Haus explodiert. Aber außer ihrem Vater konnte ihnen niemand sagen, was wirklich dort oben geschehen war, und der war nicht da.

»Ich wollte sagen«, fuhr Susan fort, »dass wir das Beste draus machen sollten. Und etwas Besseres als das ist gerade nicht drin.« Sie warf einen düsteren Blick auf das große, alte Haus.

»Ich wusste gar nicht, dass Oma mit Antiquitäten handelt«, sagte Jaide.

»Was?«, fragte Susan. »Wie kommst du denn darauf?«

»Da hängt doch ein Schild, auf dem Antiquitäten steht«, antwortete Jaide und zeigte aus dem Fenster. »Über der blauen Tür dahinten.«

Es gab zwei Vordereingänge. Direkt dort, wo sie geparkt hatten, führten vier breite Steinstufen zu einer mächtigen Tür, doch es gab noch einen weiteren Zugang weiter hinten. Drei schmale Stufen liefen hinunter zu einer halb verborgenen Tür, die kornblumenblau lackiert war. Auf einem alten, handbemalten Schild über der Tür stand Antiquitäten und erstklassige Ware für anspruchsvolle Kunden.

»Wo?«, fragte ihre Mutter. »Also ehrlich, ich kann mir nicht vorstellen, dass Oma X es witzig findet, wenn ihr darüber Witze reißt, das ihr sie antiquiert findet.«

Susan stieg aus und knallte die Wagentür zu.

»Aber da steht es doch, was will Mum nur?«, fragte Jaide.

Jack kniff die Augen zusammen. Er schaute in die Richtung, in die Jaide deutete, verzog dann aber das Gesicht.

»Da steht nirgends was von Antiquitäten …«, sagte er.

Einen kurzen Augenblick lang schwirrte alles, was in ihrem alten Haus geschehen war, wieder durch Jaides Erinnerung: die Dunkelheit, der Wind, die leuchtenden Augen und ihr Vater, der ihretwegen gegen Kräfte angekämpft hatte, die sie nicht verstand. Es fühlte sich wie ein Traum an, wie ein Albtraum, und es gefiel ihr nicht, dass dieser Albtraum vielleicht wirklicher war als das, was sie gerade vor Augen hatte.

»Kommt ihr jetzt oder braucht ihr eine Extraeinladung?«, rief ihre Mutter von der Eingangstreppe.

»Als dürften wir uns das aussuchen«, murrte Jaide und öffnete die Tür. Die Schritte der Zwillinge knirschten im Kies.

Jack war froh, endlich die Beine ausstrecken zu können. Die Fahrt war lang und öde gewesen. Das Haus ragte unheimlich vor ihnen in die Höhe. Darin wartete vermutlich eine strenge Großmutter mit jeder Menge Regeln und Verboten. Er konnte es einfach nicht ertragen, noch einen Moment stillzustehen.

»Wer schneller ist«, rief er.

»Bei drei«, erwiderte Jaide und lief los. Sie rannte entgegen des Uhrzeigersinns um das Haus.

Jack versuchte sie einzuholen und hörte das missbilligende Schnalzen seiner Mutter nicht mehr. Die Erde unter seinen Schuhen war locker, sogar als er den Kies hinter sich ließ und in den eigentlichen Garten rannte. Er bog ab und blieb Jaide dicht auf den Fersen. Hinter dem Haus gab es einen richtigen Garten mit einem breiten Rasenstück, auf dem eine Douglasie stand, die drei Mal so hoch war wie das Haus. Wieso hatte er sie nicht schon gesehen, als sie auf das Haus zugefahren waren?

Jack hatte Jaide fast eingeholt und wollte gerade ihre Kapuze packen und sie aufhalten, da ertönte plötzlich von oben eine strenge Stimme.

»Ihr werdet euch benehmen. Das ist das Mindeste, was ich erwarten kann!«

Die Stimme kam aus einem spaltbreit geöffneten Fenster auf halber Höhe des Hauses. Jaide kam schlitternd zum Stehen, da sie davon ausging, dass die Stimme mit ihnen schimpfte. Als Jack mit ihr zusammenstieß, fielen sie beide hin.

»Wollt ihr etwa Widerworte geben?«, fuhr die Stimme fort.

Die Zwillinge rappelten sich auf und blickten eingeschüchtert zu dem Fenster hoch. Doch niemand lehnte sich heraus, und sie begriffen, dass nicht sie gemeint waren.

»Glaubst du, das ist … ?«, flüsterte Jack.

Jaide bedeutete ihrem Bruder, leise zu sein, während sie hoch sprang und versuchte, durch das Fenster einen Blick auf die Frau zu erhaschen, die wahrscheinlich Oma X war.

»Ich werde meinen Teil der Vereinbarung einhalten, wenn ihr es auch tut«, sagte die unsichtbare Frau.

Ein tiefer Klingelton erklang im Haus, und irgendetwas klirrte in der Küche.

»Psst, sie sind da.«

Jack machte eine Räuberleiter, und Jaide gelang es, sich so weit hochzuziehen, dass sie über den Fenstersims spähen konnte – gerade rechtzeitig, um eine große, ältere Frau mit silbergrauem Haar zur Tür gehen zu sehen. Sie trug eine langärmelige Bluse, die sie in die Jeans gesteckt hatte, einen Gürtel, der funkelte, als hätte er Metallnieten, und Cowboystiefel mit silbernen Absätzen und Spitzen. Die Stiefel klapperten auf den gebohnerten Dielen, als würde sie keinen Spaß verstehen.

Außer ihr war niemand da. Oma X hatte offensichtlich mit der Luft oder sich selbst geredet.

In dem Augenblick kam etwas aus der Küche gehuscht und sprang auf den Sims. Überrumpelt verlor Jaide den Halt und riss Jack mit sich, der unter ihr stand.

»Miau?«, fragte der kräftige rotbraune Kater und blickte forschend auf sie hinunter.

Jack betastete seinen schmerzenden Ellbogen und lachte erleichtert. »Du hast mich vielleicht erschreckt.«

Die Katze legte den Kopf zur Seite, zuckte mit den Schnurrhaaren und leckte sich bedächtig die Pfoten, ohne die Kinder weiter zu beachten.

»Wo seid ihr, Kinder?«

Susans Stimme erklang so laut, als würde sie durch ein Megafon rufen.

»Bei drei«, sagte Jack, war aber schon unterwegs.

Als sie um die nächste Ecke bogen, hatte er bereits einen ordentlichen Vorsprung. Er flitzte am Stamm der großen Tanne vorbei und wäre beinahe über die Wurzeln gestolpert, die rund um den Baum wie Schlangen über den Boden krochen. Sie hatten kurzen Prozess mit den steinernen Gartenmauern gemacht, die an drei Seiten tiefe Risse hatten und teilweise eingestürzt waren.

Jaide erhaschte über die bröckeligen Mauern einen Blick auf das Nachbarhaus. Die Fenster waren eingeschlagen, die Türen verbarrikadiert und an einer Mauer entdeckte sie Brandspuren, als hätte es ein Feuer gegeben. Dort wohnte offenbar schon lange niemand mehr.

Die Südseite von Oma X’ Haus bestand aus einer glatten Mauer. Erst im zweiten Stock gab es Fenster. Als sie um die letzte Ecke zur Haustür rannten, lief Jack ein wenig langsamer, damit Jaide aufholen konnte. Doch er ließ sie nicht gewinnen.

»Da seid ihr ja.« Ihre Mutter erwartete sie auf der obersten Stufe. Ihre muntere Stimme hatte einen scharfen Unterton, der die Zwillinge mahnte, es nicht zu übertreiben. »Höchste Zeit, eure Großmutter kennenzulernen.«

Keuchend kamen Jaide und Jack die kleine Treppe hoch. Sie liefen dicht nebeneinander, sodass sich ihre Schultern berührten. Die Haustür führte in einen Flur, der so düster und unheimlich war, dass Jack nur vage Formen erkannte und Jaide überhaupt nichts sah.

»Endlich, die Zwillinge«, sagte dieselbe Stimme, die sie durch das Küchenfenster gehört hatten. Oma X kam mit ausgebreiteten Armen aus der Dunkelheit, als wollte sie die Kinder packen und in die Finsternis zerren. Jack wich zurück, während Jaide sich nicht bewegte. Fasziniert stellte sie fest, wie ähnlich Oma X ihrem Vater sah, vor allem um die Augen. Obwohl ihre granitgrau waren und ihr Vater freundlichere, braune Augen hatte, war es doch der gleiche strahlende, durchdringende Blick.

Jack fiel diese Ähnlichkeit nicht auf. Es erschreckte ihn vielmehr, wie schnell sie ihn an der Schulter fasste und Jaides Hand nahm, um sie beide an sich zu ziehen und auf die Stirn zu küssen.

»Ich wusste, dass ihr eines Tages kommen würdet«, sagte sie. »Wie groß ihr geworden seid! Schon zwölf, schon Troubletwisters.«

»Was ist ein Troubletwister?«, fragte Jaide.

»Das erkläre ich dir ein andermal«, erwiderte Oma X und legte Jack und Jade je einen Arm um die Schulter. »Möchtet ihr nicht erst mal hereinkommen und euer neues Zuhause besichtigen?«

»Wir bleiben nur kurz«, sagte Susan dicht hinter ihnen. »Die Reparaturen werden nicht allzu lange dauern.«

Oma X rümpfte die Nase. »Ihr dürft gerne so lange hier wohnen, wie ihr wollt. Ich habe genug Platz für euch alle.«

Sie führte die Zwillinge ins Haus. Jaide trat zögernd über die Schwelle, während sich ihre Augen allmählich an die Dunkelheit gewöhnten. An den Seiten der Eingangshalle standen vier große Schränke aus Kastanienholz und Mahagoni. Sie waren fest verschlossen und mit schweren alten Vorhängeschlössern aus Bronze gesichert. Im Haus roch es sonderbar nach klammen, morschen Möbeln und etwas anderem, das weder Jaide noch Jack benennen konnten – doch es weckte Erinnerungen an alte Dinge. Jaide fielen die blaue Tür und das Antiquitätenschild wieder ein. Bei ihrem Wettlauf mit Jack hatte sie sie gar nicht mehr gesehen, hatte auch gar nicht mehr daran gedacht. Doch jetzt brachte der Geruch ihr Gedächtnis auf Trab. Sie wollte sofort herausfinden, was es damit auf sich hatte.

»Einen Moment noch«, sagte Jaide. »Ich möchte etwas aus dem Auto holen.«

»Warte, ich komm mit«, sagte Jack und packte sie so fest am Arm, dass sie ihn nicht abschütteln konnte. Gemeinsam stolperten sie ins Tageslicht hinaus. Vor dem Haus drehte Jaide sich um und musterte die Fassade.

Einen Augenblick lang sah sie weder die blaue Tür noch das Schild. Dort, wo sie sie vermutet hätte, war nur die verwitterte rosafarbene Hauswand zu sehen.

Dann blinzelte sie und alles war wieder da.

»Ich habe sie mir nicht ausgedacht«, sagte sie zu Jack. »Wusste ich’s doch!«

Jack starrte auf die Tür, das Schild und die Worte Antiquitäten und erstklassige Ware für anspruchsvolle Kunden.

»Du hattest recht«, sagte er, verwundert, wie er etwas so Auffälliges hatte übersehen können. »Wieso ist mir das eben entgangen?«

»Keine Ahnung«, antwortete Jaide. »Mum hat sie ja auch nicht bemerkt.«

»Kinder?« Susan klang verärgert, obwohl sie versuchte, es zu überspielen. »Jetzt seid doch bitte nicht so unhöflich!«

»Sehr seltsam«, sagte Jaide mehr zu sich als zu ihrem Bruder.

»Absolut«, erwiderte Jack und grinste sie zu ihrer Überraschung an. »Vielleicht hat Portland doch mehr zu bieten, als wir dachten.«

Über ihren Köpfen quietschte etwas. Die Wetterfahne ruckelte langsam und zögernd, bis sie nach Süden zeigte. Doch die Pappeln und die höchsten Äste der Tanne duckten sich immer noch nach Westen, um sich vor dem Ostwind zu schützen, der aufgefrischt hatte und einen Haufen dunkler, böser Wolken herantrieb.

Jaide erschauerte, und das lag nicht nur an dem kalten Wind. Sie zog ihre Kapuze über und eilte ins Haus, dicht gefolgt von Jack.

2. Kapitel Erst hier und dann wieder weg

»Wohnzimmer, Salon, Arbeitszimmer, Küche«, verkündete ihre Großmutter und pflügte wie ein Schiff unter vollen Segeln durch den Flur, während sie im Vorbeigehen an die jeweiligen Türen klopfte. Nachdem sie die verschlossenen Schränke hinter sich gelassen hatten, gelangten sie in die zweite Hälfte des Flurs, wo mehrere streng wirkende Porträtbilder an den Wänden hingen. Dann folgten zwei Bücherschränke mit Glastüren, in denen jedoch keine Bücher aufbewahrt wurden, sondern eine Ansammlung kurioser Gegenstände: Schneekugeln, Tiere aus Kristallglas, Verzierungen aus Messing und Ähnliches. Alles lag säuberlich auf den Regalbrettern, doch eine Ordnung war nicht zu erkennen.

Während Jack und Jaide hinter ihrer Großmutter herliefen, machten ihre Turnschuhe schlurfende Geräusche, die in scharfem Kontrast zu dem Poltern von Oma X’ Stiefeln standen. Ganz hinten hing ein winziger, silberner Spiegel einsam an der Wand. Er fiel Jack auf, als er zur Treppe hastete. Er sah sein eigenes Gesicht und das seiner Schwester langgezogen und zu zwei Fragezeichen verzerrt.

»Ich habe im ersten Stock Zimmer für euch hergerichtet«, sagte Oma X und führte sie die breite knarrende Treppe hinauf, die oben in der Dunkelheit verschwand.

»Es tut mir wirklich leid, dass wir dir so viel Mühe machen«, sagte Susan auf der Stufe unter ihr. »Hoffentlich müssen wir nicht allzu lange bleiben und …«

»Mach dir darum keine Sorgen«, schnitt Oma X ihr das Wort ab. »Du bist meine Schwiegertochter und die Troubletwisters sind meine Enkel. Blut ist dicker als Wasser. Vor allem unser Blut.«

»Richtig. Darüber möchte ich noch mit dir sprechen.« Susan warf einen flüchtigen Blick auf die Zwillinge. »Später.«

»Alles halb so wild, meine Liebe.« Oma X blieb an der ersten Treppenbiegung stehen und blickte auf ihre Gäste hinunter, die ebenfalls erwartungsvoll warteten. Das trübe Licht warf tiefe Schatten auf ihr runzliges Gesicht. »Ich heiße mit zweitem Namen Prudence.«

»Was soll das heißen?«, fragte Jack.

»Es bedeutet Vorsicht«, erklärte Susan.

»Und es war wirklich mein zweiter Vorname«, sagte Oma X mit einem feinen Lächeln. »Früher einmal.«

»Und wofür steht das X?«, fragte Jaide.

Statt einer Antwort stieg ihre Großmutter weiter die Treppe hinauf.

Susan legte einen Finger auf die Lippen. Jack stieß seine Schwester an, die ihn zurückstupste. Sie mussten ihre Gefühle nicht in Worte fassen. Je mehr Zeit sie mit ihrer Großmutter verbrachten, umso merkwürdiger kam sie ihnen vor. Und ihr Haus war ebenso seltsam. Nicht nur wegen der geheimnisvollen blauen Tür. Wohin Jack und Jaide auch blickten, überall fielen ihnen sonderbare Kleinigkeiten auf – zum Beispiel die Tapete mit Kompassen, die nicht mit N, W, S und O gekennzeichnet waren, sondern mit anderen Buchstaben, die nicht einmal lateinisch waren. Auch das Geländer sah nicht handgeschnitzt aus, sondern als wäre es in all seinen Verschnörkelungen aus einem Stück gewachsen. Überall hingen Bilder, und am Treppenabsatz in der ersten Etage prangten alte, bräunlich getönte Fotos von Menschen aus früheren Epochen. Einige hatten ein kleines Namensschild aus Messing am unteren Rahmenrand. Jack sah genau hin. Waren es Verwandte von Oma X und somit auch von ihm?

Heinrich Cornelius Agrippa. Ursula Southeil. Lorenzo Ghiberti. Helena Drebbel …

Er hatte nie von ihnen gehört.

»Hier habe ich dich einquartiert, Susan«, sagte Oma X. Sie öffnete die Tür zu einem schmalen L-förmigen Zimmer mit Fenstern an der Längswand und Blick auf das alte verlassene Nachbarhaus. Ein großes Bett schmiegte sich in eine Nische, daneben stand ein schwerer Schrank.