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Unsere Liebe ist chaotisch und unvorhersehbar, und ich würde es auch gar nicht anders wollen
Als May Shipley ihre Freundin Daniela beim Fremdgehen erwischt, ist ihr Leben ein einziger Scherbenhaufen. Doch zum Glück ist Barbesitzer Alec Rossi da, um sie aufzufangen. Seine Freundschaft ist wie Balsam für Mays gebrochenes Herz - bis ein Kuss plötzlich alles verändert. Aus einem werden zwei. Aus zwei werden zehn, und Alec weiß augenblicklich, dass er von May niemals genug bekommen wird. Doch das sind Gefühle, die er für sich behalten muss, wenn er ihre Freundschaft nicht aufs Spiel setzen will ...
"Auf die Shipley-Farm zurückzukehren, ist wie endlich wieder nach Hause zu kommen!" Harlequin junkie
Band 5 der gefeierten TRUE-NORTH-Reihe von USA-TODAY-Bestseller-Autorin Sarina Bowen
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Seitenzahl: 417
Titel
Zu diesem Buch
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Leseprobe
Die Autorin
Die Romane von Sarina Bowen bei LYX
Impressum
SARINA BOWEN
True North
EIN MOMENT FÜR IMMER
Roman
Ins Deutsche übertragen von Wanda Martin
Als May Shipley ihre Freundin im Pub beim Fremdgehen erwischt, ist ihr Leben ein einziger Scherbenhaufen. Nicht nur, dass sie auf die Shipley-Farm zurückziehen muss, sie wird auch ihrem Ruf als Sorgenkind der Familie wieder einmal vollends gerecht. Doch zum Glück ist Barbesitzer Alec Rossi da, um sie aufzufangen. Er hilft ihr nicht nur dabei, ihre Sachen aus Danielas Wohnung zu holen, er springt auch ein, als May eine Begleitung zu ihrer Abschlussfeier an der Universität braucht. Seine Komplimente sind die perfekte Ablenkung, seine Freundschaft wie Balsam für Mays gebrochenes Herz. Trotzdem sind sie nur Freunde, und die Regeln stehen fest: Es ist alles nichts weiter als ein Spiel, um Daniela eifersüchtig zu machen – bis ein Kuss alles verändert. Denn als sich ihre Lippen berühren, scheinen Tausende kleine Funken überzuspringen. Aus einem Kuss werden zwei. Aus zwei zehn, und Alec weiß augenblicklich, dass er von May niemals genug bekommen wird. Aber auch, dass er diese Gefühle unbedingt für sich behalten muss, weil er sonst eine Regel brechen würde, deren Sinn er schon lange nicht mehr versteht …
Alec
»Was meinst du, welches Bier sollte ich als Erstes probieren?«, fragt mich die attraktive Frau, die sich auf meinen Bartresen lehnt. »Das Goldenpour oder das Barclay Stout?« Sie ist hübsch. Anfang zwanzig wahrscheinlich. Enger Pulli und noch engere Jeans. Ich habe sie noch nie hier gesehen, aber sie lächelt mich breit an.
Dann dreht sie sich ein Stück zur Seite und klimpert in Richtung meines Barkeepers Smitty mit den Wimpern.
Neben mir grinst Smitty belustigt. Denn dieses Mädel muss sich nicht nur zwischen zwei Sorten Bier entscheiden. Sie ist das, was Smitty und ich »Typ Unentschlossen« nennen – sie grübelt auch noch, welchen Barkeeper sie will.
»Also«, sagt Smitty und stützt dabei einen Arm auf den Tresen. »Goldenpour schmeckt spritzig und hefig – nach Aromen von Birne und Zitrusfrüchten.« Er krempelt absichtlich die Ärmel hoch, um mit den bunten Tattoos auf seinen Unterarmen anzugeben, der Arsch.
»Das Barclay Stout dagegen«, mische ich mich ein, »hat Kakao- und Vanillenoten, einen sanften Abgang, einen langen Nachklang und eine schön steife Krone.« Ich lasse tatsächlich meine Brustmuskeln spielen, während ich das sage, und Smitty versucht, nicht loszuprusten.
»Wow.« Sie schaut zwischen uns beiden hin und her. »Schwere Entscheidung.«
Um die Frauen zu buhlen ist unser kleines Spielchen. Ich kriege die ab, die auf den Typ sportlich und glatt rasiert stehen, und Smitty die, die was für die gefährlichen, tätowierten Jungs übrighaben.
Wir bekommen jede Menge Aufmerksamkeit von Frauen. Wir machen uns einfach einen kleinen Spaß aus diesem Quatsch.
»Hmm«, macht das Mädchen. »Ich glaube, ich probier zuerst das Goldenpour.«
»Ah, na dann«, sage ich sofort, während Smitty schnaubend lacht. »Das kann er dir zapfen.« Smitty grinst mich an und greift nach einem Glas. Sie geht am Bartresen entlang zu ihm, um auf ihr Bier zu warten.
»Kannst sie nicht alle kriegen«, sagt Hamish – mein bester Kunde – auf dem Barhocker direkt vor mir.
»Stimmt.«
»Der Abend ist allerdings noch jung. Genauso wie du, Grünschnabel.« Hamish ist Tischler. Seine Werkstatt liegt hundert Meter die Straße runter. Tatsächlich gehört uns dieses zusammenhängende Ensemble von Backsteingebäuden am Winooski River, wo wir beide einen Großteil des Tages damit zubringen, uns um unser jeweiliges Gewerbe zu kümmern.
Seines sind hochwertige Schreinerarbeiten, während sich meines um die größte Errungenschaft der Menschheit dreht: Craft-Bier.
»Andere Mütter haben auch schöne Töchter«, stimme ich ihm zu. Und im Moment geht es mir mehr darum, all diese Töchter zu bedienen, als sie ins Bett zu kriegen. Es ist Donnerstagabend. Der Wochenend-Ansturm geht los, und ich bin mehr oder weniger bereit dafür.
Heute Abend bedient Becky an den Tischen, was bedeutet, dass Ed Sheeran auf der Anlage läuft. Wir haben eine Regel: Die Kellnerin bestimmt die Playlist. Sie dreht gerade eine Runde durch die Bar und bleibt an jedem Tisch stehen, um die Kerze darauf anzuzünden. Die Getränkekühlschränke sind aufgefüllt. Die leeren Tische sind sauber.
Es ist November, heute Abend werden wir also keine Besucherrekorde erzielen. In der Gin Mill ist in der Skisaison und während des Indian Summer am meisten los. Auch im Sommer läuft’s ziemlich gut. Aber den November über herrscht Flaute, bis dann die Skigebiete aufmachen.
Heute Abend werden wir zwei Sorten Gäste haben: einheimische und die sogenannten Schaumnasen. Eine Schaumnase ist ein Biertourist, ein Verrückter, der Hunderte – oder sogar Tausende – von Meilen hergereist ist, um Vermonter Craft-Bier-Raritäten zu probieren.
Dieses Jahr sind sie alle scharf aufs Goldenpour von der Giltmaker-Brauerei. Mit einer 99-Punkte-Bewertung bei Beer Advisor ist es das neue Heady Topper – fantastisch, aber nicht zu bekommen. Man kann Pint um Pint hier in der Gin Mill trinken oder dienstagsmorgens zwei Stunden lang vor der Brauerei in Waterbury Schlange stehen. Da verkaufen sie einem dann genau zwei Sixpacks.
Zu meinem Glück und dem der Schaumnasen schenke ich das Goldenpour sechs Tage die Woche aus, genauso wie ein Dutzend weiterer seltener Vermonter Craft-Biere. Um das bekannt zu machen, habe ich das letzte Jahr damit zugebracht, jeden Bier-Blog und jede Reisewebsite zu kontaktieren, die es nur gibt, damit auch alle erfahren, dass die Gin Mill die Anlaufstelle schlechthin ist, wenn man die besten Sorten Craft-Bier probieren will.
Langsam zahlt sich das aus. Meine Bar ist an den Wochenenden abends immer voll, oft sogar unter der Woche.
Ich habe eine Bar eröffnet, weil ich wollte, dass in meinem Leben sieben Tage die Woche Party ist. Wie sich rausgestellt hat, kommt es einem allerdings nie so richtig wie Party vor, wenn man einen Laden besitzt. Trotzdem liebe ich es.
»Soll ich nachschenken?«, frage ich Hamish.
»Nee, ich hab noch«, sagt der Tischler. »Danke, Junge.«
»Also, welches Bier willst du auf deiner Feier servieren?«, frage ich. Er geht in den Ruhestand, und wir planen deswegen für nächsten Monat eine ordentliche Party.
»Goldenpour, wenn du das deichseln kannst. Wenn nicht, ist es aber auch okay.«
»Ich werd mal fragen. Wenn sie Nein sagen, bring ich was anderes Gutes mit.«
»Weiß ich doch.«
Als die Eingangstür aufgeht, gucke ich aus Gewohnheit rüber. Siebzig Prozent meines Umsatzes mache ich von Donnerstag bis Sonntag. Wenn ich auch noch Essen anbieten könnte, würde sich das etwas anpassen.
Schön wär’s.
Der Neuankömmling ist allerdings gar kein Gast. Es ist Chelsea von NorthCop, meinem Bierlieferanten. »Schönen Donnerstag, Hottie«, sagt sie. »Ich hab dir ein neues Lagerbier, ein IPL, mitgebracht.«
»Ja? Super.« Ich beuge mich über den Tresen, ziehe Chelsea in eine einarmige Umarmung und drücke ihr einen Kuss auf die Wange. Chelsea ist toll. Sie versorgt die Gin Mill nicht nur fortwährend mit ausgezeichneten Bieren, sie kommt danach auch noch richtig gern mit zu mir. Sie ist meine BMGV. Meine Bierlieferantin mit gewissen Vorzügen.
Ist mein Leben ein Traum, oder was?
»Chelsea – Hamish und ich möchten dich einladen.« Ich schnappe mir eine Karte von dem Stapel auf dem Tresen.
»Ach, willst du das?« Sie wirft mir einen aufreizenden Blick zu.
Hamish lacht laut los.
»Zu einer Feier. Hier.« Ich gebe ihr die Karte.
»Oh, cool.« Sie lächelt Hamish an. »Sie sind der Schreiner, richtig?«
»Genau«, sagt er. »Ich gehe in den Ruhestand. Na ja, sozusagen. Kann mir nicht vorstellen, komplett aufzuhören. Aber ich trete kürzer, damit ich auf Reisen gehen kann. Alec hilft mir, eine Ausstellung und eine Feier zu veranstalten.«
»Klingt gut«, sagt sie und steckt die Karte ein.
»Ich brauche diese Woche noch ein Fass mehr«, erkläre ich ihr. »Hamish wollte Goldenpour. Würdest du mal checken, ob wir eins zusätzlich kriegen können?«
»Klar!«, sagt sie munter, so wie es eben ihre Art ist. Chelsea und ich sind uns ziemlich ähnlich. Immer auf die nächste Party aus. »Hast du nachher Zeit?«, fragt sie und wackelt dabei zu Ed Sheerans »Shape of you«, dem nächsten Titel auf Beckys Playlist, mit dem Hintern.
»Selbstverständlich.« Für Chelsea habe ich immer Zeit. »Heute bin ich allerdings derjenige, der den Laden zusperrt.« Das bedeutet, dass ich hier nicht vor eins fertig sein werde, und manchmal passt es ihr nicht, meinetwegen so lange aufzubleiben.
»Hey – ich kann für dich zusperren«, bietet Smitty sich freiwillig an, während er noch ein Pint Goldenpour zapft.
»Klasse!« Chelsea strahlt. »Danke, Smitty!« Sie springt los, um ihrem Fahrer die Hintertür aufzumachen.
Hamish guckt zu, wie sie verschwindet. »Du wurdest gerade von deinem Barkeeper ausgenommen«, stellt er klar.
»Ist mir auch aufgefallen.« Ich sollte Smitty keine Überstunden bezahlen, nur damit ich mit meiner Bierlieferantin ins Bett springen kann. Aber Smitty weiß, dass ich nicht gerne Nein zu Chelsea sage.
Smitty ist ein anständiger Barkeeper. Meistens. Manchmal ist er allerdings aufdringlich und etwas durchgeknallt. Zu seinem Glück hab ich viel Verständnis für die Spinner dieser Welt. Und hey, es ist sowieso schon beschlossene Sache. Also belasse ich es dabei. »Dann hole ich wohl am besten so viel wie möglich aus dem Abend raus.«
»Oh, ich bin mir sicher, das wirst du.« Hamish leert sein Bier. »Ich mach die Fliege. Was hab ich auf dem Deckel?«
»Es gibt keinen«, teile ich ihm mit. »Heute Abend gehen deine Drinks aufs Haus.« Hamish ist original der Einzige, der regelmäßig von mir eingeladen wird. Als ich den Laden hier gekauft habe, war er mir eine große Hilfe. Er ist einfach eines Tages hier aufgetaucht, als ich gerade die Bruchbude inspizierte, die ich gekauft hatte, und Panik schob. Ich bin kein besonders guter Geschäftsmann. Aber Hamish hat mir haufenweise Tipps gegeben und mir geholfen, für die Renovierung gute Angebote von den Handwerkern einzuholen.
»Nacht, Mann!«, rufe ich ihm nach. »Danke, dass du mir beim Aufsperren Gesellschaft geleistet hast.«
»Danke, dass dir nie das Bier ausgeht«, sagt er mit einem Lächeln in den Augen.
Hinter mir taucht Chelsea wieder auf, und im Hintergrund lauert ihr Fahrer. »Alec, das Fass hier musst du sofort anstechen, okay? Ich habe dem Braumeister versprochen, dass du’s mal ausprobierst und Werbung dafür machst.«
Ach, hast du das? »Ich wechsele es nachher aus«, sage ich, obwohl das Umstände macht. »Stell’s irgendwo ab, Kevin.«
Lächelnd tanzt Chelsea zu Ed Sheeran und duckt sich dann wieder unter dem Tresen durch. »Den Song liebst du, oder, Alec?« Sie zieht mich nur auf, sie weiß nämlich, dass ich nicht auf schnulzige Musik stehe.
»So was von«, lüge ich, nur um den Spaß mitzumachen. »Die Nummer kriegt drei Schnipser in Form eines Z.« Ich schnippe mit den Fingern und schwinge die Hüften. Das mache ich manchmal, so als kleine Parodie auf InLivingColor, diese Sketch-Comedy-Sendung aus den Neunzigern. Chelsea ist zu jung, um die Anspielung zu verstehen, aber das ist ihr egal. Sie schenkt mir ein kehliges Lachen, das andeutet, dass wir später eine gute Zeit miteinander haben werden. »Jetzt lass mich mal meine Vorbereitungen beenden, damit ich mich dir zuliebe hier früh verabschieden kann.«
»Kann’s kaum erwarten«, sagt sie und wirft dabei ihr Haar nach hinten. »Hier unterschreiben, und schon geh ich dir aus der Bahn.«
Ich nehme das Klemmbrett und zeichne die Lieferung gegen. »Bis später, Hottie.«
»Bis später!« Sie geht.
Am anderen Ende des Tresens ist Smitty bereits in ein Gespräch mit einem weiteren weiblichen Gast vertieft. Er zeigt auf die Bierkarte und untermalt seine Erklärungen mit ziemlich vielen Gesten, womit er nur seine Tattoos in Szene setzen will.
Work hard, play hard. So läuft das bei uns in der Gin Mill.
Eine halbe Stunde später tanze ich allerdings nicht mehr. Als sich die Tische mit der Happy-Hour-Schar füllen, zapfe ich in Höchstgeschwindigkeit Getränke und versuche nur noch, der Nachfrage hinterherzukommen.
Der Job eines Barkeepers ist ziemlich simpel – Alk verkaufen und alle bei Laune halten. Der Job eines Barbesitzers dagegen ist stressiger. In letzter Zeit ist die »Party machen vs. sich Sorgen machen«-Quote schlechter, als mir lieb ist. Das Geschäft läuft gut, und die Bar ist voller Leute. Aber meine Gewinnspanne ist dünn, und ich hab nicht genug Geld, um ins Geschäft zu reinvestieren.
An den meisten Abenden verbringe ich ziemlich viel Zeit damit, die Menge zu beobachten und mir zu überlegen, welche Veränderungen den entscheidenden Unterschied ausmachen würden. Würde es was bringen oder eher schaden, wenn ich die Billardtische rausnehme und eine kleine Bühne für Bands aufbaue? Verlange ich zu viel für die Premiumbiere? Oder zu wenig?
Doch keine dieser Fragen werde ich heute Abend klären. Als ich die Gesichter in der Menge durchgehe, bleibt mein Blick an einem Paar in der Nische ganz hinten in der Ecke hängen. Es sind zwei Frauen, die einander tief in die Augen blicken. Sie waren letzte Woche auch schon da.
Eine der beiden kommt mir bekannt vor, aber mir fällt nicht ein, woher. Dabei vergisst ein guter Barkeeper niemals ein Gesicht. Das wird mich also die zweite Woche in Folge wurmen.
Ich mixe zwei Margaritas und schenke ein halbes Dutzend Biere ein. Nach jedem gucke ich noch mal in die Ecke. Die hübsche dunkelhaarige Frau hängt der kleineren an den Lippen. Die hat grau melierte, raspelkurze Haare, und ich habe sie bis letzte Woche noch nie gesehen. Die Dunkelhaarige kommt mir wie gesagt bekannt vor. Zu beobachten, wie sie der anderen Frau schöne Augen macht, stört mich irgendwie. Es fühlt sich falsch an.
Jepp, das macht mich verrückt.
»Alec«, sagt Smitty.
»Hm?«
Er starrt mich finster an, sodass sich sein gepiercter Nasenflügel bläht. »Zum dritten Mal: An welchen Zapfhahn soll ich das neue Lagerbier anschließen? Das IPL?«
»Ähm …« Ich seufze. »Wir haben ein neues IPL?«
Smitty zieht die Augenbrauen hoch. »Chelsea hat’s mitgebracht? Schon gut. Ich such einfach selbst einen aus. Ich werd eine ähnliche Sorte aussortieren. Dann müssen die Pfennigfuchser das gute Zeug trinken.«
Das wird wahrscheinlich zu einigen Beschwerden führen, aber jetzt gerade ist mir das egal. Ich bin schon wieder von dem Paar abgelenkt, weil die sich jetzt doch tatsächlich küssen.
»Hey – fährst du etwa auf die zwei Lesben ab?«, fragt Smitty. »Für so was gibt’s doch Pornos.«
»Oh, scheiße«, sage ich langsam. »Mir ist grad eingefallen, wer das ist.« Und tja, das sind keine guten Neuigkeiten.
»Ein Pornostar?«, fragt Smitty.
»Nein, du Depp. Ihr Name ist Daniela. Sie ist mit jemandem zusammen, den ich kenne. Sie wohnen zusammen.« Jedenfalls ist das mein letzter Stand. Genau solches Zeug kann ich mir gut merken – Namen und Klatsch. Ich war dazu bestimmt, Barkeeper zu werden.
»Oh, oh«, sagt Smitty.
»Ohne Witz.« Ich gucke noch einen Augenblick länger hin, nur um sicherzugehen, dass ich es mir nicht bloß einbilde. Aber ich kann ihre Zungen selbst von hier aus sehen.
»Sie betrügt ihren Kerl mit einer Frau?« Smitty kippt einen Eimer frisches Eis in den Behälter. »Ziemlich blöd, schließlich leben wir in einer Kleinstadt.«
»Sie betrügt eine Frau mit einer anderen Frau«, stelle ich klar. »Du kennst doch May Shipley?«
Smitty richtet sich auf und zeigt auf den Zapfhahn mit dem Shipley-Cider. »Wie die Shipleys hier?«
»Ja, genau. May ist Griffins Schwester.«
»Wirst du’s ihr sagen? Wozu? Ist ja nicht so, als wärst du ein Riesenfan der Shipleys.«
Er hat recht. Ich sollte es auf sich beruhen lassen.
Noch ein Haufen durstiger Leute schneit in die Bar herein, und ich verbringe die nächsten zehn Minuten damit, jede Menge Getränke auszuschenken. Jemand möchte einen Snake Bite – Hälfte Bier, Hälfte Cider –, also fülle ich ein halbes Pintglas mit Shipley-Cider. Der herbe Geruch nach Apfel erinnert mich an Highschoolzeiten, als ich den Shipleys gegen Ende der Saison immer dabei geholfen habe, ihre restliche Ernte einzulagern. Zehn Tacken die Stunde. Damals kam einem das wie ein Vermögen vor.
Dann schmiss August Shipley meinen Vater raus, und unser Leben wurde die reinste Hölle.
Schöne Zeiten.
Während ich wie auf Autopilot Getränke ausschenke und lächle, überlege ich, was ich wegen Mays untreuer Freundin machen soll. Vielleicht haben sie sich getrennt, und ich mache mir umsonst Gedanken?
Allerdings hat Smitty schon recht: Die Stadt ist klein. Von einer Trennung hätte ich wahrscheinlich gehört. Wenn es irgendwelchen größeren Aufruhr bei den Shipleys gegeben hätte, hätte meine Schwester das erwähnt.
Gott, ich hasse Leute, die fremdgehen. Soll ich May anrufen? Soll ich es ihrem Bruder gegenüber erwähnen, wenn ich ihn das nächste Mal sehe?
Nee, bei ihm nicht. Griffin würde mich wahrscheinlich nur für ein Klatschmaul halten. Wir sind nicht dicke miteinander. Schon zu Highschoolzeiten nicht, da waren wir erbitterte Konkurrenten. Und in letzter Zeit, seit er meiner Schwester das Herz gebrochen hat, erst recht nicht.
Komisch, über was man sich so alles Gedanken machen kann, während man Getränke ausschenkt.
Diese Frau, die da an Danielas Gesicht klebt – ich frage mich, wer sie ist. Und wie dämlich Daniela überhaupt ist?
»Du glotzt schon wieder.« Smitty lacht in sich hinein. »Aber es ist echt ziemlich scharf.«
»Darum geht’s nicht«, brumme ich. »Keine Ahnung, was ich machen soll.« Die Sache regt mich so richtig auf. Mein Hass auf Leute, die fremdgehen, ist noch größer als meine Abneigung gegenüber den Shipleys.
Außerdem ist May die Netteste von denen. Ein liebes Mädchen. Zurückhaltend. Nicht so selbstgefällig wie ihr großer Bruder.
»Kannst eh nicht viel machen. Und wer fremdgeht, wird sowieso immer erwischt.«
Während ich den Tresen abwische, denke ich darüber nach. Einerseits hat er recht, andererseits auch nicht. Manchmal kann ein Mensch etwas lange Zeit bewusst verdrängen. Meine Mom zum Beispiel. Wahrscheinlich hat sie immer gewusst, dass mein Dad durch alle Betten sprang. Aber obwohl er es nicht verdiente, hat sie es mit ihm ausgehalten.
»Das wird dich die ganze Zeit wurmen, oder?«
»Joah«, murmele ich.
»Gib mir mal dein Handy.«
»Wieso? Letztes Mal, als du’s hattest, hast du ein Foto von deinem Arsch auf meinem Instagram-Account gepostet.«
»Ist ein hübscher Arsch. Aber deswegen will ich es nicht haben, okay? Entsperr es einfach, und gib’s her.«
Wider besseres Wissen mache ich mit.
Smitty nimmt sich einen Lappen und geht langsam durch den großen Raum. In den Nischen der Backsteinwände flackern Kerzen. Leute unterhalten sich und lachen, während im Hintergrund Musik läuft. Der Laden sieht toll aus. Eine Bar aufzumachen ist nicht gerade das Gleiche wie Krebs zu heilen. Aber ich bin trotzdem stolz auf den Laden.
Als Smitty im hinteren Teil des Raums angelangt ist, wischt er mit der linken Hand einen Tisch ab und macht mit der rechten unauffällig ein Foto von Daniela und ihrer Affäre.
»Das war echt raffiniert«, sage ich, als er mir mein Handy zurückbringt.
Er zuckt mit den Schultern. »Raffiniert wäre, wenn ich auch noch ein Foto von meinem Arsch machen könnte, ohne dass du’s mitkriegst.«
Ich stopfe mein Handy in die Hosentasche, als sich eine Gruppe von vier Kerlen der Bar nähert. »Was darf’s sein, Gentlemen?«
Und mir nichts, dir nichts läuft der Wochenendbetrieb wieder auf Hochtouren. Zuerst sind alle Hocker an der Bar besetzt, dann alle Tische. Smitty macht die Getränkebestellungen so schnell fertig, wie sie unsere Kellnerin an die Tische bringen kann. Und ich tue, was eben so getan werden muss. Wenn du einen Laden hast, sieht dein Tag genau so aus.
Ich vergesse Daniela für eine Weile. Ich zapfe Bier, tausche Fässer aus und überrede meine Gäste, gute Vermonter Craft-Biere anstatt der Plörre zu nehmen, die sie trinken würden, wenn ich nicht so genial wäre. Die Ed-Sheeran-Mucke ist von einem alten Santana-Album abgelöst worden, und mir gefällt mein Leben wieder.
Bis ich sehe, wie die Eingangstür aufgeht und May Shipley auftaucht.
Mein erster Gedanke ist: Ach du Scheiße. Soweit ich mich erinnere, ist May bis jetzt erst ein einziges Mal in der Bar gewesen – bei der Eröffnungsfeier. Doch da steht sie, mit von der kalten Herbstluft geröteten Wangen.
Mein zweiter Gedanke ist: Seit wann sieht May Shipley denn so heiß aus? Sie trägt einen weichen Pulli, und ihre endlos langen Beine stecken in einer schwarzen Hose. Große Mädchen törnen mich echt an. Andererseits tun das viele Frauen.
»Hey Alec!«, sagt sie und winkt.
Ich reiße mich schnell zusammen. »Wow, May! Hab dich ja seit dem Sommer nicht mehr gesehen.«
Sie lächelt mich freundlich an, fängt dann aber an, sich in der Bar umzusehen.
»May«, sage ich in scharfem Ton. Ich hab gar keinen Plan, nur dass ich sie davon abhalten will, zu dem Verkehrsunfall hinten in der Ecke zu sehen. Das hat keiner verdient.
Aber es ist zu spät. Ich kann fast die Bremsen quietschen hören, als ihr Blick in der hintersten Ecke des Raums hängen bleibt. Sie versteift sich, als sie Daniela entdeckt. Und dann ballt sie die Fäuste. Sie beugt sich leicht vor, als würde sich vielleicht ein anderes Bild ergeben, wenn sie zehn Zentimeter näher dran ist.
»May«, versuche ich es noch einmal, als könnte ich irgendetwas sagen, was den Augenblick weniger schlimm machen würde.
Sie hört mich gar nicht. Stattdessen stampft sie los, schlängelt sich auf dem Weg zu der Sitznische durch die Menge.
Und jetzt setze ich mich ebenfalls in Gang, ducke mich unter dem Tresen durch und folge ihr, während ich mich frage, was gleich passieren wird. Ich habe May immer für die Ausgeglichene unter den Shipleys gehalten, doch jetzt sieht sie aus wie eine Wärmesuchrakete, die auf ein Ziel ausgerichtet ist.
»Du hinterhältige Schlampe!«, schreit sie, noch bevor sie überhaupt den Tisch erreicht hat.
Du liebe Güte. Ich bin gleichzeitig beeindruckt und alarmiert. Prügeleien kommen in der Gin Mill selten vor, aber jetzt gleich könnte alles Mögliche passieren.
Daniela erstarrt und reißt die Augen weit auf. Die andere Frau hat sie allerdings quasi im Schwitzkasten und probiert immer noch, Danielas Gesicht zu verschlingen. Diese versucht sich loszumachen. Allerdings kommt sie damit nicht weit, denn ihre Gespielin behält ihren Kopf in einem besitzergreifenden Manöver eingeklemmt.
»Lass mich los, Trace«, sagt Daniela, während May wutschäumend vor ihnen stehen bleibt.
»Nein«, knurrt die Fremde. »Scheiße, darum geht’s doch, oder? Ich will dich nicht loslassen. Du hast zuerst zu mir gehört. Du wirst immer zu mir gehören.«
Oh verdammt. Das Unglück lässt sich nicht aufhalten.
»Das ist ja so was von rührend«, spuckt May aus. »Bloß: Ich bin Danielas Partnerin und wohne mit ihr zusammen, mir hätte also jemand Bescheid sagen sollen.« May fasst nach unten und dreht Danielas Kinn, damit ihre zukünftige Ex sie wenigstens anguckt. »Pro-bono-Arbeit, hm? Jeden Donnerstag? Du bist erbärmlich!«
»Hey! Pass auf, was du sagst«, keift die Fremde. Sie hat eine Stimme wie unser uralter Margarita-Mixer – laut und knirschend. »Pfoten weg von meiner Freundin.« Daraufhin packt sie doch tatsächlich Mays Handgelenk und verdreht es heftig.
»Au!«, schreit May auf. »Du … Drecksfotze!«
Mir klappt die Kinnlade herunter, während May ihre Hand wegreißt und sie offensichtlich unter Schmerzen an sich drückt. Ich sehe Tränen in ihren Augen. Aber sie blinzelt sie schnell weg. Und dann …
Irgendwie ahne ich Mays Attacke voraus. Als sie losstürzt, tue ich es auch. Meine Arme sind länger als ihre, und ehe sie Danielas Affäre packen kann, nehme ich May schützend in die Arme. Oder besser gesagt, in eine menschliche Zwangsjacke. Sucht es euch aus. Ich ziehe May zurück, bevor sie etwas tun kann, was sie später bereuen wird.
May versteift sich in meiner Umarmung und guckt verwirrt über ihre Schulter nach hinten. Sobald sie erkennt, wer sie da geschnappt hat, stößt sie gefrustet die Luft aus. »Lass los«, krächzt sie.
»Die ganze Nummer ist richtig scheiße«, sage ich leise in ihr Ohr. »Aber wenn du dich prügelst und jemand die Cops ruft, könntest du festgenommen werden. Und das kommt bei Anwälten nicht gut, oder?« May hat nicht nur an der Boston University studiert, sie ist auch noch Anwältin.
Und, na gut, ich hab echt keine Lust darauf, dass jemand die Cops in meinen Laden ruft. Das ist nie gut.
Sie blinzelt einmal und scheint sich dann in meinen Armen zu entspannen. »Okay«, sagt sie leise.
Als ich sie loslasse, atmet sie wütend einmal tief durch. Dann dreht sie sich zu ihrer Freundin um. (Oder Ex-Freundin?) »Komm mir heute ja nicht nach Hause«, blafft sie in Danielas ungefähre Richtung.
»Wird sie nicht«, sagt die Bitch in der Sitznische. »Daniela sagt, du bist sowieso mies im Bett.«
Offenbar sind meine Ninja-Fähigkeiten doch nicht so gut, wie ich dachte, denn diesmal stürzt May los, bevor ich schalte. Die Ohrfeige, die sie der Fremden verpasst, schallt laut und deutlich durch den Raum. Falls irgendeiner meiner Gäste das Geräusch noch überhört haben sollte, entgeht bestimmt keinem das wütende Gebrüll der Fremden oder das Gewitter aus Beschimpfungen und Drohungen, das gleich darauf folgt.
Sie springt auf die Sitzbank der Nische, um an May heranzukommen, aber Daniela ist ihr im Weg, wodurch mir zwei, drei wertvolle Sekunden bleiben, um den Dritten Weltkrieg zu verhindern.
Das mache ich, indem ich May hochhebe – ihre ganzen ungefähr eins zweiundachtzig – und sie unter vollem Körpereinsatz zur Tür trage.
Die Shipleys sind alle groß. Zum Glück sind es die Rossis ebenfalls. Sie wehrt sich, aber nur kurz. Und ich bringe sie so schnell nach draußen, dass wir schon einen Augenblick später in der kühlen Novembernacht stehen und einander niederstarren.
»Heilige Scheiße! Das war …« May lässt den Satz offen.
»Kacke?«, schlage ich vor.
»J…ja«, keucht sie. »Scheiße. Ich bin so was von blöd. Ich hätte es schon längst merken müssen.«
»Ähm …« Sie ist definitiv nicht blöd. Diese Frau ist wild. Gerade weiß ich jedoch nicht so recht, wie ich ihr helfen soll. »Willst du mit hochkommen, und wir besaufen uns? Es kann manchmal ganz praktisch sein, eine Bar zu besitzen.«
»Verdammt.« May schluckt. »Das klingt gerade echt verlockend. Ich fürchte nur, meine Mentorin von den Anonymen Alkoholikern würde das nicht gutheißen.«
Anonyme Alkoholiker? »Verdammte Scheiße«, stammele ich. Habe ich gerade einer trockenen Alkoholikerin angeboten, sich zu betrinken? »Tut mir leid. Kacke. Ich …«
Sie hebt eine Hand. »Kein Grund zur Panik. Mir wird ständig Alkohol angeboten. Aber inzwischen lehne ich den ab.«
»Es tut mir leid«, stammele ich trotzdem noch einmal. Verdammt. Was bin ich nur für ein Arschloch.
»Für die meisten Leute wäre das kein lebensverändernder Vorschlag.« Sie blickt mich aus ihren hellbraunen Augen an. »Aber für mich ist es schlecht.«
»Okay.« Ich versuche mich wieder zu sammeln. »Kann ich dich dann irgendwohin fahren?«
May schließt die Augen und lehnt den Kopf gegen die Backsteinmauer meines Ladens. »Ich will sie nie wieder sehen.«
»Das glaub ich gern. Die Frau war eine fiese Bitch.«
»Ich meine Daniela«, sagt May und macht die Augen auf.
Ich habe auch Daniela gemeint. Aber ich bin klug genug, das jetzt nicht zu sagen. »Ihr zwei wohnt zusammen, oder? Brauchst du was zum Übernachten?«
May seufzt. »Ich habe was zum Übernachten. Meine Familie schmeißt ’ne Party, wenn ich Daniela verlasse und wieder zu Hause einziehe. Sie werden begeistert sein.« Dann glänzen Tränen in ihren Augen. »Scheiße.«
»Ooh.« Mayday! Wenn Frauen weinen, werde ich schwach. Also ziehe ich May in eine Umarmung. »Sag mir, wie ich helfen kann.«
Sie atmet einmal tief durch. »Du hast doch einen Pick-up, stimmt’s? Ich muss ausziehen. Kann ich mir deine vier Räder leihen?«
»Klar«, sage ich sofort. Aber ich kann eine weinerliche Frau nicht ganz allein aus ihrer Wohnung ausziehen lassen. Selbst wenn es sich um eine Shipley handelt. »Ich komme mit. Dann geht’s schneller. Hast du viele Möbel?«
»Nein.« Sie tritt einen Schritt zurück. »Die ganzen Möbel gehören ihr. Ich habe bloß Klamotten und Bücher.«
»Okay. Dann wird das ja ein Klacks.« Sie riecht nach Zitrone. Ich verpasse mir gedanklich eine dafür, dass mir das auffällt. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, um sich an May Shipley ranzumachen. »Gehen wir. Ich fahre.«
»Alec, das brauchst du wirklich nicht. Du müsstest jetzt doch bestimmt eigentlich hinterm Tresen stehen. Außerdem könnte ich meine Brüder anrufen.« Sofern das überhaupt möglich ist, sieht sie noch niedergeschlagener aus, als sie das sagt. »Die werden sich ihre Freude nicht verkneifen können.«
»Lass sie doch aus dem Spiel«, sage ich schnell. »Na komm.« Ich nehme ihre Hand und ziehe sie von der Mauer weg. »Du bist ja überhaupt nicht in der Verfassung zu fahren.«
Sie hat natürlich recht. Eigentlich müsste ich mit Smitty Getränke ausschenken. Er kommt da drinnen wahrscheinlich gar nicht mehr hinterher. Während May mir zum Pick-up folgt, hole ich mein Handy heraus, und richtig, ich habe schon eine Nachricht von Smitty.WTF? Wo steckst du?
Mit einem Piepton entriegele ich den Wagen und überlege. »Spring rein. Ich muss nur noch mal kurz telefonieren.«
Während May sich anschnallt, schaue ich hoch zu den hell erleuchteten Fenstern der Wohnung meines Bruders Benito. Da er zu Hause ist, rufe ich seine Nummer auf und wähle. »Hey«, sage ich, als er rangeht. »Ich hab heute Abend eigentlich Thekendienst, muss jetzt aber einer Freundin in einer dringenden Angelegenheit aushelfen.« Ich würde es ja erklären, aber das dauert zu lange. Außerdem weiß ich selbst nicht mal, warum ich May Shipley aus der Patsche helfe. »Könntest du gleich mal nach Smitty sehen? Gucken, ob er alle Hände voll zu tun hat?«
»Klar«, sagt Benito. »Wenn ich aufgegessen habe.«
»Danke. Ich schulde dir was.«
Wir legen auf, und ich texte schnell noch einem meiner anderen Barkeeper, um ihn zu fragen, ob er heute Abend eine Extraschicht übernehmen will. Dann lasse ich den Pick-up an und biege auf die zweispurige Landstraße nach Süden ein. »Du wohnst in Randolph, stimmt’s?«
May schreckt aus ihrer Benommenheit hoch. »Ja, tue ich. Nein … habe ich. Ich kann nicht fassen, dass es so endet.« Wieder steigen ihr Tränen in die Augen.
»Es tut mir wirklich leid. Fremdgehen ist das Übelste.« Mein Vater war der König der Fremdgeher. Ich habe miterlebt, wie er allmählich jede Selbstachtung meiner Mutter zerstört hat, bis er dann schließlich endgültig verschwand, als ich fünfzehn war.
»Alec, ich verstehe gar nicht, warum du mir hilfst.« Sie wischt sich über die Augen.
Ich zucke nur mit den Schultern, weil ich es auch nicht so richtig verstehe. »So machen Freunde das doch, nicht wahr?« Wobei May und ich nicht wirklich befreundet sind. Sie ist vier oder fünf Jahre jünger als ich. Wir waren nicht zur selben Zeit auf der Highschool, auch wenn ich damals mehr als genug von ihrem Bruder mitgekriegt habe.
May streckt eine Hand aus und legt sie auf meinen Unterarm. »Also … Ich bin dir wirklich dankbar. Wenn ich wieder etwas klarer im Kopf bin, backe ich dir als Dankeschön einen Apfelkuchen.«
»Siehst du? Ich wusste doch, dass ich dem richtigen Menschen helfe.«
Sie lächelt, doch das Lächeln erreicht ihre Augen nicht.
May
Während ich so auf dem Beifahrersitz von Alec Rossis Pick-up sitze, habe ich Probleme, zu begreifen, was eben gerade passiert ist. Zu sehen, wie Daniela eine andere küsst? Das hat unheimlich wehgetan.
Ich fühle mich, als hätte jemand einen Eimer eiskalten Matsch genommen und über mein ganzes Leben gekippt. Es ist gleichzeitig ernüchternd und … schmutzig. Und es kann auch nicht sein, dass die Sache heute Abend ein seltsamer Ausrutscher war. Daniela ist schon seit Wochen distanziert gewesen. Ich hatte mir schon gedacht, dass sie mir etwas verschweigt, nur nicht gewusst, was.
Außerdem hat mich meine Kampf-oder-Flucht-Reaktion fast genauso erschreckt wie der Moment, als ich Daniela beim Fremdknutschen erwischt habe. Heiße Wut brodelte in meinen Adern, als ich auf ihren Tisch zustürmte. Und als meine Hand Tracys Gesicht traf, gab das ein lautes, klatschendes Geräusch.
Mir ist peinlich, wie gut sich das angefühlt hat und dass es mir gerade überhaupt nicht leidtut. Genau genommen ist mir so einiges peinlich. Wie naiv ich Daniela mein Herz geschenkt habe, obwohl sie so ein schlechtes Benehmen hat. Wie anfällig ich mich für diese Art von Verletzung gemacht habe.
Und ausgerechnet vor Alec Rossi hat sich das abgespielt. Mit dreizehn war ich tierisch in ihn verknallt. Ich saß bei den Footballspielen meines Bruders immer ganz oben auf der Tribüne und beobachtete, wie Alec sich vor den Mädchen seines Alters aufspielte. Sie warfen die Haare nach hinten, drückten die Brüste raus und lachten, taten alles, um kurz seine Aufmerksamkeit zu gewinnen.
Ich kann nicht fassen, dass Alec Rossi gerade mitbekommen hat, wie mein Leben mir um die Ohren geflogen ist. Das ist wie das Sahnehäubchen auf einer Torte aus lauter Scheußlichkeiten. Als ich mir vorstelle, wie das für ihn ausgesehen haben muss, entfährt mir ein leises Stöhnen.
»Alles okay bei dir?«, fragt er von seinem Platz hinterm Steuer.
»Klar. Versuche bloß, den Schock zu überwinden.«
»Kann ich mir vorstellen. Sie sind mir eine halbe Stunde, bevor du reinkamst, aufgefallen. Wusste nicht, was ich davon halten sollte.«
»Echt? Du hast Daniela erkannt?« Ich bin ein bisschen erstaunt, dass er weiß, wer meine Freundin ist.
War. Verdammt.
»Ja. Ein guter Barkeeper vergisst niemals ein Gesicht. Leider muss ich sagen, dass sie letzte Woche auch schon in der Bar waren. Ich war mir nicht hundertprozentig sicher, ob ihr zwei noch zusammen seid. Aber heute hab ich ein Foto gemacht, weil ich es in Erfahrung bringen und dir vielleicht davon erzählen wollte.« Er fährt rechts ran, nimmt sein Handy aus dem Getränkehalter und entsperrt es. Dann gibt er es mir.
Und da sind sie. Es ist ein sehr gutes Foto von Daniela, wie sie Tracy küsst, ihre Ex. Und nun fällt mir noch ein fieses Detail auf. Daniela trägt einen sehr schönen schwarzen Angorapullover mit V-Ausschnitt. Jetzt geht es mir sogar noch schlechter.
»Igitt.« Ich gebe es ihm zurück. »Sie hatte den Pulli an. Fuck.«
»Was soll das heißen?«, fragt Alec. Er fährt zurück auf die Straße, und wir setzen unsere Fahrt fort.
»Den Pulli, den sie heute Abend anhatte, habe ich gestrickt.«
»Den hast du selbst gestrickt?«, fragt er. »Wow. Das nenn ich mal Dankbarkeit dir gegenüber.«
Ich seufze nur.
»Kommst du denn klar?«
Das ist eine gute Frage. »Das werde ich.« Sobald sich die wütende Gewitterwolke über meinem Kopf verzogen hat.
»Muss heftig gewesen sein, das zu sehen«, sagt er leise. »Ein Schock, oder? Der Liebeskummer kommt später.«
»Das ist es ja gerade …« Ich räuspere mich. »Ich weiß gar nicht, ob der kommen wird.« Als ich mich das gestehen höre, merke ich, dass es sogar stimmen könnte.
Alec wartet stumm darauf, dass ich weiterspreche. Während ich meine Gefühle zu sortieren versuche, betrachte ich, wie er mit seinen großen Händen das Lenkrad umfasst hält. »Das mit uns hat nicht funktioniert. Als Paar.« So. Ich habe es laut ausgesprochen. »Aber ich habe es gehofft. Ich wollte, dass es funktioniert. Und am Anfang war es schön mit Daniela.«
»Was ist dann passiert?«, fragt er.
»Na ja …« Über den Teil zu reden ist schwer. »Als wir zusammengekommen sind, mussten wir beide noch über jemand anderen hinwegkommen. Danielas Ex hast du gerade kennengelernt – Tracy. Bis heute Abend hatte ich sie noch nie persönlich gesehen. Aber Daniela hat mir direkt gesagt, dass Tracy ihr das Herz gebrochen hat.«
Alec lässt ein ungeduldiges kehliges Schnalzen hören. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich jemand bis über beide Ohren in diese Sch…« Er verkneift sich den Rest des Satzes. »Sie ist jemand, den ich lieber nicht kennengelernt hätte.«
»Ich auch nicht«, grummele ich. Aber vielleicht war es notwendig, sie auf diese Weise kennenzulernen. »Das Ding ist: Ich wollte wirklich nach vorn schauen. Aber ich glaube nicht, dass auch Daniela wirklich über Tracy hinwegkommen wollte. Deshalb hat es mit uns nicht funktioniert. Ich war bereit, mich in jemand Neuen zu verlieben, sie aber nicht. Nicht dass sie das besonders gut verpackt hätte. Sie war gemein zu mir, obwohl ich gar nicht das Problem war.«
»Autsch.«
»Ja.« Sie hat mich mehr als oft scheiße behandelt, und ich habe es einfach ignoriert. Zum ersten Mal richtig aus dem Ruder gelaufen ist es letzten Sommer, als sich Daniela auf der Hochzeit meines Bruders betrunken hat. Da hat sie meiner Familie und meinen Freunden gesagt, mit mir könnte man keinen Spaß haben.
Jetzt, wo ich so daran denke, fällt mir ein, dass Alec mich an dem Abend um einen Tanz gebeten hatte. Der ging zwar nur ein paar Minuten, aber trotzdem fühlte ich mich geschmeichelt.
Jetzt frage ich mich, ob ich ihm leidgetan habe.
»Ich habe es viel zu lange mit ihr ausgehalten«, sage ich. »Aber ich dachte, ich könnte auf sie warten – dass sie sich daran erinnern würde, wie viel Spaß wir am Anfang miteinander hatten, und dass ihr dann aufgehen würde, dass wir eine gemeinsame Zukunft haben könnten.«
»Alter«, sagt er. »Den Fehler machen viele – zu hoffen, dass es einfach so besser wird.«
»Vielleicht.«
»Meine Mom hat fünfzehn Jahre lang darauf gehofft.« Er biegt von der Landstraße ab.
»Bieg hinter dem zweiten Stoppschild rechts ab.«
Und da wird es mir klar. Heute werde ich wahrscheinlich zum allerletzten Mal das Haus betreten, in dem wir zusammen gewohnt haben. Wie kann das denn sein? Heute Morgen auf dem Weg zur Arbeit dachte ich noch, meine größten Sorgen wären mein langweiliger Job und die Frage, ob Daniela wohl daran denken würde, den Geschirrspüler anzuschalten, wenn sie ihre Müslischale reingestellt hat.
»Ich weiß gar nicht, wie ich das in den Kopf kriegen soll«, murmele ich. »Ich wollte heute Abend für uns kochen.«
»Tut mir leid, Süße«, flüstert Alec.
Als er in unsere Straße einbiegt, kann ich die düsteren Gedanken nicht zurückhalten. Meine Beziehung mit Daniela war zum Scheitern verurteilt, aber ich wollte es nicht sehen. Ich denke, sie hat den passiv-aggressiven Weg eingeschlagen – versucht, mich mit ihrem Mist wegzuekeln, damit sie nicht an der Trennung schuld wäre.
Solches Verhalten ist feige, und ich nehme sie nicht in Schutz dafür. Aber ich wünschte, ich hätte den Wink schon viel früher verstanden.
»Ist es hier?«, fragt Alec und stellt den Motor ab.
»Ja.« Gott, ich will nicht aus dem Auto aussteigen. Ich will mich nur im Fernsehzimmer meiner Familie unter einer Decke einkuscheln und verstecken. Am liebsten noch mit einem Krug Wein.
Aber man kriegt eben nicht immer, was man will. Und Alec wartet, ein besorgter Ausdruck liegt in seinen braunen Augen.
Also steige ich aus, setze einen Fuß vor den anderen, bis ich auf unserer kleinen Holzveranda stehe. Ich schließe auf und drücke dann den Daumennagel zwischen den Schlüsselring, um den Schlüssel abzumachen und hierzulassen.
»Bist du sicher, dass du nicht noch mal hermusst?«, fragt Alec mich. »Wegen der Post? Oder weil du irgendwas vergessen hast?«
Ich zögere. Er hat recht. Also behalte ich den Schlüssel.
»Stehst du im Mietvertrag?«, will er wissen. »Laufen irgendwelche Nebenkosten über dich?«
Ich schüttele den Kopf. Daniela hat schon hier im Haus gewohnt, bevor ich mit eingezogen bin.
»Gut. Dann ist der Teil unkompliziert.« Er streicht mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht und lächelt mich an. »Na, dann komm, sehen wir mal, wie schnell wir dein Leben ändern können. Hast du eine Reisetasche? Wenn die voll ist, gibt es immer noch das klassische Gepäck für eine niveauvolle Flucht aus einer Beziehung.«
»Und das wäre?«
»Müllbeutel.«
»Oh, Alec.« Ich schniefe, und dann lache ich.
Ich bin sechsundzwanzig Jahre alt, habe so eben mal Arbeit und bin kurz davor, meine Habseligkeiten aus dem Haus meiner Ex zu schleppen. In Müllbeuteln. Denn ich habe nur einen Koffer, und der wird schnell voll mit Jura-Lehrbüchern sein.
Alec drückt fest meine Schulter. »Lass uns loslegen. Zu viel drüber nachzudenken bringt jetzt nichts. Zeig mir, wo deine Bücher stehen. Du übernimmst die Klamotten.«
Wir machen uns an die Arbeit.
Wenn ich ein Dutzend Leute hätte aufzählen müssen, die mir vielleicht eines Tages dabei helfen würden, aus Danielas Haus auszuziehen, wäre Alec Rossi niemals mit auf dieser Liste gewesen. Aber ich verdränge, dass das der seltsamste Abend meines Lebens ist, und tue genau das, was er sagt. Ich packe meine Klamotten und Schuhe ein, während er meine Bücher in leere Kisten räumt, die ich in der Garage aufgestöbert habe.
Es geht schneller als gedacht, mein Leben von Danielas zu trennen.
Alec schleppt erst meine Bücher raus und dann meine Kleidung. Wir haben schnell meinen Wäschekorb, mehrere Einkaufstaschen und – klar – Müllbeutel gefüllt mit meinen Klamotten sowie einer Decke, die meine Mutter für mich gemacht hat.
Das Bett wirkt jetzt nackt. Ich hatte so einige schöne Stunden in diesem Bett, in denen ich meine bisexuelle Seite auslebte. Doch offensichtlich hatte Daniela auch so einige schöne Stunden in einem anderen Bett. Kein Wunder, dass sie schon seit einer Weile nicht mehr mit mir geschlafen hat.
Eine Minute lang stehe ich bloß da, starre auf die zerwühlten Laken und lasse den Schmerz durchsacken. Letzte Nacht habe ich mich eng an sie gekuschelt, als sie ins Bett kam. Aber Daniela drehte sich von mir weg, sodass ihre knochige Schulter wie eine Wand zwischen uns aufragte.
Als sie mich letztes Frühjahr gefragt hat, ob ich bei ihr einziehe, war ich so was von glücklich. Ich dachte, ich hätte endlich jemanden gefunden, der für immer zu mir gehören würde.
Bäh. Ich drehe dem blöden Bett den Rücken zu. »Gehen wir«, sage ich.
»Nicht so schnell«, sagt er und legt mir seine Hände auf die Schultern. »Zimmer für Zimmer, okay? Hast du irgendwelche Sachen im Bad?«
Er hat recht. In meiner Eile habe ich meine Kosmetiksachen vergessen. Ich bin nicht kleinlich – die neue Packung Tampons, die wir gerade gekauft haben, und das Shampoo lasse ich da. Ich nehme meine teure Feuchtigkeitscreme, meine Zahnbürste und meinen Föhn.
Daniela kann ihre Haare an der Luft trocknen lassen, verdammt.
»Was ist da drin?« Alec zeigt auf das zweite Schlafzimmer.
»Nicht viel.« Ich gehe rüber und mache die Tür auf, obwohl ich mir doof dabei vorkomme. Ich hatte mir ausgemalt, wir würden es irgendwann mal als Kinderzimmer brauchen. Ich wollte, dass wir ein kleines Mädchen aus China adoptieren. Wenn ich in letzter Zeit davon angefangen habe, hat Daniela das Thema gewechselt.
Ich habe jeden verdammten Wink von ihr übersehen.
Mein Blick huscht durch das größtenteils leere Zimmer, und gerade als ich die Tür schließen will, sehe ich meinen Strickkorb in einer Ecke. Er hat schon Staub angesetzt.
»Der gehört mir«, sage ich und hole ihn. Es stecken Wolle und Stricknadeln im Wert von mindestens zweihundert Dollar darin, aber ich habe seit Ewigkeiten nichts mehr gestrickt. Daniela hat mehr als einmal Witze über mein Alte-Oma-Hobby gerissen.
Verflucht sei sie. Warum hab ich überhaupt auf irgendwas gehört, was sie gesagt hat?
Weil du einsam warst, ruft mir mein Unterbewusstsein in Erinnerung.
Ach ja. Deswegen.
Alec nimmt mir den Strickkorb ab. »Dafür brauchen wir keinen Koffer«, sagt er. »Den stell ich auf den Rücksitz. Siehst du in der Küche nach?«
Auch dort muss ich ein paar Sachen einsammeln. Eine Kuchenform aus Keramik, die meiner Großmutter gehört hat. Einige Tassen, ein Nudelholz, das ich mit in die Beziehung gebracht habe. Das alles passt in eine Papiertüte.
Ich lasse ein ganzes aufgetautes Hähnchen im Kühlschrank. Heute wollte ich es uns zum Abendessen braten, aber jetzt wird es wahrscheinlich einfach vergammeln, jede Wette. Daniela hat nicht ein einziges Mal so für mich gekocht wie ich für sie. Sie hat sich nicht die Mühe gemacht, Mahlzeiten zu planen oder mich zu fragen, was sie mir beim Einkaufen noch mitbringen soll.
Das Hähnchen mitzunehmen wäre verrückt, oder? Wer nimmt ein aufgetautes Hähnchen aus dem Kühlschrank, wenn er auszieht?
Aber es ist bio. Es hat sechs Dollar das Pfund gekostet.
Das sind meine irren Gedanken, als ich Danielas neues iPhone auf der Arbeitsplatte liegen sehe. Sie muss es schon wieder vergessen haben, das kommt oft vor. Zu ihrer Verteidigung: Das Netz in Vermont ist so lückenhaft, dass Smartphones hier nicht so praktisch sind wie anderswo auf der Welt.
Ich nehme das Handy und entsperre es – mein Daumenabdruck ist abgespeichert, damit ich Musik aussuchen kann, wenn wir zusammen Auto fahren. Zum ersten Mal in elf Monaten Beziehung öffne ich den Messenger. Ich bin keine, die herumschnüffelt. Ich vertraue. Doch jetzt, wo mein Vertrauen zunichtegemacht worden ist, bin ich neugierig, wie lange ihre Affäre schon läuft.
Tatsächlich – direkt unter dem Chat mit mir ist einer mit »Trax«, wie Danielas Ex sich selbst nennt. (Ich weiß viel zu viel über diese Frau, was heißt, dass es am Ende so kommen musste.)
Ich lese nur die letzten paar Nachrichten, und schon wird mir schlecht.
Trax: Kann morgen gar nicht erwarten, Süße. Ich bin so scharf auf dich. Werde dich wieder zum Schreien bringen.
Igitt! Ich scrolle hastig nach oben, um mir zu bestätigen, dass die Nachrichten schon seit Wochen hin und her gehen. Doch ich scrolle zu weit, denn ich entdecke ein Foto von Daniela nackt auf unserem Bett. Sie hat die Beine gespreizt, berührt mit den Fingerspitzen leicht ihre …
Ich gebe einen entsetzten Laut von mir.
»Zeit zu gehen«, sagt Alec leise von seinem Platz an der Tür aus, wo er gegen den Rahmen gelehnt dasteht. Er sagt es nicht, aber ich weiß, dass er Wache schiebt. Er versucht, mich vor einer weiteren üblen Konfrontation zu beschützen.
Und das ist ein guter Anstoß. Ich bin hier fertig. Wirklich fertig. Mit einem Tastendruck schalte ich das Handydisplay aus. Doch das reicht mir noch nicht. Also mache ich die Spülmaschine auf, die Daniela vergessen hat anzustellen. Ich werfe das Handy in den oberen Korb, knalle die Tür zu und drücke auf START.
»Okay«, sage ich, als drinnen hörbar das Wasser zu rauschen beginnt. »Ich bin startklar.«
Alec steht wie festgefroren im Türrahmen und starrt mich an. Langsam gehen seine Mundwinkel nach oben. Dann entfaltet sich ein breites Lächeln auf seinem Gesicht. »Du bist saucool, May Shipley. Ich hab ein bisschen Ehrfurcht vor dir.«
Ich komme mir nicht saucool vor, als wir in Richtung der Farm meiner Familie in Tuxbury rollen. Ich komme mir nur vor wie eine Versagerin.
»Alles okay da drüben?«
»Ja. Sorry.« Ich bin eine schreckliche Gesprächspartnerin. »Versuche nur, alles im Kopf zu ordnen. Meine Familie wird mich nicht mit Samthandschuhen anpacken.«
»Was? Doch, bestimmt. Sie werden sich freuen, dich zu sehen.« Alec sagt es in einem beruhigenden Tonfall – so, wie man mit einer Verrückten spricht.
»Mag sein. Aber ich hab inzwischen so ziemlich den Ruf als die Verkorkste in der Familie weg. Wenn ich heute Abend in deinem Pick-up beladen mit meinen Sachen aufkreuze und wieder in mein altes Zimmer ziehe …« Ich stöhne, als ich mir nur vorstelle, was sie für Gesichter machen werden. »Es wird jede Menge mit den Händen gerungen werden, und sie werden wachsam beobachten, ob ich Anzeichen von Stress zeige. Ich bin die einzige Chaos-Queen in der Familie.«
Alec lacht in sich hinein. »Nein, du bist die einzige Anwältin der Familie, oder? Wenn du eine Chaos-Queen sein willst, musst du dir schon mehr Mühe geben.«
Das bringt mich zum Lächeln, denn mir gefällt Alecs Sicht der Dinge besser als meine. Leider liegt er falsch. Ich mag zwar eine der wenigen Shipleys mit Uni-Abschluss sein, aber ich bin auch die einzige Alkoholikerin. Manchmal behandeln sie mich, als hätte ich eine neuartige, potenziell tödliche Krankheit.
Ich schätze, sie haben recht damit.
»Es wird peinlich werden.« Ich seufze und stelle mir die ganzen mitfühlenden Blicke vor, die ich gleich ernten werde. Arme May. Sie hat sich schon wieder verrannt. »Weißt du, ich glaube, ich hab mich vor allem deshalb voreilig drauf eingelassen, mit Daniela zusammenzuziehen, weil ich nicht mehr von denen unter die Lupe genommen werden wollte.« Meine Familie kann schwer zu ertragen sein.
»Dann kommst du jetzt wieder unter die Lupe?«
»Ja.«
»Sieh’s mal positiv.« Er streckt den Arm aus und stupst mich mit seiner warmen Hand an. »Kostenlos wohnen und essen!«
Da sagt er was. Auf der Shipley-Farm musste noch keiner hungern.
Während die dunklen Meilen so vorüberziehen, kann ich jedoch nicht anders, als den fiesen Vorfall in Alecs Bar noch mal durchzugehen. »Es klingt vielleicht seltsam, dass ich mich so darauf einschieße«, grummele ich, »aber ich kann nicht fassen, dass sie diesen Pulli anhatte. Wenn du dich mit der ›Anderen‹ treffen würdest, würdest du dann einen Pulli tragen, den deine Freundin gestrickt hat, mit der du zusammenlebst? Ich hab hundert Stunden in das Teil gesteckt – und mindestens zweihundert Mäuse. Er ist aus Angora!«
»Gut, dass es kein Kaschmir war.«
»Ja, nicht wahr? Gott! Das wäre Garn im Wert von vierhundert Dollar gewesen.«
»Echt?«
»Absolut. Einen Pulli zu stricken kostet eigentlich mehr, als einen zu kaufen.«
Alec dreht den Kopf, um mir kurz einen Blick zuzuwerfen. »Wieso dann einen stricken? Mal ganz im Ernst.«
»Weil man ihn dann so gestalten kann, wie man will. Und auch aus Liebe. Selbst gemacht ist besser als gekauft.«
»Nicht immer«, wirft Alec ein. »Wenn du was probieren würdest, was ich gekocht habe, wärst du wahrscheinlich anderer Meinung.«
»Na gut.« Ich lächle sein attraktives Profil an. »Das wird sich jetzt blöd anhören …«
»Schieß los. Ich sag ständig blöde Sachen.«
»Es gibt da diese Altweibermär, dass man dem Mann seines Lebens keinen Pullover stricken soll. Es heißt, wenn man ihm einen strickt, wird er einen niemals heiraten.«
»Autsch.« Alec verzieht sein hübsches Gesicht. »Ich hoffe, das glaubst du nicht. Die ganze Sache war nicht deine Schuld.«
»Es hat nicht an dem Pulli gelegen«, sage ich schnell. »Natürlich nicht. Der Witz ist, dass sich der Aberglaube auf einen Mann bezieht. Ich hab noch gescherzt, dass es nichts ausmacht, wenn ich Daniela einen Pullover schenke, weil Altweibergeschwätz nicht für Lesben gilt.«
Alec lacht, und der warmherzige, fröhliche Laut erfüllt die ganze Fahrerkabine. Mein Leben ist gerade ein Scherbenhaufen, aber mit Alec lässt sich trotzdem ganz entspannt reden. Das muss ein Talent von Barkeepern sein. So wie bei Priestern. Bei ihm am Tresen zu sitzen und mit ihm zu quatschen ist bestimmt nett.
Zu schade, dass ich nicht mehr in Bars gehe.
Noch ehe ich bereit bin, fahren wir die Auffahrt zum Farmhaus meiner Familie entlang. Da fällt mir auf, dass lauter Autos am Weg parken. »Oh Mist.«
»Viel Besuch da heute Abend?«
»Heute ist das Donnerstagsabendessen.« Das ist ein wöchentlicher Familientermin. Er findet nicht immer bei uns zu Hause statt. Aber heute Abend? Natürlich schon. Und heute Mittag hab ich meiner Mom noch gesagt, dass Daniela und ich nicht kommen würden.
Ich stöhne erneut. Laut. Denn erst jetzt wird mir etwas klar.
»Was ist los?«
»Ich bin doof. Daniela ist wegen ihrer Pro-bono-Arbeit nicht mit mir zu den Abendessen gekommen. Aber es gab donnerstagsabends nie irgendwelche Arbeitsmeetings. Sie hat sich nur deshalb diesen Abend für ihre Treffen ausgesucht, weil sie es so vermeiden konnte, mit zu meiner Familie zu kommen.«
Dämlich, dämlich, dämlich.