Tumult auf der Dult - Petra Breuer - E-Book

Tumult auf der Dult E-Book

Petra Breuer

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Beschreibung

Im Jahr 1318 findet in Munichen am Anger die Jakobidult statt. Wie ein Magnet zieht dieses Fest die unterschiedlichsten Personen an. Weitgereiste Händler bieten wertvolle Waren feil und fahrendes Volk hält die Dultbesucher mit akrobatischen Darbietungen in seinem Bann. Das bunte und fröhliche Treiben nimmt jedoch eine plötzliche Wende und gerät außer Kontrolle. Die Zwillinge Anna und Ben befinden sich unerwartet inmitten dieses Tumults und greifen beherzt ein. In der Gegenwart erkunden Anna und ihr Opa den Alten Hof, die Alte Münze und den Jakobsplatz. Eine Sage und die Geschichte des Brezenreiters sowie ein liebevolles Geschenk auf der Auer Dult vollenden das spannende und informative Wochenende der beiden

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An der Entstehung dieses Buches waren viele Personen beteiligt.

Mein besonderer Dank gilt

Meinem Team

Meiner Familie

Meinen miteifernden Freunden

Frau M. Rychlá | Israelitische Kultusgemeinde München

Über die Autorin:

Petra Breuer ist als Autorin und Herausgeberin tätig. Sie schreibt bevorzugt Kinderliteratur mit geschichtlichem Hintergrund und entführt ihre Leserschaft mit kurzweiligen Abenteuergeschichten in die Gründungszeit Münchens. Ergänzt wird ihr Angebot durchein Schulklassenprogramm, Stadtführungen und Lesungen.

Weitere Informationen unter: www.phantasiereich.com

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung, der auszugsweisen Wiedergabe sowie der Übersetzung, sind vorbehalten. Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung der Autorin reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Medien verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Abenteuer in München

Band 3

Tumult auf der Dult

Mit Illustrationen von Nicole Teusler

1. Auflage 2014

© Phantasiereich Kinder- und Jugendbuchverlag, Aschheim

Alle Rechte vorbehalten

Illustrationen: Nicole Teusler,

www.pai-nt.de

Print-Layout: Nicoletta Edwards,

www.nicoletta-edwards.com

E-Book: Corinna Rindlisbacher,

www.ebokks.de

ISBN: 978-3-943814-22-4

Sie finden uns im Internet unter

www.phantasiereich.com

Inhalt

Erster Teil 1318

1. Schmerzhafte Rutenschläge

2. Ziegenbärtchen

3. Die Jakobidult beginnt

4. Der Bär ist los

5. Waren von der Seidenstraße

6. Dressierte Holzwürmer

7. Abrahams leise Tränen

8. Ludwig der Bayer gibt ein Fest

9. Der Brezenreiter

Zweiter Teil

10. Alle Menschen sind gleich

11. Der Alte Hof – Tierische Geschichten

12. Der St.-Jakobs-Platz – Traurige Geschichten

13. Die Auer Dult – Lustige Geschichten

Anhang

Stammbaum zur Orientierung

Begriffserklärung

Zeittafel

Wir backen Honiglebkuchen

Erkundungsziele für kleine Entdecker

1. Schmerzhafte Rutenschläge

Anna rutschte ungeduldig auf ihrem Stuhl hin und her. Wann verkündete der Schulgong endlich den Unterrichtsschluss? Heute kam aus ihrer Lieblingsreihe der dritte Band auf den Markt und sie konnte es kaum erwarten, die Lektüre endlich in Händen zu halten. Anna hatte sich schlauerweise schon vor Monaten beim Verlag dafür vormerken lassen, das Buch direkt mit der Post nach Hause geschickt zu bekommen. Und heute war es soweit. Endlich ertönte der Gong und alle Kinder stürmten nach Hause.

»Ist mein dritter Band da?«, rief Anna, ohne überhaupt ihre Mutter zu begrüßen.

»Hallo erstmal, meine Liebe. Ja, das Buch liegt schon für dich bereit. Wasche dir bitte noch die Hände und komm dann zu Tisch.«

»Was gibt es heute zu essen?«

»Spanferkelhappen mit Petersilienwurzelmus, Lammbissen im Senfmantel, gedünstetes Zicklein, Aal in Kräutertunke, gefüllte Forelle, Huchen in Salzkruste sowie Mäuchen in weißer Soße. Zum Nachtisch reiche ich dir Honigkuchen und Veilchenpudding sowie einen Pfurz-Kuchen.«

»Häää? Mama, waaaas gibt es?«

Annas Mutter grinste leicht.

»Ich habe ganz neugierig in deinem neuen Buch geblättert. Das scheint ja wirklich wieder sehr interessant zu sein. Und um dich jetzt ein bisschen auf die Schippe zu nehmen, habe ich dir diesen Bären aufgebunden.«

»Mann, du bist heute wieder sehr komisch«, brummte Anna, huschte mit noch feuchten Händen in die Küche und schnappte sich freudestrahlend ihr neues Buch.

Sie blätterte es hastig durch. Tatsächlich, es ging um wirklich tolle Münchner Themen aus der damaligen Zeit. Anna stolperte über das Wort »Brezenreiter« und staunte über eine große Zeichnung der Jakobidult.

»Aha, deswegen wohl der süße Honigkuchen«, lächelte Anna. »Diesmal wird über einen Jahrmarkt geschrieben.«

Sie durchforstete nochmals das Inhaltsverzeichnis und ihr Blick blieb an der Überschrift des Kapitels 7, Abrahams leise Tränen, hängen. Annas Spannung wuchs.

Schnell stopfte sie das Mittagessen in sich hinein, erledigte die Hausaufgaben in Windeseile und warf sich nach getaner Arbeit schwungvoll auf ihr Bett. Jetzt war den ganzen freien Nachmittag bis zum Abendbrot Lesen angesagt. Lesen, lesen und nichts weiter als lesen.

»Ben, konzentriere dich, sonst bekommst du die Birkenrute zu spüren. Du träumst heute bereits die gesamte Unterrichtsstunde vor dich hin.«

Schulmeister Adalbert Scholasticus schwenkte eine eng gebundene Rute aus Birkenzweigen drohend über dem Kopf seines Schülers. Ben zuckte leicht zusammen und verhielt sich still. Stefan schielte seinen Freund vorsichtig von der Seite aus an. Seit den frühen Morgenstunden saßen die Schüler in ihrer einfachen Schule auf dem kalten Lehmboden. Der Unterrichtsraum war karg ausgestattet. Das einzige Möbelstück bestand aus einem Stuhl mit hoher Rückenlehne, von welchem aus der Schulmeister mit strengem Blick seine Schützlinge überwachte. Der Raum hatte ein kleines Fenster, durch das der Wind etwas frische Luft hereinwehte. Zum Leidwesen der Kinder passierte dies jedoch auch zur kalten Jahreszeit. Nicht selten flogen Schneeflocken, Hagelkörner oder Laub ins Klassenzimmer. Von den Insekten ganz abgesehen, die natürlich auch etwas lernen wollten. Bei Starkregen wurden manchmal sogar das Gewand der Kinder sowie das ausgelegte Stroh auf dem Boden nass. Sonnenstrahlen fanden nur nachmittags den Weg in die kleine Räumlichkeit, denn direkt vor dem Haus stand ein großer, dicht beblätterter Baum, der viel Licht abhielt. Die Kinder saßen eng beieinander auf spärlich ausgestreutem Stroh. Eine Stunde nach Sonnenaufgang begann der Unterricht und er endete bei Einsetzen der Dunkelheit. Jedes der Kinder besaß mehrere Wachsplatten zum Schreiben und einen spitzen Griffel aus Holz oder Metall, einen sogenannten Stilus, mit dem sie Buchstaben oder Zahlen in das Wachs ritzten. Diese Wachsplatten waren sehr praktisch. Sie bestanden aus einem Holzbrett, das in der Mitte eine ausgehöhlte Vertiefung hatte. In diese Mulde wurde das Wachs gegossen. Die Schüler waren dadurch in der Lage, mit ihrem Stilus auf dem gehärteten Wachs zu schreiben. Abends nach der Schule wurde das Wachs wieder geglättet, sodass am nächsten Schultag eine unbeschriebene Tafel zur Verfügung stand.

Schulmeister Adalbert Scholasticus lobte wenig und schimpfte viel. Gelegentlich bekamen seine Schützlinge die Birkenrute zu spüren. War er schlecht aufgelegt, ließ er sich schmerzvollere Bestrafungen einfallen. Jeder seiner Schüler hatte Angst vor diesen Maßnahmen. Ständig fror der alte Lehrmeister, da er sehr dürr war. So trug er sommers wie winters mehrere Beinlinge übereinander sowie zwei langärmlige Oberkleider. Um seine Schultern legte er sich gerne ein wärmendes Schaffell. Beide Füße steckten in dicht gewalkten Filzschuhen, die er zusätzlich mit einem Haufen Stroh zudeckte. Seine alten, knöchrigen Finger tasteten permanent den langen Kinnbart ab. Schlohweiße Haare hatten sich in Form eines Kranzes um seinen Kopf formiert. Der Schulmeister war ein extrem strenger Mann, der bereits seit vielen Jahren die Kinder der wohlhabenden Bürger Munichens unterrichtete. Ausnahmslos der Nachwuchs der Mittelschicht, also Kinder von reichen Handwerkern sowie vermögenden Kaufleuten und Salzhändlern, hatten das Recht und das Geld, den Unterricht zu besuchen. Insgesamt 25 Schüler wurden von Adalbert Scholasticus in den Fächern Schreiben, Rechnen und Lesen unterrichtet. Zusätzlich stand noch Gehorsam, Ordnung, Sauberkeit und Fleiß auf dem Stundenplan. Es war ausschließlich Jungen gestattet, die Schule zu besuchen. Mädchen erhielten keinen Unterricht.

Seit vier Jahren ging Ben nun bereits in die Schule. Tagein und tagaus wurden das Schreiben aller Buchstaben sowie das Errechnen von Mengen oder Beträgen geübt. Permanent mussten sie ellenlange Texte auswendig lernen. Flink im Kopf sollten die zukünftigen Schulabgänger sein, unterstützten sie doch zukünftig ihre Eltern im Laden, auf dem Markt oder auf Reisen beim Handeln und Feilbieten der Waren. Lediglich in den warmen Sommermonaten wurde nicht unterrichtet. Viele der Kinder mussten dann zusätzlich noch bei der Ernte mithelfen. Jeder hatte Verwandte mit Feldern oder Obstbäumen, die abgeerntet werden mussten

»Aua, das tut weh!«, schrie Felix vor Schmerz auf.

»Dir werde ich es zeigen, aus dem Fenster zu schauen. Halte deinen Stilus über deiner Wachsplatte und löse die Rechenaufgabe!«

Erneut sauste die Rute auf den Rücken von Felix. Sein leises Wimmern war im Schulraum zu hören.

»Ab in die Ecke. Dort wirst du bis zur Dämmerung stehen bleiben.«

Felix erhob sich mühsam und schlurfte wütend in die Ecke. Mit einem heftigen Fußtritt schleuderte er die am Boden kauernde Ratte zur Seite.

»Wer nicht aufpasst, bekommt ebenfalls die Rute zu spüren. Los, ihr Nichtsnutze, jetzt wird gerechnet«, schimpfte der Schulmeister mit den Knaben und wedelte warnend seine Birkenrute, die schon so oft einen Schüler getroffen hatte.

»Meister Scholasticus«, unterbrach Emmeram die Stille. »Ich muss dringend austreten.«

»Das ist heute bereits das zweite Mal. Wenn du es dir wirklich nicht länger verkneifen kannst, so gehe vor die Türe. Aber beeile dich, hier wird nicht gefaulenzt.«

Emmeram erhob sich, hastete vor das Haus und machte mitten in die Gasse. Während er sein privates Geschäft verrichtete, wurde er, ohne es zu ahnen, von oben herab beobachtet.

»Psst«, kam es aus dem Baum gezischt.

Emmeram hielt inne und linste in das undurchsichtige Grün der Blätter. Nach einigem Suchen konnte er einen langen, blonden Haarzopf und ein Mädchengesicht erkennen. Da wusste er, wer oben im Baum kauerte und ihn beobachtete. Hastig zog er seine Beinlinge nach oben.

»Sag Ben, dass ich hier draußen auf ihn warte«, wisperte Anna Emmeram leise zu.

Dieser nickte fast unmerklich und huschte schnell in das Haus hinein, um dem Unterricht weiter zu folgen. Er wollte heute nicht noch einmal die Birkenrute zu spüren bekommen. Als er kurz Blickkontakt mit seinem Freund Ben hatte, nickte er verstohlen mit seinem Kopf in Richtung Fenster. Ben senkte daraufhin unauffällig seine Augen. Er hatte verstanden. Vor dem Haus, hoch oben im Baum, wartete seine Zwillingsschwester Anna auf ihn.

Anna legte ihr spannendes Buch zur Seite und holte sich das Telefon.

»Opi, du, stell dir vor! Ich habe heute den dritten Band aus meiner Lieblingsreihe ›Abenteuer in München‹ erhalten. Jetzt wollte ich dich natürlich fragen, ob …«

»Aber natürlich werden wir wieder munichen, meine Liebe«, unterbrach sie lachend Opa Leander. »Was denkst denn du?«

»Wann düsen wir los, zum Munichen, in die Innenstadt?«, rief Anna ganz aufgeregt.

»Wohin darf ich dich diesmal begleiten?«, wollte der Opa neugierig wissen.

»Äh, weiß ich nicht. Ich bin erst ganz am Anfang, im ersten Kapitel.«

»Na, dann schlage ich vor, du liest noch ein bisschen weiter. Du hast ja in der Schule sowieso nicht mehr viel Lernstoff, so kurz vor den Sommerferien. Wir werden uns dann alle interessanten Themen aus deinem Buch in der Innenstadt ansehen. Versprochen! Allerhöchstes Indianerehrenwort.«

»Bingo, das freut mich! Auf alle Fälle sind wieder Anna und Ben mit dabei, das konnte ich bereits herauslesen. Opa, du glaubst es kaum, Ben geht zur Schule und die Schüler werden mit einer Birkenrute geschlagen.«

»Ja, so was, das ist natürlich bedauerlich«, brummte der Großvater betrübt. »Gut, Anna. Ich schlage vor, du vertiefst dich wieder in deine Lektüre und meldest dich, wenn du Fragen hast oder ein Wochenende bei mir reservieren möchtest. Abgemacht?«

»Abgemacht, Opa. Ich freue mich schon so riesig. Mama und Papa schicken wir wieder weg in die Berge und du und ich werden munichen. Echt cool. Servus und bis bald«, flötete Anna überglücklich ins Telefon und beendete das Gespräch.

Adalbert Scholasticus hatte den Unterricht für heute als beendet erklärt und zog sich ein Stockwerk höher in seine Privaträume zurück. Die Sonne ging bereits unter, als die Knaben aus dem Schulhaus traten.

»Anna, wo bist du?«, rief Ben in die dichte Blätterdecke über ihm. »Bist du noch da?«

»Ich komme!«, rief seine Schwester und glitt flink am Stamm des Baums hinab.

»Auf geht’s, lass uns nach Hause laufen, ich sterbe vor Hunger.«

Ben verabschiedete sich von seinen Kameraden und lief mit Anna an der Stadtmauer entlang durch die engen und verwinkelten Gassen, über den Marktplatz und weiter bis kurz vor das Sendlinger Tor. Dort wohnten sie.

»Na, da seid ihr zwei ja endlich.« Die Mutter der Zwillinge breitete ihre Arme aus und empfing beide Kinder herzlich.

»Meister Scholasticus hat uns heute wieder geschlagen und unendlich lange mit blöden Rechenaufgaben gequält«, jammerte Ben.

»Sei froh, dass du eine Schule besuchen darfst. Anna ist es nicht gestattet. In drei Tagen sind die vier Schuljahre vorbei und du wirst die Rute des Schulmeisters nicht mehr zu spüren bekommen. In einer Woche, am Jakobitag, kannst du gleich an unserem Verkaufsstand auf der Dult deine Rechenkünste anwenden.«

»Mutter, hast ja recht. Die paar Tage schaffe ich jetzt auch noch«, pflichtete ihr Ben bei.

»Sag mal, Anna, hast du heute viel mitbekommen von deinem Baum dort oben?«, wollte die Mutter von ihrer Tochter wissen.

»Ja, schon. Heute konnte ich einigermaßen dem Unterricht folgen. Nur die letzte Rechenaufgabe habe ich einfach nicht verstanden. Ich werde später noch mit Ben oder Vater ein bisschen üben, denn ich will ja auch auf der Dult mithelfen«, gab Anna zurück.

»Nein, ihr beide geht lieber noch in den Stall. Der Braune muss von den Kletten befreit werden und ihr könnt ihm noch frisches Wasser bringen. Vorher wird aber noch eine Kante Brot und etwas Käse gegessen. Marsch an den Tisch, ihr zwei!«

Die Geschwister standen im Stall und kümmerten sich um Wiggerl, ihr Pferd, als der Vater zu ihnen kam.

»Kinder, stellt euch vor! Ich habe heute gehört, dass nächste Woche auf der Dult Fahrende kommen werden, und es soll sogar ein Bärenbändiger mit seinem Tanzbär dabei sein.«

»Ein Tanzbär? Was ist denn das, Papa?«

»Na, ein Bär, der tanzt.«

»Du erzählst uns doch jetzt eine erfundene Geschichte?«, fragte Anna ungläubig.

»Ich würde euch niemals anschwindeln«, versicherte der Vater mit ernster Miene. »Ich schlage vor, ihr vergewissert euch nächste Woche auf der Dult selber. Ihr werdet genügend Zeit haben, um ausgiebig den Marktplatz zu erkunden. Wenn ihr mir und eurer Mutter kräftig an unserem Stand aushelft, dann ist da sicherlich auch eine ausgedehnte Pause möglich. Ach, da fällt mir ein, Anna, bist du denn jetzt einigermaßen geübt im Rechnen?«

»Na ja, vom Baum aus bekommt man halt nicht alles mit. Ich muss bestimmt noch viel mehr lernen. Ben wollte mir ein bisschen dabei helfen. Vielleicht kann ich mit Mama auf der Dult den Verkauf übernehmen und du und Ben nehmt die Silbermünzen entgegen und zahlt das Restgeld aus.«

»Das können wir sicherlich so machen. So, jetzt aber hinein mit euch ins Haus. Es ist Schlafenszeit.«

2. Ziegenbärtchen

»Ben, aufstehen! Der Hahn hat gekräht und die Sonne schickt ihre ersten Strahlen. Mach dich fertig für deinen letzten Schultag«, hörte Ben aus weiter Ferne die Stimme seiner Mutter ans Ohr dringen.

Schlaftrunken schlüpfte er in seine Beinlinge und sein Überkleid und löffelte etwas Hafergrütze aus einer Schale. Anna blinzelte ihren Bruder an.

»Soll ich mich heute auch noch einmal in den Baum setzen? Vielleicht verstehe ich dann die Rechenaufgaben?«

»Nein, Anna, ich werde dir noch vor Beginn der Jakobidult diese komplizierte Rechnung beibringen. Du wirst sehen, dass du das auch im Gras liegend und nicht auf dem Baum sitzend schaffst«, grinste Ben.

Er schnappte sich seine am Vorabend geglätteten Wachstafeln und band diese an seinem Gürtel fest. Dann verließ er das Haus in Richtung Schule. Sein letzter Schultag begann gleich.

»Du Taugenichts«, schrie Schulmeister Scholasticus den völlig erschrockenen Emmeram an. »Ich werde dir zeigen, was passiert, wenn du nicht aufpasst und lieber zum Fenster hinaussiehst.«

Die Birkenrute klatschte auf Emmerams Finger. Dieser schrie heftig auf und versuchte, seine Hände schnell wegzuziehen, um sie in seinem Schoß zu verbergen. Mit dieser automatischen Reaktion reizte er jedoch den Lehrmeister noch mehr.

»Na warte, du undankbares Geschöpf. Zur Strafe wirst du an deinem letzten Schultag Buße tun und bis zum Ende des Tages auf Kirschkernen knien.«

Scholasticus schlurfte geräuschvoll in seine Kammer im oberen Teil des Hauses und holte eine Kiste mit getrockneten Kirschkernen. Vor Emmerams Füße legte er ein dickes Holzbrett auf den Boden. Darauf verstreute er geschickt die Kerne.

»So, du kniest jetzt auf den Kirschkernen. Wenn ich ein Jammern von dir höre, schlage ich dich zusätzlich mit dem Rohrstock auf deinen nackten Hintern. Dir werd ich’s zeigen!«, rief der Schulmeister, packte den armen Schüler links und rechts an den Schultern und drückte ihn in die Knie, bis er auf den Kernen aufkam.

Dicke Tränen rollten über Emmerams Wangen. Seine Mitschüler hatten großes Mitleid, tauschen wollte aber keiner mit ihm. Alle wussten, dass Scholasticus noch getrocknete Erbsen und, wenn er besonders grimmig aufgelegt war, sogar kleine Kieselsteinchen hatte, die er nur allzu gerne aus seiner Kammer holte, um die Kinder zu peinigen.

»Ben, wie lautet die Lösung zu meiner Rechenaufgabe?«

»Meister Scholasticus, das Ergebnis lautet: 25 Körbe voller Schafwolle«, kam die überzeugte Antwort.

»Du bist ein Schaf. Kannst du denn nach vier Jahren Schule immer noch keine Rechenaufgaben korrekt lösen?«, wetterte der Schulmeister erzürnt und klatschte mit seiner flachen Hand auf die Armlehne des Stuhls.

Plötzlich schnellte Scholasticus von seinem Sitzmöbel hoch und kam die wenigen Schritte auf Ben zugeeilt, bückte sich nach unten und umklammerte mit seinen knöchrigen Fingern beide Ohren des völlig überrumpelten Schülers. Sodann zog er den armen Jungen in die Höhe, währenddessen er kräftig Bens Kopf hin und her rüttelte.

»Du armseliges Würmchen. Stell dich in die Ecke! Für dich ist der Unterricht hiermit für immer beendet.«

Ben zog seinen Kopf zwischen den Schultern ein und schlich traurig in den Winkel gegenüber dem Fenster. Vorsichtig tastete er mit seinen Fingern die schmerzenden Ohren ab, die wie das Johannisfeuer vor fast einem Monat brannten. Traurig blickte er zu Boden und hoffte, dass sein allerletzter Schultag keine weiteren bösen Überraschungen mehr brachte.

Völlig schockiert legte Anna das Buch auf die Bettdecke und berührte behutsam ihre beiden Ohren.

»Mann, wenn Frau Birnbaum das auch mit uns Schülern machen würde! Nicht auszudenken, was das für Konsequenzen hätte. Im alten Munichen war das wohl damals so üblich. Kaum zu glauben.«

Anna ging in die Küche zu ihrem Vater. Er war gerade hungrig von der Arbeit nach Hause gekommen und beugte sich neugierig schnuppernd über den geöffneten Kochtopf.

»Mmh, Anna. Was du immer für tolle Mahlzeiten von deiner Ma gekocht bekommst. Putencurry mit Reis. Einfach göttlich. Ich möchte auch einmal so verwöhnt werden.«

»Apropos verwöhnen, Papi. Wurden denn wirklich die Schüler damals in der Schule geschlagen?«

»Ja, das war früher eine ganz normale Erziehungsmethode. Auch mich hat mein Lehrer noch an den kleinen Kotelettenhärchen hier gezogen, wenn ich unartig war.«

Er deutete mit dem Zeigefinger auf die kurz geschnittenen Haare, die schräg oberhalb seiner Ohren wuchsen.

»Grässlich, das muss ja entsetzlich wehtun, oder?«

Ihr Vater nickte und schob sich schnell einen weiteren Löffel Reis in den Mund.

»Ich glaube, ich lese noch das Kapitel zu Ende. Bin ja mal gespannt, wie die Geschichte weitergeht. Im alten Munichen ist in ein paar Tagen nämlich Jakobidult und das wird bestimmt spannend zu lesen sein. Die Zeichnung auf dem Buch vorne macht mich so neugierig, du ahnst es nicht, Daddy.«

Anna verschwand gutgelaunt in ihrem Zimmer. Jetzt war bis zum Abendbrot nur eins angesagt, und das war weiterlesen!

Es wurde dunkel und die Schüler trotteten aus dem Schulraum hinaus in die Gasse. Zwei von ihnen hielten Emmeram stützend in ihrer Mitte, denn er konnte weder gehen noch stehen. Seine ausgestreckten Arme lagen auf den Schultern der Kameraden links und rechts. Sein Kopf hing kraftlos nach unten und die Fußspitzen schliffen über den Boden.

»Hierher zu mir«, rief Anna und führte den Braunen ganz nahe an den Hauseingang.

Anna hatte am Nachmittag vom Baum aus die Bestrafungen verfolgt. Es war nicht das erste Mal, dass sie nach Schulschluss mit dem Pferd vor dem Gebäude stand und einem geschundenen Schüler nach Hause half. Diesmal war es Emmeram, der vor Schmerzen nicht mehr gehen konnte. Sofort verteilten sich die Schulfreunde um Emmeram herum und gemeinsam hievten sie den vor Schmerzen wimmernden Jungen auf den geduldig wartenden Gaul. Als der Gequälte endlich bequem auf dem Rücken von Wiggerl saß, zogen die große Schar Kinder sowie das Pferd zu ihm nach Hause los. Sie gingen entlang der Herrscherresidenz der Wittelsbacher, der sogenannten Veste, und bogen dann in eine schmale Gasse, die entlang der Innenseite der Wehrmauer führte.

»Ich bin so froh, dass ich den gemeinen Meister Scholasticus nun nicht mehr sehen muss«, stöhnte Ben und langte sich an seine immer noch schmerzenden Ohren.

»Ich möchte mich am liebsten an ihm rächen«, schimpfte Felix. »So gemein kann doch niemand sein. Sogar am letzten Schultag quält der uns noch stundenlang.«

»Wir sollten wirklich Vergeltung üben, Felix hat recht«, gab Matthias von sich. »Wer hat eine Idee, mit was wir ihm so richtig die Laune verderben könnten?«

»Vielleicht sollten wir einen Kübel Schweinemist von unserer Toni und ihren Ferkeln in sein Klassenzimmer kippen?«, schlug Rudolf vor.

»Ein Kübel reicht nicht. Jeder von uns sollte einen Eimer mitbringen«, konterte Ulf.

»Hat noch jemand einen Geistesblitz?«, fragte Ben in die Runde.

Nach einiger Zeit lachte Valentinus lauthals auf und fing vor Freude an herumzuhüpfen.

»Los, sag schon, was ist dir eingefallen?«, drängten ihn seine Mitschüler.

»Wie wäre es, wenn wir dem Meister Scholasticus seinen Ziegenbart nachts heimlich abschneiden?«

Schallendes Gelächter war die Antwort der Kinder. Der Lehrer liebte nämlich sein Bärtchen, das er den ganzen Tag über antastete und abfühlte. Dadurch hatte es die Form einer langen Rübe erhalten. Sein Bart war bei vielen Bürgern in ganz Munichen bekannt. So kam es nicht von ungefähr, dass des Schulmeisters Spitzname »Ziegenbart« war.

»Das finde ich einen genialen Einfall!«, rief Emmeram vom Pferderücken herab.

»Ja, da mach ich mit!

- Ende der Buchvorschau -

Impressum

Texte © Copyright by Petra Breuer Ueberreiterstr. 7 85609 Aschheim [email protected]

Bildmaterialien © Copyright by Petra Breuer

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN: 978-3-7394-0026-6