Vor dem Tor lauert Gefahr - Petra Breuer - E-Book

Vor dem Tor lauert Gefahr E-Book

Petra Breuer

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Beschreibung

Im Jahr 1183 leben Anna und Benedictus glücklich mit ihren Enkelkindern in der aufstrebenden Siedlung apud Munichen. Ein sicherer Mauerring und bewachte Einlasstore schützen die Einwohner zu jeder Tageszeit. Davon lassen sich die unternehmungslustigen Kinder jedoch nicht abhalten und stürzen sich mitten in der Nacht in ein spannendes Abenteuer. Sie retten Leben und geraten dabei selbst in große Gefahr. In der Gegenwart erkundet Anna mit ihrem Opa die heute noch vorhandenen Stadttore sowie Reste des zweiten Mauerrings. Angereichert werden die Erzählungen des Großvaters durch Sagen und Anekdoten.

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Weitere Bücher von Petra Breuer aus der Reihe

»Abenteuer in München«

Band 1: Der Angriff des Löwen

Band 3: Tumult auf der Dult

Band 4: Rätsel um die Morisken

Band 5: Der geheimnisvolle Fund

Band 6: Mysteriöse Botschaften

Alle Titel sind auch als eBook erhältlich

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung, der auszugsweisen Wiedergabe sowie der Übersetzung, sind vorbehalten. Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung der Autorin reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Medien verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Impressum

2. überarbeitete Auflage © 2019

© 2013 Phantasiereich Kinder- und Jugendbuchverlag, Aschheim

Inh. Petra Breuer

Alle Rechte vorbehalten

ISBN: 978-3-943814-12-5

Illustrationen: Nicole Teusler,

www.pai-nt.de

Layout: Achim Schmidt,

www.graphische-konzepte.de

Unser gesamtes Programm sowie viele weitere Informationen finden Sie im Internet unter www.phantasiereich.com

Inhalt

Erster Teil

1. Auf dem Flohmarkt
2. Kohlrabi
3. Wie alles begann
4. Buntes Markttreiben
5. Die Nachricht des Boten
6. Korbmacher und Besenbinder
7. Sonderbare Gestalten
8. Auf der Mauer
9. Auf der Lauer
10. Der junge Herrscher
11. Glück gehabt
12. Vollmondnacht

Zweiter Teil

13. Das Gutenachthupferl
14. Isartor und Mauerreste
15. Tal und Talburgtor
16. Marktplatz und Kufringergasse
17. Neuhauser Tor und Sendlinger Tor
18. Handwerker und Händler
Anhang

1. Auf dem Flohmarkt

An einem Spätnachmittag im Juni schlenderte ein älterer Herr mit seiner Enkelin Anna über den Flohmarkt. Es war ein perfekter Tag für einen Bummel, denn die Sonne schien angenehm warm und es wehte ein mildes Lüftchen. So war es nicht verwunderlich, dass viele Flohmarktbesucher in bester Kauflaune waren und mit vollbeladenen Taschen und Tüten den Heimweg antraten. Auch Anna hatte bereits ein paar Kleinigkeiten erstanden. Besonders freute sie sich über eine türkise Teedose aus England. In einer größeren Tasche befanden sich die Schätze von Opa Leander: ein wunderschöner Bilderrahmen aus Kirschholz, ein alter Globus in der Größe einer Orange sowie ein alter Füller, den er sich schon immer gewünscht hatte. Nun waren beide hungrig, wollten nach Hause und schlenderten in Richtung Trambahn. Plötzlich blieb Anna abrupt stehen, deutete mit dem Zeigefinger auf einen Tisch und rief aufgeregt:

»Schau mal, Opi, da vorne! Ich habe ein Buch entdeckt, das so ähnlich aussieht wie das, das du mir kürzlich geschenkt hast! Du weißt schon, das über die Gründung Münchens. Lass uns bitte sofort da hingehen.«

»Wenn du meinst. Das Buch würde sogar noch in unsere Tasche passen«, schmunzelte der Großvater.

Die beiden näherten sich einer Mutter und ihren Zwillings­kindern. Auf ihrem Verkaufstisch lagen unterschiedliche Dinge, wie große Teller, alte Pfannen, zwei Kerzenleuchter aus Holz, gut erhaltene Kinderbekleidung, ein Puzzle, Spielzeug, diverse CDs und DVDs sowie viele Bilder- und Lesebücher. Anna griff nach dem Buch, das sie erblickt hatte.

»Mensch, Opi, ich glaub’s nicht!«, rief sie überschwänglich.

»Das ist tatsächlich der zweite Teil aus der Reihe ›Abenteuer in München‹. Da! Schau dir das mal an!«

Opa Leander nahm das Buch, blätterte neugierig darin und gab es mit einem Lächeln auf den Lippen wieder zurück.

»Das ist unser Lieblingsbuch und wir haben zwei davon. Zwillinge werden manchmal doppelt beschenkt und deswegen verkaufen wir jetzt ein Exemplar«, erklärte das Mädchen.

»Meine beiden Kinder würden am liebsten den ganzen Tag nur lesen. Besonders diese spannende Reihe über München. Ich kann dir das Buch wärmstens empfehlen. Bist du auch so lesebegeistert?«, wandte sich die Mutter lächelnd an Anna.

»Ja, bin ich schon. Worum geht es im zweiten Band?«

Diesmal antwortete der Junge. »Im Folgeband geht es um die stark wachsende Siedlung ›apud Munichen‹. Du erfährst sehr viel über die Stadtmauern und Einlasstore, den Handel und das Handwerk. Dieses Buch hat uns noch mehr gefesselt als der erste Band, denn Anna und Ben erleben eine unglaubliche Geschichte mit einem Kohlrabi.«

»Kohlrabi?«, fragte Anna zögerlich.

»Ja, vertrau mir! Du wirst das Buch lieben. Wenn dir der erste Teil genauso gefallen hat wie uns beiden, hörst du mit dem zweiten Band nicht mehr zu lesen auf. Versprochen!«

»Ja, das kann ich bestätigen«, stimmte seine Schwester ihm zu.

»Anna, das musst du unbedingt kaufen und zu Hause neben den ersten Band ins Regal stellen. Wer weiß, vielleicht ist irgendwann das Bücherbord voll mit dieser Reihe«, drängte Opa Leander seine Enkelin.

»Wie viel soll es denn kosten?«, fragte Anna.

»Ach, weißt du was? Wir schenken es dir. Es macht uns Freude, eine Gleichgesinnte gefunden zu haben«, antwortete das Mädchen und grinste.

»Wow, cool ... das ist ja fast wie Weihnachten ... äh, … Tausend Dank ... äh, ... jetzt muss ich aber los«, stotterte Anna hocherfreut und ergänzte: »Ich glaube, ich bin vom Lesevirus befallen und muss sofort nach Hause in mein weiches Bett.«

Anna nahm ihr Geschenk entgegen, lächelte den Geschwistern glücklich zu und trieb ihren Großvater an. Sie wollte nach Hause, um zu lesen – und das nicht später, sondern sofort. Eine lächelnde Mutter und ein verschmitzt dreinschauendes Zwillingspärchen sahen den beiden hinterher.

2. Kohlrabi

Die alte Anna spielte mit der Zunge an ihrem letzten, stark wackelnden Zahn.

»Bald wird er ausfallen«, dachte sie traurig und ließ ihre Schultern hängen. »Wie soll ich dann überhaupt noch kauen?«

Sie griff mit der linken Hand in den Futtereimer, um die bettelnden Enten mit Körnern zu versorgen. Ein aufgeregtes Geschnatter machte sich breit, denn auch die verfressenen Hühner versuchten, ein paar Leckerbissen abzubekommen. Anna scheuchte den Gockel um die Ecke. Da erblickte sie ihren Mann Benedictus, der sich mühevoll auf seinen Gehstützen näherte. Er kam von der Brücke, die über die Isar führte.

»Bist du hungrig, Benedictus? Ich habe Suppe gekocht.«

»Nein, Anna, danke. Ich habe heute auf dem Markt von einem italienischen Händler einen besonders würzigen Hartkäse namens Parmitschaaanoo probiert und ich bin immer noch satt. Hier sind ein Paar Stückchen für dich.«

Seine Frau nahm den Käse entgegen, schnupperte neugierig daran und ging ins Haus, um die Gemüsesuppe umzurühren.

»Gut, dann esse ich jetzt ein paar Löffel Suppe – solange es halt noch geht.«

»Was meinst du damit, Anna?«

»Ja mei, mein letzter Zahn im Mund wackelt so narrisch hin und her, der fällt bestimmt bald aus«, rief sie nach draußen.

»In unserem Alter ist das normal, dass die Zähne ausfallen. Schau in meinen Mund, da sind noch fünf Stumpen übrig«, versuchte Benedictus sie zu trösten.

Anna nahm sich eine Holzschale, füllte Suppe hinein und bröselte die Käsereste darüber. Dann löffelte sie genüsslich ihr flüssiges Mittagessen.

Plötzlich stürmte ihre Enkelin Klein-Anna in die Stube und rief: »Oma, Oma, rate mal, was Ben und ich gefunden haben!«

»Ja, was denn?«, fragte die alte Anna neugierig.

»Komm raus und schau es dir an.«

Die Großmutter schlurfte vor die Tür und staunte, denn ihr Enkel Ben hatte ein winziges Vögelchen in seinen Handflächen sitzen.

»Was ist denn das?«

»Na, was wohl, Oma! Ein kranker Singvogel. Die Vogelfänger wollten ihn einfangen, haben dann aber ihre Leimrute vergessen. Der arme Vogel klebte mit seinem Gefieder daran und konnte sich nicht mehr befreien. Ben und ich haben ihn ganz vorsichtig abgenommen und jetzt wollen wir uns um ihn kümmern.«

»Ja, Oma, ganz gemeine Vogler waren das«, bekräftigte Ben die Schilderung seiner Zwillingsschwester Anna.

»Benedictus, komm doch bitte zu uns und schau dir das mal an«, rief die alte Anna ihren Mann herbei.

Dieser humpelte um die Ecke und fragte neugierig: »Was ist denn los?«

»Einen fluglahmen Vogel haben die beiden angeschleppt. Was sollen wir damit machen? In die Suppe werfen?«

»Das wirst du nicht wagen, Oma!«, riefen die Geschwister entrüstet.

»Anna, das kannst du wirklich nicht machen«, pflichtete der Opa den Kindern bei. »Erstens hast du nur noch einen Zahn und mit dem nagt es sich recht schwer an einem dürren Vogel, und zweitens hast du doch ein weiches Herz, oder?«

Die Kinder sahen ihre Großmutter fragend an. »Oma, was ist denn in dich gefahren? Du bist doch sonst immer so tierlieb!«

»Ich denke, sie ist grantig, weil sie in Zukunft ihr Essen lutschen muss«, lachte Benedictus und duckte sich gerade noch rechtzeitig, denn ein hölzerner Kochlöffel kam direkt auf seine Stirn zugesaust.

»Ist ja schon gut, Anna. Ich werde dem Vögelchen einen Käfig bauen. Dann wird dir sein Gesang den Tag versüßen.«

»Wie soll denn der Piepmatz heißen?«, wollte Oma Anna wissen.

Die Kinder sahen sich ratlos an.

»Hm, darüber haben wir uns noch keine Gedanken gemacht. Wir denken uns gleich einen Namen aus«, schlug Ben vor.

»Ich bin für Piepmatz«, platzte die alte Anna heraus.

»Nein, der Name klingt nicht schön. Wie wäre es mit Flügelchen?«, fragte Ben. »Das ist doch ein passender Name für unseren kranken Vogel, oder?«

»Ihr müsst schon einen Namen finden, der auch zu seinem Aussehen passt«, schlug Benedictus vor.

»Er hat einen schwarzen Kopf, die Wangenflecken sind weiß und sein Bäuchlein ist von einem schwarzen Streifen durchzogen, aber sonst ganz gelb«, meinte Ben.

»Na, das klingt ja so, als ob ihr eine Kohlmeise vor dem sicheren Tod gerettet habt«, lachte der Großvater und blickte prüfend auf den kleinen Patienten. »Ja, tatsächlich! Euer Findelkind hat ein kohlrabenschwarzes Köpfchen. Das ist ganz sicher eine Kohlmeise.«

»Nennt ihn doch Kohlrabi«, kicherte die alte Anna.

»Kooooohlraaaabiiii?«, riefen beide Kinder wie aus einem Munde.

»Ja, ich hab grad einen aus der Suppe gefischt. Als Benedictus euch erklärt hat, dass der Piepmatz einen kohlrabenschwarzen Kopf hat, ist mir der passende Name eingefallen«, gluckste sie.

»Oma, ein Kohlrabi kann nicht fliegen«, lachte Ben.

»Euer Piepmatz doch auch nicht, oder? Außerdem kann mein gekochter Kohlrabi aus der Suppe nicht singen. Hat euer Federvieh bisher irgendein Liedchen geträllert? Nein! Also könnt ihr ihn ruhig Kohlrabi taufen. Beide – das Gemüse und euer Federknäuel – können weder fliegen noch singen.«

Die Zwillinge sahen sich sprachlos an. Warum sollte das kleine Vögelchen nicht so heißen? Beide fanden den Namen passend, denn er war etwas Besonderes. Benedictus nahm den kleinen Patienten aus Bens Händen.

»Kinder, saust los und bringt mir lange Weidenruten. Kohlrabi braucht ein neues Zuhause.«

Die Zwillinge rannten pfeilschnell die Gasse entlang in Richtung Marktplatz, am Petersbergl und an den beschäftigten Wachen vorbei durch das Talburgtor, hinaus vor die Mauern der Siedlung. Sie kullerten die saftig grüne Wiese hinab in Richtung des Bächl im Tal, rappelten sich flink wieder auf und liefen laut lachend weiter.

Kohlrabi saß in der Zwischenzeit auf der Holzbank vor der Stube und wusste nicht, wie ihm geschah.

»Anna, komm bitte an den Tisch. Das Essen wird kalt.«

»Ja, Mama. Ich habe gerade das Kapitel zu Ende gelesen«, erwiderte Anna und erhob sich vom Bett. »Was gibt es denn Feines?«

»Fleischpflanzerl mit Petersilienkartoffeln und Kohlrabi­gemüse.«

»Das esse ich nicht!«

»Wieso? Seit wann magst du denn das nicht mehr?«

»Seit gerade eben, denn da hat sich nämlich der Kohlrabi einen Flügel gebrochen.«

»Hä?«

»Ich esse keine Vögel«, antwortete Anna.

»Kohlrabi ist ein Gemüse. G-e-m-ü-ü-ü-s-e. Verstehst du, Anna?«

Die Mutter füllte beide Teller und wechselte das Thema.

»Ich freue mich übrigens über deine zwei Einser in HSU. Hast du dich schon bei Opa Leander für seine Hilfe bedankt?«

Anna schüttelte den Kopf. »Nein, noch nicht.«

»Aber mal ehrlich, du hättest mir euer Geheimnis schon verraten können. Ich schimpfe dich doch nicht wegen einer schlechten Note.«

»Sei nicht sauer, Mama. Ich habe mich nicht getraut. Es ist dank Opi ja alles gut gegangen. Jetzt starte ich gerade mit dem zweiten Band aus dieser Abenteuerserie. Das Buch haben wir auf dem Flohmarkt entdeckt.«

»Ist die Geschichte auch so spannend wie der erste Band mit diesem Löwen?«

»Hm, na ja. Etwas komisch, wegen so einem Kohlrabi, der nicht mehr fliegen kann. Übrigens, den Löwen, den du meinst – das war Heinrich der Löwe! Nur mal so zur Information, damit du auch mitreden kannst«, gab Anna kokett von sich.

Die Mutter blickte etwas verdutzt von ihrem Teller auf und nickte sprachlos.

»Ja, und die Anna aus dem ersten Band ist mittlerweile alt und hat nur noch einen Zahn. Sie ist mit dem behinderten Benedictus verheiratet. Ihre beiden Enkelkinder heißen Anna und Ben und sind Zwillinge.«

»Aha, ist ja interessant, Anna. Das bedeutet, dass die Geschichte und das Leben der beiden weitergehen. Der erste Band handelte im Jahr 1158 zur Gründungszeit Münchens und diese Hauptpersonen sind nun alt. Kann das sein? Jetzt beginn doch bitte mit dem Essen.«

»Nein, Mama. Ich lese lieber weiter.«

Anna stand auf, ließ Fleischpflanzerl, Petersilienkartoffeln und Kohlrabigemüse auf dem Teller unberührt zurück und ging in ihr Zimmer, um die Geschichte weiterzulesen.

3. Wie alles begann

Der fertige Käfig aus Weidenruten stand auf dem Stubentisch. Kohlrabi saß auf einer Sitzstange, legte den Kopf schief und betrachtete die Zwillinge aufmerksam.

»Zizibäh, zizibäh.«

»Er hat was gesagt!«, jubelten die Kinder.

»Was spricht denn euer Kohlrabi? Ich hab nichts verstanden außer einem Gekrächze. Vielleicht sollten wir ihn doch lieber in die Suppe werfen?«

»Anna, du alte Grantlerin. Jetzt hör mit deinem Gemurre auf und freu dich über so eine nette Unterhaltung in unserer Stube. Du wirst sehen, der kleine Vogel wird viel Heiterkeit und Freude in unser Leben bringen«, versuchte der alte Benedictus seine Frau umzustimmen.

»Zizibäh, zizibäh«, antwortete der Vogel.

»Hast ja recht«, kicherte die alte Anna.

»Dürfen wir den Vogel an das Grab von Mama und Papa mitnehmen und ihn vorstellen?«, fragte Anna.

»Nein, gleich wird es dunkel und die Einlasstore im neuen Mauerring werden geschlossen. Mir ist lieber, ihr bleibt hier.«

»Einlasstore?«, wunderte sich Anna und ging zu ihrer Mutter in die Küche.

»Du, Mama, gab es damals um München tatsächlich einen Mauerring mit Einlasstoren?«

»Ja, Anna. Heinrich der Löwe hat etwa um das Jahr 1175 mit dem Bau einer Befestigung samt Wassergraben begonnen. Die Bürger der Siedlung ›apud Munichen‹ lebten innerhalb des Wallgrabens und waren geschützt vor Überfällen.«

»Wow, interessant! Die kleine Siedlung ist also gewachsen. Das Mädchen vom Flohmarkt hat mir doch keinen Schmarrn erzählt. Ich glaube, ich vertiefe mich schleunigst in mein Buch, denn das scheint jetzt wirklich richtig spannend weiterzugehen.«

Anna schnappte sich zwei Bananen aus dem Obstkorb und verschwand in ihrem Zimmer. Schnell riss sie nochmals die Tür auf und rief kichernd in Richtung Küche: »Mama, so ahnungslos bist du ja gar nicht, wenn es um die Historie Münchens geht!«

Die Geschwister beobachteten fasziniert den kleinen Vogel, als Anna plötzlich fragte: »Was frisst denn eine Kohlmeise?«

»Na, dem Kohlrabi schmecken kleine Insekten. Mit einem Stein könnt ihr zusätzlich morgen ein paar Haferkörner platt klopfen. Was meint ihr?«

»Opa, was geben wir ihm jetzt?«, fragte Anna besorgt.

Der alte Benedictus schmunzelte und öffnete seine Faust.

»Großartig, das sind sieben Fliegen«, rief Ben begeistert aus. »Du denkst wirklich an alles.«

»Das war übrigens nicht ich, sondern eure liebe Oma. Die hat im Stall mal kräftig mit einem Hadern nach den Fliegen geschlagen. Gleich sieben auf einen Streich hat sie erwischt. Das behauptet sie jedenfalls.«

Ben griff sich mit den Fingerspitzen eine Fliege und hielt sie dem Vogel hin. Kohlrabi legte den Kopf schief und rief: »Zizibäh, zizibäh.«

»Na, schlecht scheint es ihm ja wohl nicht zu gehen. Er singt, springt und macht einen recht wackeren Eindruck«, schmunzelte Benedictus. »Lasst ihn besser mal in Ruhe, er muss sich noch eingewöhnen.«

Kohlrabi bekam einen Platz über dem Strohlager. Benedictus hatte den Käfig an der Stubendecke mit einem Strick befestigt. So hatte das Meiserl einen hervorragenden Blick auf den Tisch, die Feuerstelle, die Eingangstür und natürlich auf den Schlafplatz seiner beiden Ersatzeltern Anna und Ben. Es schien ihm zu gefallen.

Als abends alle vier im Kerzenschein um den Holztisch saßen und Fladenbrot mit einem Stück Käse aßen, wollten die Zwillinge eine Geschichte hören und bettelten: »Oma, bitte erzähl uns und dem Kohlrabi noch einmal wie es war, als du Opa kennengelernt hast und ihr beide den Bau der ersten Brücke von Heinrich dem Löwen aus eurem Versteck heraus beobachtet habt.«

»Den Kohlrabi wird das wohl kaum interessieren. Aber euch erzähle ich gerne, wie das damals alles begann, hier in unserer schönen Siedlung.«

Die alte Anna lächelte, lehnte sich zurück und fing an zu erzählen.

»Heinrich der Löwe hatte im Jahr 1158 das Dorf Föhring, die dortige Brücke und das Zollhäuschen überfallen und niedergebrannt. Er wollte den fälligen Salzzoll auf seinem eigenen Grund und Boden abkassieren. Mein damals noch junger Benedictus saß in diesem brennenden Zollhaus in der Falle und konnte sich durch einen waghalsigen Sprung kopfüber aus dem Fenster retten. Mit einem Ochsengespann kam er hier nahe unserer Siedlung an. Während er mir damals die schreckliche Geschichte vom Überfall auf Föhring erzählte, versorgte ich ihn mit Essen und Wasser. Ab diesem Moment waren wir eng befreundet und saßen fast jeden Tag hinter einem Busch oberhalb der Isar und beobachteten, wie die Männer von Heinrich dem Löwen eine neue Brücke bauten. Benedictus, der beim Pfarrer von Sankt Peter wohnte, wurde dann aber leider sehr krank und ins Kloster Schäftlarn zur Versorgung seiner Wunden gebracht. Da verlor ich ihn etwas aus den Augen.

---ENDE DER LESEPROBE---