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Eine tief gespaltene Gesellschaft, ein Land im Ausnahmezustand und ein Präsident, der mehr auf Machtausbau denn auf Versöhnung setzt: Warum demontieren die Türken ihre Demokratie so gnadenlos? Kaum ein Tag vergeht, an dem die Türkei nicht im Mittelpunkt der aktuellen Berichterstattung steht. Die renommierte deutsch-türkische Journalistin Özlem Topçu über ein Land, das nicht zur Ruhe kommt.
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Seitenzahl: 52
Özlem Topçu
Türkei – Das Land, seine Bürger und die Sehnsucht nach Freiheit
Ihr Verlagsname
Eine tief gespaltene Gesellschaft, ein Land im Ausnahmezustand und ein Präsident, der mehr auf Machtausbau denn auf Versöhnung setzt: Warum demontieren die Türken ihre Demokratie so gnadenlos? Kaum ein Tag vergeht, an dem die Türkei nicht im Mittelpunkt der aktuellen Berichterstattung steht. Die renommierte deutsch-türkische Journalistin Özlem Topçu über ein Land, das nicht zur Ruhe kommt.
Özlem Topçu wurde 1977 in Flensburg geboren. Seit 2009 ist sie Politikredakteurin bei der «ZEIT» und berichtet regelmäßig über und aus der Türkei.
Mit dem Beginn der Gezi-Park-Proteste 2013 habe ich angefangen, über die Türkei zu berichten. Die friedliche, furchtlose, kreative und humorvolle Seite der Demonstrationen war das schönste Gesicht des Landes, das ich bis dahin gesehen hatte. Und es brachte den türkischen Teil in vielen von uns, deren Eltern vor Jahrzehnten nach Deutschland ausgewandert waren, wieder zum Vorschein – den Teil, den wir tief vergraben hatten. So ging es mir, so ging es vielen um mich herum.
Dieses schöne Gesicht der Türkei ist immer noch da. Und wenn man ganz genau hinschaut, kann man es immer noch sehen.
#FreeDeniz
Juli 2017
Während ich diese Zeilen schreibe, Anfang Juli 2017, ereignen sich in der Türkei folgende Dinge: Die Feierlichkeiten zur Erinnerung an den vereitelten Staatsstreich vom vergangenen Jahr beginnen – neben dem Schmerz und dem Leid erinnern viele an die noch offenen Fragen und Widersprüche dieser Nacht; Kemal Kılıçdaroğlu, Anführer der größten Oppositionspartei CHP («Republikanische Volkspartei») – äußere wie innere Erscheinung: irgendwas zwischen liebenswerter Onkel und gewissenhafter Bürokrat und damit eigentlich gänzlich ungeeignet für die Streetfighter-Atmosphäre der türkischen Politik – hat alle überrascht, indem er die mehr als 400 Kilometer lange Strecke von Ankara nach Istanbul marschiert ist. Er hatte dabei ein Schild in der Hand, auf dem in roten Buchstaben ein einziges Wort stand: Adalet (Gerechtigkeit), und schaffte es damit, dass eine Menge Leute wieder etwas wie politische Hoffnung verspürten.
Staatspräsident Tayyip Erdoğan war gerade zu Gast in Deutschland auf dem G20-Gipfel und hatte zuvor in einem Interview mit meiner Zeitung verkündet, dass Deutschland «Selbstmord» begehe, weil die Regierung seinen Auftritt vor Landsleuten verhindere; die Bundeswehr hat nach Monaten des Streits mit der türkischen Regierung über Besuchsrechte deutscher Bundestagsabgeordneter begonnen, ihre Soldaten von dem türkischen Luftwaffenstützpunkt Incirlik abzuziehen; mein Freund und Kollege Deniz Yücel, Türkei-Korrespondent der Tageszeitung «Die Welt», sitzt seit mehr als 150 Tagen in türkischer Haft; ein anderer türkischer Kollege, ein Videokünstler, wurde freigelassen, dafür wurden die führenden Mitarbeiter von Amnesty International und ein weiterer deutscher Menschenrechtler, Peter Steudtner, in der Türkei festgenommen.
Ich könnte jetzt so weitermachen mit meiner Aufzählung, denn diese Ereignisse sind nur eine kleine Auswahl.
Nur eine dieser Begebenheiten würde reichen, um ein normales Land an den Rand eines kollektiven Nervenzusammenbruchs zu bringen.
Aber die Türkei ist kein normales Land.
Es gibt einen Ausspruch, der dem früheren Staatspräsidenten Süleyman Demirel zugeschrieben wird und der viel aussagt über die Ereignisdichte in der Türkei: «24 Stunden in der türkischen Politik sind eine lange Zeit.» Eine ziemlich überspitzte, aber nicht unrealistische Behauptung. Vor einiger Zeit nahm ein User auf Twitter Bezug auf den Satz und schrieb, er müsse unter der Regierung der AKP (Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei) von Präsident Tayyip Erdoğan verändert werden: Nicht mehr 24 Stunden, sondern 24 Minuten seien eine lange Zeit in der türkischen Politik.
Die Menschen in der Türkei sind politische Gewalt und unstete Zeiten gewohnt – unstete Zeiten, die die Politik mit ständigen Versprechen von Stabilität begleitet.
Man würde allerdings die Menschen in der Türkei verkennen, wenn man annehmen würde, dass dieses Ungleichgewicht von Unstetigkeit und Stabilitätsversprechen nur zu einer Verachtung der politischen Klasse, vielen Magentabletten und Depression führt. Bei sehr vielen führt sie zu stahlharten Nerven und vor allem viel Humor, trotz allem. Oder kennen Sie eine Bevölkerung, die im Angesicht von Wasserwerfern und Tränengasnebel «Keine Angst, wir sind’s doch nur, das Volk» ruft? So geschah es während der Gezi-Park-Proteste im Sommer 2013.
Fragen Sie drei Türken Ihrer Wahl, was sie von all diesen Ereignissen halten, und Sie bekommen sieben Meinungen.
Müsste ich die Türkei mit einer einzigen Beobachtung erklären, wäre es diese hier: