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Ungefragt etikettiert als Türkin und Jude – ein so ehrlicher wie entlarvender Austausch Özlem Topçu und Richard C. Schneider sind neben vielen Dingen auch zwei Deutsche – das ist für viele immer noch nicht selbstverständlich. In ihrem politischen, gesellschaftskritischen Sachbuch blicken sie auch als "Jude" und "Türkin" ein Jahr lang auf Deutschland, seine Debatten zu Integration, Rassismus, Antisemitismus und den Umgang mit dem "Anderen", mal irritiert, mal überrascht, oft wütend. Es ist nicht nur die Sicht zweier Journalisten, die am Diskurs über das Verhältnis zwischen Mehrheitsgesellschaft und Minderheiten teilnehmen, sondern die zweier Freunde, die sich ihre deutschen Geschichten erzählen. Und miteinander können sie auch über ihre Ganz-, Halb- und Viertel-Identitäten diskutieren, denn sie wissen, was es heißt, in unterschiedlichen Kulturen und Gesellschaften beheimatet zu sein. Ein Briefwechsel voller Humor, Einsichten und Geschichten aus zwei deutschen Welten.
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Seitenzahl: 353
Özlem Topçu / Richard C. Schneider
Ein Briefwechsel zur deutschen Realität
Knaur eBooks
Ein Jahr lang – von November 2020 bis November 2021 – schreiben sich Özlem Topçu und Richard C. Schneider Briefe: über ihr Leben in Deutschland, ihr Aufwachsen als Kinder von Migranten, ihre eigenen Erfahrungen mit Rassismus und Antisemitismus. Sie tauschen sich über Halle, Hanau und die Folgen aus, über Judensterne auf Coronademos, aber auch darüber, was für sie Heimat bedeutet und ob zu Weihnachten ein Tannenbaum das Wohnzimmer schmücken soll.
Ihre scharfsinnigen Beobachtungen der aktuellen politischen Debatten in Deutschland, in Israel, der Türkei und den USA, aber auch ihre in den Augen anderer ungewöhnliche Freundschaft machen diesen Briefwechsel zu einer ebenso bezwingenden wie berührenden Gegenwartsdiagnose – in der Gewissheit, dass es eben doch hilft, miteinander zu reden.
Widmung
Hamburg, 22. November 2020
München, 27. November 2020
Hamburg, 6. Dezember 2020
München, 8. Dezember 2020
Hamburg, 16. Dezember 2020
München, 23. Dezember 2020
Hamburg, 28. Dezember 2020
München, 4. Januar 2021
München, 5. Januar 2021
Hamburg, 27. Januar 2021
Tel Aviv, 30. Januar 2021
Hamburg, 5. Februar 2021
Tel Aviv, 12. Februar 2021
Hamburg, 17. Februar 2021
Tel Aviv, 22. Februar 2021
Hamburg, 24. Februar 2021
Tel Aviv, 27. Februar 2021
Hamburg, 3./4. März 2021
Tel Aviv, 11. März 2021
Hamburg, 15. März 2021
Tel Aviv, 17. März 2021
Tel Aviv, 31. März 2021
Hamburg, 12. April 2021
München, 27. April 2021
Hamburg, 29. April 2021
München, 1. Mai 2021
Hamburg, 10. Mai 2021
Hamburg, 18. Mai 2021
Leider immer noch: München, 22. Mai 2021
Hamburg, 24. Mai 2021
München, 2. Juni 2021
Hamburg, 14. Juni 2021
Berlin, 18. Juni 2021
Hamburg, 1. Juli 2021
Zürich, 3. Juli 2021
Istanbul, 12. Juli 2021
München, 26. Juli 2021
Ayvalık, 31. Juli 2021
Hamburg,11. August 2021
Einer meiner Fluchtpunkte (siehe einen früheren Brief), 21. August 2021
Hamburg, 4. September 2021
Zürich, 7. September 2021
Hamburg, 18. September 2021
Istanbul, 26. September 2021
Und schon wieder in einem Refugium, 30. September 2021
Hamburg, 9. Oktober 2021
Tel Aviv, 15. Oktober 2021
Hamburg, 29. Oktober 2021
Unterwegs nach Tel Aviv, 11. November 2021
Allen »anderen«.
Özlem Topçu
Für Sabine H.
In Dankbarkeit für die letzten 30 Jahre.
Richard C. Schneider
Lieber Richard,
weil ich weiß, wie sehr Du es magst, wenn Nichtjuden oder Nichtisraelis ihre paar lausigen Brocken Hebräisch zum Besten geben und sich dann für den Rest des Tages richtig toll fühlen – sei gegrüßt mit einem fröhlichen Shalom!
Richard, seit Tagen geht mir ein Satz nicht mehr aus dem Kopf. Ich sage ihn mir immer und immer wieder und erfreue mich an ihm: Es wird wohl eine Özlem sein, die uns den Arsch rettet. Klingt super, oder?
Tagelang dominierte eine Nachricht den Alltag: Das deutsche Wissenschaftler-Ehepaar Özlem Türeci und Uğur Şahin aus Mainz ist auf dem besten Wege, einen Impfstoff gegen das Coronavirus zu entwickeln. Ich gestehe: Ich gehöre zu denen, die sich nicht nur darüber gefreut haben, dass ein deutsches Forscher-Ehepaar womöglich einen aussichtsreichen Impfstoff entwickelt hat. Sondern auch darüber, dass diese beiden Wissenschaftler Özlem und Uğur heißen.
Und das macht mich auch irgendwie zum Wurm. Warum freue ich mich? Warum dieser peinliche, mich selbst irritierende Stolz darauf, dass die beiden türkische Namen haben? Warum ist es so wichtig zu betonen, dass jene, die wahrscheinlich etwas Spektakuläres geschafft haben, Kinder von Zuwanderern sind? Der Mann überdies offensichtlich ein Arbeiterkind.
Dieser Stolz nervt mich, weil die bittere Antwort auf all diese Fragen lautet: Immer wenn Zuwanderer durch Erfolg auffallen, fühlen sich viele erst in ihrem Leben in Deutschland legitimiert. Dieser Legitimierungsdruck sitzt anscheinend bei sehr vielen tief. Als wollte man sagen: »Seht her, doch gut, dass wir hier sind, oder? Ja, das geht an euch da rechts außen! Jetzt müssen uns ›die Deutschen‹ doch lieb haben!« Als wäre das wichtig.
Die Rettung der Welt als ultimative Voraussetzung für ›erfolgreiche Integration‹ und Akzeptanz. Unterhalb des Nobelpreises für Medizin machen wir es nicht, oder? Dass dieser Stolz erst das rechte Narrativ vom ›unnützen‹ und nicht integrierbaren (Entschuldigung, aber in was eigentlich noch mal genau? Ich hab da mittlerweile ein wenig die Orientierung verloren …) Migranten würdigt, muss ich wohl nicht weiter erwähnen.
So will jeder gerade ein Stück von Özlem und Uğur abhaben, scheint mir. Türkeistämmige freuen sich, dass Özlems und Uğurs Vorfahren aus der Türkei stammen, Progressive freuen sich, dass sie den Rechten den Erfolg von Zugewanderten ins Gesicht knallen können. Ich freue mich wenigstens nur still vor mich hin, schäme mich meiner Freude aber auch pflichtschuldig. Andere machen ihre öffentlich. Ich wünschte, sie unterließen es. »Bushido, CapitalBra & Co können sich warm anziehen! Die neuen Helden vieler Jugendlicher mit Migrationsgeschichte sind … Uğur Şahin & Özlem Türeci! Wissenschaft schlägt Rap! So viel Stolz war selten. #Vorbilder bewirken so viel. Lasst uns mehr über sie reden«, schrieb etwa die CDU-Politikerin Serap Güler auf Twitter.1
Aber was soll ich machen – ich bin immer noch stolz. Erzähl’s nicht weiter.
Ich war heute zu einer Veranstaltung eingeladen, die hätte Dir gefallen: Die Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche und Rechtsextremismus hatte mich gebeten, bei ihrer Jahrestagung darüber zu sprechen, wie man eigentlich noch mit ›denen‹ sprechen kann – Rassisten, ›besorgte Bürger‹ und ähnlich denkende Menschen. Die Anfrage kam schon im Sommer, als wir uns alle die Coronapandemie weggewünscht hatten, ich zögerte keine Minute und sagte zu. Nicht, weil ich wüsste, wie man noch mit ›denen‹ sprechen kann. Sondern, weil die Tagung ursprünglich in Ostritz stattfinden sollte, einer kleinen Stadt am äußersten Rand der Oberlausitz. Sie wurde dann aber doch online abgehalten. Ostritz ist eine Stadt mit einem veritablen Neonaziproblem, aber auch einer Zivilgesellschaft, die sich dagegen wehrt. Die Organisatoren wollten anfangs bewusst vor Ort sein, um die Demokraten zu stärken und zu ermutigen. Die Teilnehmer gehörten alle irgendwie zur Kirche, allesamt Praktiker, Pfarrer, Sozialarbeiter, Pädagogen. Der Wunsch an mich war zu erzählen, wo ich mit Anfeindungen in Berührung komme. Ich erzählte von meinen Lesern. Und den Leserbriefen, die ich hin und wieder erhalten habe.
»Widerlich, was dieses Mohammedanerweibchen sich da einbildet, man müsste mal mit ihrem Besitzer sprechen.«
»Diese Türkentrulla, die in ihrer Geschichte nichts vorzuweisen hat außer blutigen Eroberungskriegen, darf sich hier über deutsche Identität auskotzen!«
»Wir brauchen solche turk-islamischen U-Boote wie Özlem Topçu nicht!«
»Ohne grapschende Zuwanderer hättet ihr nie verstanden, wie zivilisiert deutsche Männer sind.«
»Der Tag der Abrechnung wird eine Nacht der langen Messer, auch für euch Türken. Nichts wird vergessen, Pardon wird nicht gewährt!«
Ich trug diese Sätze vor, blickte dann irgendwann auf den Computerbildschirm vor mir – und sah in lauter traurige, bestürzte Gesichter. Es hatte ein bisschen was von Loriot, aber es hat mich sehr berührt. Da saßen Menschen, die in ihren Kommunen und Vierteln nach Lösungen suchen, nach einem Weg, wie sie mit Rassisten umgehen sollen, wie sie mit ihnen sprechen sollen. Darauf habe ich keine Antwort. Ich sagte dann, dass wir meines Erachtens immer einen gewissen Prozentsatz von Rassisten in der Gesellschaft wohl werden mit durchbringen müssen. Immer wenn etwas Schreckliches passiert, sagen alle betroffen, Rassismus habe keinen Platz in der Gesellschaft. Nun, ich würde sagen: aber sicher, Rassismus hat diesen Platz. Weil ihm dieser Platz gewährt wird. Ganz einfach.
Ich beklage das, aber so liegen die Dinge nun einmal. Es würde schon weiterhelfen, in routinierten Ansprachen nicht so zu tun, als sei es anders.
Natürlich bewegen sich diese Kirchenleute ja nicht außerhalb der realen Welt, sie haben diesen Bullshit schon mal gehört. Aber es scheint ein Unterschied zu sein, wenn eine von den Gemeinten diese Sätze vorträgt. Es war ja immerhin keine Morddrohung dabei, wie bei anderen Kolleginnen. Alle sahen mich an, und ich hatte das große Bedürfnis, sie in den Arm zu nehmen und zu trösten. Aber ich zog es dann vor, sie anzulächeln. Es hatte vielleicht einen ähnlichen Effekt.
Bekommst Du eigentlich auch manchmal so nette Leserpost?
Liebe Özlem,
über Deine Sätze am Ende Deines Briefes habe ich besonders gelacht. Dass Du das Bedürfnis hattest, Dein betroffenes Publikum zu trösten – das kenne ich so wahnsinnig gut. Jedes Mal, wenn ich Vorträge zum Antisemitismus halte und dann ähnlich wie Du erzähle oder vorlese, was mir in meinem Leben schon so passiert ist oder was Menschen mir schreiben, ist das deutsche Publikum immer total fertig. Inzwischen lache ich dann immer und sage etwas salopp, alles ist gut, die Welt ist in Ordnung, machen Sie sich keine Sorgen, Sie sind ja nicht gemeint, Sie sind sicher. Früher habe ich dann immer gedacht, wie dumm sind die Menschen eigentlich, wollen sie nicht wissen, was wirklich abgeht? Verdrängen sie? Heucheln sie? Inzwischen glaube ich wirklich, dass mein Publikum – und das sind ja meistens Menschen guten Willens, Deutsche, die sich für diese Themen interessieren, sonst würden sie ja nicht zu meinen Vorträgen kommen –, dass diese Menschen wirklich überrascht sind, weil sie sich mit Antisemitismus und Rassismus in ihrem Alltag wenn überhaupt nur sporadisch beschäftigen. Wobei da zu fragen wäre, wieso sie es nicht tun, gerade in Deutschland mit seiner Vergangenheit. Wenn’s um Israel geht, dann ist es anders, da hat man sehr schnell eine Meinung, ohne zu wissen, was sich vor Ort wirklich abspielt … Inzwischen also glaube ich, dass sie sich keinerlei Vorstellung machen, womit wir uns mehr oder weniger tagtäglich herumschlagen müssen. Dass sie sich in anderen Lebenswelten bewegen als wir. Ich würde nicht so weit gehen, von Parallelwelten zu sprechen, aber irgendwie vielleicht schon? Ihre Wahrnehmung ist anders. Weil’s so bequemer ist?
Ich bin in Deutschland immer ein bisschen auf der Hut. Nicht im normalen Alltag beim Einkaufen oder so, natürlich nicht. Sondern in Gesprächen mit Menschen, die ich nicht gut kenne, in beruflichen Situationen oder anderswo. Dann lauere ich quasi immer ein bisschen, ob irgendwann eine blöde Bemerkung kommt, wenn mein Gegenüber denn weiß, dass ich Jude bin. Leider kommt dann auch häufig irgendein Nebensatz, der merkwürdig anmutet oder auch wirklich schlimm ist. Und wenn’s nicht kommt, bin ich immer wieder überrascht. Freudig überrascht.
Interessant finde ich allerdings Deine Reaktion auf die beiden Forscher, die möglicherweise mithelfen, die Menschheit vor Corona zu retten. Die Erfolgsstory ›der Türken‹ in Deutschland. Deine ganze Ambivalenz dazu. Das verstehe ich total. Als die ersten Artikel kamen, die sich genau damit beschäftigten, fragte ich mich, wozu das sein muss. Dieses Hervorheben von Özlem und Uğur, also von so ›fremdländischen‹ Namen, aber ja, sie sind ›dennoch‹ Deutsche. Das ganze Gedöns halt. Mir ist schon klar, dass wir noch lange nicht an dem Punkt sind, wo Özlem oder auch Chaim als normale Namen in Deutschland angesehen werden. Kann ja auch nicht. In den Artikeln war nichts Doppeldeutiges, alles war völlig in Ordnung. Es ist halt einfach noch nicht ›normal‹, dass zwei Deutsche, deren Familien aus der Türkei kommen, tatsächlich Deutsche sind. Und auch noch Erfolg haben und nicht nur bei der Müllabfuhr arbeiten (so war das noch in meiner Kindheit). Ich denke auch, dass Du zu streng mit Deiner Reaktion auf diese Erfolgsstory bist. Du bist halt auch nur das kleine türkische Mädchen von Gastarbeitern, das sich hocharbeitet und sich ständig beweisen muss, dass sie mehr kann als nur Geschirr spülen. Stolz ist da schon angebracht.
Bei uns Juden ist das etwas anderes. Wir sind ja sowieso Genies. Das glauben zumindest mal alle jüdischen Mütter von ihren Söhnen, ja, hauptsächlich Söhnen. Wir haben den Genie-Anspruch zu erfüllen, nicht die Töchter … Aber im Ernst, wir sind es gewohnt, dass wir Erfolg haben, überdurchschnittlichen Erfolg. Schau Dir nur mal die Liste der Nobelpreisträger an. Wir haben aber auch diesen im Grunde blödsinnigen Stolz in uns, wenn ›einer der Unseren‹ gerade mal wieder einen Nobelpreis gewinnt oder sonst etwas Herausragendes tut, egal ob in der Wirtschaft, Wissenschaft, Politik oder Kultur, so wie Du jetzt bei den beiden Wissenschaftlern. Und wir machen uns schon auch einen Spaß, bei einem Hollywoodfilm im Abspann die jüdischen Namen zu zählen und dabei zu lachen. So wie im Augenblick die halbe jüdische Welt gerade Purzelbäume schlägt, weil im Team des President-elect Joe Biden überdurchschnittlich viele Juden dabei sind, allen voran der künftige Außenminister Antony Blinken. Den ich übrigens kennengelernt habe vor einem Jahr in Paris. Ich bin mit seiner Schwester befreundet, und so waren wir einige Tage unter einem Dach und frühstückten gemeinsam. Und redeten natürlich über die Nahost-Politik von Obama, unter dem er stellvertretender Außenminister war, und wir sprachen selbstverständlich auch über Donald Trump.
Und mir fiel auch bei ihm auf, was ich von allen amerikanischen Juden kenne, vor allem, wenn es um Israel geht. Sie sind in erster Linie Amerikaner. Punkt. Sie mögen Beziehungen und Familie in Israel haben, aber sie denken ausschließlich als Amerikaner. So auch Tony. So muss es wohl auch bei Juden in Deutschland vor dem Zweiten Weltkrieg gewesen sein. Zuerst als Deutsche denken. Als Kind von Shoah-Überlebenden kann ich das nicht. Ich habe nirgends auf der Welt das Gefühl, dass mir irgendein Staat ›gehört‹. Oder dass ich wirklich voll und ganz akzeptiert werde. Ein jüdischer Außenminister in der Bundesrepublik Deutschland? Unvorstellbar. Aber, interessanterweise, gab es einmal einen kurzen Moment, da dachte man schon, dass Cem Özdemir deutscher Außenminister wird. Das wäre beinahe möglich gewesen, wenn Christian Lindner sich’s nicht anders überlegt hätte. Aber ein jüdischer Politiker in einer wirklich hohen Position in Deutschland? No way. Deutschland ist einfach nicht die USA. Never.
Aber, wie gesagt, viele Juden sind dann auch immer ganz aus dem Häuschen bei solchen Anlässen. Heute Morgen schickte mir ein Freund einen Artikel aus dem Jewish Journal, Titel: »Who Are the Jews On Joe Biden’s Cabinet?« Besondere Aufmerksamkeit erhält da auch Alejandro Mayorkas, der nicht nur als erster Latino das Ministerium für Homeland Security übernehmen soll, sondern tatsächlich auch noch Jude ist. Vater kubanischer Jude, Mutter rumänische Jüdin. Nur, wie gesagt, wir sind das gewöhnt. (Na ja, lass uns jetzt bitte nicht über Jared Kushner und die anderen ›Trump-Juden‹ sprechen. Wobei die auch Erfolgsfiguren sind, auch wenn ich deren politische Weltanschauung zum Kotzen finde.) Aber letztendlich ist es doch so, dass wir darauf geeicht und gedrillt sind, hervorragend sein zu müssen, um zu überleben.
Denn anders als Türken beispielsweise hatten wir 2000 Jahre keine eigene Heimat. Wir waren immer und überall nur geduldet. Wir hatten keinen Besitz, kein Land, nichts. Wir mussten uns also auf unseren Kopf verlassen und wussten, dass wir immer besser sein mussten als alle anderen, um überhaupt eine Chance zu haben zu überleben. Was dann dazu führte, dass man uns umso mehr hasste.
Vor vielen Jahren traf ich einmal einen russischen Juden in Israel, der zur Refusenik-Gruppe gehörte. Das waren sowjetische Juden, die unbedingt nach Israel auswandern wollten, dafür aber in den Gulag kamen oder sonst wie drangsaliert wurden. Bis man sie irgendwann doch gehen ließ. Der wohl berühmteste Refusenik ist Anatoly Sharansky, der sich dann in Israel Natan nannte. Ich erinnere mich noch an die Bilder von der Glienicker Brücke in Berlin 1986, wo er in die Freiheit entlassen und dem damaligen US-Botschafter in der Bundesrepublik übergeben wurde.
Also jener Refusenik, ein Literaturprofessor, erklärte mir das Prinzip auf simple Weise. Wenn du als Jude in der UdSSR an die Uni wolltest, musstest du ein Abitur mit einem Notendurchschnitt von 1,0 machen. Anderen, also Nichtjuden, reichte 2,0. So ging es dann in der Uni weiter. Bei jeder Zwischenprüfung mussten Juden stets bessere Noten haben, um weiterzukommen, als andere. Die Folge: An den Unis gab es dann plötzlich überdurchschnittlich viele Juden, die Professuren hatten. Schlicht, weil sie von Kindheit an gezwungen waren, besser zu sein als die anderen, um überhaupt eine Chance zu bekommen.
Für mich persönlich gilt das auch ein bisschen. Abgesehen davon, dass meine Eltern Holocaustüberlebende sind, waren sie in Deutschland ja auch noch Immigranten, so wie Deine Eltern. Die Sprache bei uns zu Hause war Ungarisch, nicht Deutsch. Und sie kamen mit nichts und mussten sich erst hocharbeiten. Und natürlich wurde ich stets angetrieben, besser zu sein als die Deutschen, denn als Jude hätte ich sonst keine Chance in der deutschen Gesellschaft. Als ich 2006 offiziell Studioleiter und Chefkorrespondent der ARD im Studio Tel Aviv wurde, schaute mich meine damals 80-jährige Mutter – mein Vater war schon lange tot – ungläubig an und sagte dann: »Mich haben die Deutschen noch vor ein paar Jahrzehnten umbringen wollen. Und nun schicken sie meinen Sohn als Vertreter ihres Fernsehens nach Israel. Unfassbar!« Ich glaube, das war für sie ein Moment der absoluten Genugtuung. Ein Gefühl, dass alles, was sie durchmachen musste, nicht umsonst gewesen war.
Happy day – und nein, ich schicke Dir jetzt kein Salam zurück! Höchstens ’ne Salami.
Richard
Lieber Richard,
ich wäre sehr froh, wenn Du mir als Vegetarierin und Teilzeit-Veganerin keine Salami schickst. Und jetzt fang nicht an wie die türkische Verwandtschaft: »Das ist doch kein Fleisch, Mädchen, das ist doch nur eine Salami!« Als jemand, der seit Jahren im Nahen Osten lebt, weißt Du sicher, wovon ich rede. »Schwester, das ist kein Fleisch, das ist Köfte! Wie kann man so etwas nur nicht essen wollen?«
Deine Verabschiedung mit der Salami erinnert mich an eine Begebenheit in Diyarbakır von vor einigen Jahren. Die Kämpfe zwischen den türkischen Sicherheitskräften und der PKK waren wieder entflammt. Ich war vor Ort, um über die Situation zu berichten, und traf auf eine Gruppe von Fernsehkollegen. Ich hängte mich an sie dran, weil sie ein Auto hatten, so konnte ich besser das Umland der Stadt erkunden. Nach einem langen Tag fanden wir uns in der Altstadt in einem Restaurant ein, alle in der Gruppe (ich war die einzige Frau) bestellten – natürlich, wie sollte es anders sein – Fleisch in rauen Mengen. »Sonst wird man ja nicht satt«, ist auch so ein Satz, den du als Vegetarierin dort hörst. Ich fragte den Kellner, was er denn sonst noch so auf der Karte hätte. Also außer Fleisch. »Abla, wenn du kein Fleisch möchtest, ich kann sicher irgendwo ein Hühnchen auftreiben!« – »Nein, ich esse ja kein Fleisch. Hühnchen ist ja auch Fleisch.« Ich blickte in ein verunsichertes Gesicht. Pause. Verzweifelter Blick zu den Kollegen. Jemand hatte die rettende Idee und rief: »Auberginen! Ich habe da vorne Auberginen gesehen, mach der Abla doch ein paar Auberginen auf dem Grill zurecht!«
Richard, das waren die besten Auberginen, die ich je in meinem Leben gegessen habe. Dazu bekam ich meinen eigenen Teller mit Brot – damit ich auch wirklich satt werde. Als wir mit dem Essen fertig waren, schaute mich der Kellner so merkwürdig mitleidig an. Er räumte meinen Teller weg und fragte, ob er mir nicht vielleicht noch irgendwas bringen könnte. Ich bedankte mich mit der Hand Richtung Herz, lobte ihn für die köstlichen Auberginen, aber ich fürchte, er hat mir nicht geglaubt. Am Ende hat er nichts für das Gemüse berechnet. Ein Kollege aus der Gruppe macht sich noch heute darüber lustig, wenn wir uns sehen: »Der hat deine Auberginen als Essen gar nicht ernst genommen!«
Wenn mich einer fragt, warum ich diese Weltgegend trotz der ganzen Scheiße, die dort passiert, so mag, sind es Geschichten wie diese.
Die Sache mit dem Fleiß scheint ja ein regelrechter Fetisch zu sein. Bin ich froh, dass von uns Türken niemand irgendwas Vernünftiges erwartet – außer von nun an Impfstoffe vielleicht. Sich den Rücken im eigenen Gemüseladen oder am Band bei VW, BMW oder Daimler krumm zu arbeiten, zählt ja nicht. Oder in der Amtsstube, in der Kita, im Einzelhandel, an der Kasse. Oder in Restaurantküchen, Druckereien, Praxen. Umso größer ist dann das Erstaunen, wenn doch mal was kommt – und dann gleich, wie bei Özlem Türeci und Uğur Şahin, die Rettung der Welt. Wahnsinn. Ihr Juden seid Genies, wir Türken sind Tölpel. Nun, wir haben auch unseren Beitrag geleistet, um dieses Image zu bekommen, das gehört ja auch zur Wahrheit. Und Deutschland hat sich lange mächtig Mühe gegeben, nur bestimmte Erfolge und Leistungen zu sehen. Und zu würdigen.
Aber genug rumgeheult, was ich so bemerkenswert finde, ist, dass anscheinend Deine Eltern und meine Eltern, zwischen denen ja ebenso wie zwischen Dir und mir eine Generation liegt (verzeih, wenn ich das an dieser Stelle so uncharmant feststelle), ihre Kinder auf ähnliche Weise angetrieben haben. Gut, Deine Eltern haben auch noch einen Völkermord auf dem Buckel (meine Eltern in gewisser Weise auch, als Nachfahren von Tätern allerdings. Wir haben als Osmanen Armenier ermordet und vertrieben, aber das verdrängen wir noch ein paar Jahrzehnte, musst Du wissen) und, wie Du schon sagst, eine 2000 Jahre lange Vertreibung und Verächtlichmachung, die immer noch anhält. »Du musst besser sein als die deutschen Kinder! Du musst mehr lernen! Braver sein als sie! Mach uns ja keine Schande, sonst schicken wir dich zurück in die Türkei!«, hieß es in unserer Kindheit und Jugend oft. Diese letzte Drohung war im Nachhinein die seltsamste. Zurück ging eigentlich nicht, denn ich zumindest, als Einzige in meiner Familie, war in Deutschland geboren und erst nach der Geburt hingebracht worden, zur Großmutter, damit meine Mutter in Almanya am Band stehen konnte. Von wegen zurück.
Bei diesem Antrieb auf Speed ging es natürlich darum, eine Chance in Deutschland zu haben, und das bei schlechteren Startbedingungen, die wir als türkische Einwandererkinder nun mal hatten. Instinktiv haben unsere Eltern das natürlich gewusst, dafür muss man nicht studiert haben. Mit der Frage, ob diese Erziehungsmethode pädagogisch sinnvoll ist, konnten oder wollten sie sich nicht beschäftigen. Aber es ging auch noch um etwas anderes: um Scham. Meine Eltern und viele aus ihrer Generation hätten und haben sich einfach sehr dafür geschämt, wenn ihre Kinder in Deutschland versagten, einen falschen Weg einschlugen und keine, sagen wir, Ärzte oder Anwälte wurden.
Es gab vollkommen übersteigerte Erwartungen – dieses zum Teil absurde Leistungsethos ist eine der weniger erzählten Geschichten der türkischen Einwanderung. Als wäre man nur dann ein vollwertiger Bürger, wenn man diese hoch angesehenen Berufe vorweisen kann, wie die Helden aus der türkischen Vorabendserie. Oder eben, wenn man wenigstens die Welt mit einem Impfstoff rettet. Aber wenn von uns mal jemand etwas Herausragendes schafft (kommt ja selten genug vor), ist es oft so, dass er gesellschaftlich geschasst wird, sobald er sich politisch äußert. Oder wenn es nun einmal seine Aufgabe ist, sich politisch zu äußern. Denk an Orhan Pamuk, den ersten türkischen Nobelpreisträger. Noch wenige Monate vorher versuchte man, ihm in seiner Heimat den Prozess zu machen, und zwar aufgrund eines Paragrafen im türkischen Strafgesetzbuch, der die ›Herabsetzung‹ der türkischen Nation, von Staat und Republik, entsprechender Institutionen und Organe unter Strafe stellt. Also alles, wofür man im Westen als Künstler Preise bekommt.
Lieber Richard, ich mag Dich sehr, aber wenn Du mich noch einmal »das kleine türkische Mädchen von Gastarbeitern« nennst, dann setzt es was. Ich kann dann nicht mehr dafür garantieren, dass das Ghetto in diesem Mädchen bleibt und sich nicht Bahn nach außen bricht. Sag nachher nicht, dass ich Dich nicht gewarnt hätte, das könnte nämlich hässlich werden!!
Was ich Dich schon die ganze Zeit mal fragen wollte: Warum eigentlich schreibst Du Deinen jüdischen Namen nicht aus? Da ist immer dieses »C.«, als wolltest Du etwas verstecken. Oder die Leute nicht damit überfordern – was ich mir bei Dir eigentlich nicht vorstellen kann. Worum geht es dabei?
Ja wirklich, Özlem?
Kannst Du nicht garantieren, dass das ›Ghetto‹ in Dir bleibt, wenn ich Dich »das kleine türkische Mädchen von Gastarbeitern« nenne? Das finde ich total spannend, da muss ich wohl in ein Fettnäpfchen getreten sein, von dem ich nichts ahnte. Denn was ist an dieser Bezeichnung – in dem Kontext, in dem sie stand – so schlimm? Ich bin auch nur ein kleiner Judenjunge eines Schmatteshändlers. Du weißt wahrscheinlich nicht, was »Schmattes« bedeutet. Es ist das jiddische Wort für »Klamotten«. Allerdings etwas abwertend. In Wien würde man sagen: »Fetzenhändler«. What’s wrong with that? Gastarbeiter, Schmatteshändler – das ist doch genau unsere Geschichte: Einwanderer, sozial erst mal eher schwach, zweite Generation muss sich nach oben durchkämpfen. Die Erfolgsstory, nein? Also das musst Du mir erklären, das interessiert mich ernsthaft, was Dich daran gestört hat.
Aber noch mehr würde es mich interessieren, wie das denn wäre, wenn das ›Ghetto‹ bei Dir an die Oberfläche käme. Kann mir schon vorstellen, was Du damit möglicherweise meinst: eine gewisse Aggressivität in Körperhaltung, Sprache, Ausdruck. Ja? Ist es das? Und warum lässt Du es nicht raus? Wegtrainiert? Unterdrückt? Angst, es herauszulassen? Angst, anzuecken? Schlecht für Karriere und soziale Beziehungen? Also sich immer ein wenig verstecken, nie sein, wie man wirklich ist, weil man das nicht so kann, denn es würde einem schaden? Oder man befürchtet, dass es einem schaden könnte? Also immer mit einem ›zweiten Gesicht‹ herumlaufen, dem ›deutschen‹ Gesicht, weil das wahre niemandem zumutbar ist?
Wenn’s das wäre, dann kenne ich das auch. Ich habe auch diese Mimikry, um in Deutschland durchzukommen. Und was ich auch kenne: Wut. Tiefe, unterdrückte Wut. So eine Grundwut. Wie zum Beispiel, wenn Thea Dorn tatsächlich die Chuzpe hat, diese ›Kabarettistin‹ Lisa Eckhart ins Literarische Quartett einzuladen. Diese Frau, die in ihrem Job so elendig schlecht ist, dass ihre angebliche Enttarnung antisemitischer Sprüche als reine antisemitische Sprüche rüberkommen, weil sie schlicht nicht in der Lage scheint, sie zu brechen, wie sich das in der Satire eigentlich gehört. Oder sie nicht brechen will? In der Häufigkeit, in der sie über Juden herzieht, ist mir eh klar, dass das kein ›Spiel mit Antisemitismus‹ ist. Punkt. Da können die deutschen Intellektuellen, die sich da super echauffieren, mir den Buckel runterrutschen. Ich brauche keinen nichtjüdischen Deutschen, der mir erklärt, was antisemitisch ist und was nicht. Vielen Dank. Maxim Biller hatte in seinem wütenden Artikel zu dieser Einladung in der SZ völlig recht. Da wird das Andenken eines Holocaustüberlebenden geschändet. Natürlich ist Marcel Reich-Ranicki gemeint. Und die Einladung kommt von Thea Dorn, einer Autorin, die ihren Kunstnamen von Theodor W. Adorno ableitet. Noch ein Jude, auch wenn er nicht als Jude erzogen wurde. Manno, das ist so irre gaga, und diese Selbstgerechtigkeit, mit der das inszeniert wird, diese »Wir-sind-so-superfrei-und-offen-und-lassen-uns-nichts-verbieten-wir-haben-doch-aus-der-Geschichte-gelernt-und-die-Juden-sind-bitte-die-Letzten-die-uns-zu-sagen-haben-wie-wir-uns-zu-verhalten-haben«-Haltung. Da kocht in mir unbändige Wut hoch. Die ich auch unterdrücke. Oder, wenn ich nicht mehr kann, dann schreibe ich sie mir aus der Seele. Und veröffentliche sie. Dann gibt’s kurze Aufregung und dann war’s das wieder. Es bringt eh nichts, aber man hat seinen Dampf abgelassen.
Darüber denke ich schon länger nach: über die Vergeblichkeit des Schreibens. Was das Schreiben noch bewirken kann. Gerade beim Thema Antisemitismus, das mich ja ein Leben lang in Deutschland begleitet, merke ich, wie alles, was man geschrieben, gefilmt, gesagt, getan hat, einfach so verpufft. Dass heute dieselben Schlachten geschlagen werden müssen wie vor 20 oder 40 Jahren. Nichts hat sich geändert. Gar nichts. Manchmal frage ich mich, wozu das eigentlich gut sein soll. Dieses Anschreiben gegen den Judenhass. Ich bin da zutiefst ambivalent. Einerseits ist es fast wie ein Zwang, darüber und dagegen zu schreiben. Andererseits, ganz ehrlich, langweilt es mich auch immer häufiger. Einer der Gründe, warum ich derzeit in Tel Aviv lebe, ist genau das: Ich muss mich dort nicht mit diesen Befindlichkeiten beschäftigen. Dort regen mich ganz andere Dinge auf, und das auch nicht wenig, klar. Aber dort habe ich keine Mimikry nötig, dort muss ich mich nicht ständig fragen, wie antisemitisch mein Gegenüber eigentlich ist. Und der Hass eines Palästinensers auf Israelis ist etwas vollkommen anderes als der Hass gegen Juden in Deutschland, in Europa.
Aber egal, es geht gerade nicht um Israel. Es geht um Deutschland. Irgendwie geht es immer um Deutschland, auch wenn ich weit weg bin. Und ich frage mich, was Schreiben eigentlich noch bewirken kann in dieser Welt, in dieser Zeit. Manchmal möchte ich so wahnsinnig gern verstummen. Stift aus der Hand legen, Computer aus, Texte weg. Nichts. Stille. Oder: Literatur schreiben (kein Talent, leider). Aber ich konterkariere mich ja gerade, indem ich schreibend darüber nachdenke, dass ich schreibe, dass ich nicht mehr schreiben will … Sehr konsequent, nicht wahr?
Also, wo ist Deine Wut? Wo lässt Du sie raus? Muss ja irgendwo sein. Ab wann hast Du das Ghetto ins Innere verlegt? Ich habe mein Ghetto erst wirklich in Israel ablegen können. Auch wenn in Israel politisch ziemlich viel schiefläuft und das Land eine leider sehr beängstigende Entwicklung durchmacht – der Populismus lässt grüßen –, so habe ich dort etwas erhalten, was ich als Jude in Deutschland nicht hatte. Die Selbstverständlichkeit, die Normalität des Judeseins. Und damit verbunden noch etwas anderes: Zur Mehrheit zu gehören. Mich nicht rechtfertigen zu müssen dafür, wer ich bin. Keine Rechenschaft, keine Erklärung, kein Minderwertigkeitsgefühl. Das nehme ich inzwischen mit, egal, wo ich bin. Ich trete innerlich anders auf in Deutschland als früher. Unabhängiger auch. Innerlich unabhängiger. Ich muss mich nicht mehr spiegeln im nichtjüdischen Deutschen. Ich warte nicht mehr auf Anerkennung, nicht mehr darauf, endlich akzeptiert zu werden.
Aber dennoch bin ich zwiegespalten, wenn ich mich frage, ob ich noch schreiben soll gegen den Hass, die Ignoranz, die Überheblichkeit, gegen die Überheblichkeit vor allem. Und doch weiß ich, dass ich es nicht lassen kann, lassen werde. Denn wenn diese Sehnsucht, die ›Welt zu verbessern‹, nicht mehr gegeben ist, dann kann man doch aufhören, nein? So wie ich gestrickt bin, kann ich (noch?) nicht verstummen. Vielleicht schaffe ich es ja eines Tages, vielleicht akzeptiere ich eines Tages, dass die Welt halt antisemitisch und rassistisch ist. Und das meine ich nicht resignativ oder fatalistisch. Das ginge gar nicht. Sondern irgendwie so ›buddhamäßig‹. So ein bisschen: »Ja mei, so san die Menschen, da kemma nix machen«, dieses nette bayerische Laisser-faire. So san’s halt, die Leit. Mit einem leichten, verständnisvollen Achselzucken.
Doch davon bin ich Lichtjahre entfernt. Wie Du siehst, wie Du weißt, wie Du liest. Sonst müsste ich Dir ja auch nicht mehr schreiben. Dann könnten wir uns irgendwo zurückziehen und was essen und trinken und Spaß haben und Deutschland Deutschland sein lassen, weil’s eh wurscht ist. Nein? Wär doch was. Apropos essen: Deine Auberginenstory hat in mir sofort irre Bilder hochgeholt. Israelisch-libanesische Grenze 2006: Der Zweite Libanonkrieg tobt, wir, das ARD-Team, sind in Metula direkt an der Grenze. Überall Lärm. Granaten- und Raketeneinschläge ebenso wie das Abfeuern eben derselben. Hin und her. Mein Team und ich hatten Hunger. Riesigen Hunger. Alles war im Umkreis von 50 km zu. Die Menschen saßen in ihren Bunkern, draußen auf der Straße war noch weniger Leben als während eines harten Corona-Lockdowns. Aber wir wussten von dem kleinen kurdischen Restaurant in Metula (liegt direkt gegenüber von einem Hezbollah-Stronghold auf der anderen Seite des Tals). Liora, meine Producerin, machte die Handynummer der Besitzer ausfindig, denn natürlich war das Lokal geschlossen. Sie konnte sie überreden, für uns aufzumachen. Mit dabei war noch ein Team von Antenne 2 und von der BBC. Nur für uns Journalisten begann das kurdische Ehepaar zu kochen. Wir tranken Bier und quatschten mit den Kolleginnen und Kollegen. Um uns herum der Lärm des Krieges. Manchmal krachte in unmittelbarer Nähe eine Schiiten-Rakete ein, aber das war uns egal. Wir hatten nur Hunger. Und bekamen natürlich riesige Fleischportionen aufgetischt. Herrlich! Nur Liora litt, denn auch sie ist Vegetarierin. Auch sie erhielt gegrilltes Gemüse, eine Riesenportion, denn sonst wird man ja nicht satt, dachten sich die Besitzer wohl. Es war herrlich. Mitten im Kampfgebiet ein großartiges kurdisches Mahl plus Bier, was will man mehr? Und wir wussten alle, dass wir diese Situation unseren Zuschauern nicht vermitteln könnten. Das würde niemand verstehen, wie man das macht, mitten im Beschuss in aller Ruhe zu essen. Wie das geht? Irgendwie auch ein Stückchen Fatalismus. Krieg? Ist so, kann man nichts machen, Hunger hat man trotzdem, das ist wichtiger. Komisch, wie der Mensch manchmal reagiert, nein?
Und nun noch schnell die Auflösung um das Geheimnis meines C. im Namen. Eine typisch ›deutsche‹ Geschichte. Mein jüdischer Vorname lautet Chaim Jossef. Oder Chaim Jossel – mein Vater gab mir den Namen meines in Auschwitz vergasten Großvaters. Aber wie so viele Juden vor und nach dem Krieg geben jüdische Eltern ihren Kindern auch einen ›bürgerlichen‹ Namen, damit man – wenn man nicht Cohen oder Levi heißt – nicht sofort am Namen als Jude erkannt wird. Meine Eltern nannten mich Richard, damit ich im Falle einer neuen Shoah an der Grenze auf der Flucht nicht sofort verhaftet würde. Richard, weil es den Namen auch auf Englisch, Französisch, Spanisch und Italienisch gibt (Ricardo bzw. Riccardo). Ich ihn also überall auf der Welt behalten könnte, falls ich eben doch fliehen müsste …
Also: Richard Schneider. Und dann passierte immer dasselbe in Deutschland. Leute lernten mich kennen. Und irgendwann erfuhren sie, dass ich Jude bin. Und dann, jedes Mal, veränderte sich das Verhalten. Zum Positiven, zum Negativen, egal. Aber immer war in dem Augenblick, in dem mein Gegenüber erfuhr, dass ich Jude bin, schlagartig alles anders. Nach dem Abitur entschied ich mich dann, das zu ändern. Ich begann mit »Richard Chaim Schneider« zu unterschreiben. Ich publizierte unter diesem Namen, im Vor- und Abspann meiner Filme stand der Name und so weiter. Damit die Nichtjuden sofort wissen, mit wem sie’s zu tun haben. Damit ich keine Überraschungen erleben muss.
Doch als ich Studioleiter der ARD in Tel Aviv wurde, wurde ich plötzlich gebeten, aus Chaim ein C. zu machen. Die Begründung: Der gesamte Name sei zu lang für die Bauchbinde. Ich hatte so meine Vermutungen, was wohl der wahre Grund für diesen Wunsch war. Aber es war mir letztendlich egal. Es weiß ja eh jeder, der’s wissen will, wer ich bin, was ich bin. Ich freute mich einfach auf diesen Job, Chaim oder C. – was soll’s. Dabei ist es dann geblieben. In den USA nennen mich einige meiner Freunde sowieso nur »CJ«, englisch ausgesprochen, obwohl man Jossel dort mit »Y« schreibt. In Deutschland bin ich also der Richard C Punkt. Ist doch auch lustig. Und Du bist für viele nicht Özlem, sondern Ötzslem, mit scharfem »Z«, nicht wahr?
Bisous – und lass das Ghetto raus! Yalla!
r.
Mein kleiner Judenjunge,
ich merke gerade, dass es keine so kluge Idee ist, Dir gegenüber Witze mit dem Wort »Ghetto« zu machen. Vor allem nicht als gute Deutsche.
Aber ja, lass uns über Wut sprechen. Oder »Grundwut«, wie Du es bezeichnet hast. Eine schöne Wortkreation, die sagt: Da ist eine Flamme, die nie so richtig erlöschen will. Wie diese nervige Scherzkerze auf der Geburtstagstorte, die, obwohl man pustet und pustet, nicht ausgeht. Zuerst denkst du, es liegt an dir, du hast nicht genug gepustet. Doch nach dem zweiten oder dritten Mal ahnst du, dass sie dich verarscht. Und irgendwann wird dir schwarz vor Augen.
Diese Grundwut haben viele, die so sind wie ›wir‹, manche wissen ganz genau, woher sie rührt, manche haben es vergessen. Es scheint da bei aller Unterschiedlichkeit ein gemeinsames Gefühl zu geben. Das Spektrum dieser Unterschiedlichkeit reicht von jenen, die deutscher sind oder sein wollen als die Deutschen, bis zu jenen, die sie verachten und niemals Teil dieses Landes werden wollen. Manche wechseln ihre Position in diesem Spektrum innerhalb eines Lebens auch. Manchmal wird diese Wut getriggert und zeigt sich, ganz plötzlich. Dieser Moment, als ich verstand, dass doch recht viele Menschen, mehr, als ich jedenfalls dachte, die Thesen von Thilo Sarrazin goldrichtig fanden. Muslime machen Deutschland dumm, quasi über die Gebärmutter. Weil sie so viele Kinder kriegen. Du erinnerst Dich an das Buch Deutschland schafft sich ab?
Ich habe Sarrazin damals selbst interviewt, zweimal sogar. Mein Eindruck war, dass ihm überhaupt nicht bewusst war, was er für einen Schaden anrichtete. Wie er spaltete. Er berief sich doch nur auf wissenschaftliche Fakten! Dass ihm eine die Gesellschaft verdummende Muslimin (na ja, Du weißt schon, wie ich das meine) gegenübersaß, hat ihn scheinbar gar nicht irritiert. Aber Sarrazin ist egal, es ging von einem bestimmten Punkt an nicht mehr um Sarrazin oder sein Buch. Es ging um die Säle, die er füllte. Die Anzahl der Bücher, die er verkaufte. Um den Applaus, das zufriedene Nicken. Dieses erhabene Gefühl: Endlich ist da jemand, der es ausspricht. Das war die AfD gewissermaßen als Gefühl. Als es die AfD noch gar nicht gab.
Nicht dieses Buch, sondern diese Zustimmung und diese freudigen Gesichter habe ich damals persönlich genommen. Ich habe mich bedroht gefühlt. Bürgerliche, ganz normale Menschen, die meine Nachbarn hätten sein können oder mein Erdkundelehrer in der Schule, radikalisierten sich. Klar, diese Leute sind nicht meine oder Deine Freunde oder Kollegen. Sie begegneten mir in Leserbriefen oder auf Veranstaltungen. Warum pfeifen türkische junge Männer in der Hochhaussiedlung blonden jungen Frauen hinterher, Frau Topçu? Wenn Sarrazin so unrecht hat, warum sind Migrantenkinder dann so schlecht in der Schule, Frau Topçu? Warum verschließen Sie Ihre Augen vor der Realität, Frau Topçu? »Ist Ihr ›stolzer‹ türkischer Anteil trotz liberaler Ausbildung zu hoch?« Das schrieb mir ein Ingenieur in der ZEIT. Mit Klarnamen und Adresse.
Wenn sich der eine oder andere fragen sollte, warum Leute wie Du oder ich die deutsche Nationalhymne nicht mitsingen, aber Eingewanderte in Frankreich oder den USA trotz des ganzen Rassismus dort ganz selbstverständlich sagen können: Ich bin Französin, oder ich bin Amerikaner, liegt in diesem Gefühl wahrscheinlich ein Teil der Antwort. Dieses Gefühl, das besagt: Wenn der deutsche Raging Bull unterwegs ist, kannst du machen, was du willst, du wirst untergehen. Deine ›Erfolgsstorys‹ kannst du dir sonst wohin schmieren.
Aber ja, natürlich, der dauerbeleidigte Kanake, nicht wahr? Man wird ja wohl noch sagen dürfen, dass eure Gene minderwertig sind, gibt ja schließlich Meinungsfreiheit in diesem Land. Man darf das ja wohl so finden. Wir sind ja schließlich nicht in der Türkei.
Ich verstand damals, dass es nicht reicht, eine gute Ausbildung zu machen, ein gutes Leben zu führen, sich den Regeln einigermaßen zu fügen, Abitur zu haben, ein Studium zu absolvieren, das einem die Fabrik- oder Gemüsetürkeneltern spendierten, die ja nach Sarrazin für die Verdummung der Gesellschaft sorgten. Und um die Geschichte über die Verdummung zu hören, dafür bezahlten eine Menge Leute viel Geld.
Ich hatte damals den Eindruck, und habe ihn heute noch viel mehr, dass man sich als Nichtdeutsche diesen ganzen Schwachsinn gewissermaßen auch noch wohlerzogen anhören muss, ohne sich zu beschweren. Wer das tut, wer Differenzierung einfordert, sensibel ist, dem wird sehr schnell und immer schneller vorgeworfen, sie oder er würde ›die Augen vor den Problemen‹ verschließen. Und die ›Braven‹ (Abi-Türken, Arzt-Araber), die sollen sich halt über ihre ›Erfolgsstory‹ freuen, stolz sein, dass sie ›es geschafft‹ haben. Dass Deutschland ihnen das ermöglicht hat. Ja, fein gemacht! Braves Ausländerkind! Hier, nimm Leckerli! Du kennst doch sicher den Sketch von Gerhard Polt mit Mai-Ling? Überhaupt, diese ganzen ›gelungenen Beispiele für Integration‹, die damals hier und da vorgestellt wurden, erinnerst Du Dich? Und die noch immer vorgestellt werden, bei jeder verdammten Runde dieses Diskurses. Gefühlt in jeder Talkshow. Als gäbe es da eine Beweislast.
Ich weiß, dass ich gerade unfair bin. Aber: Ich. Kann. Es. Nicht. Mehr. Hören. Ich habe dann das Bedürfnis, mich extra schlecht zu benehmen. Als ich Dir letztens androhte, das Ghetto herauszuholen, eher spaßig im Vorbeigehen (ich konnte ja nicht ahnen, dass Du so darauf herumhacken würdest), hatte ich all diese Assoziationen im Kopf, schätze ich.
Wenn’s gut läuft mit den Migranten, dann ist es quasi ein Wunder. Dann zeigt man sie gern vor, seine Mai-Ling, die so ›reinlich‹ ist. Wenn es schlecht läuft, sind alle irgendwie gemeint.
Ich bin über diese Erkenntnis nicht traurig, ich versuche einfach, eine nüchterne Haltung zu diesen Ereignissen zu entwickeln. Das ganze Schauspiel mehr wie eine Unbeteiligte zu betrachten. Ich meine, was haben ›wir‹ denn damals bei der nationalen Debatte zu Deutschland schafft sich ab erwartet, das geschehen solle – ein Aufstand der ›Anständigen‹, die sagen, lass den Ali gefälligst in Ruhe, das ist mein Freund (und Gemüsehändler meines Vertrauens)?
Ich könnte sagen, ich würde so gern sagen, sollen sich all diese Leute, die ein scheiß Geld bezahlt haben, um den »ehemaligen Bundesbanker« zu hören und ihm damit seine super gedämmten Fenster zu finanzieren, wie er uns einmal bei einem Interview erzählte, verpissen. Aber es wäre schlicht gelogen, dass mich das nicht nachhaltig beeindruckt hätte. Wir wollen über Wut reden? Manchmal denke ich, dass ich mir die Wut aberzogen habe. Das ist schon o. k. Ich trage sie wie das schönste Kleid: Nur noch zu besonderen Anlässen. Wer mag schon aggressive Türken? Schließlich waren wir nicht hierhergekommen, um unangenehm aufzufallen, sondern um zu arbeiten.
Und während ich Dir diese Zeilen schreibe, wird mir klar: Vielleicht begann diese »Man wird ja wohl noch sagen dürfen«-Paranoia genau damals, zu der Phase, die ich »Sarrazin I« nennen würde. Die Verhandlungen darüber ziehen sich bis heute hin. Nach zehn Jahren gibt es heute ein neues Wort für »Man wird ja wohl noch sagen dürfen«. Es lautet »Cancel Culture« und legt sich seit Monaten über jeden noch so vorsichtigen, hilflosen oder auch verkorksten Versuch, die Dinge zu differenzieren. Du hast keinen Bock auf rassistischen, antisemitischen, menschenverachtenden Scheiß? Du findest, das ist Kunst, aber dumme Kunst und nicht wahnsinnig anregend? Du findest es unverschämt und nicht die Speerspitze der Aufklärung oder eine interessante Provokation, das N-Wort zu sagen? Dann kannst du dir sicher sein: irgendjemand, der sich ganz besonders liberal findet und schon morgens beim Zähneputzen innerlich die freiheitlich-demokratische Grundordnung verteidigt, wird schon »Cancel Culture!« schreien.
Wollen diese Leute wirklich, dass die Grenzen immer weiter verschoben werden, frage ich mich manchmal. Und bis wohin eigentlich? Wann ist es genug? Bis sie selbst dran sind? So, genug herumgeOPFERt.
Ach Richard, mein Judenjunge, jetzt zwingst Du mich, mich mit Lisa Eckhart zu beschäftigen. Bis Du den Namen erwähntest, war mir die Figur egal. Ich habe da Mut zur Lücke. Heute ist es eine Lisa Eckhart, morgen eine andere. Aber Dir ist der Vorgang nicht egal, deshalb habe ich mir die Aufzeichnung der Sendung mit besagtem Auftritt angeschaut, in der sie diesen Witz reißt, über Harvey Weinstein, Roman Polański und Woody Allen. Also über Juden, die Frauen missbraucht haben sollen, haha, gerade deshalb sei die MeToo-Bewegung antisemitisch, schließlich sei es angebracht, dass man den Juden nach allem ein paar Frauen gönnt, denn Reparationszahlungen an Juden, das sei ja, haha, so, wie wenn man dem Chef von Red Bull einen Red Bull ausgeben würde.
Ich musste mir die Darbietung drei Mal anschauen, bis ich diese Konstruktion verstanden habe. Ich kann mich gar nicht daran erinnern, dass die jüdische Identität von Weinstein in der MeToo-Debatte jemals groß thematisiert wurde. Es ging vor allem darum, dass ein mächtiger oder von seiner Macht besessener Mann Verbrechen begangen hat; der überzeugt davon war, ein Recht darauf zu haben, Frauen zu demütigen.