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Können zwei Wochen dein Leben verändern? "Das Meer leuchtet türkis, besonders dort, wo es näher am Strand ist und es beginnt merkwürdig in meinem Inneren zu ziehen. Es fühlt sich an wie … Sehnsucht." Eigentlich konzentriert sich Thierry Laboulet ganz auf seine Karriere. Er lebt und arbeitet in Paris und jettet als angesagter Anwalt für Firmenfusionen um die ganze Welt. Als sein Großvater stirbt, vermacht er ihm ein altes Cottage in St. Ives. Doch Thierry hat keinerlei Interesse daran, es zu behalten und würde es am liebsten abreißen, um ein hübsches Hotel im Pariser Stil zu bauen. Dann trifft er Liv und es ändert sich alles … Liv Redfield ist lebhaft und setzt immer ihren Kopf durch. Sie liebt St. Ives und Cornwall über alles und lebt mit ihrer Großmutter Mabel in dem malerischen Küstenort. Wenn ihre Großmutter, die immer vergesslicher wird, das alte Cottage auf dem Hügel am Meer sieht, kehren ihre Erinnerungen zurück und sie ist so glücklich wie lange nicht mehr. Deshalb will Liv das "Blueberry Hill Cottage" unbedingt retten. Nur die zwei Wochen, die Thierry in St. Ives verbringt, bleiben ihr, um ihm die wahre Schönheit des Ortes zu zeigen. Die beiden kommen sich schnell näher. Doch kann Liv Thierry überzeugen, das alte Cottage zu retten und sein Herz zu öffnen? Oder sind die unerwarteten Gefühle der beiden nicht mehr als ein Sommerflirt? "Two Weeks Until Forever" ist eine herzerwärmende Liebesgeschichte über die Kraft der Erinnerung, die Schönheit der Natur und die Bedeutung von Familie und Freundschaft.
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Seitenzahl: 436
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Lia Haycraft
Two Weeks Until Forever
Roman
TWO WEEKS UNTIL FOREVER – EIN SOMMER IN ST. IVES
Können zwei Wochen dein Leben verändern?
„Das Meer leuchtet türkis, besonders dort, wo es näher am Strand ist und es beginnt merkwürdig in meinem Inneren zu ziehen. Es fühlt sich an wie … Sehnsucht.“
Eigentlich konzentriert sich Thierry Laboulet ganz auf seine Karriere. Er lebt und arbeitet in Paris und jettet als angesagter Anwalt für Firmenfusionen um die ganze Welt. Als sein Großvater stirbt, vermacht er ihm ein altes Cottage in St. Ives. Doch Thierry hat keinerlei Interesse daran, es zu behalten und würde es am liebsten abreißen, um ein hübsches Hotel im Pariser Stil zu bauen. Dann trifft er Liv und es ändert sich alles …
Liv Redfield ist lebhaft und setzt immer ihren Kopf durch. Sie liebt St. Ives und Cornwall über alles und lebt mit ihrer Großmutter Mabel in dem malerischen Küstenort. Wenn ihre Großmutter, die immer vergesslicher wird, das alte Cottage auf dem Hügel am Meer sieht, kehren ihre Erinnerungen zurück und sie ist so glücklich wie lange nicht mehr. Deshalb will Liv das „Blueberry Hill Cottage“ unbedingt retten.
Nur die zwei Wochen, die Thierry in St. Ives verbringt, bleiben ihr, um ihm die wahre Schönheit des Ortes zu zeigen. Die beiden kommen sich schnell näher. Doch kann Liv Thierry überzeugen, das alte Cottage zu retten und sein Herz zu öffnen? Oder sind die unerwarteten Gefühle der beiden nicht mehr als ein Sommerflirt?
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Alle Akteure des Romans sind fiktiv, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind vom Autor nicht beabsichtigt.
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Autoren- und Projektagentur Gerd F. Rumler (München).
Copyright © 2023 by Maximum Verlags GmbH
Hauptstraße 33
27299 Langwedel
www.maximum-verlag.de
1. Auflage 2023
Lektorat: Anita Wiebe
Korrektorat: Angelika Wiedmaier
Satz/Layout: Alin Mattfeldt
Umschlaggestaltung: Alin Mattfeldt
Umschlagmotiv: © kostins / Shutterstock, MARIA DETA ROSARINDA/ Shutterstock
E-Book: Mirjam Hecht
Druck: Booksfactory
Made in Germany
ISBN: 978-3-948346-90-4
Über das Buch
Inhalt
WIDMUNG
KAPITEL 1
Liv
KAPITEL 2
Thierry
KAPITEL 3
Liv
Thierry
KAPITEL 4
Liv
KAPITEL 5
Thierry
Liv
KAPITEL 6
Thierry
Kapitel 7
Thierry
Kapitel 8
Liv
Thierry
Kapitel 9
Liv
Kapitel 10
Thierry
Liv
Kapitel 11
Thierry
Kapitel 12
Liv
Kapitel 13
Liv
Kapitel 14
Thierry
Kapitel 15
Liv
Kapitel 16
Liv
Thierry
Liv
Kapitel 17
Thierry
Liv
Kapitel 18
Thierry
Liv
Thierry
Kapitel 19
Liv
Kapitel 20
Thierry
Liv
Kapitel 21
Thierry
Liv
Kapitel 22
Thierry
Liv
Kapitel 23
Thierry
Kapitel 24
Liv
Thierry
Kapitel 25
Liv
Thierry
Kapitel 26
Thierry
Liv
Kapitel 27
Thierry
Liv
Kapitel 28
Thierry
Liv
Kapitel 29
Thierry
Kapitel 30
Liv
Epilog
Liv
DANKSAGUNG
Die Autorin Lia Haycraft
Weitere Liebesromane im Verlag
Meine italienische Familie
Zwei Mädchen. Zwei Jungen. Ein Auto. Eine Gitarre.
Für Liane, schön, dich als Freundin zu haben. Ich glaube, deine Lina vom Kater würde sich gut mit meiner Liv verstehen.
In meiner Mittagspause gehe ich normalerweise nicht nach Hause, aber heute muss ich. Die Sonne scheint auf meinen Weg, ich weiche Touristen aus, werfe nur kurz einen Blick auf das Meer, die glitzernden Wellen, den dunkelblauen Streifen am Horizont. Vorhin habe ich Grandma eine Nachricht geschrieben, aber sie hat sie bisher weder gelesen noch hat sie darauf irgendwie reagiert. Und das ist einfach total untypisch für sie. Wieder zücke ich mein Handy und sehe nach. Nichts. Keine blauen Häkchen an meiner Nachricht und auch sonst kein Lebenszeichen von Grandma. Ganze vier Stunden.
Normalerweise guckt sie regelmäßig auf ihr Handy und hört auch den witzigen Signalton, den wir ihr eingestellt haben. Ein Froschquaken, von dem Grandma schwört, dass es klingt wie der Froschkönig aus einem Märchenfilm. Ich beschleunige meine Schritte, weil mein Herzschlag auf einmal schneller wird.
Der Weg kommt mir viel zu weit vor, dabei brauche ich normalerweise keine sieben Minuten von meiner Wohnung zum Salon. Jetzt sind es vermutlich nicht mal drei gewesen, so wie ich keuche, als ich vor der Treppe ankomme. Beim Hochrennen halte ich mich vorsichtshalber am Geländer fest, weil sich meine Beine anfühlen wie Pudding. Oben ramme ich den Wohnungsschlüssel ins Schloss und fluche, während ich mit unserem Geheimrüttelverfahren versuche, die Tür so schnell wie möglich aufzubekommen.
„Grandma?“, rufe ich, sobald ich drin bin. Ich zwinge mich, stehen zu bleiben und lasse die Geräusche der Wohnung auf mich wirken. Da ist nichts, oder? Alles ist still. Vielleicht ist Grandma gar nicht da, ist einkaufen gegangen oder einen Spaziergang machen und das sollte mich überhaupt nicht so nervös machen, wie es das tut. Sie ist erwachsen, sie kann auf sich selbst aufpassen. Gleichzeitig weiß etwas in mir, dass das eine Lüge ist.
Es ist still, aber da liegt ein Geruch in der Luft, den ich nicht sofort einordnen kann. Hat Grandma Kerzen angezündet? Ich fange an, die Wohnung systematisch abzusuchen, platze in jedes Zimmer wie eine Verrückte. Das Badezimmer ist leer, Grandmas Zimmer auch, im Wohnzimmer finde ich sie auch nicht. Als ich die Tür zur Küche aufstoße, wird mir schwarz vor Augen, ganz kurz nur. Der Schwindel weicht Panik. Eine Wolke Rauch quillt aus dem Backofen und ich stürze hin, um ihn abzustellen. Mit hektischen Handgriffen fülle ich eine Schüssel mit Wasser und reiße die Klappe auf. Macht man das so? Ich weiß es nicht!
Im Ofen kann ich erst nichts sehen, weil mich eine weitere Wolke Rauch umwirbelt. Flammen sehe ich keine, aber zur Sicherheit schütte ich das ganze Wasser aus der Schüssel auf das Backblech. Es zischt, weißer und schwarzer Rauch wirbeln durcheinander.
Endlich muss ich husten und ab da übernimmt mein Notfallsystem. Ich stürze zur Balkontür und reiße sie auf. Irritiert starre ich auf das schwarze Ding, was im Ofen liegt. War das mal ein Brot? Ist Grandma ausgegangen und hat vergessen, dass der Ofen an ist? Oder wurde sie aufgehalten und konnte nicht rechtzeitig zurückkommen? Ich werfe einen Blick zum Kalender, ob ich einen Arzttermin vergessen habe, und dann sehe ich sie. Ganz still und klein hockt Grandma auf dem alten Ledersessel unter dem Fenster. Ihr Kopf ist nach unten gesunken, die Hände liegen still in ihrem Schoß.
Mein Herz setzt aus und schlägt so schmerzhaft weiter, dass ich meine Hand unwillkürlich auf die Brust presse.
„Grandma?“, flüstere ich, als wolle ich sie nicht wecken. Meine Füße fühlen sich auf einmal so schwer an, dass ich keinen Schritt machen kann. Grandma gibt noch immer kein Geräusch von sich und ich versuche mich zu wappnen, als ich mich zu ihr umdrehe. Auf einmal ist kein Fitzelchen Schnelligkeit mehr in mir und ich bewege mich in Zeitlupe auf sie zu, strecke meine Hand aus und starre auf ihren Brustkorb, um zu sehen, ob sie noch atmet. Ich glaube schon, oder doch nicht?
Ich lege meine eiskalten Finger auf Grandmas Arm und streiche über ihre Haut. Mit einem Ruck hebt sie ihren Kopf an, ihre Augen weit aufgerissen.
„Grandma“, flüstere ich. Sie ist noch nicht richtig wach, sie scheint noch mitten im Traum gefangen. „Du bist eingeschlafen …“, murmele ich und weiß auch nicht, warum ich ihr das sage. Das wird sie ja wissen und eigentlich … „Tut mir leid, dass ich dich erschreckt habe.“
Ich lasse Pausen zwischen meinen Sätzen und versuche, mein Herz zu beruhigen. Es ist alles okay. Grandma hat nur geschlafen. Vielleicht war sie nachts wieder wach und muss die fehlenden Stunden Schlaf nachholen. Nichts, worüber man sich aufregen müsste.
„Was ist los?“, fragt Grandma. Ihre Stimme ist ganz dünn.
„Tut mir leid“, wiederhole ich. „Du bist eingeschlafen und ich habe mir Sorgen gemacht.“ Ich gestikuliere Richtung Ofen. „Ich fürchte, das können wir nicht mehr essen.“
Ihr Blick hält mich fest, irrt dann einen Moment im Raum umher und findet schließlich den Backofen. „Was ist das denn?“
Immer noch finde ich ihre Stimme fremd, da fehlt etwas, aber auch das liegt ganz bestimmt an der Müdigkeit.
„Dein Gebäck ist verbrannt. Ein Brot, vermute ich?“ Sobald der Satz raus ist, möchte ich ihn zurücknehmen und umformulieren, denn in Grandmas Augen bilden sich Tränen.
„Ich bin eingeschlafen und habe das Brot vergessen …“
Dass sie es noch weiß, halte ich für ein gutes Zeichen.
„Das kann doch mal passieren. Hast du schlecht geschlafen letzte Nacht?“ Ich streichle über ihre rastlosen Finger, die an ihrem Rock herumzupfen, während sie abwechselnd zum Backofen und zu mir sieht.
„Natürlich, da waren wir doch so spät im Bett!“ Ihr Gesicht hellt sich auf, dafür habe ich jetzt den Eindruck, in einer fremden Welt gelandet zu sein. Wir haben uns gestern Abend wie immer um zehn Uhr verabschiedet und sind in unsere Schlafzimmer gegangen. Das war nicht später als sonst. Aber ich knipse ein Lächeln an, um Grandma nicht wieder zu beunruhigen, wo sie endlich wieder mit der Welt im Reinen scheint. „Ein neues Jahr! All die Möglichkeiten, Livvie! Und …“ Sie schweigt einen Moment und sieht mich irgendwie bedeutungsschwer an, während ich versuche, nicht in Panik zu verfallen. Ein neues Jahr?
„Ich bin ganz sicher, dass du Michael vergessen wirst, wenn du eine neue Liebe triffst und das könnte ja dieses Jahr passieren! Man weiß nie, wo die Liebe lauert.“ Sie sieht verträumt zum Fenster, und bemerkt offenbar nicht meinen vermutlich völlig entgeisterten Blick.
Michael? Michael ist fünfzehn Jahre her. Er war mein erster Freund. Grandma ist offenbar soeben im Jahr 2008 aufgewacht, am Neujahrstag vielleicht sogar. Sie muss geträumt haben. Ganz bestimmt. Endlich finde ich meine Stimme wieder und mir fällt gleich ein, was ihr helfen könnte.
„Grandma, kommst du mit zu Rose? Sie ist heute im Salon und wartet schon mit dem Tee auf dich.“
Grandmas Gesicht hellt sich auf. „Rose! Wie schön! Wir haben uns ewig nicht gesehen, ist sie schon von ihrer Reise zurück?“
Ich wage nicht zu glauben, dass Grandma von Roses letzter Reise spricht. Sie meint die Weltreise von vor fünfzehn Jahren, als Rose den Salon an ihre Tochter für ein Jahr Weltreise übergeben hat. Danach hat sie noch vier Jahre in Teilzeit gearbeitet, bevor sie in Rente gegangen ist. Fünfzehn Jahre. Für Rose ist viel passiert in der Zeit, für Grandma auch. Vor vierzehn Jahren ist ihr Mann gestorben, mein Grandpa George. Auch wenn ich nie so ein enges Verhältnis zu ihm hatte wie zu Grandma, vermisse ich ihn an manchen Tagen immer noch ganz schön, und Grandma tut das auch, natürlich.
„Ob George mitkommen möchte?“, fragt Grandma und mein Herz wird ganz schwer. Muss ich ihr sagen, dass er nicht mehr lebt? Dass wir das Jahr 2023 haben? Das kann ich nicht. In diesem Fall hoffe ich fast, dass sie Grandpa gleich wieder vergisst. Es ist schon seltsam, zum allerersten Mal wünsche ich mir, dass Grandma etwas vergisst. Ich verziehe den Mund und sehe auf die Uhr. Wir haben noch Zeit für einen kleinen Spaziergang. Bestimmt hat der Rauch des kokelnden Brotes ihre Erinnerungen vernebelt. Ja! Das kann doch sein, oder? Frische Luft wird ihr guttun.
„Komm, Grandma, lass uns gehen. Die Sonne scheint heute wieder so schön.“ Das Wetter lenkt sie immer ab. „Wir könnten einen kleinen Schlenker über den Strand gehen“, locke ich sie und siehe da, das funktioniert. Dass sie den Strand liebt, vergisst sie nie, egal in welchem Jahr sie gerade in ihrem Kopf lebt. Denn den Strand hat sie schon geliebt, als sie ein kleines Mädchen war.
„Das ist eine gute Idee, Liebes.“
Munter plaudernd verlassen wir meine kleine Wohnung. Dabei rede ich so viel, dass Grandma es nicht schafft, sich auf ihre Umgebung zu konzentrieren. Ich atme erleichtert aus, als wir draußen stehen. Die schmale Straße hinunter zum Hafen kennt sie schon ewig, nur meine Wohnung habe ich ja noch nicht so lange. Grandma muss denken, dass sie mit meinem Grandpa George noch immer in der Porthminster Terrace wohnt. Wie schaffe ich es bloß, dass sie wieder im Hier und Jetzt ankommt? Sie wird Grandpa schrecklich vermissen! Mir fällt gleich ein, was ihr helfen könnte: Rose erdet sie immer. Oder kann es sie in die andere Richtung ziehen? Ob Grandma vorhin ihren Kopf gestoßen hat? Oder kommen diese Halluzinationen wirklich allein von der Rauchentwicklung aus dem Ofen? Mein Hals fühlt sich auch immer noch ganz rau an und sie war dem Rauch ja viel länger ausgesetzt als ich.
Grandma läuft leicht schlurfend neben mir her. Ihr Gesichtsausdruck ist wie immer, fröhlich, zufrieden und ganz entspannt. Was auch immer mit ihr los ist, ihr scheint es schon besser zu gehen. Sie blinzelt in den blauen Himmel und lacht plötzlich laut los. Leider sagt sie mir nicht, was sie so lustig findet und ich versuche es selbst zu entdecken, aber vermutlich ist es schon weg. Ein paar Möwen, die sich um einen Happen Brot streiten?
„Mabel!“, ruft jemand hinter uns.
Grandma bleibt sofort stehen, schirmt ihre Augen mit der Hand gegen die Sonne ab, dreht sich um und sucht diejenige, die nach ihr gerufen hat. Ich schicke ein Stoßgebet zu den Wolken, es ist Rose! Sie muss einen sechsten Sinn haben. Alles wird gut.
„Rose!“ Ich traue meinen Augen kaum, aber Grandma hüpft ganz leicht auf der Stelle, dann rennt sie auf ihre ehemalige Schulfreundin zu. Rose lacht und erwidert die wilde Umarmung, die sie von meiner Grandma bekommt. Was ist denn jetzt los? Woher nimmt sie auf einmal diese Energie? Ach, was soll’s, ich freue mich einfach darüber und laufe den beiden hinterher. Rose hat nämlich mittlerweile ihre Freundin bei sich untergehakt und führt sie zielstrebig an den Cottages vorbei zu unserem Lieblingsstrand: Porthgwidden Beach.
Rose und Grandma schlendern durch die schmale Straße. Die zweistöckigen aus altem Stein gebauten Wohnhäuser spenden willkommenen Schatten. Wir laufen an Blumenkübeln mit Geranien und Sukkulenten vorbei, ein Stück über den Parkplatz und schließlich erreichen wir den Strand.
Für einen Moment blende ich die Menschen aus, die sich sonnen und Eis essen, die Kinder, die zum Wasser rennen. Ich lasse meinen Blick über die grüne Landzunge wandern, wo der Küstenpfad entlangführt, durch kurzes Gras und dunkle Büschel voller rosafarbener Blümchen, die sich auf den Postkarten immer sehr fotogen zeigen. Das Meerwasser hat die Felsen davor dunkel gefärbt und sie sehen beinahe aus wie Schuppen auf einem Drachenrücken, der im flachen Wasser döst. Pärchen, Touristen und Einheimische haben ihre bunten Handtücher auf dem Sand ausgebreitet und genießen die Nachmittagssonne. Bunte Sonnenschutzzelte stehen überall, dazwischen in knalligen Farben gestreifte Windsegel. Viele Menschen sind da, mir sind es eigentlich zu viele. Ich mag den Strand am liebsten am frühen Morgen, wenn sich nur die mutigsten Schwimmer in das kalte Wasser stürzen oder die ortsansässigen Maler auf den Felsen thronen und versuchen, die ruhige Atmosphäre auf einer Leinwand einzufangen. Früher habe ich das auch gemacht, im Windschutz der kleinen Beach Hut meiner Eltern. Das ist viel zu lange her, ich sollte mir bald nochmal Zeit dafür nehmen. Es riecht nach frisch gebackenem Kuchen, salziger Meeresluft und Algen. Natürlich auch nach Sonnencreme, Sandstaub und … ach, einfach nach Sommer!
„Hast du Hunger, Mabel?“, fragt Rose und zwinkert mir zu. Ich weiß nicht, ob das heißen soll, dass ich gehen kann, immerhin muss ich gleich weiterarbeiten. Seltsam, ich werde das Gefühl nicht los, dass Rose weiß, was mit Grandma passiert ist. Dass sie gerade in der Vergangenheit festhängt. Vielleicht sollte ich mit ihr zu einem Arzt gehen? Am Ende hat sie eine Rauchvergiftung, die behandelt werden muss. Ich mustere meine Großmutter, aber sie wirkt nicht so, als würde es ihr schlecht gehen. Rein körperlich, meine ich. Genau genommen sprüht sie vor Leben wie seit Tagen nicht. Das muss doch ein gutes Zeichen sein.
„Mabel?“
„Hmm?“ Grandma reißt sich von dem sommerlichen Treiben vor uns los und fokussiert sich langsam auf Rose.
„Lust auf einen Cream Tea mit Scones?“, fragt Rose dieses Mal anders und Grandma nickt begeistert. Sie kommt mir merkwürdigerweise mittlerweile selbst vor, als wäre sie wieder ein junges Mädchen. Ich weiß nicht, ob ich gehen und die beiden allein lassen kann, aber als mein Handy klingelt und Amy sich vorsichtig erkundigt, ob alles okay ist, bestätige ich das. Irgendwie ist es okay und ich habe das Gefühl, dass Grandma bei Rose in besten Händen ist.
„Ich müsste zurück in den Salon“, sage ich, als ich das Gespräch mit Amy beendet habe.
„Du gehst zum Frisör?“, fragt Grandma. „Musst du keine Hausaufgaben machen? Frisörbesuche mache ich immer samstags …“
„Ich muss ein Interview für die Schule machen“, improvisiere ich und fühle mich schlecht, aber auch irgendwie wie auf einem Geheimauftrag. Mein Herz klopft dabei so schnell, als hätte es Angst, dass meine Lüge entdeckt wird. Und diese Angst habe ich tatsächlich, denn es steht mehr auf dem Spiel als bei, sagen wir, einem Geheimagenten. Wenn Grandma erkennt, dass ich ihr etwas vorspiele, wird womöglich ihr Vertrauen in mich für immer verloren gehen.
Paris
Das Klingeln an der Tür kommt höchst ungelegen, weil ich gerade los will. Genervt lasse ich die Aktentasche sinken und öffne. Natürlich sieht der Postbote gleich, dass ich eigentlich keine Zeit habe, deswegen deutet er nur knapp auf einen großen Karton, der zu seinen Füßen steht, ich werfe einen Blick auf den Absender. Ein Dankeschön brummelnd hebe ich den Karton an und trage ihn in meine Diele, stelle ihn dort direkt neben den Spiegel. Er ist ziemlich schwer. Ob mir Grand-père Bücher geschickt hat? Das sähe ihm ähnlich. Ich werde es mir nachher ansehen. Gerade will ich die Tür hinter mir schließen, da räuspert sich der Bote.
„Sieht wichtig aus“, bemerkt er.
Ich entdecke einen Sticker mit dem Wort „Eilt“. Weil das Paket aber von Grand-père ist, nehme ich es nicht ernst.
„Die Sticker hat er im Hunderterpack“, sage ich zum Postboten, obwohl er sich um seine weitere Post kümmern sollte und nicht so neugierige Blicke auf mein Paket werfen soll. „Ich kriege ständig solche Pakete.“
Der Mann schüttelt den Kopf, sagt aber nichts. Er tut gerade so, als hätte ich das Paket sofort in den Müll befördert. Ich ärgere mich, dass ich überhaupt etwas gesagt habe, das über „Guten Morgen“ und „Danke“ und „Au revoir“ hinausgeht. Das Paket steht sicher in meiner Diele, ich greife nach meiner Aktentasche und ziehe die Tür zu.
„Hoffentlich müssen Sie nur kurz weg“, sagt der Mann. Erst jetzt werfe ich ihm einen zweiten Blick zu. Er ist älter, als ich dachte, sieht aus wie ein Bodybuilder. Oder kommen seine Muskeln von den Paketen, die er ständig schleppen muss? Was für ein Glück, dass ich normalerweise nicht zu Hause bin, wenn die Post kommt. Jeden Tag brauche ich so eine Diskussion nicht. Leider ein ungelegener Zufall heute, dass ich meinen ersten Termin so spät habe. Immerhin habe ich meine E-Mails zu Hause abgearbeitet und Mandantentelefonate geführt. Alles nur wegen der Umbauarbeiten im Büro, wo man derzeit kaum sein eigenes Wort versteht. Nur noch einen Tag, dann sollte die Renovierung offiziell beendet sein. Wenn nicht, reiche ich eine Klage ein. Ich muss über meinen Standardspruch grinsen, dabei habe ich mit Klageverfahren gar nicht viel am Hut. Ist ein anderer Bereich.
„Sagen Sie nachher nicht, ich hätte Sie nicht darauf hingewiesen“, ruft mir der Postbote über die Schulter zu, als er die Treppe hinunterläuft.
„Werde ich nicht.“ Weil ich keine Lust habe, an dem Mann vorbeizulaufen oder ihm im Treppenhaus noch mal zu begegnen, nehme ich den Aufzug.
Das Surren merke ich immer noch im Magen, als sich die Türen öffnen und ich atme erleichtert durch, weil ich den Postboten nirgends mehr entdecken kann. Auch auf dem Weg zur Metrostation sehe ich ihn zum Glück nicht noch mal.
Der Geräuschpegel in der Metro hüllt mich ein. Als ich einen Sitzplatz ergattert habe, zücke ich mein Blackberry. Ich überprüfe meinen Kalender und suche mir dann eine passende Playlist für meine Laune aus. Drei Stationen später habe ich meinen Haltepunkt erreicht. Der späte Bürostart hat zumindest den Vorteil, dass die meisten Geschäftsleute schon in ihren Büros hocken und die Metrowaggons nicht mehr so voll sind. Wobei … jetzt sind natürlich viele Touristen unterwegs und die sind definitiv lauter als Geschäftsleute.
Ich drehe die Musik auf meinem Handy lauter und sie erfüllt meinen Kopf mit den Klängen eines ganzen Streichorchesters. Früher hätte ich nie damit gerechnet, dass ich hier ankommen würde: erfolgreich im Job mit durchgeplanten Arbeitstagen, durchgetakteter Sportroutine und immer wieder klassischer Musik in den Ohren. Am liebsten würde ich manchmal Mère anrufen, um sie anzuschreien, dass doch etwas aus mir geworden ist, aber ich tue es natürlich nicht.
Meine Schwester Veronique hat schon oft gesagt, dass ich mich mit unseren Eltern aussprechen soll. Sie kennt nur die halbe Wahrheit. Natürlich weiß sie, dass unsere Eltern selten zu Hause waren und sie war auch nicht diejenige, die mit ihnen ständig aneinandergeraten ist. Daher hat sie vermutlich nie die ganzen Sätze gehört, die ich immer noch Wort für Wort kenne. Sie war nicht schuld daran, dass unsere Mutter ihre Karriere aufgeben musste, das hatte sie zum Zeitpunkt von Veroniques Geburt längst getan. Ich bekomme schlechte Laune und schiebe die Erinnerungen an meine Eltern weit weg. Mein Vater hat heute Geburtstag, ich schicke ihm eine knappe SMS. Höflicher wäre ein Anruf, aber was interessiert mich, was höflich wäre? Von meinen Eltern habe ich das zumindest nicht gelernt, denn eine lieblosere Behandlung am eigenen Geburtstag hat nie jemand aus meiner Klasse bekommen. Jeder von denen hatte neue Sachen dabei, Geschenke der Eltern, selbstgebackenen Kuchen zum Verteilen. Wir nie. Ich atme tief durch, während ich auf die Rue Paul Baudry einbiege.
In diesem Moment vibriert mein Handy. So schnell bedankt sich Vater für die Glückwünsche? Damit hätte ich überhaupt nicht gerechnet. Es könnte aber auch Jean-Luc sein, der unser Schwimmtraining am Abend absagen will. Das müsste ich jetzt wissen, damit ich entsprechend umplanen kann. Aber es ist eine WhatsApp-Nachricht meiner Mutter. Was will sie? Mich an Vaters Geburtstag erinnern?
Eigentlich findet sie Geburtstage nicht weiter erwähnenswert, schließlich hat das Geburtstagskind nichts dafür geleistet, geboren worden zu sein. Das Argument, dass man sich einfach an diesem Tag für diesen Menschen freuen könnte, lässt sie nicht gelten. Wieder geht ein Vibrieren durch meine Hand, als ich das Handy gerade zurück in die Tasche stecken will. Veronique. Was ist denn heute nur los? Ich flüchte mich in den Eingang einer Bank, um dem Strom der Menschen zu entkommen. Am besten ich lese ihre Nachricht zuerst.
Hat sich Maman schon bei dir gemeldet?
Vor einer Sekunde. Hab’s noch nicht gelesen.
Setz dich, bevor du’s tust.
Ich starre auf ihre Worte und mein Herz klopft hart gegen meine Rippen. Irgendwas ist passiert. Ich bin froh, dass es offenbar nichts mit meiner Schwester zu tun hat, zumindest geht es ihr gut genug, um mir Nachrichten zu schicken. Der Treppenaufgang zu dem Bankhaus, vor dem ich stehe, hat eine Mauer. Ich setze mich darauf, stelle meine Aktentasche zwischen meine Füße und atme tief durch, dann öffne ich die Nachricht meiner Mutter. Es ist nur ein Satz.
Dein Großvater ist vorgestern verstorben. Ich weiß es erst seit eben. Melde dich.
Mir wird kalt, es rauscht in meinen Ohren. Ein Gefühl durchströmt mich, das ich nicht einordnen kann, bis meine Augen heiß werden. Grand-père ist tot.
Aber er hat mir doch vorhin noch ein Paket geschickt! Eins seiner merkwürdigen Geschenke, mit denen ich kaum je etwas anfangen kann, die es aber dennoch immer schaffen, dass ich lachen muss und ihn anrufe. Im Gegensatz zu meinen Eltern rede ich mit Grand-père regelmäßig. Bis jetzt. Er kann nicht tot sein.
Mein Handy brummt und ich lasse es beinahe fallen.
Es tut mir leid.
Veronique wieder. Während ich meine Schulferien bei meinem Großvater verbracht habe, hat man sie jedes Mal auf einen anderen Pferdehof geschickt. Sie hat längst kein so inniges Verhältnis zu unseren Großeltern und dennoch denke ich manchmal, dass sie die Normalere von uns ist. Diejenige, die ihr Leben nicht nur meistert wie ich. Sie ist jemand, der darin tanzt. Kein Ballett, eher kraftvolle Tänze und das ganz leise und unaufgeregt. Jeder Schritt passt genau zum vorherigen. Sie weiß immer, was zu tun ist, auch wenn es einen Ausrutscher gegeben hat.
Ich tippe ein schnelles „Danke“ an Veronique und keine Antwort an meine Mutter. Ich sollte ihr schreiben oder sie anrufen, aber ich bringe es nicht über mich. Zuerst habe ich Termine.
Sobald ich in der Kanzlei ankomme, geht es los. Nur dass heute die Dinge um mich herumplätschern, aber auch das merke ich ausgerechnet bei dem Geschäftsessen mit Monsieur Le Blanc, der uns mit einem riesigen Mandat betrauen will. Ich kann mich kaum erinnern, wie ich hergekommen bin. Worum geht es genau? Den Zusammenschluss mit irgendwem. Ich konzentriere mich ab jetzt auf seine Worte, aber plötzlich bricht er ab und sieht mich direkt an.
„Ist alles in Ordnung, Monsieur Laboulet?“
„Was? Ja, natürlich.“ Ich räuspere mich, weil meine Stimme so seltsam belegt klingt.
„Sie sehen mir aus, als könnten Sie eine Pause vertragen“, sagt er und klingt dabei gutmütig und nicht so, als würde es ihn ärgern. „Ihre junge Kollegin könnte doch übernehmen und Ihnen später berichten.“ Er lächelt Nicole zu, die ihm gegenübersitzt. „Ziehen Sie sich mal für ein paar Stündchen zurück. Sorgen sollte man nicht auf die leichte Schulter nehmen, was auch immer es ist.“
Ich starre ihn wortlos an. Sorgen? Leider nicht. Es ist mehr als das. Der einzige Mensch, der immer für mich da war, ist gestorben. Als er mir ein Taschentuch reicht, begreife ich allmählich. Lautlos laufen mir Tränen über das Gesicht. Ich spüre, wie Nicole mich anstarrt. Zu diesem Termin habe ich sie mitgenommen, damit sie etwas von mir lernen kann, wir haben sie erst letzte Woche eingestellt. Und jetzt das. Erstklassiger erster Eindruck. Vermutlich hat er recht, ich sollte mir den Nachmittag freinehmen. Auch wenn ich keine Zeit habe, so mache ich wohl kaum einen zurechnungsfähigen Eindruck. So nütze ich niemandem etwas.
Das bestätigt mir auch Marguerite, als ich von dem Lunchtermin zurück in die Kanzlei komme. Sie reißt die Augen auf, als sie mich sieht. „Chef! Ist alles in Ordnung? Haben Sie eine Allergie? Soll ich schnell zur Apotheke laufen? Bevorzugen Sie ein bestimmtes Mittel?“
„Allergiemittel? Nein, danke, das ist nicht nötig.“ Dieses Mal muss ich lachen. Eine Allergie traut sie mir zu, Trauer nicht. Wie wirke ich wohl auf sie? Wie der knallharte Anwalt, der sich nur über Erfolge freut? Trauer würde Mitgefühl voraussetzen. Wann habe ich das letzte Mal wirklich etwas gespürt außer Wut, Triumph oder Genugtuung? Vielleicht Neid, aber nur leicht. Vermutlich ist mir das passiert, wovor mich Grand-père Jacques immer gewarnt hat: Ich habe mich verloren, das Wesentliche vergessen und das wirkliche Fühlen verlernt.
Hart und erfolgsorientiert. Das sind die Worte, mit denen mich die meisten Leute beschreiben würden. Aber das muss ich ja auch sein als Anwalt, dem Mandanten vertrauen. Der besonnen den Überblick über die Rechtslage und das Beste für das Mandat im Auge behält. Da stören Gefühle nur, auf Befindlichkeiten kann ich keine Rücksicht nehmen. Man könnte argumentieren, dass das natürlich für meinen Job zutrifft, nicht jedoch auf mein Privatleben. Da kann ich wieder lachen, denn ein richtiges Privatleben habe ich schon lange nicht mehr. Ich habe Bekannte, mit denen ich mich zum Sport treffe, bin Mitglied im Golfclub. Für Freunde außerhalb meiner Arbeitswelt habe ich schon lange keine Zeit mehr. Für die Liebe schon gar nicht.
Aber ein Leben an meiner Seite kann man ohnehin keiner Frau zumuten, sie wäre ständig allein. Natürlich könnte ich mir eine Anwältin suchen, eine Geschäftsfrau, die genauso viel arbeitet wie ich. Aber wozu? Wenn ich nach Hause komme, möchte ich meine Ruhe. Das ist alles. Mir fehlt nichts.
Bis auf Grand-père.
Wann habe ich das letzte Mal mit ihm gesprochen? Vor fünf Tagen? Da hat er nicht erwähnt, dass es ihm schlechtgeht, oder? Hätte ich hören müssen, dass etwas nicht stimmt? Ich bin sogar kurz davor, Mère anzurufen, um sie zu fragen, woran er gestorben ist, aber ich lasse es. Wenn ich es in Details höre, werde ich alles vor mir sehen und das will ich nicht. Ich möchte an diesen stolzen, lebenslustigen Mann nur so denken, wie ich ihn zuletzt gesehen habe. Das ist schon ein paar Monate her, verdammt. Hätte ich das gewusst, ich hätte ihn nicht ständig vertröstet, sondern wäre hingefahren. Jetzt ist es zu spät dafür.
„Ich werde nach Hause fahren, mir geht es nicht so gut“, sage ich zu Marguerite, die noch immer vor mir steht und mich besorgt mustert.
„Natürlich. Ich verschiebe alle Termine oder delegiere sie für Sie, Thierry. Ruhen Sie sich aus.“ Sie hat einen mütterlichen Ton angenommen, der meine Augen erneut brennen lässt. Ich nicke und versuche den harten Knoten in meinem Hals herunterzuschlucken.
Ich gehe kurz in mein Büro, packe meinen Laptop ein und nehme dieses Mal die Treppe nach unten. In meinem Kopf sind nur noch Dinge, die mich an Grand-père erinnern, und der dringende Wunsch, nach Hause zu fahren. Weg von all den Kollegen, die mich nicht weinen sehen sollen, weg von Menschen, die mich ansprechen könnten. Also steige ich ohne Murren in das von Marguerite bestellte Taxi und lasse mich durch den dichten Verkehr von Paris kutschieren. Ich sehe aus dem Fenster, schaffe es aber nicht, die Umgebung wirklich wahrzunehmen. Die Farben verwischen. Bis vor drei Jahren hat Grand-père Jacques ebenfalls hier gewohnt, nur fünf Straßen entfernt von meiner. Dann ist er aufs Land gezogen. Dort habe ich ihn nur zweimal besucht. Und er kam kaum noch her. Jetzt ist es zu spät.
Die Stimme des Taxifahrers reißt mich zu spät aus meinen Gedanken und ich habe ihn nicht verstanden. Ich werfe einen Blick nach draußen und sehe, dass wir vor meinem Wohnhaus angekommen sind. Ich prüfe das Taxometer, zahle den Betrag plus Trinkgeld und entfliehe dem Wagen, der nach fremden Menschen und vom Alter aufgeplatztem Leder riecht. Draußen atme ich ebenfalls flach, weil ich in einer unsichtbaren Wolke aus Abgasen stehe. Genau wie Grand-père in der letzten Zeit immer gesagt hat. Die Stadtstraßen riechen nicht gut, nicht frisch.
Ich achte nicht mehr als sonst auf den Weg ins Haus, aber heute erinnert mich alles an ihn. Wie konnte ich all das vergessen, was Grand-père mir beigebracht hat? Seitdem ich in der Kanzlei arbeite, hat die Arbeit es Stück für Stück verdrängt. Früher war ich genau wie er immer Nase, Augen, Ohren. Ich war wirklich da. Habe meine Umgebung wahrgenommen, bemerkenswerte Dinge abgespeichert. Ich sollte es wieder probieren, ihm zuliebe.
Der Türgriff am Haus ist von der Sonne ganz warm, die Tür übt ein angenehmes Gewicht auf meinen Arm aus, endlich spüre ich etwas, das mich von der Traurigkeit ablenkt. Die Realität hilft, das Hier und Jetzt. Im Treppenhaus ist es kühl, es riecht nach Lavendel und altem Stein, der Holzpolitur vom Treppengeländer. Bis in meine Etage sind es sechsundfünfzig Stufen. Ich komme an sechs weiteren Wohnungstüren vorbei, zwei auf jeder Etage, sie sind allesamt blau gestrichen. Es ist ein dunkles Tiefseeblau. Ich erinnere mich daran, wie Grand-père es so genannt hat, aber dann hat er gesagt, dass es ihn eigentlich an das Gefieder einer Elster erinnert. Weil ich immer gedacht habe, dass diese Tiere schwarze und weiße Federn haben, war ich irritiert, aber er hat es mir gezeigt. Das war vermutlich das letzte Mal, dass ich einen Vogel wirklich angesehen habe. Früher habe ich so oft in Grand-pères Garten auf einer Decke gelegen oder warm eingepackt auf einem Stuhl gesessen, um Vögel zu beobachten. Auch am Strand und auf Waldspaziergängen, an Seen und Flüssen haben wir das gemacht. Vögel beobachten, notieren und vor allem zeichnen. Das ging am besten an Grand-pères Vogelhäuschen im hinteren Teil seines Gartens.
Das Geräusch meines Wohnungsschlüssels hallt im leeren Treppenhaus wider. Ich trete ein und versuche, tief durchzuatmen. Meine Wohnung wirkt auf einmal groß, kalt und verdammt einsam. Direkt in meiner Diele steht der große Karton, den mein Großvater mir geschickt hat. Ich lehne meine Aktentasche an die Wand und setze mich neben den Karton auf den Fußboden. Es ist ein Umzugskarton, von Grand-père mit bestimmt einer ganzen Rolle Paketklebeband umwickelt. Was hat er mir wohl geschickt? Wusste er zu dem Zeitpunkt schon, dass er sterben würde? Hat er deshalb einen seiner „Eilt“-Sticker daraufgeklebt? Vielleicht war es in diesem Fall ernst gemeint. Nun ja, ich werde es nie erfahren, wenn ich den Karton nicht öffne.
Ich rappele mich auf und hole die große Schere aus der Küche. Sorgsam durchtrenne ich das Klebeband, lasse den metallenen Zahn der Schere nicht zu tief eindringen, weil ich nicht weiß, was sich unter der Klappe verbirgt. Der Karton ist schwer, das habe ich schon heute früh beim Hereintragen gemerkt. Er fühlte sich voll gepackt an. Oder es liegen nur sehr schwere Dinge darin. Geklappert hat nichts. Bücher? Grand-père war ein Bücherwurm, wobei das Wort zu ihm nicht passt. Er war eher ein Lesekauz. Ein Uhu. Ein großer, weiser Vogel, den ich mir mit einer gold umrandeten Brille auf der Nase vorstelle. Mit Grand-pères verschmitztem Funkeln in den dunklen Augen.
Ich weiß nicht, was ich wirklich erwarte, aber als ich den Deckel des Kartons endlich öffne, fällt das Sonnenlicht auf einen dicken Stapel Bleistiftzeichnungen und anderer Bilder, die ich eindeutig Grand-pères Stil zuordnen kann. Vögel hat er am liebsten gezeichnet, Insekten, vor allem Käfer, Bienen, Schmetterlinge und Libellen. Mein Großvater hat alles geliebt, was fliegen konnte. Und das, obwohl er selbst so große Flugangst hatte, dass er nie in seinem Leben ein Flugzeug bestiegen hat. Urlaub haben meine Großeltern immer nur in ihrem Heimatland gemacht. Mit dem Auto oder dem Zug. Solange ich denken kann.
Behutsam hole ich die Blätter heraus, Aquarelle sind auch darunter, das erste davon ist eine Elster, die mich genau anzusehen scheint. Als ob sie wüsste, dass ich eben noch an ihr Gefieder gedacht habe, dass sie Thema in einem Gespräch zwischen mir und ihrem Maler war. Sie hat kluge Augen, einen neugierigen Blick. Unter dem Stapel Zeichnungen liegt eine A4-große Pappmappe, die vermutlich ebenfalls Bilder enthält. Darunter entdecke ich zwei bunte Pappkartons. Beide sind gelb, sonnengelb und zitronengelb. Eigentlich will ich wissen, was in den Kartons ist, aber ich schlage die Gummibänder an den Ecken der Mappe um und öffne sie.
Auf der Innenseite klebt eine Zeichnung. Ein Haus mit Garten. Obwohl es schwarz-weiß ist, kann ich die Farben erahnen. Oder spüren? Das warme Goldgelb der Mauersteine, das satte Grün der Blätter und das Rosa der Stockrosen. Es ist ein hübsches Haus und ich kann verstehen, warum Grand-père es zeichnen wollte. Alles wirkt beinahe ein wenig zu romantisch, zu perfekt. Ob meine Großeltern dort einmal Urlaub gemacht haben? Ich kenne das Haus jedenfalls nicht. Am unteren Rand stehen die Worte „Blueberry Hill Cottage“ und daneben die Signatur von Grand-père mit einer Jahreszahl. 1962, ich rechne kurz nach, da war Grand-père ungefähr achtzehn oder neunzehn. In dem Alter war er natürlich noch nicht verheiratet und ob er da schon alleine Urlaub gemacht hat? Eher ein Familienurlaub mit seinen Eltern?
Mein Seufzen schwebt durch die Diele. Ich würde ihn gerne fragen, aber ich bin auf mich allein gestellt. Weitere Zeichnungen liegen nicht mehr in der Mappe, sondern bedruckte Blätter, genau genommen offiziell aussehende Dokumente. Ich blättere durch die Sammlung. Grundbuchauszug, Kaufvertrag, Grundriss … und als Letztes ein Brief. Gut, genau genommen, ist es eher eine Notiz, Stichpunkte auf altmodischem Briefpapier notiert. Das Wort „Testament“ springt mir ins Auge. Und mein Name. In meinem Kopf weiß ich sofort, was das heißt, aber irgendwie kann ich es nicht greifen. Ich überfliege die wenigen Sätze und ja, hier werde nur ich erwähnt. Ich und das Blueberry Hill Cottage. Mein Erbe. Aber kann das überhaupt sein? Das hier ist kein offizielles Testament, oder? Und was hat das zu bedeuten? Noch einmal sehe ich mir alles in Ruhe an. Aus den Unterlagen entnehme ich sehr deutlich, dass das „Blueberry Hill Cottage“ meinem Großvater gehört hat. Er hat es von seinen Eltern geerbt. Es steht in Cornwall in einem Küstenort namens St. Ives. Ich starre auf die kleine Straßenkarte, auf der die Lage des Hauses eingezeichnet ist. Warum zum Teufel besaßen Grand-pères Eltern ein Haus in Cornwall? Und warum wollte er, dass ich es bekomme? Was soll ich damit? Aber hier steht eindeutig mein Name. Gut, es ist handschriftlich, es könnte ein Entwurf sein und das offizielle Testament liegt bei einem Notar.
Ich lehne mich zurück, lasse den Kopf an die Wand sinken und sobald ich nichts mehr mit meinen Händen zu tun habe, schwappt eine Welle der Trauer und Einsamkeit über mich. Grand-père ist fort. Ich werde ihm nie wieder eine Frage stellen können, nie wieder seine Stimme hören. Irgendwann schlafen meine Beine ein und ich stehe auf und gehe in die Küche. Meine Füße kribbeln bei jedem Schritt und trotzdem fühle ich mich wie betäubt. Als hätten mein Herz und mein Kopf jetzt erst kapiert, dass Grand-père wirklich fort ist.
Am Nachmittag platze ich schwer atmend in den Salon. Zum Glück sind gerade keine Kunden da. Die Luft riecht so, als hätte Amy gerade noch Haare geglättet. Ich liebe diesen Duft, besonders, wenn sie vorher das Apfel-Zimt-Shampoo verwendet hat.
„Amy“, rufe ich, bevor ich um die Ecke biege und sie mit dem Handy am Ohr auf dem Fensterbrett im Pausenraum finde. Ich bremse fast wie in einem Cartoon und muss kurz lachen, zucke entschuldigend die Schultern und verhalte mich leiser.
Amy redet eindringlich in ihr Telefon, und ich versuche nicht zu lauschen. Genau genommen ist es bestimmt gut, dass ich nicht gleich mit der ganzen Sache mit Grandma rausplatzen kann, sondern noch kurz Zeit habe, meine Gedanken zu sortieren. Bloß wie soll ich ihr alles schildern, ich habe meinen Verdacht noch kein einziges Mal laut ausgesprochen. Was ist eigentlich passiert? Genau genommen ist Grandma eingeschlafen und hat darüber das Brot vergessen, was ja nur natürlich ist, schließlich kann man im Schlaf schlecht an Dinge denken. Und durch diese ganze Rauchentwicklung in der Küche wurde sie etwas verwirrt. Das ist auch normal, oder? Bekommt man nicht Halluzinationen von so etwas? Meine Hand ruckt automatisch zu meiner Handtasche, um das Ganze auf meinem Handy nachzusehen, aber dann lasse ich es. Was, wenn das, was ich da finde, mir nicht gefällt? Man wird doch immer wieder davor gewarnt, Symptome im Internet zu suchen. Man soll zu einem Arzt gehen, wenn man etwas hat. Das trifft natürlich bei Krankheiten zu. Aber doch nicht bei Vergesslichkeit.
Ich bin noch immer völlig in Gedanken, als Amy sich räuspert. Mir ist gar nicht aufgefallen, dass sie aufgelegt hat.
„Was ist passiert?“, fragt sie.
„Grandma ist eingeschlafen.“ Ich breche ab.
„Aber deswegen machst du dir doch sonst keine Sorgen“, sagt Amy.
„Nein, es ist …“ Warum sollte ich es verschweigen? Also erzähle ich die ganze Episode, erwähne auch das verkohlte Brot, den Rauch in der Küche, die verwirrten Fragen, den Weg zum Strand und Rose, die jetzt mit Grandma am Strand Scones isst.
„Wart ihr mal beim Arzt?“, fragt Amy. Einfach so. Als hätte sie meine Gedanken von eben irgendwie mitbekommen.
„Nein, sowas wie heute ist noch nie passiert“, erkläre ich. „Also nicht in dem Ausmaß. Natürlich vergisst Grandma ab und zu mal etwas, aber dass sie denkt, wir hätten ein ganz anderes Jahr …“ Ich überlege, aber mir fällt wirklich keine ähnliche Situation ein. Geburtstage und wo man seine Brille hingelegt hat, das vergisst ja jeder mal.
„Es wäre bestimmt nicht verkehrt.“ Mir gefällt Amys Ton nicht. Sie klingt, als müsste sie mir eine schlimme Nachricht überbringen. „Es könnten erste Anzeichen sein für … dafür, dass es deiner Großmutter nicht gut geht.“
„Ihr geht es doch super, du hättest mal sehen sollen, wie schnell sie gelaufen ist, wie ein junges Mädchen.“
„Vielleicht braucht sie Medikamente“, sagt Amy und ich bekomme eine Gänsehaut.
„Bestimmt nicht“, sage ich lahm und starre aus dem Fenster.
Medikamente. Grandma ist doch gesund. Sie mag keine Medikamente. „Sie mag keine Ärzte“, sage ich leise.
„Wen hat sie als Hausarzt?“, fragt Amy, aber ich sehe sie nur mit leerem Blick an.
„Sie war ewig nicht beim Arzt.“ Das wird mir erst jetzt klar.
„Hier.“ Amy notiert etwas auf einen Zettel und gibt ihn mir.
„Dr. Jemma Watkins“, lese ich vor und straffe die Schultern. Seit vorhin ist da immer wieder ein Wort in meinem Kopf aufgeblitzt, was ich bis eben sehr gut zur Seite schieben konnte.
„Bestimmt ist alles okay.“ Amy drückt beruhigend meine Hand. „Es ist nur zur Sicherheit, falls deine Grandma etwas braucht, weißt du?“
Ich nicke wortlos. Amy nimmt mich in den Arm. Sie duftet nach Kaffee und Vanille.
„Bestimmt ist alles okay“, wiederholt sie und streichelt über meine Haare.
„Bestimmt.“
Als wir uns voneinander lösen, straffe ich die Schultern. Die Türglocke gibt ein zaghaftes Läuten von sich und Amy lächelt. „Ich geh mal nach vorne. Ich ruf dich, wenn es zwei Kunden sind, okay?“
„Okay.“
Amy redet vorne im Verkaufsraum mit jemandem, es klingt nach einem Mann. Er hat ein gekünsteltes Lachen, als wäre es ihm unangenehm, in einem Beautysalon zu sein. Natürlich könnte er einfach zum Haareschneiden da sein und die meisten Männer gehen ja wohl zum Frisör oder Barber. Aber an seinem leisen Ton höre ich eindeutig raus, dass er außerdem eine Beautybehandlung haben möchte. Ich lehne die Tür an, damit ich hören kann, wenn Amy mich ruft. Die Kunden sollen aber von meinem Telefonat natürlich nichts mitbekommen.
Ich atme tief durch und setze mich an den kleinen Tisch, lege den Zettel neben mich und angele in meiner Handtasche nach dem Handy. Es rutscht mehrfach wieder aus meiner Hand und ich fluche leise. Die Zahlen der Telefonnummer hüpfen auf dem Blatt Papier vor mir von links nach rechts und durcheinander. Ich muss mehrfach die Augen zusammenkneifen, sie wieder öffnen, tief durchatmen, bis ich es schaffe, die Ziffern in der richtigen Reihenfolge in mein Handy einzutippen.
Zum Glück tutet es in der Leitung nur dreimal, bevor jemand abnimmt, sonst hätte mich vermutlich der Mut verlassen.
„Arztpraxis Dr. Jemma Watkins, wie kann ich Ihnen helfen?“
„Guten Tag, ich …“ Meine Stimme ist so belegt, dass ich mich mehrfach räuspern muss. „Ich rufe an wegen meiner Großmutter.“
Offenbar merkt die Sprechstundenhilfe, dass ich mich schwertue. Sie stellt mir gleich hilfreiche Fragen. „Wie schön. Ist Ihre Großmutter Patientin bei uns?“
„Nein, bisher nicht.“
„Handelt es sich um einen Notfall oder eine Routineuntersuchung?“, fragt sie weiter. Ihre Stimme ist jung, aber sicher bin ich mir nicht. Die Praxis ist nicht in St. Ives, sie hat eine andere Vorwahl. Padstow, wenn mich nicht alles täuscht. Vielleicht ist das ganz gut.
„Sind Sie noch da? Wenn es ein Notfall ist, würde ich Ihnen einen Termin heute geben, ansonsten würde ich nachsehen, wann wir in den nächsten Wochen noch freie Zeiten haben.“
„Wochen“, wiederhole ich irritiert, obwohl ich natürlich weiß, dass das nicht ungewöhnlich ist. Man wartet manchmal Monate auf einen Termin, nur weil ich mir solche Sorgen mache, habe ich nicht damit gerechnet.
„Wenn es keiner sofortigen Behandlung bedarf.“
„Ich weiß es nicht“, sage ich ehrlich. „Aber es ist bestimmt kein Notfall.“ Oder? Irgendwas muss ich wohl sagen und so ertappe ich mich keine zehn Sekunden später dabei, wie ich der netten Sprechstundenhilfe alles haarklein erzähle. Am Ende hängt dieses schlimme Wort vor mir in der Luft, so grell, dass ich die Augen zukneife. Leider malt es sich dann einfach neu auf meine Augenlider, von innen natürlich.
„Ich verstehe“, sagt die Sprechstundenhilfe freundlich und unaufgeregt. Hoffentlich ist es nicht so schlimm, wie ich dachte. Es könnte für all das eine völlig logische Erklärung geben.
„Kann es denn an dem Rauch liegen?“, wage ich zu fragen.
„Ich möchte Frau Doktor da nicht vorgreifen, aber ich glaube, Sie müssen sich keine akuten Sorgen machen. Beobachten Sie Ihre Großmutter gut, machen Sie am besten Notizen, wann Ihnen etwas Ungewöhnliches auffällt. Da ist alles hilfreich, Uhrzeit, Tagesform, was genau sie vergisst oder durcheinanderbringt, sind es Ereignisse oder Dinge von heute oder gestern und kann sie sich dagegen an Dinge von früher erinnern? Notieren Sie dazu die Stimmung und sonstige Symptome.“ Ich schreibe mir hastig in Stichpunkten auf, was sie gesagt hat. Während sie spricht, blättert sie im Hintergrund durch irgendwelche Seiten, vermutlich ein Kalender. Ich warte mit angehaltenem Atem auf einen Terminvorschlag. Je weiter der Termin entfernt ist, desto undramatischer ist Grandmas Situation, oder?
„Gibt es einen Wochentag, der Ihnen und Ihrer Großmutter am besten passt?“
„Das ist egal, ich nehme mir dafür frei“, sage ich.
„Nächste Woche Dienstag um 11 Uhr?“, fragt sie und mir sackt das Herz ins linke Knie. Das ist ein ziemlich baldiger Termin.
„Das heißt, es ist ernst?“ Ich halte die Luft an.
„Ich kann dazu keine genauen Auskünfte geben, tut mir leid, das muss die Ärztin beurteilen. Aber wie gesagt, ich glaube, es besteht kein Anlass zur Sorge.“ Sie sagt es einfühlsam und das macht es für mich leider viel realer.
„Dienstag um 11 Uhr“, bestätige ich deshalb und nenne ihr auf Nachfrage noch Grandmas Daten und zur Sicherheit auch meinen Namen. „Vielen Dank, bis dahin.“
„Sehr gerne, passen Sie gut auf sich auf.“
Erschöpft lege ich auf. Mit einem Mal fühle ich mich so schwach wie nach einem Wandertag über den Cliff Path. Von nebenan höre ich leise Stimmen. Gleiche werde ich Amy von meinem Telefonat erzählen. Nächsten Dienstag hat Grandma also einen Arzttermin. Ich bin gespannt, was sie dazu sagen wird. Vermutlich, dass sie keinen Arzt braucht und die Sprechstundenhilfe den Termin anderweitig vergeben kann, weil sie nicht hingehen wird.
Ach was, natürlich wird sie mit mir da hingehen. Bestimmt kann ich ihr das so verkaufen, dass es sich nicht unheimlich für sie anhört und sie denkt, dass es Sinn macht. Ganz sicher.
Der restliche Tag fließt irgendwie an mir vorbei, ich schneide Haare, mache Gesichtsmasken, reinige Hautporen und unterhalte mich sogar, wenn es gewünscht wird. Als der Feierabend kommt, könnte ich allerdings nicht mehr wiederholen, was ich heute gesagt habe. Nach diesem Telefonat. Davon weiß ich noch jedes Wort, als hätte ich es mir auf den Handrücken tätowiert. Amy teile ich zwischendurch nur kurz mit, dass ich einen Termin bekommen konnte, nächste Woche schon, und wir tauschen die Schicht für den Tag. Sie wird früher anfangen und ich werde dafür nachmittags in den Salon kommen. Wir sind ja auch sonst nicht immer zu zweit da, das wird schon gehen.
Ich stecke mein Handy wieder in die Handtasche und stehe einen Moment unschlüssig im Hinterzimmer, als Amy mir die Hand auf den Unterarm legt.
„Das wird schon, du wirst sehen, alles ist halb so wild. Ein Spaziergang sozusagen.“
Ich nicke, auch wenn sich in meinem Kopf gerade tausend Gegenargumente bilden. Ich schiebe sie weg und beschließe, dass alles gut wird, weil ich mich jetzt darum kümmern werde. Es ist sogar schon so weit, dass ich überlege, meine Eltern mit einzubeziehen. Mum ist schließlich Grandmas Tochter und vielleicht hat sie noch eine gute Idee, aber ich will sie nicht beunruhigen. Mum hat oft genug ein schlechtes Gewissen, weil sie und Dad so weit weg wohnen. Dad geht es vermutlich ebenso, aber er würde es nie zugeben. Ich gönne den beiden ihr neues Leben, das sie am anderen Ende der Welt führen.
Auf dem Heimweg gehe ich langsamer als sonst, das fällt mir auf, weil ich die Pflastersteine zähle, mir die Namen all der Blumen aufsage, die die Bewohner in Kübel und Blumentöpfe vor ihre Häuser gepflanzt haben.
Meine Füße setzen ihre Schritte so bedächtig, dass ich hoffe, dass mich niemand beobachtet. Ich bin mir auf einmal nicht mehr sicher, ob es okay ist, dass ich einfach einen Arzttermin für Grandma mache, ohne vorher mit ihr darüber zu sprechen. Mit keinem Wort habe ich ihr gegenüber erwähnt, dass ich mir Sorgen mache. Ob Grandma überhaupt zu Hause ist? Seit ich sie bei Rose auf dem Strand gelassen habe, sind einige Stunden vergangen. Bestimmt hat Rose sie mittlerweile heimgebracht. Oder die beiden sitzen noch irgendwo am Strand oder bei Rose zu Hause. Ich zupfe mein Handy aus der Tasche und sehe nach, ob ich neue Nachrichten habe. Nein. In diesem Moment leuchtet das Display noch mal auf und eine kleine Eins erscheint bei Whatsapp. Mein Herz macht einen Satz und ich klicke darauf, bevor mich der Mut verlässt. Aber die Nachricht ist weder von Grandma noch von Rose, sondern von Amy. Sie bittet mich, ihr später zu sagen, wie das Gespräch mit Grandma gelaufen ist. Wenn Amy wüsste, dass ich immer noch unterwegs bin … O Mann, das gibt es doch nicht. Wo ist denn mein Mut, wenn ich ihn mal brauche?
Aber Amys Bitte bestärkt mich bei meinen Zweifeln, dass ich zuerst mit Grandma hätte reden sollen, bevor ich einen Arzttermin vereinbare. Warum ist der Rauchmelder eigentlich vorhin nicht angesprungen? Der hätte sie doch wecken müssen!
Ich schaffe es gerade rechtzeitig zum Schwimmtraining mit Jean-Luc. Als ich aus dem Wasser steige und auf die blau gestrichene Wand sehe, denke ich wieder an das Cottage in Cornwall. Blueberry Hill Cottage. Was verband Grand-père mit diesem Haus? War es ein Ferienhaus seiner Eltern? Warum hat er nie davon erzählt? Es hat ihm eindeutig gehört, also hätten wir dort umsonst Urlaub machen können. Vermutlich fasziniert es mich so, weil es ein Detail aus seinem Leben ist, das ich bisher nicht kannte.
Frisch geduscht sitze ich wenig später mit Jean-Luc an der Bar im Fitnessclub.
„Warst du schon mal in Cornwall?“ Ich sehe förmlich, wie Jean-Luc innerlich die Augen verdreht.
„Nein, aber ich musste manchmal früher mit meiner Mutter und jetzt mit meiner Frau diese Filme sehen. Spielen die nicht auch in Cornwall? Grüne Hügel, weißer Strand mit Felsen, violette Blumen.“
Da er mir schon von den kitschigen Filmen berichtet hat und mir gerne mal ein paar der Dialoge mitbringt, um diese für sich zu verarbeiten, habe ich jetzt ein genaues Bild vor Augen. Landschaften, die Frauenherzen zum Schmelzen bringen.
Ich nicke nur und er sieht mich skeptisch an. „Warum fragst du?“
„Mein Großvater hat dort ein Ferienhaus.“ Ich bringe es nicht übers Herz, ihm zu erzählen, dass Grand-père gestorben ist.
„Oh là là! Das ist doch toll. Und du willst jetzt Urlaub dort machen? Gibt bestimmt gute Frauen da“, sagt er und ich ziehe die Augenbrauen hoch. Klar, er will mich nicht verkuppeln. Er weiß genauso gut wie ich, dass das nicht funktionieren würde. Jean-Luc ist schon seit zehn Jahren verheiratet, mit der Frau, mit der er schon während der Abschlussklasse zusammen war. Und keiner der beiden hat so einen anstrengenden Job wie ich. Außerdem, was soll man machen, wenn man nicht die Richtige findet? Die Richtige wofür überhaupt? Mir geht es gut und ich brauche niemanden. Ganz einfach. Und was ich auch nicht brauche, ist ein Haus in Cornwall. Vielleicht möchte Veronique es haben.
„Eher nicht“, sage ich endlich, weil Jean-Luc noch immer auf seine Antwort zu warten scheint. „Hotels sind eher mein Fall.“
„Ein Ferienhaus hat viele Vorteile. Die Ruhe vor den anderen Gästen zum Bespiel und natürlich wesentlich mehr Platz“, sagt Jean-Luc in meine Gedanken und prostet mir mit seinem Fitnessjoghurtdrink zu.
„Ich brauche keinen Urlaub.“ Meine Antwort klingt schroffer als beabsichtigt.
„Wirklich? Wann hast du das letzte Mal Urlaub gemacht?“
„Im April.“
„Warst du da nicht auf dieser Fortbildung?“ Er sieht mich mit schräg gelegtem Kopf an, als wäre ich ein Exponat im Museum, aus dem er nicht ganz schlau wird.
„Sprachurlaub.“
„Chinesisch, richtig?“
„Genau.“ Ich will das Thema nicht vertiefen, mir hat dieser Urlaub viel gebracht. „Und du? Wann warst du zuletzt im Urlaub?“
„Wir fahren in drei Wochen. Vierzehn Tage Kreta.“ Jean-Luc sieht tatsächlich so aus, als freue er sich darauf. Es ist ja nicht so, dass ich das nicht nachvollziehen kann. Für manche Leute mag es Entspannung pur sein, am Strand ein Buch zu lesen oder am Pool ihre Podcasts zu hören, im Sonnenuntergang am Strand einen Cocktail zu schlürfen oder was auch immer. Aber ich brauchte das nie. Grand-père ist mit mir zwar oft ans Meer gefahren, aber das war immer in Frankreich, was völlig gereicht hat. Oft haben wir es uns damals in den Schulferien auch einfach zu Hause schön gemacht. Man spart die Zeit des Kofferpackens, die Dauer der Anreise, man hat alles da, was man braucht. Ein bequemes Bett und Platz. Wenn ich freinehme, nehme ich mir etwas Sinnvolles vor, das ist meine Art Urlaub. Warum sollte ich im Ausland Urlaub machen?
„Im Ernst, ein Tapetenwechsel tut einfach gut. Warum nicht mal etwas Neues ausprobieren, Thierry?“