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Weiße Magie ist gut, schwarze Magie ist böse… oder? Die Ära der weißen Hexen besteht seit Jahrhunderten, als Heilerin trägt Neva ihren Teil zur Gemeinschaft und dem anhaltenden Frieden bei. Die schwarzen Hexen wurden bereits vor langer Zeit ausgelöscht, außer einer kryptischen Prophezeiung ist von ihnen nichts übriggeblieben. Doch mit ihrem Verschwinden kam ein neues Unheil über die Welt – die Incubus. Als Neva erstmals auf die dämonischen Wesen trifft, wird sie zu einer Tat gezwungen, die ihr Leben ins Chaos stürzt. In ihr entflammt eine weitere Energiequelle, die ihr die Fähigkeit verleiht, auch schwarze Magie zu praktizieren. Gezwungen, sich ihrer inneren Dunkelheit zu stellen, erkennt sie, dass die Grenzen zwischen Gut und Böse verschwimmen. Ausgerechnet Korvin, der mysteriöse Anführer der Incubus, hilft ihr dabei, die Wahrheit zu erkennen und ihre schwarze Magie unter Kontrolle zu bringen. Von Beginn an verspürt Neva eine starke Anziehung ihm gegenüber, doch da ahnt sie noch nicht, dass diese Verbindung ihr Schicksal und das der gesamten Welt für immer verändern wird.
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Vanessa Dean
Types of
Witchcraft
Die Dunkelheit einer weissen Hexe
IMPRESSUM
Lektorat: Eva Pusch
Covergestaltung: Nadine Simoner
Vanessa Denke
c/o autorenglück.de
Franz-Mehring-Str. 15
01237 Dresden
ISBN: 9783759217172
TikTok: vanessa.dean.author
Instagram: vanessa.dean.author
Webseite: www.vanessadean.de
Jeder Mensch hat etwas Dunkles in sich, einen dunklen Kern, der sich in der Persönlichkeit manifestiert hat.
Im Buch werden Themen angesprochen, die als Trigger wirken könnten, daher befindet sich auf der letzten Seite eine entsprechende Warnung. Diese beinhaltet Spoiler für die gesamte Geschichte.
KAPITEL EINS
Als ich wieder zu mir komme, ist der hämmernde Schmerz in meinem Kopf allgegenwärtig. Die Schläge gegen meine Schädeldecke sind unerträglich und je weiter ich die Augen öffne, desto härter werden sie. Ich liege zusammengekauert auf einem harten Boden und Motorgeräusche drängen sich mir ins Ohr. Wie zur Hölle bin ich hier gelandet? Ich will mich gerade aufrichten, um meine Umgebung näher zu betrachten, als die Tür mit einem lauten Knall aufgerissen wird. Sofort sticht mir ein beißender Geruch in die Nase, der alle feinen Flimmerhärchen darin wegätzt. Bleiche und Chlor. Jemand packt mich grob unter den Armen, ich will um mich schlagen, doch da merke ich, dass meine Hände gefesselt sind. Meine Schreie sind so laut, dass mir der Hals wehtut und ich versuche ihm meine Ellbogen in den Bauch zu rammen. Ich kann einige Treffer landen, doch der Mann lockert nicht annähernd seinen Griff. Trotzdem höre ich nicht auf. Wenn ich am Ende in einer Chlortonne lande, werde ich es ihm bis dahin nicht leicht machen. Doch je mehr ich mich wehre, desto fester packt er zu. Er quetscht meinen Brustkorb zusammen und ich keuche nach Luft. Scheiße, was soll das alles? Was will der Typ von mir? Nach ein paar Metern werde ich auf einen Eisenstuhl geschleudert und kann endlich wieder richtig atmen. Doch meine Erleichterung hält nur für den Bruchteil einer Sekunde an, denn ich finde mich in einer trostlosen Lagerhalle wieder. Ich komme mir vor wie in einem schlechten Film, diese Absteige ist das reinste Klischee. Ich versuche ruhig zu bleiben, doch es ist, als hätte man mir die Panik mit einer Spritze injiziert und nun breitet sie sich Stück für Stück in meinem Blutkreislauf aus.
Passiert das gerade wirklich? Obwohl es eine warme Sommernacht ist, läuft mir kalter Schweiß über den Rücken. Ich blicke panisch um mich, vielleicht finde ich etwas, das ich als Waffe benutzen kann. Doch die Lagerhalle ist vollkommen leer, zumindest in den Bereichen, die durch das kalte flackernde Licht beleuchtet werden. Plötzlich legt sich ein Schatten vor mich und ich schaue in die ausdruckslosen Augen meines Entführers. Schlagartig wird meine Panik für einen kurzen Moment durch blankes Entsetzen verdrängt. Da ich bereits in einem horrorfilmähnlichen Szenario feststecke, hätte ich mit einem abgefuckten Mann mit Narbengesicht gerechnet. Doch vor mir steht das genaue Gegenteil. Er ist jung, vielleicht um die dreißig. Kurz geschorene braune Haare und eisblaue Augen, als würde ich in einen Gletscher blicken. Sein Gesicht ist kantig und hat dementsprechend eine harte Ausstrahlung. Er könnte genauso gut auf irgendeinem scheiß Laufsteg überteuerte Mode präsentieren. Ich würde ihm am liebsten sofort sein makelloses Gesicht zerkratzen. Er schaut mich nach wie vor ausdruckslos an, dann deutet er mit dem Kopf nach rechts.
»Heile ihn!« Seine Stimme ist genauso kalt wie sein Blick.
Ich folge seiner Bewegung und mein Herz setzt für einen Moment aus. Auf dem kargen Boden der Lagerhalle liegt ein verstümmelter Mann. Der Blutlache nach zu urteilen, ist er so gut wie tot. Ich kann sein Gesicht nicht erkennen, es ist geschwollen und vollkommen mit Blut verschmiert. Als angehende Unfallchirurgin habe ich bereits viele Schwerverletzte behandelt, aber noch nie war jemand nach einer Schlägerei derart zugerichtet. Ich trete näher an ihn heran und sehe eine Schnittwunde, die sich über die Wange des Mannes zieht. Das Blut quillt wie rote Tinte über sein Gesicht. Ich hocke mich neben ihn und spüre sofort die warme Flüssigkeit an meinen Knien. Sein Oberkörper ist von Messerstichen übersät, es ist ein Wunder, dass er überhaupt noch am Leben ist.
Ich lasse meine Hände über seinen Bauch schweben, um die inneren Verletzungen zu spüren. Es ist unmöglich ihn jetzt komplett zu heilen, daher muss ich mich auf die Verletzungen konzentrieren, die die Organe betreffen. Ich visualisiere die Wunden vor meinem inneren Auge, es dauert nur ein paar Sekunden, bevor ich sie klar und deutlich sehen kann. Als nächstes fokussiere ich mich auf die Heilung, die Zellen fügen sich zusammen und nehmen ihren ursprünglichen Platz wieder ein. Der menschliche Körper ist ein komplexes Zahnrad, wenn auch nur ein kleiner Teil wegbricht, kann das verheerende Auswirkungen haben. Ich presse meine ganze Magie in den Körper des Mannes und nachdem die tödlichen Verletzungen verschlossen sind, wacht er langsam auf. Die Prozedur war kräftezehrend, er stand bereits mit einem Fuß im Reich der Toten. Und auch wenn er gerade wach ist, er ist noch lange nicht über den Berg.
Ich wische mir den Schweiß von der Stirn und erhebe mich dann aus seiner Blutlache. Mein ganzer Körper zittert und ich habe das Gefühl, jeden Moment wie ein Betonklotz umzukippen. Augenblicklich tritt mein Entführer wieder auf die Bildfläche und schiebt mich zurück auf den Eisenstuhl. Mir fehlt die Kraft, um mich zu wehren, also stolpere ich rückwärts und krache fast neben dem Stuhl zu Boden. Meine Beine sind zittrig, ich wünschte Adrenalin würde durch meine Adern schießen, doch die anhaltende Panik lähmt mich wie ein Gift.
Mein Entführer reißt den Mann mit Leichtigkeit auf die Beine und schleudert ihn auf den zweiten Eisenstuhl. Dieser hat kaum die Energie, aufrecht sitzen zu bleiben.
»Und wie sieht es aus? Bist du jetzt bereit meine Frage zu beantworten?«, sagt er locker. Doch der Mann reagiert nicht, er schaut ihn nur trotzig an. »Ok, also auf in die nächste Runde.« Mit diesen Worten holt der Entführer ein Messer hervor und sticht es ihm ohne zu zögern in den Bauch. Als er die Klinge langsam wieder herauszieht, entsteht ein widerliches Sauggeräusch.
Ich bin nicht empfindlich was Blut, Knochenbrüche oder andere Verletzungen angeht, schließlich bin ich Chirurgin und eine Heilerin. Doch dieses Geräusch sorgt für Gänsehaut an meinem ganzen Körper. Wie ein Widerhaken setzt es sich in meinem Kopf fest, wenn ich versuche, das Geräusch zu verdrängen, kommt die Erinnerung daran mit doppelter Wucht zurück. Ich unterdrücke die aufkommende Übelkeit und konzentriere mich stattdessen darauf, meine Energiereserven wieder aufzufüllen. Ich muss so schnell es geht einen Weg hier herausfinden, sonst ende ich auch mit einem Messer in meiner Bauchhöhle.
Der Mann prustet vor Schmerzen, was den Entführer laut auflachen lässt. »Sag mir einfach, wo die Lieferung ankommt, dann kannst du gehen.« Ein Kopfschütteln später landet das Messer erneut im Bauch des Mannes. Die schmerzerfüllten Schreie hallen durch das ganze Gebäude wie ein Echo von tausend Gequälten und eine Sekunde später liegt er wieder ohnmächtig am Boden.
Sofort steht der Entführer vor mir. »Na los, du weißt was zu tun ist«, sagt er genervt.
Ich will diesem Arschloch nicht gehorchen, doch wenn ich mich weigere, wird der Mann sterben. Widerwillig gehe ich auf ihn zu, er hängt wie ein nasser Sack auf dem Stuhl. Ich lasse meine Hände erneut über seinem Bauch schweben und nur Sekunden später ist er wieder bei Bewusstsein. Zurück auf meinem Platz sehe ich zu, wie alles von vorne beginnt. Es ist wie eine Schallplatte, die immer und immer wieder dasselbe Lied spielt. Der Entführer stellt seine Fragen, der Mann antwortet nicht und wird abgestochen, ich heile ihn und dann beginnt das Lied wieder von vorn. Nach drei weiteren Durchläufen gelangt der Entführer schließlich an die Informationen, die er haben will.
Das Summen der Neonröhren klirrt in meinen Ohren und vernebelt mir langsam den Verstand, doch ich bin nicht so dumm zu glauben, dass es nun ein Ende hat. Dieser Psychopath wird mich hier sicher nicht einfach rausspazieren lassen. Meine Panik hat sich mittlerweile in Entschlossenheit gewandelt und ich brauche dringend einen Plan. Es muss doch eine Möglichkeit geben, wie ich hier lebend rauskomme. Ich werde überleben, koste es was es wolle. Sofort habe ich das Bild meiner Schwester vor Augen, ich werde sie sicher nicht zurücklassen!
Als ich erneut den Schatten vor mir wahrnehme, werde ich aus meinen Gedanken gerissen. Wieder starrt er mich mit diesen ausdruckslosen, eisblauen Augen an, mein Blut gefriert augenblicklich. »Was mache ich jetzt mit dir?«, sagt er mit einem Lächeln auf den Lippen. »Es ist zu schade, dass ich dich töten muss, deine Fähigkeiten sind wirklich sehr hilfreich. Schon mal darüber nachgedacht, für die Incubus zu arbeiten?«
Ein Incubus, natürlich! Wieso habe ich das nicht schon eher erkannt? Dieser kriminelle Abschaum! Die Ära der weißen Hexen erstreckt sich bereits über Jahrhunderte und damit auch der Frieden und die Gemeinschaft. Von den schwarzen Hexen ist abgesehen von einer kryptischen Prophezeiung nichts übriggeblieben, nicht mal der Grund für ihr Verschwinden ist bekannt. Natürlich begann meine Faszination bereits im Kindesalter und ich sauge seitdem jede Information wie ein Schwamm auf. Gerüchte über Rebellionen in den eigenen Reihen machten die Runde, aber niemand weiß, wie viel Wahres dran ist. Fest steht, dass die schwarzen Hexen nur Unheil über die Menschheit brachten. Es war eine Befreiung, als sie endlich ausgerottet wurden.
Doch wenn ein Unheil verschwindet, dauert es nicht lange, bis ein neues aus den Tiefen der Dunkelheit gekrochen kommt. Die Incubus sind dämonische Wesen, die die Träume anderer Lebewesen manipulieren und bösartige Gedanken säen. Ich bin mir sicher, der Großteil von Straftaten auf der Welt wurde durch die Incubus ausgelöst. Sie bringen die dunkelsten Gedanken in einem hervor und regen die Menschen zu schrecklichen Taten an. Ich bin noch nie einem Incubus begegnet, aber offensichtlich stimmt es, was man über sie sagt.
»Wenn du ihn tötest, lasse ich dich vielleicht am Leben«, sagt mein Entführer mit einem schelmischen Grinsen im Gesicht.
Rasende Wut fließt durch jede Ader meines Körpers. Und dann spüre ich die Dunkelheit, die mich schon mein ganzes Leben lang begleitet und die ich seither in mein tiefstes Inneres zurückdränge. Doch jetzt hat sie einen Spalt gefunden und quetscht sich wie schwarzer Nebel hindurch, um meinen Geist zu vergiften.
»Na los kleine weiße Hexe, töte ihn«, spottet er.
Meine Gedanken überschlagen sich, doch eines weiß ich ganz genau, ich werde nicht in dieser verdammten Lagerhalle sterben!
Plötzlich stehe ich hinter dem Mann, der immer noch kraftlos auf dem Stuhl kauert. Ich habe nicht einmal mitbekommen, wie ich aufgestanden und hierhergelaufen bin. Zum ersten Mal in meinem Leben ließ ich diese Dunkelheit zu. Ich will es nicht, doch etwas sagt mir, dass es die einzige Chance ist zu überleben! Ich schiebe alle Gedanken beiseite und konzentriere mich nur noch auf die dunkle Schlucht in meinem Inneren. Ich schwebe über einem Korallenriff und nur einen Meter vor mir liegt der dunkelblaue Abgrund, der in die Tiefen des Ozeans führt. Ein kalter, schwarzer Ort und ich habe keine andere Wahl, als darin einzutauchen, auch wenn ich dabei ertrinken werde.
Meine Hände wurden mit einem Seil gefesselt, dieses befindet sich nun um den Hals des Mannes. Mit aller Kraft ziehe ich es zu meinem Körper, Tränen rinnen über meine Wangen, doch es geht nicht anders. Die einzige Möglichkeit zu überleben ist es, eine Mittäterin zu werden. Alles in mir wehrt sich gegen das, was ich gerade tue. Das hier widerspricht allem, was ich bin.
Der Mann wehrt sich kaum, seine Kräfte sind schon lange aufgebraucht. Es dauert nur wenige Sekunden, bis sein Körper erschlafft, doch ich habe das Gefühl, ich hätte ihn stundenlang zu Tode gequält. Als sich meine Hände lockern, spüre ich eine unendliche Leere in meinem Inneren. Keine Wut, keine Dunkelheit, nur Leere. Ich bin eine Mörderin. Meine Berufung ist es, Menschen zu heilen, und gerade eben habe ich ein Leben genommen. Ich bin in den dunkelsten Tiefen des Ozeans, um mich herum ist alles schwarz und ich weiß nicht, ob ich je wieder den Weg an die Wasseroberfläche finden werde. Doch es ist noch nicht vorbei.
Mit leeren, starren Augen schaue ich meinen Entführer an. Er steht mit offenem Mund vor mir und als ich in seine eisblauen Augen blicke, erkenne ich … Hoffnung? Eilig löst er sich aus seinem Erstaunen und packt hastig seine Folterwerkzeuge zusammen. Ich stehe immer noch hinter dem Mann, den ich gerade getötet habe. Am liebsten würde ich mich heulend auf den Boden schmeißen und so lange schreien, bis meine Stimme versagt, doch ich bin noch lange nicht in Sicherheit. Wenn überhaupt, hat mir das nur etwas Zeit verschafft.
KAPITEL ZWEI
Mein Entführer wuselt an seinem Auto herum und verstaut sein Equipment. Dann öffnet er die Beifahrertür. »Los komm!«, sagt er harsch.
Wie ferngesteuert gehe ich auf den schwarzen Jeep zu und steige ein. Ein roter Duftbaum baumelt am Rückspiegel und ein künstlicher Kirschgeruch steigt mir in die Nase und in den Kopf. Ich wusste gar nicht, dass es diese Dinger überhaupt noch gibt. Der Motor brummt, er hat das Auto bereits angelassen, fährt aber nicht los. Stattdessen glotzt er mich an, wartet er auf irgendwas?
Sein Blick wandert zu meinem Gurt. »Anschnallen rettet Leben.«
Ich starre ihn fassungslos an und während ich meinen Gurt mit einem Klicken befestige, stelle ich mir vor, wie ich ihm eine Kugel mitten zwischen die eisblauen Augen schieße.
Dann fährt er endlich los. Sobald wir aus der Lagerhalle rausfahren, kneife ich die Augen zusammen, die Sonne ist gerade eben aufgegangen. Ich wurde die ganze Nacht durch eine Mischung aus Adrenalin und Panik am Leben gehalten, doch nun breitet sich die Erschöpfung in mir aus. Aber ich kann mich erst ausruhen, wenn ich von diesem Psycho weg bin.
Er sitzt fröhlich neben mir, dreht das Radio auf und trällert irgendwelche Pop Songs mit. Fuck, was geht hier gerade ab? Er verhält sich, als würden wir eine Spazierfahrt zu irgendeinem verdammten See machen. Dabei hat er eben stundenlang einen Mann zu Tode gefoltert, aber anscheinend ist das vollkommen normal in seinem verfluchten Leben.
Ich muss einen Weg finden, um zu entkommen. Meine Augen wandern zu der Türverriegelung und die Hoffnung durchfährt meinen Körper wie eine Schar von Schmetterlingen. Die Türen sind offen, doch ich muss auf den richtigen Zeitpunkt warten. Nein! Ich muss die nächstbeste Gelegenheit nutzen, ich weiß nicht, wie lange wir noch unterwegs sein werden. Vielleicht sind wir in fünf Minuten bereits da. Panik steigt in mir auf, doch ich kann sie nochmal zurückdrängen. Er wird wohl kaum eine Lagerhalle in unmittelbarer Nähe seiner Unterkunft mieten. Also gut, konzentriere dich, Neva, es muss einen Weg geben!
Wir fahren gerade auf einer Schnellstraße entlang, doch allmählich kommt der Verkehr ins Stocken. Die Autos vor uns lassen ihre Warnblicker aufleuchten und wir werden zunehmend langsamer. Plötzlich ertönt das sirrende Geräusch eines Krankenwagens. Normalerweise hasse ich diesen markerschütternden Ton, der mir jedes Mal einen Tinnitus ins Ohr treibt, doch dieses Mal ist es ein Klang der Hoffnung. Das ist meine Chance! Wenn es einen Unfall gab, dann ist wahrscheinlich auch die Polizei vor Ort.
Ich bin aufgeregt und mein ganzer Körper kribbelt, doch ich muss ruhig bleiben. Er darf mir nichts anmerken. Wir kommen der Unfallstelle näher und tatsächlich, ich kann bereits das Blaulicht von mehreren Polizeiwagen sehen. Mein Entführer ist tiefenentspannt, als hätte er gerade nicht mehrere Verbrechen begangen, wegen der er für Jahre in den Knast kommen würde. Doch dafür werde ich sorgen, dieser Psychopath wird im Gefängnis verrotten. Die Leiche ist nach wie vor im Lagerhaus und ich habe mir sämtliche Läden und weitere Anhaltspunkte eingeprägt, die in der unmittelbaren Umgebung liegen. Wir sind jetzt nur noch wenige Meter von der Unfallstelle entfernt und meine Anspannung steigt ins Unermessliche. Das Adrenalin schießt durch meinen Körper wie Blitze durch den Nachthimmel, als wir neben einem Polizeiwagen zum Stehen kommen. Jetzt oder nie!
Ich sammle meine ganze Kraft in meinen Fäusten und schlage dem Arschloch so fest ich kann gegen den Kehlkopf. Nach einem schmerzerfüllten Stöhnen umklammert er seinen Hals wie ein Kleinkind seine Schnabeltasse. In der Zwischenzeit habe ich bereits den Autogriff in der Hand.
Ein kühler Wind trägt mich zur Tür hinaus und sofort wird ein staksiger Polizist mittleren Alters auf mich aufmerksam. Seine Augen weiten sich, als er meine gefesselten Hände und das Blut an meinen Klamotten sieht. Er kommt auf mich zu gerannt und auch seine Kollegen sind in Alarmbereitschaft. Sofort deute ich auf den schwarzen Jeep, er zieht seine Waffe und geht schnurstracks darauf zu. Derweil kommt eine schwarzhaarige Polizistin mit einer Decke zu mir und legt sie mir sanft um die Schultern. Dann führt sie mich behutsam zu dem Polizeiwagen. Ich blicke noch einmal zu dem Polizisten zurück, der sich auf die Suche nach meinem Entführer begeben hat. Er eilt zu seinen Kollegen.
»Das Auto ist leer, doch er kann zu Fuß nicht weit kommen«, sagt er gefasst. Daraufhin schwärmen fünf Polizisten aus, die anderen beiden müssen die Unfallstelle weiter sichern.
Ich steige in das Polizeiauto ein und sacke erschöpft auf dem Rücksitz zusammen. Es ist vorbei! Ein Gefühl jagt das andere – Glück, Trauer, Erleichterung und vor allem die Schuld. Sie beißt sich wie ein Hai in das Innere meiner Seele und lässt nur Fetzen davon zurück.
»Sind Sie verletzt?«, erkundigt sich die Polizistin besorgt.
Ich schüttle den Kopf.
»Wären Sie bereit auf dem Revier eine Aussage zu tätigen?«, fragt sie vorsichtig.
Ich will eigentlich nur noch nach Hause, aber jetzt sind die Erinnerungen noch frisch. Also nicke ich ihr zu und einen kurzen Moment später fahren wir los.
Auf dem Revier angekommen, bringt mir die Polizistin einen dampfenden Tee. Als sich meine Hände um die Tasse schließen, spüre ich zum ersten Mal seit Stunden wieder etwas Wärme in meinem Körper. Ich erzähle ihr alles, die Informationen sprudeln förmlich aus mir heraus und sie notiert eifrig meine Aussage. Gleich zu Beginn berichtete ich ihr von der Leiche in der Lagerhalle, woraufhin sie sofort eine Einheit losgeschickt hat. Ich weiß nicht warum, aber etwas hielt mich davon ab ihr zu sagen, dass ich den Mann getötet habe. Sie ging sowieso sofort davon aus, dass es der Entführer war und ich habe ihre Annahme weder bestätigt noch verneint.
Nach zwei Stunden ist es endlich geschafft und ich trete erschöpft durch die Tür des Polizeireviers. Ich fühle mich nur noch wie ein Schatten meiner selbst, ein Geist, der durch die Welt der Lebenden schweift. Die Sonne wärmt meine Haut und ich schließe für einen Moment die Augen. Weiße Hexen ziehen ihre Kraft aus der Natur und ich habe schon immer eine tiefe Verbundenheit verspürt.
Plötzlich rennt mich jemand um, ich stolpere ein paar Schritte nach hinten und reiße panisch meine Augen auf. Doch ich spüre sofort, wer mich gerade in eine vor Liebe strotzende Umarmung nimmt. Erleichtert ziehe ich meine Schwester an mich, die mich halb zerquetscht.
»Es geht mir gut«, versuche ich sie zu beruhigen.
Doch das bringt sie nur noch mehr zum Weinen, ihr ganzer Körper bebt wie eine Naturgewalt. Erst jetzt merke ich, dass auch ich wie ein Schoßhund am Heulen bin. Langsam lösen wir die Umarmung und schauen uns gegenseitig in unsere tränennassen Gesichter. Ihr glattes weißblondes Haar klebt ihr an den feuchten Wangen und ihre silbernen Augen sind trüb.
»Ich kann nicht ausdrücken, wie froh ich bin, dass es dir gut geht«, wimmert Ophelia.
Ich nicke ihr zu, doch im gleichen Moment muss ich daran denken, was dafür nötig war. Ich habe einen Menschen ermordet, ich hauchte ihm mit meinen bloßen Händen das Leben aus. Plötzlich schießen mir tausend Gedanken durch den Kopf. Hatte er eine Familie? Sitzt in diesem Moment ein kleines Mädchen in ihrem Bett und wartet sehnsüchtig auf ihren Vater? Bevor ich mich weiter in Gedanken verlieren kann, tritt Ophelia zurück und meine Mutter kommt auf mich zu. Anmutig schreitet sie an mich heran und umarmt mich leicht verkrampft. Es fühlt sich irgendwie unnatürlich an. Ich kann mich nicht daran erinnern, wann mich meine Mutter das letzte Mal in den Arm genommen hat.
»In was für Schwierigkeiten hast du dich diesmal gebracht?«, fragt sie verzweifelt.
Typisch, natürlich geht sie davon aus, dass ich einen Teil dazu beitrage, was mir passiert ist. Ich liebe meine Mutter, aber wir sind grundverschieden. Ich glaube nicht, dass sie mich je richtig verstanden hat, und das wird sie auch nie. Es macht mich wütend, dass sie denkt, ich würde eine gewisse Schuld an alldem haben. Doch diesmal bin ich zu erschöpft für eine Diskussion mit ihr, ich will nur noch ins Bett. Also lasse ich ihre unangebrachte Aussage unkommentiert.
»Na los, gehen wir nach Hause«, sagt sie liebevoll, doch auch das fühlt sich unnatürlich an.
KAPITEL DREI
Ich liege in meinem alten Kinderzimmer und starre an die Decke, an der immer noch diese Leuchtsterne hängen, die im Dunkeln strahlen.
Die gesamte Autofahrt lang haben wir uns angeschwiegen, zum Glück! Ich hätte nicht die Kraft gehabt, die Geschichte nochmal zu erzählen. Als wir zu Hause angekommen sind, bin ich sofort unter die Dusche und dann ins Bett. Ich will nur allein sein, allein mit meinen Gedanken und mit dem, was ich getan habe.
Ich bin eine weiße Hexe und entschied mich dafür, mich auf die Heilkunst zu spezialisieren, um anderen zu helfen. Mit weißer Magie kann nur Gutes bewirkt werden, sie dient der Verbesserung des Lebens anderer Individuen. Doch ich habe diesen Mann auch nicht mit Magie getötet, sondern mit meinen bloßen Händen. Und dabei wurde ich von dieser unheilvollen Dunkelheit geleitet. Die Anwendung schwarzer Magie ist streng verboten, sie hat einen düsteren Ursprung und ist manipulativ und egoistisch. Aber abgesehen davon können weiße Hexen so oder so keine schwarze Magie praktizieren, es widerspricht unserer Natur. Auch wenn ich mir nichts sehnlicher wünsche, als unter Wasser atmen zu können – es ist genauso unmöglich wie schwarze Magie anzuwenden.
Doch seit ich denken kann, fasziniert mich die Kunst der schwarzen Magie, obwohl es kaum Aufzeichnungen darüber gibt. Es ist mir nach wie vor ein Rätsel, wie die schwarzen Hexen und ihr Andenken beinahe komplett ausgelöscht wurden. An meinem 18. Geburtstag konnte ich der Faszination nicht mehr widerstehen. Ich schlich mich nachts raus und wollte testen, ob es mir möglich ist, schwarze Magie anzuwenden. Mein ganzer Körper kribbelte vor Aufregung, aber natürlich war ich erfolglos, genau wie es uns meine Mutter von klein auf eingetrichtert hat.
Sie ist die Hohepriesterin unseres Covens. Damit steht sie den dreizehn Hexen in allen Belangen zur Seite, entscheidet über die Aufnahme von neuen Mitgliedern und tritt bei Ritualen als Vermittlerin auf. Wenn ich sie mal wieder auf die Palme bringen will, vergleiche ich unsere Gemeinschaft mit einer Sekte. Doch in Wahrheit ist die Bedeutung des Covens für jede Hexe individuell. Rückhalt, Ersatzfamilie, Schule, Religionsgemeinschaft, Zentrum für Erkenntnis. Oder auch ein magischer Käfig, so fühlt es sich für mich zeitweise an. Meine Mutter sieht darin eine Zusammenkunft von Hexen, die ihre Kräfte zum Zweck der spirituellen Befreiung bündeln. Von den anderen wird sie als Heilige angesehen, doch hinter verschlossenen Türen kann sie ziemlich garstig werden. Ich habe diese Scheinheiligkeit immer gehasst, gerade eben stritten wir uns noch zu Hause, aber wenn wir kurz darauf mit unserem Coven zusammen waren, spielte sie die stolze Mutter. Glücklicherweise konnte ich dem Ganzen mit meinem Auszug etwas entfliehen. Mein 18. Geburtstag ist nun sieben Jahre her und doch grüble ich wieder über die Anwendung von schwarzer Magie. Ich habe meiner Dunkelheit heute zum ersten Mal Raum gegeben sich zu entfalten. Und auch wenn ich es noch nicht genau definieren kann, hat es doch etwas in mir ausgelöst.
Obwohl ich hundemüde bin, rolle ich mich aus dem Bett und ziehe mir ein frisches Kleid über. Es lässt mir einfach keine Ruhe. Auf Zehenspitzen schleiche ich durch das Haus, einige der alten Holzdielen knarzen unter meinen Füßen und ich hole erst wieder Luft, als ich die Haustür hinter mir schließe.
Es ist wieder eine milde Sommernacht und ein kühler Luftzug weht mir durch die lockigen weißblonden Haare. Ich mache noch kurz in meiner Wohnung halt, schnappe mir eine schwarze Kerze und gehe dann zu dem angrenzenden Park. Leider hatte ich nie ein Buch über schwarze Magie in den Händen, denn mit dem Untergang der schwarzen Hexen wurde alles vernichtet. Jedoch sind schwarze Kerzen und das Pentagramm typische Reliquien, die kennt wirklich jeder.
Der Park ist zu meiner Überraschung noch recht belebt. Auf einer Bank zwischen zwei großen Eichen knutscht ein verliebtes Pärchen und auf der nächsten Bank schläft ein Besoffener seinen Rausch aus. Mein Weg führt an einem lila Blumenmeer vorbei und sofort steigt mir der Duft von Lavendel in die Nase. Ich laufe in eine spiralförmig angelegte Hecke in deren Mitte Sonnenblumen gen Himmel ragen. Geschützt vor neugierigen Blicken hole ich die schwarze Kerze aus meinem Rucksack und zünde sie an. Danach knie ich mich auf den Boden, zeichne ein Pentagramm aus Erde und stelle die flammende Kerze in die Mitte. Keine Ahnung, ob das irgendetwas bringt.
Von der unbekümmerten und leichten Sommernacht fehlt nun jede Spur. Die Luft ist schwer und ich habe das Gefühl, beinahe zu ersticken. Das Licht der Kerze tanzt unheimlich über die Hecke und das Pentagramm blickt mir unheilvoll entgegen, wie das Auge des Bösen. Meine Aufmerksamkeit richtet sich auf die Sonnenblume vor mir, ich werde versuchen, sie verwelken zu lassen. Im ersten Moment klingt es harmlos, doch wenn man den Gedanken weiterführt, dann könnte jemand mit solchen Kräften für weltweite Hungersnöte verantwortlich sein. Diese Vorstellung lässt mich erschaudern, doch ich muss einfach wissen, was ich da in meinem Inneren spüre. Ich will mich nicht mehr davor verschließen und ich habe sowieso das Gefühl, dass es auch nicht mehr möglich ist, nicht nach dem, was ich getan habe.
Ich konzentriere mich auf die Sonnenblume und darauf, ihr die Farbe aus jedem einzelnen Blütenblatt zu ziehen. Es widerstrebt jeder Zelle meines Körpers. Ich behandle zwar größtenteils Menschen, aber meine Fähigkeiten beziehen sich auf alle Lebewesen. Normalerweise fokussiere ich mich darauf, die Zellen wieder zusammenzufügen, ihnen Leben einzuhauchen und zu stärken. Doch nun kehre ich den Prozess um. Vor meinem geistigen Auge visualisiere ich den Verfall, das Altern der Zellen und ihr endgültiges Ableben. Gespannt öffne ich meine Augen, doch die Sonnenblume erstrahlt nach wie vor in einem zitronigen Gelbton. Ich sollte froh darüber sein, doch stattdessen macht sich Enttäuschung in mir breit. Wie sollte es mir auch gelingen? In der Ära der weißen Hexen hat schwarze Magie nichts verloren. Und vermutlich ist es auch besser so.
Gerade als ich die Kerze auspusten will, erinnere ich mich an die Anfänge meiner Heilerinnen-Ausbildung. Jede weiße Hexe muss sich an ihrem 21. Geburtstag für eine Spezialisierung entscheiden. Elementarhexen sind Meisterinnen im Umgang mit Feuer, Wasser, Luft und Erde. Dabei können sie sich auch nochmal explizit auf ein Element fokussieren und sich entsprechend ausbilden lassen. Energiehexen sind die Soldatinnen der ersten weißen Hexe. Dabei ist jegliche Art von Angriffen streng verboten, Energiehexen dürfen ihre Kräfte nur einsetzen, um sich zu verteidigen. Sie können Kraftfelder erschaffen und Elektrizität leiten, außerdem spüren sie die Energie anderer Hexen und können damit bestimmen, welcher Spezialisierung sie angehören. Kräuterhexen befassen sich hauptsächlich mit Pflanzenmagie, sie stellen Tränke, Öle und Elixiere her. Diese werden häufig in Ritualen eingesetzt. Ich entschied mich damals dazu, Heilerin zu werden. Natürlich unter Rebellion meiner Mutter, sie wollte, dass ich den Energiehexen beitrete. So könne man der ersten weißen Hexe persönlich dienen, was natürlich die größte Ehre ist. Sie war überglücklich, als meine Schwester verkündete, dass sie eine Energiehexe werden wolle. Ihr 21. Geburtstag ist erst eine Woche her und ihre Ausbildung wird bald beginnen. Ophelia stritt den Einfluss unserer Mutter zwar ab, doch da habe ich nach wie vor meine Zweifel dran.
Wie dem auch sei, zu Beginn meiner Heilerinnen-Ausbildung wurde uns beigebracht, dass Körperkontakt die Magie leichter fließen lässt. Also berührte ich die entsprechende Wunde, um sie schneller heilen zu können. Mittlerweile ist dies nicht mehr nötig, meine Kräfte sind vollkommen ausgeprägt. Doch bei der schwarzen Magie stehe ich komplett am Anfang, also wage ich einen letzten Versuch.
Ich umfasse die Blüte der Sonnenblume und visualisiere erneut den Prozess des Verfalls. Das Kerzenlicht flackert und plötzlich pustet ein scharfer Windzug die Kerze vollends aus. Jetzt sorgt nur noch die dämmrige Laterne ein paar Meter weiter für etwas Licht. Ich trete näher an die Sonnenblume heran und als ich meine Hand davon löse, gleiten verwelkte Blätter zu Boden. Mir schnürt es die Kehle zu und plötzlich spüre ich eine aufkommende Dunkelheit in meinem Inneren. Wie eine Monsterwelle aus Tonnen von Beton schlägt sie auf mich ein und zwingt mich in die Knie. Es ist eine unheimliche Macht und ich bin ihr vollkommen ausgeliefert, ich befinde mich inmitten eines tödlichen Meeresstrudels. Mit jeder Sekunde werde ich weiter in die Tiefe gerissen, tausend kreischende Leichen zerren an mir und ziehen mich mit in den Tod. Ihre Schreie hallen so laut in meinen Ohren wider, dass meine Trommelfelle jeden Moment zu platzen drohen. Gequält schlage ich mir die Hände gegen den Kopf, es fühlt sich so an, als würde er gleich explodieren. Mein Herz rast und ich zittere am ganzen Körper. Was habe ich nur getan? Was passiert mit mir? Ich liege wie erstarrt am Boden, der einströmende Schmerz lähmt mich und selbst das Atmen fällt mir schwer. Ich kämpfe gegen die Bewusstlosigkeit an, doch dann ist bereits alles schwarz.
KAPITEL VIER
Mit einem mollig warmen Gefühl komme ich wieder zu mir, ich liege in einem samtig weichen Bett und durch ein offenes Fenster weht eine angenehme Sommerbrise hinein. Von den betäubenden Schmerzen der letzten Nacht ist nichts mehr übrig. Ich horche in mich hinein und spüre meine weiße Magie, die pulsierende Energiequelle leuchtet strahlend hell, doch da ist auch noch etwas anderes.
Als ich die Beine aus dem Bett schwinge, landen meine Füße auf einem dunkelbraunen Parkettboden im Fischgrätenmuster. Die Wände sind schwarz, aber durch die meterhohe Decke wirkt das Zimmer nicht erdrückend. Ein pompöser goldener Kronleuchter hängt über einer Sitzgruppe aus zwei schwarzen Samtsesseln mit goldenen Füßen. Daneben ist ein Durchgang, aus dem schwarze Fliesen hervorblitzen. Die dunklen Farben lassen den Raum mysteriös und interessant erscheinen. Es würde mich nicht wundern, wenn es hier eine Geheimtür geben würde, die zu unterirdischen Tunneln führt. Wo bin ich?
Ich gehe auf einen schwarzen Vorhang zu, wo eigentlich eine Tür sein sollte, schiebe ihn zur Seite und laufe plötzlich vor eine Wand. Ich bin kurz irritiert, bis ich feststelle, dass die Wand ein beinahe zwei Meter großer Mann ist. Meine Hände liegen an seiner Brust und ich spüre deutlich seine Wärme und die harten Muskeln. Als ich in seine Augen blicke, stockt mir der Atem. Sie sind pechschwarz und bernsteinfarbene Funken blitzen daraus hervor, wie Sterne vor dem Nachthimmel. Er hat eine gerade Nase, einen geschwungenen Mund und sein Dreitagebart ist ebenso rabenschwarz wie sein Haar. Wir stehen so nah aneinander, dass sich unsere Lippen fast berühren. Das Blut in meinen Adern wurde soeben durch flüssige Erregung ersetzt. Ein Luftzug lässt den schwarzen Vorhang aufblähen und treibt mir seinen Duft in die Nase, eine Mischung aus Kiefernholz und Meersalz. Ihn umgibt eine gewisse Dunkelheit, doch das lässt mich nicht zurückschrecken, im Gegenteil. Sein Blick ist so eindringlich, dass ich das Gefühl habe, ich würde splitterfasernackt vor ihm stehen. Erst als ich eine Bewegung hinter ihm wahrnehme, stelle ich fest, dass ich die ganze Zeit über die Luft angehalten habe.
Und mit einem Schlag ist die Erregung verschwunden und stattdessen durchströmt rasende Wut meinen Blutkreislauf. Lässig lehnt er mit verschränkten Armen an der Wand im Flur, mein Entführer! Ich schiebe den schwarzhaarigen Mann zur Seite und stürme auf ihn zu. Sein Grinsen wird immer breiter, je näher ich komme. Das werde ich ihm gleich austreiben! Sein Mund formt sich bereits, um einen dummen Spruch hervorzubringen, doch bevor er auch nur einen Ton sagen kann, drücke ich ihm meinen rechten Unterarm gegen den Hals.
»Du hast mich zur Mörderin gemacht!«, schreie ich ihn an. Doch ich weiß, dass ich allein für meine Taten verantwortlich bin. Aber das ist mir in diesem Moment egal, dieses Arschloch hat mich überhaupt erst in die Situation gebracht. Er hat immer noch ein schiefes Lächeln auf den Lippen, also nehme ich meine linke Hand dazu und verstärke damit den Würgegriff. Jede Zelle meines Körpers wird von Wut durchflutet, ich habe noch nie so einen Hass verspürt wie in diesem Moment.
»Das reicht!«, sagt der schwarzhaarige Mann hinter mir. Seine Stimme ist kraftvoll und strotzt vor Entschlossenheit.
Ich hätte beinahe automatisch den Griff gelockert, aber ich bin noch nicht mit ihm fertig. Also stemme ich noch einmal mein ganzes Körpergewicht in den Unterarm und als ich von ihm ablasse, ramme ich mein Knie mit voller Wucht in seine Weichteile. Mit schmerzerfülltem Gesicht sinkt er zu Boden und flucht etwas vor sich hin.
Zufrieden wende ich mich wieder dem schwarzhaarigen Mann zu. Seine Ausstrahlung reicht, um zu wissen, dass er der Anführer der Incubus ist. Er ist von Dunkelheit und Macht umgeben und dennoch wirkt er irgendwie locker. Mit den Händen in den Hosentaschen kommt er langsam auf mich zu, sein Blick lässt nicht von mir ab.
»Was willst du?«, frage ich trotzig.
»Auf jeden Fall nicht so enden wie Ace«, antwortet er und richtet den Blick auf meinen Entführer, der immer noch wie ein Fötus am Boden kauert.
Ich verschränke meine Arme. »Wer bist du?«
»Korvin. Und jetzt komm, ich zeige dir, wofür du den Mann getötet hast.« Bevor ich widersprechen kann, ist er bereits losgelaufen und ich folge ihm. Egal, welche Informationen er mir zu dem Mann liefern kann, ich will es wissen.
Der Flur ist ebenso in schwarz gehalten und wird von verschnörkelten goldenen Bilderrahmen verziert. Die kriminellen Machenschaften der Incubus scheinen hervorragend zu laufen.
Mittlerweile sitzen wir in einer schwarzen Limousine und obwohl hier mehr als genug Platz ist, hat sich Korvin direkt neben mich gesetzt.
»Wie heißt du?«, fragt er beiläufig.
»Spar dir die Höflichkeiten, ihr hättet mich wohl kaum im Park gefunden, wenn du meinen Namen nicht kennen würdest«, gebe ich gereizt zurück. Ich habe keine Lust auf Spielchen. Auf seinem Gesicht ist keine Reaktion zu erkennen, nur eine Maske der Gleichgültigkeit.
»Wo fahren wir hin?«, will ich wissen.
»Zum Hafen.«
»Ist das die Information, die ihr von dem Mann haben wolltet?«
Er nickt. »Er hat den Tod verdient, du hast der Welt damit einen Gefallen getan.«
Ich wünschte, ich könnte das glauben, vielleicht käme ich dann besser mit meinen nagenden Schuldgefühlen zurecht. Es fühlt sich wie ein verfaulter Zahn an, ich habe die ganze Zeit ungeheuerliche Schmerzen, doch man kann den Zahn nicht ziehen.
Kurz darauf hält die Limousine. Wir steigen auf einem Plateau aus und haben somit freie Sicht über den Hafen. Der Himmel ist rötlich verfärbt. Früher hätte ich einfach die Schönheit der Natur genossen, doch jetzt lässt mich der Anblick der roten Schlieren, die sich durch die Wolken ziehen, an Blut denken – und das Blut klebt an meinen Händen. Ein scharfer Luftzug weht mir eine fischige Brise in die Nase und mit einem Hupen verlassen die Fischerboote den Hafen.
Ich liebe das Meer, ich könnte stundenlang auf die Wellen starren, ohne dass es Langweilig werden würde. So wie ich andere heile, hat das Meer eine heilende Wirkung auf mich. Sobald sich die Möglichkeit bietet, schnappe ich mir meine Schwester und wir fahren zusammen ans Meer. Es gibt für mich nichts Schöneres, als den feinen Sand unter meinen Füßen zu spüren. Ophelia sieht das anders, sie hasst es, wenn sich die feinen Körnchen wie eine zweite Haut um ihre nassen Füße schmiegen. Die nächsten zehn Minuten ist sie dann immer damit beschäftig, jedes einzelne Sandkorn penibel von ihren Füßen zu entfernen. Die Erinnerung bringt mich zum Schmunzeln, während das Kreischen der Möwen mich zurück in die Realität katapultiert.
Mein Blick wandert über die zahlreichen Container. Die bunten Tetris-Steine reihen sich kilometerweit auf und die Hafenarbeiter wuseln wie neonorange leuchtende Ameisen unter unseren Füßen über das Gelände. Am Hafen herrscht immer reger Betrieb, die Arbeit steht niemals still. Führerlose Fahrzeuge sausen über die Straßen und transportieren die zuvor abgeladenen Container. Die Sonne steht nun hinter den Kränen und lässt sie wie eine eiserne Armee aussehen.
Korvin hat einen dunkelblauen Container ins Visier genommen, der soeben von einem der Fahrzeuge rangiert wird. Als er an seinem rechtmäßigen Platz steht, positioniert sich ein bedrohlich aussehender, glatzköpfiger Mann mit einem Maschinengewehr davor.
»Schalte den Wachmann aus«, verlangt Korvin. Sein Befehlston lässt mein Blut vor Wut kochen. Was denkt er, wer er ist?
»Ich gehöre nicht zu deiner kriminellen Sippe«, fauche ich zurück. Doch wieder nichts, kein Anzeichen einer Reaktion in seinem Gesicht. Nur der gelangweilte Ausdruck, den er bereits seit der ersten Sekunde aufgesetzt hat. Also fahre ich fort: »Ich werde keine Befehle von dir annehmen und erst recht nicht für dich töten!«
»Du sollst ihn nicht töten, sondern nur ausschalten. Nutze deine schwarze Magie, du musst lernen, sie zu beherrschen.«
Seine Worte treffen mich wie ein Blitzschlag, ich habe gestern schwarze Magie genutzt! Natürlich habe ich das nicht vergessen, doch es ist irgendwie in den Hintergrund geraten. Aber wie ist das möglich? Weiße Hexen können keine schwarze Magie anwenden! Seit Jahrhunderten ist diese Art der Magie nur noch ein Mythos, wie konnte ich sie zurück in die Welt bringen? Eine bizarre Mischung aus Angst und Aufregung durchfährt meinen Körper. Wie wird sich meine Magie entwickeln und was sagt das über mich aus? Das Hupen eines Schiffes reißt mich wieder zurück ins Hier und Jetzt.
»Ich kann ihn nicht auf diese Entfernung ausschalten, um meine Magie einzusetzen, muss ich ihn berühren, anders geht es nicht«, sage ich geistesabwesend.
»Die Grenzen deiner schwarzen Magie setzt du selbst.« Korvin stellt sich etwas versetzt hinter mich. »Konzentriere dich. Du bist eine Heilerin, nutze das. Fokussiere die Atmung des Wachmannes und verlangsame sie.«
Keine Ahnung warum, aber ich höre auf das, was er sagt. Ich schließe die Augen und visualisiere den Mann, erst noch im Ganzen und dann fokussiere ich mich auf seinen Oberkörper. Gedanklich entferne ich die Rippen und den Brustkorb, sodass nur noch die Lungenflügel zu sehen sind. Die zuverlässigen Pumpen versorgen das Blut mit Sauerstoff, es sind die Kraftwerke des Körpers. Ich tauche gedanklich in das Organ ein und visualisiere, wie sich alles verlangsamt. Die Lungen pumpen keinen Sauerstoff mehr ins Blut, die Atmung setzt aus und es bleibt keine andere Option, als in Ohnmacht zu fallen.
Ich öffne die Augen und der Wachmann liegt tatsächlich bewusstlos am Boden. Nicht zu fassen, zu was bin ich wohl noch fähig? Am liebsten würde ich einen Freudentanz aufführen, das Adrenalin schießt durch meine Adern und ich kann es nicht abwarten, meine schwarze Magie weiter zu erforschen. Für einen Moment vergesse ich, wer da neben mir steht und lächle Korvin glücklich an. Er nickt mir bloß ausdruckslos zu und dann machen wir uns auf den Weg zu dem Container.
Während Korvin sich an dem Schloss zu schaffen macht, kontrolliere ich den Puls des Mannes. Alles in Ordnung, er wird bald wieder aufwachen. Ich kann es immer noch nicht glauben, ehrfürchtig betrachte ich meine Hände. Es ist komisch, natürlich sehen sie nicht anders aus, doch so wie ich mich fühle, sollten sie das. Mit einem lauten Quietschen öffnet Korvin die Containertür, ich hebe den Blick und stelle mich hinter ihn. Mein Körper wird stocksteif, sobald ich sehe, was im Inneren zu finden ist.
Ein Dutzend verängstigter Augenpaare kreuzen meinen Blick. Frauen und junge Mädchen kauern in den Ecken des Containers, auf ihren Gesichtern zeichnet sich das Grauen ab, das sie erlebt haben. Langsam trete ich näher. Mit jedem Blickkontakt durchbohrt mich das Leid, das ich in ihren Augen sehe, als würde man mir ein Messer in die Brust rammen. Ich knie mich zu einer mageren Frau, die auf dem Boden liegt. Sie ist klatschnass und ihre braunen Haare kleben an ihrem eingefallenen Gesicht. Die Hände sind blutig und pressen auf ihren Unterbauch, vorsichtig führe ich sie zur Seite, um mir die Wunde anzusehen. Eindeutig eine Schusswunde, sie wurde zum Sterben im Container zurückgelassen. Diese miesen Schweine! Gerade als ich anfangen will, sie zu heilen, spüre ich eine Hand auf meiner Schulter.
Korvin beugt sich zu mir runter, sodass nur ich ihn hören kann. »Du hast zu viel Publikum.«
Ich sehe mich um und stelle fest, dass alle Augen auf mich gerichtet sind. Meine Gefühle hatten mich so sehr im Griff, dass ich keinen klaren Gedanken fassen konnte. Ich arbeite nicht umsonst in der Unfallchirurgie, wir leben im Verborgenen, die Menschen wissen nichts von unserer Existenz. Ich reiße etwas Stoff vom Saum meines Kleides ab und presse ihn auf die Wunde. Mehr kann ich im Moment nicht für sie tun. Ich bitte eine andere Frau meine Position zu übernehmen und eile zu Korvin, er steht wieder vor dem Container.
»Sie müssen umgehend behandelt werden!«
Er nickt und im nächsten Moment kommen mehrere Transporter vorgefahren. Zu meiner Überraschung sind es voll funktionstüchtige Krankenwagen, die schwarze Lackierung ist der einzige Unterschied. Natürlich habe ich auf dem Weg hierher an meine Flucht gedacht. Ich wollte wissen, was für Informationen Korvin über den Mann hat und dann verschwinden. Aber der Plan hat sich soeben in Luft aufgelöst, ich lasse diese Frauen auf keinen Fall im Stich.
Ich steige in den Wagen, in dem die Frau mit der Schusswunde transportiert wird und sobald sich die Tür schließt, beginne ich mit der Heilung. Es hätte keine Sekunde später sein dürfen, sie ist bereits ohnmächtig.
Als der Wagen wieder zum Stehen kommt, bin ich mit der Behandlung fertig. Die Kugel ist entfernt und die Wunde verschlossen, jetzt braucht sie viel Ruhe. Die Tür des Krankenwagens öffnet sich und ausgerechnet Ace steht vor mir, doch jetzt ist keine Zeit für Streitereien.
»Sie wird wieder gesund, führe mich zu den anderen«, verlange ich.
Er nickt und gemeinsam rennen wir über einen nicht endenden Flur. Das Licht strahlt in einem kalten Weiß, genauso wie der gummiartige Fußboden, der bei jedem unserer Schritte leise quietscht. Ace bleibt vor einer verglasten Doppeltür stehen und stößt sie auf. Sofort steigt mir der vertraute Geruch von Desinfektionsmittel in die Nase und beruhigt meine Nerven. Eilig scanne ich meine Umgebung ab, um mir einen Überblick zu verschaffen.
Ich stehe in einem breiten Gang, links und rechts von mir reihen sich zahlreiche Krankenbetten. Um einige wurden bereits die blauen Vorhänge gezogen, wodurch die Betten voneinander abgeschirmt werden können. Piepsende Monitore durchbrechen die unheilvolle Stille. Normalerweise ist es in einer Notaufnahme eher laut und auch mal hektisch, aber hier ist alles still. Gegenüber von mir sind massive Medikamentenschränke, Ultraschallgeräte und andere Maschinen. Direkt neben mir steht einer von vielen Rollwagen aus Edelstahl. Jede Etage ist mit Verbandsmaterial, Kompressen, Pflasterstrips, Einmalhandschuhen und medizinischen Masken vollgestopft.
Eilig zwänge ich meine unbändigen Locken in einen Zopf und wende mich an Ace. »Du wirst mich jetzt nacheinander zu den Frauen führen, die am schwersten verletzt sind.«
Ace stimmt ohne Widerworte zu und bringt mich zu einem kleinen Mädchen. Dicke Tränen kullern über ihre schmutzigen Wangen und die Angst steht ihr noch immer deutlich ins Gesicht geschrieben. Ich sehe sofort die unnatürliche Stellung ihres Armes, er ist eindeutig gebrochen. Welches Monster tut einem Kind so etwas an? Da kein Anästhesist in der Nähe ist, muss ich sie selbst in einen komatösen Zustand versetzen. Zum einen würde sie die Schmerzen der Heilung nicht ertragen, zum anderen kann ich nicht riskieren, dass sie die Art und Weise der Behandlung mitbekommt.
»Schließ den Vorhang«, sage ich zu Ace, ohne den Blick von dem Mädchen abzuwenden.
»Du wirst jetzt gleich einschlafen und wenn du wieder aufwachst, sind die Schmerzen verschwunden, okay?«
Sie nickt zaghaft und ich beginne sofort mit der Behandlung. Brüche mit Magie zu heilen hat immer etwas Bizarres. Wie bei einem Exorzismus knackt der Arm wieder zurück in seine ursprüngliche Position. Ace zuckt bei dem haarsträubenden Geräusch zusammen, erst da wird mir wieder bewusst, dass er noch hier ist. Am Ende lege ich ihr einen Verband an, morgen werde ich sie aus dem Koma holen, ihr Körper braucht die Zeit, um sich zu regenerieren.
Sofort führt mich Ace zu der nächsten Frau. Ich will es nicht zugeben, aber unter diesen Umständen arbeiten wir gut zusammen. Alle schweren Verletzungen heile ich durch meine weiße Magie. Als es nur noch Schnitte und Schürfwunden zu behandeln gibt, wasche und desinfizieren ich mir gründlich die Hände, stülpe mir die blauen Latexhandschuhe über und verlange nach einem Nahtset. Ich habe mich nicht umsonst für die Chirurgie entschieden, die Präzession, die von Nöten ist, hat mich schon immer fasziniert. Außerdem möchte ich meine Fähigkeiten nicht nur auf die Magie beschränken.
Mit der letzten Naht, die ich setze, geht die Sonne auf. Ich bin fix und fertig und kann meine Augen kaum noch offenhalten. Korvin war auch die ganze Zeit über hier, ich habe ihn nur flüchtig wahrgenommen, als ich von einem Krankenbett zum nächsten geeilt bin. Erschöpft trotte ich auf ihn zu, er steht vor der verglasten Doppeltür, die zum Flur hinausführt. Auch er sieht müde aus.
»Sie werden alle durchkommen«, sage ich erleichtert.
Seine Schultern senken sich, er nickt mir zu und damit verlasse ich den Krankenflügel.
KAPITEL FÜNF
Ich werde durch ein sanftes Rütteln wach und blicke in Korvins pechschwarze Augen.
»Scheiße, was soll das?«, fahre ich ihn an.
Er verzieht keine Miene. »Du hast einen kompletten Tag lang geschlafen, die Sonne ist gerade wieder aufgegangen.«
»Ich muss in den Krankenflügel!«, sage ich panisch.
»Es ist alles okay, Ace hat sich den Tag über um sie gekümmert.«
»Na da bin ich ja beruhigt«, gebe ich sarkastisch zurück.
Ein schmales Grinsen huscht über seine Lippen, bevor die Maske der Gleichgültigkeit wieder ihren gewohnten Platz einnimmt.
»Zieh dich an und komm runter, ich habe etwas mit dir zu besprechen.« Wie ich diesen Befehlston hasse, er erhebt sich von meinem Bett und tritt durch den Vorhang aus meinem Zimmer.
Kurz darauf stehe ich auf und gehe zu dem Raum, wo ich das Bad vermute. Angrenzend an die Sitzgruppe habe ich gestern glänzend schwarze Fliesen aus dem Augenwinkel gesehen. Als ich eintrete, wird mir erneut bewusst, in welch absurdem Luxus die Incubus leben. In der Mitte des Raumes steht eine mattschwarze Badewanne mit einem goldenen Wasserhahn. Die schwarzen Marmorwände werden von weißen Adern durchzogen, die sich wie Blitze ihren Weg durch den dunklen Nachthimmel bahnen. Ich stehe jetzt vor dem Spiegel, der sich über die komplette Wandbreite zieht. Meine lockigen weißblonden Haare sind verfilzt und jede Strähne steht in eine andere Richtung, als hätte ich in eine Steckdose gefasst. Hinter mir ist eine frei begehbare Dusche, natürlich mit beleuchtetem Regenschauer.
Nachdem ich mich aus meinem verschwitzten Kleid gepellt habe, lasse ich das heiße Wasser über meinen Körper fließen. Nicht nur das Meer hat eine heilende Wirkung auf mich, sondern Wasser im Allgemeinen. Jeder Wassertropfen füllt meine Zellen mit neuer Energie.
Ich trete aus dem Bad heraus und sehe eine salbeigrüne Musselin-Bluse mit passender kurzer Hose auf dem Bett liegen. Ohne mir weiter Gedanken darüber zu machen, schlüpfe ich in den Zweiteiler. Der weiche Stoff schmeichelt meinen Kurven und wie neu geboren trete ich aus dem Zimmer. Der Geruch von frisch gebrühtem Kaffee führt mich geradewegs zu Korvin. Ich schreite eine schwarze Treppe hinunter, deren Stufen immer breiter auslaufen. Aus den goldenen Bilderrahmen, die die schwarzen Wände verzieren, starren mir längst verstorbene Herrscherfamilien entgegen.
Unten angekommen, sehe ich bereits Korvins schwarzen Schopf rechts von mir. Ich trete in das Zimmer und bleibe vor einem runden Esstisch stehen, zehn prunkvolle Stühle machen das Bild komplett. Auf einem davon sitzt Korvin und funkelt mich aus seinen pechschwarzen Augen an. Der Tisch ist randvoll mit allmöglichen Speisen und Getränken, augenblicklich läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Der würzige Kaffeeduft vermischt sich nun mit dem süßen Geruch von Pancakes. Ich kann mich gar nicht daran erinnern, wann ich zum letzten Mal etwas gegessen habe. Ich lasse mich gegenüber von Korvin nieder und verschwende keine Zeit. Meine Tasse ist bereits bis oben hin voll mit dampfenden Kaffee und ich bin gerade dabei, die fluffigen Pancakes in Ahornsirup zu tränken.
»Wie stehst du jetzt zu dem Mord an dem Mann, nachdem du weißt, was er getan hat?«, fragt er, ohne den Blick von mir zu wenden.
Ich verschwendete ehrlich gesagt keinen einzigen Gedanken mehr an ihn, seitdem wir die Frauen aus dem Container befreit haben. Und ich muss mir außerdem eingestehen, dass die Schuldgefühle fast bis zum Nullpunkt gesunken sind. Die Welt ist in der Tat besser ohne ihn dran, er hat den Tod verdient.
Ich spüre ein Ziehen in meinem Bauchraum, meine strahlend helle Energiequelle wird von etwas Düsterem zurückgedrängt. Als Heilerin muss ich meine persönlichen Ansichten ausblenden, es darf meine Arbeit nicht beeinträchtigen. Im Krankenhaus landen Mörder und Schläger in meinem OP, doch das ändert nichts an der Behandlung, die sie erhalten. Wer bin ich also, um zu entscheiden, dass dieser Mann den Tod verdient hat? Die Dunkelheit in mir pulsiert, es fühlt sich an wie ein schwarzer Feuerball, der von Chaos beherrscht wird. Ist das meine schwarze Magie? Es ist das genaue Gegenteil meiner weißen Energiequelle, sie ist sanft und strukturiert, sie hält meinen Körper zusammen, während die schwarze Magie ihn auseinanderreißt. Ich weiß nicht, wie ich mit diesen beiden Extremen in meinem Inneren fertig werden soll. Mein Blick wandert zu Korvin, der mich mit hochgezogen Augenbrauen anschaut.
»Ich bin froh, dass den Frauen geholfen werden konnte«, antworte ich geistesabwesend.
»Ace wird deine Sachen aus deiner Wohnung holen. Sag ihm Bescheid, wenn er auf etwas Besonderes achten soll. Morgen früh beginnen wir mit dem Training.«
Augenblicklich bleibt mir der Pancake im Hals stecken. »Wie kommst du darauf, dass ich hierbleibe?«, sage ich verachtend.
»Deine schwarze Magie wurde eben erst entfacht, du hast sie noch nicht unter Kontrolle. Ich bin mir sicher, dass du deine Familie nicht in Gefahr bringen willst, abgesehen davon würden sie dich wahrscheinlich sowieso den Energiehexen ausliefern. Und da du mir doch recht intelligent vorkommst, ist das die logische Schlussfolgerung. Dazu kommt, dass ich der Einzige bin, der dir dabei helfen kann, deine Dunkelheit zu kontrollieren.«
Wut brodelt in mir auf, ich hoffe seine Arroganz bleibt ihm irgendwann wie eine Gräte im Hals stecken.
»Du verfügst nicht mal über schwarze Magie. Wie kommst du also darauf, dass du der Einzige bist, der mir helfen kann?«
Augenblicklich tritt Korvins Kiefernmuskel hervor und er ballt seine Hände zu Fäusten. In seinen Augen tanzen so viele Emotionen, dass ich nicht eine davon deuten kann. »Du hast recht, ich verfüge nicht über schwarze Magie, doch ich sehe die schwarzen Hexen als unsere Ahnen an. Obwohl es nicht dieselbe Kraft ist, die uns verbindet, so ähneln sich unsere Fähigkeiten. Sie entspringen derselben Quelle, auch wenn sich die Art der Ausprägung unterscheidet. Niemand hat ein derartiges Wissen über die schwarze Magie wie ich, daher bin ich auch der Einzige, der dir helfen kann.«
Verflucht, seine arrogante Art treibt mich bereits zur Weißglut, aber dass seine Argumentation auch noch schlüssig und nachvollziehbar ist, bringt das Fass zum Überkochen. Wie würden meine nächsten Schritte aussehen, wenn ich nicht hierbleibe? Ich weiß, dass ich mich Ophelia anvertrauen kann, sie würde mich nie im Leben an die Energiehexen ausliefern, doch sie weiß genau so viel über schwarze Magie wie ich, nämlich nichts. Und was dann? Ich hätte sie mit in mein Schlamassel reingezogen und bringe sie damit noch in Gefahr. Wir würden ein Leben auf der Flucht führen und uns ständig über die Schulter schauen müssen. Und für was? Damit wir vielleicht irgendwo Informationen über schwarze Magie finden, die es eigentlich nicht mehr gibt. Verflucht, wir wüssten ja nicht mal, wo wir überhaupt anfangen sollen.
Aber Korvin weiß es und er hat recht, die Fähigkeiten der Incubus sind irgendwie mit denen der schwarzen Hexen verflochten. Sein Verständnis für diese Art von Magie übersteigt meines bei weitem. Meine Gedanken überschlagen sich und die Pro- und Contra-Liste in meinem Kopf sieht aus, als wäre ein Tintenfass ausgelaufen.
»Ich lasse es dich wissen, wenn ich mich entschieden habe«, sage ich mit finsterem Blick und verlasse das Esszimmer.
Ich stürme hinaus ins Freie, ich brauche frische Luft. Wie konnte mein Leben innerhalb kürzester Zeit zu einem derartigen Chaos mutieren? Am liebsten würde ich das ganze verdammte Anwesen zusammenschreien! Ich schließe meine Augen und atme tief ein und aus, ich muss mich beruhigen, sonst kann ich nicht klar denken. Als ich sie wieder öffne, nehme ich erstmals den paradiesischen Garten wahr, in dem ich stehe. Er liegt hinter dem Haus, dessen Fassade – Überraschung – auch schwarz ist. Doch die düstere Erscheinung wird durch grüne Efeuranken unterbrochen, die sich um einen imposanten Balkon schlängeln.
Ich wende mich wieder dem prächtigen Garten zu. Strahlend weiße Hortensien und duftender Lavendel säumen den Weg. Die lilafarbenen Blüten wiegen sich in einer sanften Brise und ihr Duft beruhig meine Nerven. Ich streiche sanft über die samtigen Hortensien und gehe weiter in den Garten hinein. Das Blütenmeer wandelt sich, sodass ich nun von präzise geschnittenen Hecken und Bäumen umgeben bin. Ein leises Plätschern durchdringt den melodischen Gesang der Vögel und kurz darauf gelange ich zu einem kleinen Wasserfall, der in einen Naturteich mündet. Ich setze mich an den Rand, tauche meine Füße in das kühle Wasser und strecke mein Gesicht der Sonne entgegen. Die Ereignisse haben sich in den letzten Tagen überschlagen, ich bin von einer Katastrophe in die nächste geschlittert. Jetzt habe ich zum ersten Mal die Möglichkeit, in Ruhe über alles nachzudenken.
Über was willst du nachdenken, du wirst hierbleiben. Es gibt keine andere Option. Korvin hat am Hafen bewiesen, dass er weiß, wie man mit schwarzer Magie umgeht.
Geschockt reiße ich die Augen auf, mein Kopf schnellt vor, ich verliere das Gleichgewicht und bin nur Millimeter davon entfernt, vornüber in den Teich zu stürzen. Ich spüre ganz deutlich den finsteren Abgrund, aus dem dieser Gedanke entsprungen ist. Als hätten sich die Pforten der Hölle geöffnet und dieser dunkle Schatten ist dazwischen hervorgekommen, direkt in meinen Kopf.
Wir sind hier umgeben von Incubus, wir werden gehen, sobald alle Frauen genesen sind. Unser Coven findet einen Weg, um uns zu helfen, erwidert eine sanfte Stimme in meinem Kopf, sie ist von einem Schimmer aus leuchtender Helligkeit umgeben.
Nein, nein, nein. Das darf nicht wahr sein. Zwei Stimmen, die in meinem Kopf miteinander diskutieren und keine davon gehört mir. Es fühlt sich so an, als würde ein Dämon und ein Engel an meiner Seele zerren. Und ich bin mittendrin, dazu verdammt, es über mich ergehen zu lassen. Diesen Machtkampf spüre ich auch in meinem Inneren, beide Energiequellen pulsieren und buhlen um die Vormachtstellung.
Ich schüttle den Kopf, um die beiden Stimmen daraus zu verbannen und setze mich in Bewegung. Den ganzen Weg zurück zum Haus habe ich Scheuklappen auf, ich nehme nichts von meiner Umgebung wahr. Ich laufe an der schwarzen Hauswand vorbei und stehe nun auf einer runden Auffahrt, die alle Gebäude miteinander verbindet. Gegenüber von dem schwarzen Gusseisentor ragt ein massives Steinhaus mit je einem Turm an der Seite in die Höhe. Die Hälfte des Gebäudes ist mit Efeu überwuchert, was dem schwarzen Haus eine mystische Atmosphäre verleiht. Korvins Anwesen ist rechts davon und sieht im Vergleich zu dem imposanten Meisterwerk der Architektur wie eine Gartenhütte aus. Links von dem Haupthaus ist ein flaches, langgezogenes Gebäude zu sehen. Es wurde offensichtlich erst im Nachhinein errichtet, denn es passt absolut nicht zu dem viktorianischen Stil der anderen beiden Gebäude.
Darin wurden die Frauen untergebracht, ich gehe in die Notaufnahme und diesmal ist es deutlich belebter als gestern. Die Frauen, die nur leichte Verletzungen hatten, wuseln herum und kümmern sich um die anderen. Ich laufe schnurstracks zu dem kleinen Mädchen, das ich ins Koma versetzt habe. Neben ihr sitzt eine dunkelblonde Frau, sie streicht ihr sanft mit einem nassen Lappen übers Gesicht. Ich habe sie zwar gestern geheilt, doch dabei ist mir ihre Schönheit nicht aufgefallen. Graublaue Augen, eine Stupsnase und volle Lippen. Sie könnte geradewegs aus irgendeinem Modemagazin entsprungen sein. Sie hatte mehrere Stichverletzungen, alle relativ ungefährlich, aber dennoch sollte sie sich ausruhen.
»Wann wird sie wieder aufwachen?«, fragt sie mit rauer Stimme und besorgtem Blick.
»Es könnte jeden Moment so weit sein, die Medikamentenwirkung klingt bereits ab«, antworte ich zuversichtlich.
Aufgrund meines medizinischen Fachwissens kann ich mich oft aus Situationen winden, die ich nur als Heilerin nicht so leicht erklären könnte. Ich gehe auf die andere Seite des Mädchens und lasse meine Magie wirken, nur Sekunden später öffnet sie ihre verklebten Augen.
»Ich habe Durst«, sagt sie schüchtern.
Sofort springt die dunkelblonde Frau auf und ist hinter dem blauen Vorhang verschwunden.