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"Wer sein Leben gewinnen will, der wird es verlieren." - Tolstois Schrift "Über das Leben" (1886/87), die erstaunlicherweise ganz dem Sprachduktus der Schulphilosophie folgt, kann als Auslegung dieses Bibelwortes gelesen werden: "Die Vernunft ist das Gesetz, dem zu ihrem Heil die animalische Persönlichkeit des Menschen untergeordnet werden muss. Die Liebe ist die einzige vernünftige Tätigkeit des Menschen. Die animalische Persönlichkeit wird zum Glück hingezogen; die Vernunft enthüllt dem Menschen das Trügerische des (animalisch-selbstsichernden) Glücks und weist einen Ausweg. Die Tätigkeit auf diesem Wege ist die Liebe. ... Das vernünftige Bewusstsein zeigt dem Menschen die Elendigkeit aller untereinander kämpfenden Wesen, zeigt ihm, dass es ein Glück für seine animalische Persönlichkeit nicht geben könne, zeigt ihm, dass das einzige für ihn mögliche Glück nur ein solches sein könne, bei dem es weder einen Kampf mit andern Wesen gebe noch ein Aufhören des Glücks, ... weder Voraussicht des Todes noch Todesfurcht. Und da findet nun der Mensch, als einen Schlüssel, der nur für dies Schloss angefertigt ist, in seiner Seele ein Gefühl, das ihm gerade das Glück schenkt, auf das ihn ... die Vernunft hinweist. Und dies Gefühl löst ... den früheren Widerspruch des Lebens ... Die (animalisch-selbstsichernden) Persönlichkeiten wollen die Persönlichkeit des Menschen für ihre Zwecke benutzen. Aber das Gefühl der Liebe zieht ihn dahin, dass er seine Existenz zum Besten anderer Wesen hingibt. ... Indem die animalische Persönlichkeit zum Glück strebt, strebt sie mit jedem Atemzuge dem größten Übel - dem Tode - zu, dessen Voraussicht jedes Glück der Persönlichkeit zerstörte. Aber das Gefühl der Liebe vernichtet nicht nur diese Furcht, sondern treibt den Menschen sogar zur Selbstverleugnung ... zum Heile anderer." Tolstoi-Friedensbibliothek Reihe A, Band 8 (Signatur TFb_A008) Herausgegeben von Peter Bürger
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Tolstoi-Friedensbibliothek Reihe A | Band 8
Herausgegeben von Peter Bürger
Tolstoi Friedensbibliothek TFb_A008
Tolstois Schrift ‚O žizni‘ (1886/87)
Vorbemerkungen des Herausgebers
Leo N. Tolstoj
D
AS
L
EBEN
(
O žizni
, 1886/87)
Übersetzt von Raphael Löwenfeld, 1902
Einführung (von Raphael Löwenfeld)
Leo N. Tolstoi: Das Leben
Einleitung
I. Der fundamentale Widerspruch des menschlichen Lebens
II. Der Widerspruch des Lebens ist von der Menschheit seit den ältesten Zeiten erkannt worden
III. Die Verirrungen der Schriftgelehrten
IV. Die Lehre der Schriftgelehrten setzt für den Begriff des gesamten Lebens des Menschen die sichtbaren Erscheinungen
V. Die Irrlehren der Pharisäer und Schriftgelehrten geben weder Erklärungen des Sinnes des wirklichen Lebens, noch eine Anleitung zu diesem
VI. Der Zwiespalt des Bewußtseins bei den Menschen …
VII. Der Zwiespalt des Bewußtseins entsteht aus der Verwechslung des tierischen Lebens mit dem menschlichen
VIII. Es existiert kein Zwiespalt und kein Widerspruch
IX. Die Geburt des wahren Lebens im Menschen
X. Die Vernunft ist das von dem Menschen anerkannte Gesetz, nach dem sein Leben sich vollziehen muß
XI. Die falsche Richtung des Wissens
XII. Die Ursache des falschen Wissens …
XIII. Die Erkennbarkeit der Gegenstände wird größer nicht infolge ihrer Erscheinung in Raum und Zeit …
XIV. Das wahre Leben des Menschen ist nicht das, was im Raume und in der Zeit vor sich geht
XV. Dem Wohle der tierischen Persönlichkeit entsagen …
XVI. Die tierische Persönlichkeit ist ein Werkzeug des Lebens
XVII. Die Geburt durch den Geist
XVIII. Was das vernünftige Bewußtsein fordert
XIX. Die Bestätigung der Forderungen des vernünftigen Bewußtseins
XX. Die Forderung der Persönlichkeit erscheint unvereinbar mit der Forderung des vernünftigen Bewußtseins
XXI. Nicht die Verleugnung der Persönlichkeit wird gefordert, sondern ihre Unterwerfung unter das vernünftige Bewußtsein
XXII. Das Gefühl der Liebe ist die Offenbarung der Thätigkeit der dem vernünftigen Bewußtsein unterworfenen Persönlichkeit
XXIII. Das Gefühl der Liebe kann sich unmöglich Menschen offenbaren, die den Sinn des Lebens nicht verstehen
XXIV. Die wahre Liebe ist die Folge der Verleugnung des Wohles der Persönlichkeit
XXV. Die Liebe ist die alleinige und volle Thätigkeit des wahren Lebens
XXVI. Die Bemühungen der Menschen, die auf die unmögliche Verbesserung ihrer Existenz gerichtet sind …
XXVII. Die Furcht vor dem Tode ist nur das Bewußtsein des ungelösten Widerspruchs des Lebens
XXVIII. Der leibliche Tod vernichtet den räumlichen Leib und das zeitliche Bewußtsein, vermag aber nicht das zu vernichten, was die Grundlage des Lebens bildet
XXIX. Die Furcht vor dem Tode kommt daher, daß die Menschen für das Leben halten, was nur ein kleiner … Teil davon ist
XXX. Das Leben ist das Verhältnis zur Welt …
XXXI. Das Leben der gestorbenen Menschen hört nicht auf in dieser Welt
XXXII. Der Aberglaube des Todes kommt daher, dass der Mensch seine verschiedenen Verhältnisse zur Welt verwechselt
XXXIII. Das sichtbare Leben ist ein Teil der unendlichen Bewegung des Lebens
XXXIV. Die Unerklärbarkeit der Leiden …
XXXV. Die körperlichen Leiden bilden die notwendige Bedingung des Lebens und des Wohles der Menschen
Schluß
Anhang: I-III
Leo N. Tolstoj
Ü
BER DAS
L
EBEN
Auswahl von Willy Lüdtke, 1929
IX. Die Geburt des wahren Lebens im Menschen
X. Die Vernunft ist das vom Menschen erkannte Gesetz, nach dem sich sein Leben vollziehen soll
XIV. Das wahre menschliche Leben ist nicht das, was in Raum und Zeit vorgeht
XV. Der Verzicht auf das Wohl der tierischen Persönlichkeit ist das Gesetz des menschlichen Lebens
XVI. Die tierische Persönlichkeit ist das Werkzeug des Lebens
XVII. Die Geburt aus dem Geist
XXII. Das Gefühl der Liebe ist die Erscheinungsform der Tätigkeit einer dem vernünftigen Bewußtsein untergeordneten Persönlichkeit
A
NHANG
Verzeichnis der Übersetzungen von Tolstois Schrift
O žizni
(1886/87)
Ausgewählte Literatur zu Leo N. Tolstois religiösen Schriften
Vorbemerkungen des Herausgebers
„Die Liebe ist die einzige vernünftige Tätigkeit des Menschen.“
Die Versuchung liegt nahe, die Schrift Über das Leben (О жизни | O žizni) – geschrieben im Winter 1886/87 fast ein Vierteljahrhundert vor dem Tod des Verfassers und von diesem selbst sehr wertgeschätzt1 – als eine zuverlässige Darstellung von TOLSTOIS ‚Weltanschauung‘ zu betrachten. Der russische Dichter hat indessen in höchst unterschiedlichen Werken und Genres versucht, Wahres zur Sprache zu bringen. Bis hin zum Lebensende wurden von ihm Widersprüche der eigenen geistigen Suchbewegungen immer wieder neu bedacht. Ein in sich geschlossenes philosophisches System, das den Anhängern obendrein die Annahme aller Hauptkapitel und Unterparagraphen abverlangt, wollte er wohl nicht vorlegen.
Dialogische Entstehungsgeschichte des Werkes
Wir edieren hier die Schrift Über das Leben als eine Station der Suche, nicht als ‚kanonisierte Weltanschauung‘ des Autors. – Unsere Bibliothek soll ja in der Breite das unvoreingenommene Studium befördern. Bloße Behauptungen und allzu voreilige Thesen zu LEO N. TOLSTOI gibt es schon genug.
Die Entstehungsgeschichte des Werkes verweist auf dialogische Kontexte.2 1886 beginnt während einer ernsten Erkrankung ein Briefwechsel mit ANNA KONSTANTINOVNA DITERICHS (1859-1927). Darüber schreibt TOLSTOI seinem Verleger und Freund WLADIMIR GRIGORJEWITSCH TSCHERTKOW3 (1854-1936), dem angehenden Ehemann der Briefpartnerin: „Von Anna Konstantinovna erhielt ich vor längerer Zeit einen langen, guten Brief. Und anstatt ihn kurz zu beantworten, begann ich, Punkt für Punkt auf alle ihre Gedanken einzugehen. Dies deshalb, weil sie sich mit dem Thema Leben und Tod befaßte, mit Fragen also, über die ich sehr viel von neuem nachgedacht habe, über die ich noch immer nachdenke und schreibe …“4. Nach und nach entstehen Skizzen, die der ANNA KONSTANTINOVNA und weiteren Personen bekannt werden. Es geht nicht mehr nur um ein Briefgespräch. Im Januar 1887 teilt der Dichter in Zeilen an ISAAK B. FAJNERMANN bereits mit, er schreibe „eine allgemeine Erörterung über Leben und Tod“. Auf Einladung des ihm bekannten Philosophieprofessors NIKOLAI JAKOWLEWITSCH GROT nimmt Tolstoi teil an Veranstaltungen der ‚Psychologischen Gesellschaft‘, vor der er im März 1887 ein Referat „Über das Verständnis des Lebens“ hält. In zwei Zeitungen erscheinen Mitschriften. Über viele Monate hin kann sich der Verfasser von der Arbeit an dem Text „nicht losreißen“. Auch Überlegungen zur Verständlichkeit spielen eine Rolle: „Man muß ins Russische übersetzen. Ich habe damit begonnen, als ich mich auf dem Lande aufhielt und keine Professoren vor mir hatte, sondern Menschen.“5 Erst Anfang August 1887 geht das Manuskript zum Satz nach Moskau. Die Abänderung des ursprünglich vorgesehenen Titels erläutert TOLSTOI seinem Verleger so: „Begonnen hatte ich damit, über Leben und Tod zu schreiben, aber als ich zu Ende geschrieben hatte, zeigte es sich, daß man den zweiten Teil der Überschrift weglassen sollte, wenigstens für mich dieses Wort ganz und gar jene Bedeutung verloren hatte, die ich ihr in der Überschrift beigelegt hatte …“6
Staatlich-kirchliche Zensur der schon gedruckten Erstauflage
Gedruckt wird das Buch zum Jahresende 1887 – trotz der Befürchtungen wegen einer möglichen Zensur – als 13. Band der Werkausgabe mit einer Auflage von 600 Stück (‚O žizni‘, Moskva 1888), und der Verfasser hofft, dass es „für viele ein Trost und eine Stütze sein wird“. Der staatlich-kirchliche Zensurapparat lässt sich nach Einreichung des Werkes im Januar 1888 viel Zeit. Das Moskauer Zensurkomitee befindet in seiner Entschließung vom 25.1.1888, dass TOLSTOI „in diesem Buch als Richtschnur nicht das Wort Gottes darstelle, sondern einzig und ausschließlich den menschlichen Verstand, daß dieses Buch den Zweifel an den Dogmen fördert und die Liebe zum Vaterland tadelt“7. Der ‚Heilige Synod‘ als oberstes Verwaltungsorgan der orthodoxen Kirche schließt sich am 5. April letztinstanzlich der Verbotsvorlage an. Die gesamte gedruckte Erstauflage ist dem Archiv des Zensurkomitees zu übergeben.
Bis hin zum Tod des Verfassers und noch drei Jahre danach darf in Russland selbst keine vollständige Ausgabe der Schrift gedruckt werden. – Frühe russische Ausgaben werden verlegt in Genf (Elpidine 1891) und England (Christchurch 1903). – Doch das Verbot beflügelt natürlich die Produktion von Abschriften und ‚illegalen Drucken‘. 1889 erscheint in Paris die französische Ausgabe8, die in Russland eifrig rezensiert wird. Die beiden frühesten deutschen Übersetzungen stammen von der Russin SOPHIE BEHR9 und ADELE BERGER10. Es folgen die Übersetzung von RAPHAEL LÖWENFELD11 und 1929 noch eine kleine Auswahledition von WILLY LÜDTKE. Die beiden zuletzt genannten Übersetzungen sind im vorliegenden Band nachzulesen.
‚Lebensphilosophie‘
Nicht abwegig ist es, TOLSTOIS Werk „O žizni“ – trotz seiner Hervorhebung der menschlichen ‚Vernunft‘ – jener im späten 19. Jahrhundert einsetzenden ‚lebensphilosophischen Strömung‘ zuzuordnen, die auf das Elend des Positivismus und eine naturwissenschaftliche Reduktion des Menschenbildes reagiert: „Die falsche Wissenschaft sieht das Leben in der tierischen Existenz [Biologismus, Oberflächen-Ich etc.], indem sie den Begriff des Wohles aus der Bestimmung des Lebens ausschließt“ (→S. 95, S. 208). Man kann im Bereich des Objektivier- und Messbaren vielerlei, ja endloses Wissen (dies und das) produzieren, ohne auch nur das Geringste zu einem tieferen Verständnis des Menschen – ganz zu schweigen von einem glücklichen Selbstverstehen – beizutragen. TOLSTOI bezeichnet diesen Weg, das Leben zu mehren, als ‚Multiplikation der Null‘ (→ S. 140).
Zwei Weltkriege können nur dann sachgerecht beleuchtet werden, wenn wir bedenken, dass schon Jahrzehnte zuvor ein sozialdarwinistisches Welt- und Menschenbild im öffentlichen Raum zum Dogma erhoben wurde: Der Kult des durchsetzungsfähigen Individuums oder Kollektivs und ein Kampf aller gegen alle ‚ohne Rücksicht auf Verluste‘ erschienen hierbei wie ewige, ja gleichsam metaphysische Gesetze. (Dies ist freilich schon im Kontext eines rein naturwissenschaftlichen Paradigmas Unfug.)
Es geht um Triebkräfte und Programme , die im zivilisatorischen Maßstab eine Dynamik bis hin zur Suizidalität der menschlichen Gattung oder zu einer Totalzerstörung des Lebens entfesseln. (‚Dummheit und Stolz, die wachsen auf einem Holz.‘) Dass TOLSTOI schon 1887 die Anzeichen einer ‚Moderne‘ des ultimativen Massenmordens untersucht, ist keine Nebensächlichkeit.
‚Wer sein Leben gewinnen will …‘
„Wer sein Leben gewinnen will, der wird es verlieren.“ (→S. 101, S. 131, S. 213). – TOLSTOIS Schrift Über das Leben (1886/87), die erstaunlicherweise ganz dem Sprachduktus der Schulphilosophie folgt, kann vor allem auch als Auslegung dieses Bibelwortes gelesen werden:
„Die Vernunft ist das Gesetz, dem zu ihrem Heil die animalische Persönlichkeit des Menschen untergeordnet werden muss. Die Liebe ist die einzige vernünftige Tätigkeit des Menschen. – Die animalische Persönlichkeit wird zum Glück hingezogen; die Vernunft zeigt dem Menschen das Trügerische des (animalischselbstsichernden) Glücks und lässt einen Weg übrig. Die Tätigkeit auf diesem Wege ist die Liebe. … Das vernünftige Bewusstsein zeigt dem Menschen die Elendigkeit aller untereinander kämpfenden Wesen, zeigt ihm, dass es ein Glück für seine animalische Persönlichkeit nicht geben könne, zeigt ihm, dass das einzige für ihn mögliche Glück nur ein solches sein könne, bei dem es weder einen Kampf mit andern Wesen gebe noch ein Aufhören des Glücks, … weder Voraussicht des Todes noch Todesfurcht. – Und da findet nun der Mensch, als einen Schlüssel, der nur für dies Schloss angefertigt ist, in seiner Seele ein Gefühl, das ihm gerade das Glück schenkt, auf das ihn … die Vernunft hinweist. Und dies Gefühl löst … den früheren Widerspruch des Lebens … Die (animalisch-selbstsichernden) Persönlichkeiten wollen die Persönlichkeit des Menschen für ihre Zwecke benutzen. Aber das Gefühl der Liebe zieht ihn dahin, dass er seine Existenz zum Besten anderer Wesen hingibt. … Indem die animalische Persönlichkeit zum Glück strebt, strebt sie mit jedem Atemzuge dem größten Übel – dem Tode – zu, dessen Voraussicht jedes Glück der Persönlichkeit zerstörte. Aber das Gefühl der Liebe vernichtet nicht nur diese Furcht, sondern treibt den Menschen sogar zum letzten Opfer … zum Heile anderer“ (vgl. →S. 217-218, S. 119-122).
TOLSTOIS Verständnis der ‚Vernunft‘, das mit Rationalismus rein gar nichts gemein hat, sowie das Loslassen von Selbstsicherung (samt äußerer bzw. gegenständlicher ‚Sicherheiten‘) könnten manchem Leser die Frage nahelegen: ‚Wieviel Meister Eckart steckt eigentlich in Leo Tolstoi?‘ – Die Gegenüberstellung von „tierischer (animalischer) Persönlichkeit“ des Menschen und „vernünftigem Bewusstsein“ darf keinesfalls im Sinne eines Materie-Geist-Dualismus gedeutet werden. Es geht vielmehr – wie schon bei dem von TOLSTOI wenig geschätzten Apostel PAULUS („Fleisch“ – „Geist“) – um zwei Weisen bzw. Wege des Selbstverstehens. Der Mensch, der sich im Vorlauf schon als einen Toten zu sehen vermag, versucht auf dem Weg der unentwegten – notvollen – Selbstsicherung sein Leben zu retten und läuft so – auf scheinbar paradoxe Weise – geradewegs dem Tod in den Rachen. Dieses von der Angst getriebene ‚Sein zum Tode‘ ist selbstzerstörerisch und zerstört das Leben anderer. Jene ‚Vernunft‘ aber, deren einzige angemessene ‚Tätigkeit‘ die Liebe ist (→S. 135-137), weist einen Ausweg aus der Todesverfallenheit des unglücklichen ‚Ichs‘. Sie führt uns zu einem Leben in der Verbundenheit allen Lebens und somit zum Glücklichsein, das der individuelle Leibestod nicht zerstören kann.
‚Der Morgen eines Gutsbesitzers‘
Wiederum können wir bei genauem Hinsehen erkennen, dass die „Geburt des wahren Lebens im Menschen“ nicht erst mit der „Christ“-Werdung TOLSTOIS in den späten 1870er Jahren zum Thema geworden ist, sondern schon Jahrzehnte (!) früher im dichterischen Werk zur Sprache gekommen war. Die 1852-1856 entstandene Erzählung Der Morgen eines Gutsbesitzers macht uns bekannt mit dem neunzehnjährigen Fürsten und Studienabbrecher Dmitri Nikolajitsch Nechljudow, der die „Fülle sittlicher Befriedigung“ ersehnt. Dieser Vertreter der besitzenden Klasse, unschwer als ‚Alter Ego‘ TOLSTOIS zu identifizieren, erinnert sich an den glücklichen, ein Jahr zurückliegenden Augenblick der Offenbarung eines anderen Lebens:
„Er war in aller Frühe aufgestanden, vor allen anderen im Hause. Und qualvoll erregt von dem verhaltenen, unsäglichen Drang seiner Jugend war er ohne Ziel in den Garten gegangen und von dort in den Wald; dann war er lange allein, und ohne etwas zu denken, in der kraftvollen, saftigen, aber stillen Mailandschaft umhergewandert, gequält von der Überfülle eines Gefühls, für das er keinen Ausdruck fand. Bald gaukelte ihm seine junge Einbildungskraft mit dem ganzen Reiz des Unbekannten das verführerische Bild des Weibes vor, und ihm war, als sei das sein unausgesprochenes Verlangen. Aber ein anderes, höheres Gefühl sagte ihm: ‚Das ist es nicht‘, und zwang ihn, etwas anderes zu suchen. Dann wieder erhob sich sein unerfahrener, stürmischer Geist immer höher und höher in die Sphäre des Abstrakten und enthüllte ihm die Gesetze des Seins, wie ihm schien, und er verharrte mit stolzem Genuß bei diesen Gedanken. Aber wieder sagte das höhere Gefühl: ‚Das ist es nicht‘, und zwang ihn, rastlos weiterzusuchen. Ohne Gedanken und ohne Wünsche, wie das immer nach angestrengter Tätigkeit zu sein pflegt, legte er sich unter einem Baum auf den Rücken und blickte auf die durchsichtigen Morgenwolken, die über ihm am tiefblauen unendlichen Himmel dahinzogen. Plötzlich traten ihm ohne jeden Grund Tränen in die Augen, und gleichzeitig kam ihm, Gott weiß auf welchem Weg, ein klarer Gedanke, der seine ganze Seele erfüllte und an den er sich voller Entzücken klammerte – der Gedanke, daß die Liebe und das Gute die Wahrheit und das Glück seien, die einzige Wahrheit und das einzig mögliche Glück auf Erden. Das höhere Gefühl sagte nicht mehr: ‚Das ist es nicht.‘ Er erhob sich und begann diesen Gedanken zu überprüfen. ‚Das ists, das ists!‘ sagte er sich voller Begeisterung und maß alle früheren Überzeugungen, alle Erscheinungen des Lebens an dieser neuentdeckten und – wie ihm schien – völlig neuen Wahrheit. ‚Wie töricht ist alles, was ich wußte, woran ich glaubte und was ich liebte; Liebe, Selbstverleugnung – das ist das wahre, nicht vom Zufall abhängige Glück‘, wiederholte er und breitete lächelnd die Arme aus. Er wandte diesen Gedanken auf alle Seiten des Lebens an und fand, daß sowohl das Leben als auch die innere Stimme, die ihm sagte: ‚Das ist es‘, diesen Gedanken bestätigten; das erfüllte ihn mit einem ganz neuen Gefühl freudiger Erregung und Wonne. ‚Also muß ich Gutes tun, um glücklich zu sein‘, dachte er, und seine ganze Zukunft zeichnete sich deutlich vor seinem inneren Auge ab, aber nicht nur in Gedanken, sondern in Bildern, in der Form eines Lebens als Gutsherr.“12
Ein notvoll selbstbezogener junger Adeliger mag das Experiment wagen, sich selbst zu lassen und dann womöglich als ‚Liebender‘ in seiner Mitwelt auf Gegenliebe – statt Unterwürfigkeit – stoßen. Doch wie unheilvoll kann solches enden, wenn hohe „Gedanken über das Ziel und die Pflichten“ des eigenen Lebens und „sittliche Befriedigung“ in Wirklichkeit nur Tarnkonzepte der Selbstsicherung sind. – Muss sich nicht erst das Glück – die Verbundenheit allen Lebens und darin die im Glück des Geliebtseins geschenkte Selbstannahme – offenbaren? Bedarf es nicht einer durchgreifenden – über den Augenblick der Ahnung von Neuem hinausgehenden – Erfahrung, die uns vergewissert: ‚Du musst dein Leben ändern – jetzt kannst du es auch …‘
Dmitri Nikolajitsch Nechljudows Augenblick des Glücks war keine übernatürliche Erleuchtung im Sinne einer elitären – falschen – ‚Mystik‘, sondern die Offenbarung eines dem Menschen – jenseits der Entfremdung – ursprünglich durchaus vertrauten Verstehens des Lebens, welches TOLSTOI und ERNST BLOCH zufolge ‚allen in die Kindheit scheint‘ (→S. 136-137).
‚Idealistische Geschichtsphilosophie‘?
EDITH HANKE betont die stilistische Sonderstellung der Schrift Über das Leben innerhalb des Gesamtwerks: „Tolstoi setzte […] ganz auf die rationale Nachvollziehbarkeit seiner christlichen Lehre. Die Abhandlung ‚Das Leben‘ lieferte die dazugehörige philosophisch-methodische Begründung. Im schulmäßig-philosophischen Stil geschrieben, ist dieses Buch übrigens einzigartig im Gesamtwerk Tolstois. Vernünftig und gut ist demnach ein Leben, das materielle, tierische (für Tolstoi identisch mit sinnliche) und egoistische Bedürfnisse überwindet, weil sie vergänglich und menschenunwürdig sind. Indem der Mensch ein geistiges Leben führe – zentral ist hier der Begriff der Liebe –, verliere der Tod als physisches Ende seinen Schrecken. Der Sinn des Lebens liege – so der Tolstoische Zirkelschluß – im Leben selbst, sofern es gut geführt werde. – Diese idealistische Lehre stellte Tolstoi vor ein neues Problem: den Widerspruch zwischen dem als vernünftig Erkannten und der Realität bzw. dem tatsächlichen Verhalten der Mehrheit. Auf theoretischer Ebene löste er den Konflikt, indem er ein geschichtsoptimistisches Stufenmodell entwickelte. Das menschliche Streben und Erkennen steige danach von einer materiellen Stufe (persönlich-egoistisches Streben) über eine tierische Stufe (Streben nach dem Wohl des Stammes, Volkes und Staates) zu einer vernünftigen, christlichen Stufe (Erfüllen des göttlichen Willens).“13
Die ‚theologische Anthropologie‘ bei PAULUS wie bei TOLSTOI wird nicht falsch, weil diese beiden – möglicherweise gleichermaßen in Abwehr eines ‚Stachels im eigenen Fleisch‘ – über die Welt des Sinnlichen nur wenig Freundliches zu sagen wissen. TOLSTOIS ‚Philosophie des Lebens‘ bedarf aber gleichwohl der Ergänzung durch eine Biophilie (Liebe zum Leben) im Sinne ERICH FROMMS, welche das Sinnliche nicht nur nicht ausgrenzt, sondern warmherzig begrüßt.
Wie TOLSTOI sagen kann „Gott ist mein Wunsch“, so kann er auch ein Fortschreiten des menschlichen Bewusstseins hinsichtlich der Verbundenheit allen Lebens beschwören. Es stand ihm jedoch keine idealistische Geschichtsphilosophie vor Augen, die gleichsam planmäßig den Fortschritt des Menschengeschlechts bewirkt. Im Gegenteil, er konnte – soweit es die Menschenwelt betrifft – mit dem Schlimmsten rechnen.
Urgrund: ‚Wohl wollen‘ – universale Verbundenheit des Lebens
KARL HOLL hat 1922 die ‚Weltanschauung‘ des Dichters, in der ‚Vernunft‘ und ‚Liebe‘ gar nicht eng genug zusammengeschaut werden können, folgendermaßen interpretiert: So wie TOLSTOI „das christliche Gebot verstand, schien es sich ihm aufs beste in seine Metaphysik einzufügen. Von dem Gedanken aus, daß die Liebe allein dem Menschen das Dasein in der Welt ermöglicht, deutet er nun die das All durchwaltende Vernunft als das Verlangen nach dem Wohl – er sagt Blago und erklärt dieses russische Wort für unübersetzbar – alles Existierenden. Sie kommt überall da zum Durchbruch, wo in einem Menschen die Erkenntnis dieses wahren Lebens sich regt. Freilich auch das folgert er, indem er seinen Begriff des Alleinen mit dem der Liebe verbindet: die Allvernunft will nicht den Einzelnen als solchen; sie will nur das Göttliche in ihm oder, wie er es auch auszudrücken liebt, den alleinigen Menschensohn, der in jedem Menschen steckt. Die Besonderheit, die Individualität ist das zeitweilig Unentbehrliche und doch zu Überwindende. Sie ist nur die farbige Laterne, durch die das Licht der Gottheit in einem jeden von uns hindurchscheint. Und trotzdem, obwohl der Gedanke eines persönlichen Fortlebens damit ausgeschlossen ist – ganz leicht ist Tolstoi übrigens dieser Verzicht nicht geworden –, glaubt er nun dasjenige entdeckt zu haben, was dem Leben einen Sinn gibt. Indem er Liebe übt, wird der Mensch Glied einer Kette; er setzt das vergangene Leben fort und trägt gleichzeitig zum Heil des gegenwärtigen und des zukünftigen Lebens bei. Damit aber und nur damit wird sein Werk ein Bleibendes, das der Vergänglichkeit und dem Tod trotzt.“14
Wir lassen in unseren Vorbemerkungen die Frage der unbedingten Geltung des Individuums, sei dieses in sich abgekapselt oder zur Liebe befreit, unbeachtet. (Die Versöhnung mit der eigenen Sterblichkeit ist – zwingend – ein Teil der TOLSTOI’schen „Lebensphilosophie“, die ‚Vernichtung‘ oder Auflösung des Einzelnen ist es nicht.) Auch auf die platonische Versuchung, die Leiden der Menschen wie etwas Uneigentliches zu betrachten und mit dem Flügelschlag des Geistes hinweg zu wedeln, wollen wir hier nicht näher eingehen.
Das göttliche „Wohl wollen“ aber, welches nichts und niemanden ausschließt (Mt. 5, 45), ist mit KARL HOLL als Voraussetzung bzw. Urgrund jenes Wegs der Verbundenheit allen Lebens zu beleuchten, den TOLSTOI erschließen wollte. Dieses universale „Wohl wollen“ können wir postulieren oder denkend konstruieren. Heilsam wirkt es in der Menschenwelt indessen erst da, wo es erfahren oder wieder freigelegt wird – je nach Begabung oder Eigenheit einer Persönlichkeit vielleicht auch unter dem Vorzeichen einer ‚Mystik der Vernunft‘. Wie wäre solches auch kulturell vermittelbar? Nichts ist dringlicher in einer Zivilisation, die unverdrossen an einem Kurs festhält, der den nachkommenden Generationen eine Hölle mit unvorstellbaren Leiden bereitet.15 Jegliche völkische Perversion der generationsübergreifenden Verbundenheit des Lebens ist bei LEO N. TOLSTOI ausgeschlossen. Denn dieser bekräftigt jenseits aller Spaltungen in ‚Gut‘ und ‚Böse‘ in all seinen Voten die Einheit des Menschengeschlechts, womit er im dritten Jahrtausend ‚zeitgemäßer‘ denn je ist: Entweder es eröffnet sich eine gemeinsame Perspektive für alle oder es gehen alle – auch dies über kurz oder lang gemeinsam – unter.
pb
Leo N. Tolstoi, Fotografie des Jahres 1897 – F. W. Taylor (www.commons.wikimedia.org)
1 Vgl. Daniel RINIKERS kommentierende Einleitung zu Textauszügen aus der Schrift ‚Über das Leben‘ in: Martin George / Jens Herlth / Christian Münch / Ulrich Schmid (Hg.): Tolstoj als theologischer Denker und Kirchenkritiker [2014]. Zweite Auflage. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015, S. 174-179, hier 174: „Tolstoj hielt Mein Glaube und Über das Leben für seine wichtigsten Bücher, in denen er die philosophischen und religiösen Aspekte seiner Lehre am deutlichsten ausgedrückt habe.“
2 Vgl. für das folgende besonders Paul H. DÖRR: Nachwort [zu Entstehungs- und Editionsgeschichte des Werkes ‚Das Leben‘]. In: Leo N. TOLSTOJ: Das Leben. Übersetzt von Raphael Löwenfeld [1902]. Durchgesehene Neuausgabe von Paul H. Dörr. München: Eugen Diederichs Verlag 1992, S. 273-283. [= DÖRR 1992]
3 Andere Schreibweise: Čertkov.
4 Zitat: DÖRR 1992, S. 274.
5 Zitat: DÖRR 1992, S. 279.
6 Zitat: DÖRR 1992, S. 281.
7 Zitat: DÖRR 1992, S. 282.
8 Comte Léon TOLSTOI: De la vie, seule traduction revue et corrigée par l’auteur. Paris: C. Marpon et E. Flammarion 1889. (Übersetzung erstellt durch die Ehefrau des Verfassers: Sof’ja A. Tolstaja.)
9 Leo N. TOLSTOI: Über das Leben. Autorisierte Übersetzung von Sophie Behr. Leipzig: Verlag von Duncker & Humblot 1889. [Auch im Internet als Digitalisat.]
10 Leo N. TOLSTOI: Über das Leben. Deutsch von Adele Berger. Berlin: Verlag Hugo Steinitz 1891. [Auch im Internet als Digitalisat.]
11 Leo N. TOLSTOJ: Das Leben. Übersetzt von Raphael Löwenfeld. (= L. N. Tolstoj: Gesammelte Werke: I. Serie, Band 5. Von dem Verfasser genehmigte Ausgabe von Raphael Löwenfeld). Leipzig: Verlag Eugen Diederichs 1902. (Folgeauflagen 1911 und 1992.)
12 Leo N. TOLSTOJ: Sämtliche Erzählungen. Erster Band. Herausgegeben von Gisela Drohla. Zweite Auflage. Frankfurt a. M.: Insel-Verlag 1970, S. 500-501.
13 Edith HANKE: Prophet des Unmodernen. Leo N. Tolstoi als Kulturkritiker in der deutschen Diskussion der Jahrhundertwende. Tübingen: 1993, S. 18.
14 Karl HOLL: Tolstoi nach seinen Tagebüchern [1922]. In: Karl Holl: Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte. Band II. Der Osten. Tübingen: Verlag von J.C.B. Mohr 1928, S. 433-449, hier 447.
15 Die traurige Erbärmlichkeit dieses – weithin nicht als pathologisch geltenden – Kurses hat soeben der einflussreiche Medienunternehmer Julien Backhaus in seinem Votum zum ‚Klimaschutz‘ auf besonders verblüffende Weise vorgeführt: „Nach mir die Sintflut. Ich habe keine Kinder.“ (Michelle BREY: „Nach mir die Sintflut, ich habe keine Kinder“. Millionär empört im ZDF mit Klima-Aussage. In: Frankfurter Rundschau – online, 06.05.2023.)
(O žizni, 1886/87)
Übersetzt von Raphael Löwenfeld * 1902
Der Mensch ist nur ein Schilfrohr – das schwächste der Natur, aber es ist ein denkendes Schilfrohr. Es ist nicht nötig, dass sich das ganze Universum bewaffnet, um ihn zu zermalmen. Ein Dampf, ein Wassertropfen genügt, um ihn zu töten. Aber selbst wenn das Universum ihn zerquetschen würde, wäre der Mensch immer noch edler als das, was ihn tötet, denn er weiß, dass er stirbt; und um den Vorteil, den das Universum ihm gegenüber hat, weiß das Universum nicht. Unsere ganze Würde besteht also im Denken. Daraus müssen wir uns erheben, nicht aus dem Raum und der Zeit. Arbeiten wir also daran, gut zu denken; das ist das Prinzip der Moral.
BLAISE PASCAL (1623-1662)16
16 Übersetzung zu dem französischen Text (→S. 29), den Leo N. TOLSTOI seiner Schrift ‚Über das Leben‘ vorangestellt hat.
„Ich bin seit 1877 ein ganz neuer Mensch geworden. Ich zähle nur diese Zeit. Was vorher liegt, ist Eitelkeit und Selbstsucht“. So sagte mir einmal (1890) Leo Tolstoj (siehe „Gespräche über und mit Tolstoj“, Seite 84). Er sagte es ohne alle Erregung, ohne Zögern, ohne Rührung, wie jemand, dem eine bestimmte Auffassung seines ganzen Lebens und seines reichen Wirkens zu unumstößlicher Gewißheit geworden ist. So spricht nur ein Mann, der die Überzeugung hat, daß der Widerspruch seines Lebens gelöst ist, gelöst in dem Sinne, daß die neue Weltanschauung, die er sich in schwerem seelischen Kampfe errungen hat, die zweifellose Widerlegung, die vollkommene Verurteilung seiner Vergangenheit ist.
Es ist nicht schwer, aus den Thatsachen und Stimmungen, die uns aus Tolstojs Leben bekannt sind, die Richtigkeit seiner Worte festzustellen und die Phasen seiner inneren Umbildung zu verfolgen. Sie ist, wie natürlich, das langsam fortschreitende Werk eines ganzen Lebens, vieler Jahrzehnte. In hellem Lichte sichtbar und deutlich erkennbar aber wird die eigentümliche seelische Metamorphose, die Tolstoj den Dichter, zum Forscher, Sucher und Denker gemacht hat, ganz besonders in dem Jahrzehnt von 1877 - 1887.
Die großen poetischen Meisterwerke ,Krieg und Frieden‘ und ,Anna Karenina‘ waren vollendet. Der historische Roman war in den Jahren 1864 - 1869 entstanden auf Grund emsiger weitausgedehnter geschichtlicher Studien. Die Darstellung des Freimaurerwesens, die Leo Tolstoj notwendig erschien, um die innere Wandlung seines Pierre zu veranschaulichen, hatte ihn tief in die geistigen Strömungen um die Wende des 18. und 19. Jahrhunderts hineingeführt. Die uralten Probleme der Menschheit hatten ihn mächtig aufgeregt. Noch ehe die erste Hand an ,Anna Karenina‘ gelegt war und mitten in die Arbeit an dieser Dichtung hinein kam, störend und bereichernd zugleich, der starke Antrieb zum Studium der großen Philosophen.
Die innere Unruhe war so mächtig, daß sie dem Dichter die Freude am eigenen poetischen Schaffen nahm. „Zwei Monate lang sind meine Hände von Tinte rein geblieben und mein Herz von Gedanken“ – schreibt er an den treuen Freund Fjet am 26. August 1875 – „jetzt aber will ich an die langweilige, abgeschmackte ‚Anna Karenina‘ gehen, und ich habe nur den einzigen Wunsch, sobald als möglich Raum und Muße für andere Dinge zu gewinnen, aber bei Leibe nicht für pädagogische, die habe ich zwar gern, möchte sie aber doch aufgeben. Sie rauben mir soviel Zeit“. Mit diesen Worten kann nichts anderes gemeint sein, als die Sehnsucht nach dem Studium der gewichtigen Fragen, die den Geist der Helden der beiden großen Erzählungen beschäftigen und in ihnen die Umwandlung hervorrufen, die sich in der Seele ihres Schöpfers unter Stürmen und Drängen vorbereitete.
Fünfundzwanzig Jahre hatte Tolstoj als Dichter geschaffen. Der Gedanke, der ihn bewegte, ward zum Leben zeugenden Keim einer menschlichen Persönlichkeit.
Die Gestalten seiner Dichtungen sind Träger von Ideen. Empfindungen, Beobachtungen, Schlüsse, Anschauungen – alles setzt sich ihm in Gestalten um. Kein zeitgenössischer Dichter gleicht ihm in der Fähigkeit der Menschenschilderung, in der treuesten Wiedergabe subtilster, wechselnder, ringender Gefühle. Was in ihm vom Denker lag, war aufgegangen in dem bildenden Künstler. Die beiden großen Werke seiner glücklichsten Schaffensperiode vereinigen in einem gewissen Sinne die Eigenschaften des Dichters und Denkers.
Immer mehr aber und mehr erwacht in ihm das Bedürfnis reiner, körperloser Betrachtung des Menschheitsproblems. Mit sorgfältiger Vorbereitung geht er vom dichterischen Schaffen über zu philosophischem Forschen. Schopenhauer ist jetzt vor allen anderen sein Lehrer. Er hatte Plato und Kant studiert und in sich aufgenommen, Schopenhauer aber erfüllt ihn mit Begeisterung und Entzücken. „Wissen Sie, was dieser Sommer für mich bedeutet?“ – schreibt er an den (schon oben genannten) Freund Fjet am 30. August 1869, und dies Datum weist deutlich auf den Zusammenhang der Dinge hin – „Ein ununterbrochenes Entzücken über Schopenhauer und eine Reihe geistiger Genüsse, wie ich sie nie gekannt habe. Ich habe mir alle seine Werke angeschafft und habe sie gelesen und lese sie noch (auch Kant habe ich gelesen). Kein Student hat je während seiner Studienzeit so viel und so vielartiges in sich aufgenommen, wie ich in diesem Sommer. Ich weiß nicht, ob ich meine Meinung je ändern werde, jetzt aber bin ich überzeugt: Schopenhauer ist der genialste aller Menschen. Sie haben einmal gesagt, er habe mancherlei über philosophische Gegenstände geschrieben. Mancherlei? Das ganze Weltall in einem unglaublich hellen und schönen Abbilde.“ Tolstojs Begeisterung für den deutschen Philosophen war so groß, daß er Fjet den Vorschlag machte, mit ihm gemeinsam die Werke Schopenhauers ins Russische zu übertragen.
Von diesem begeisterten Studium Schopenhauers bis zur Niederschrift der ,Beichte‘ sind genau zehn Jahre. Dazwischen liegt die unermüdliche bis zur Selbstqual gewissenhafte Beschäftigung mit dem Evangelium und der Geschichte seiner Auslegung, in Tolstojs Sinne zu sprechen, seiner Verstümmelung durch die Kirche. 1873 beginnt Tolstoj die Arbeit an der ,Kritik der dogmatischen Theologie‘, und erst 1881 schließt er sie ab. (Erschienen ist das große Werk zum ersten Male 1893.)
Diese Fülle neuen Wissens bedurfte der Verarbeitung, der Ordnung, der Verschmelzung mit der starken eigenwilligen Persönlichkeit. Dies Werk der Aufnahme der neu zuströmenden Erkenntnis und der Umbildung des inneren Menschen schildern die drei Bekenntnisschriften: ,Meine Beichte‘ (1879), ,Mein Glaube‘ (1882), ‚Was sollen wir denn thun?‘ (1884 bis 1885). Es sind ganz persönliche schriftstellerische Erzeugnisse voll bewußter Subjektivität. Nur sich selbst schildert Tolstoj: Wie er ein anderer wurde, was er geworden, und warum er es geworden, beantworten diese drei Schriften. Das Erbe der Väter war im Goetheschen Sinne durch eigenen Erwerb Besitz, das Fremde dem eigenen Wesen angeglichen und mit ihm eins geworden.
Und das Gesamtergebnis dieser geistigen Arbeit war eine Ausgrabung verschütteter Schätze aus dem Staub der Jahrhunderte, eine Wiederentdeckung der Lehre Christi – im Gegensatz zu der Kirche, die ihn ihren Stifter nennt. Die Lebensverneinung Schopenhauers war durch ein neues Lebensideal überwunden, und dieses Lebensideal war nichts anderes, als die vor 1800 Jahren von Christus gegebene Anweisung für die Gestaltung menschlichen Zusammenlebens.
In Rußland sprachen Gegner und Anhänger von einer neuen Lehre, die sie Tolstoismus nannten. Der Mann aber, der in seelischen Kämpfen und in strenger Forscherarbeit sich zu der neuen optimistischen Weltanschauung durchgerungen hatte, dachte bescheidener als die Jünger, die ihn verehrten, und die Feinde, die ihn verketzerten. „Es giebt keinen Tolstoismus, und wird ihn niemals geben, d. h. eine Tolstojsche Lehre, da alles, was ich in meinen Schriften gesagt habe, vor achtzehnhundert Jahren in den Evangelien viel besser gesagt worden ist“. So schreibt er an einen seiner Ausleger, Felix Schröder, der ein lesenswertes Buch unter dem Titel ,Le Tolstoisme‘ herausgegeben hat (Paris, Fischbacher 1893; deutsche Ausgabe Dresden, o. J. Alexander Beyer), und in einem wundervollen Vergleich drückt er sein Verhältnis zu Christus und der Kirche aus: „wer die Übertünchung entfernt, die ein Gemälde verdeckt, ist darum noch kein Maler.“
Das neue Lebensideal methodisch zu begründen, wie er es von der schulmäßigen Philosophie gelernt hatte, war Tolstojs nächstes Bedürfnis. In dem Werke ,Das Leben‘ sollte ihm genügt werden. Abweichend von allem, was er bisher geschrieben, ist Tolstoj in diesem Buche ganz und gar unpersönlich, ganz Theoretiker und Systematiker, und zeigt sich als Meister auch in dieser Form, besonders in der ersten Hälfte des Werks. Er verleugnet förmlich die schriftstellerische Art, die jeder seiner Schöpfungen die persönliche Prägung aufdrückt. Nicht von der Erfahrung, die er an dem eigenen Leibe und in seinem eigenen Seelenleben gemacht hat, geht er aus, um zu allgemeinen Schlüssen zu gelangen; er baut vielmehr behutsam einen Gedanken auf dem anderen auf, gliedert seine Betrachtungen in Kapitel und ordnet sie mit der strengen Folgerichtigkeit der Schulphilosophie.
Das Problem ist dasselbe geblieben: die Frage nach dem Sinn des Lebens; die Antwort die gleiche, wie in den drei Bekenntnisschriften.
Die Schrift ,Das Leben‘ beginnt mit einem schönen Gleichnis. Der Müller, der sich nur mit seiner Mühle beschäftigt, lebt durch die Mühle. Da er anfängt, die Mechanik zu studieren, irrt er immer und mehr von seinem Zwecke ab. Ähnlich ergeht es der heutigen Wissenschaft. Indem sie die dunkelsten Anfänge zu ergründen strebt, läßt sie das nächste Objekt der Beobachtung ganz aus den Augen.
Das Leben des Menschen ist Streben nach seinem Wohl. Das Wohl kann die rein leibliche Existenz nicht geben, denn da alle Wesen nach diesem persönlichen Wohl streben, wäre ein Kampf aller die natürliche Folge. An die Stelle des Strebens nach dem eigenen Wohl muß der Mensch das Streben nach dem Wohl der anderen setzen. Sobald er das thut, wird ihm das Wohl erreichbar. Wenn die Menschen einander dienen, schwindet das unersättliche Streben nach Genuß, die Furcht vor dem Tode, und an die Stelle dieser Störer des Wohls tritt das Streben, das Leben der anderen Wesen zu fördern. Die Teilnahme an dem Leben der anderen hebt die Qual des Widerspruchs auf, der zwischen dem persönlichen Leben und dem Streben nach Wohl klafft, schafft eine Freude bringende, fruchtbare Wirksamkeit. Der Tod verliert seine Schrecken, denn der Mensch, dessen Leben den andern gewidmet ist, sieht in ihm nicht die Zerstörung des Lebens und seines Wohls, denn das Leben der anderen und ihr Wohl wird nicht verringert durch den Tod des Menschen, der ihnen durch sein Leben dient. Oft sogar wird das Leben der anderen vermehrt durch das Opfer des Lebens. Aufopfernde Liebe zu den Nebenmenschen ist der Sinn des Lebens.
Die Gedankenfolge der Schrift, die ich hier auf das Kürzeste zusammengedrängt wiedergebe, ist demnach, wie man sieht, nichts anderes, als die systematische Begründung der Anschauungen, die in den vorausgegangenen sozialethischen Schriften in mehr persönlicher als methodischer Weise ihre Darstellung gefunden haben. ‚Das Leben‘ steht in dieser Beziehung einzig da unter den Schriften Leo Tolstojs. Man hat das Werk oft als sein Tiefstes bezeichnet; vielleicht nicht mit Unrecht. ,Das Reich Gottes ist in Euch‘ dürfte man allerdings mit dem ,Leben‘ in Vergleich stellen.
,Das Leben‘ war in Rußland gedruckt, aber, wie Birjukow zuverlässig erzählt, von der Censur beschlagnahmt und verbrannt worden. Es teilte also das Schicksal des drei Jahre früher entstandenen Werks ‚Mein Glaube‘, das Leo Tolstoj in Moskau hatte drucken lassen und das die Censur ebenfalls vernichtet hat. So konnte es kommen, daß die deutsche Übersetzung des ,Lebens‘, von Sophie Behr, nach einem Manuskript Tolstojs gefertigt (Leipzig, Duncker & Humblot 1889), die erste Ausgabe des Werkes war, und daß in russischen Zeitschriften und Büchern häufig diese deutsche Ausgabe zitiert wird. Russisch erschien das Werk „O zizni“ in Genf 1891 bei Elpidine. Diese russische Ausgabe ist durchaus zuverlässig. Die neue Ausgabe der Schrift von Wladimir Tschertkow, die unmittelbar bevorsteht, wird nur ganz geringfügige Änderungen bringen. Für unsere Gesamt-Ausgabe konnten diese kleinen Änderungen schon benutzt werden. Unserm deutschen Text liegt die Behrsche Übersetzung zu Grunde, die aber durch eine genaue Durchsicht sehr zahlreiche Veränderungen, wie wir hoffen, Verbesserungen, erfahren hat.
R[aphael]. L[öwenfeld].
Leo N. Tolstoj
L’homme n’est qu’un roseau, le plus faible de la nature, mais c’est un roseau pensant. Il ne faut pas que l’univers entier s’arme pour l’écraser. Une vapeur, une goutte d’eau suffit pour le tuer. Mais quand l’univers l’écraserait, l’homme serait encore plus noble que ce qui le tue, parce qu’il sait qu’il meurt; et l’avantage que l’univers a sur lui, l’univers n’en sait rien. Ainsi toute notre dignité consiste dans la pensée. C’est de là qu’il faut nous relever, non de l’espace et de la durée. Travaillons donc à bien penser; voilà le principe de la morale.
PASCAL.[→S. 22]
Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir. … Das erstere fängt von dem Platze an, den ich in der äußeren Sinnenwelt einnehme, und erweitert die Verknüpfung, darin ich stehe, ins unabsehlich Große mit Welten über Welten und Systemen über Systemen, überdem noch in grenzenlose Zeiten ihrer periodischen Bewegung, deren Anfang und Fortdauer. Das zweite fängt von meinem unsichtbaren Selbst, meiner Persönlichkeit an und stellt mich in einer Welt dar, die wahre Unendlichkeit hat, aber nur dem Verstande spürbar ist, und mit welcher ich mich nicht wie dort in bloß zufälliger, sondern allgemeiner und notwendiger Verknüpfung erkenne. KANT (Krit. d. prakt. Vernunft, Beschluß).
Ein neu Gebot gebe ich euch, daß ihr euch untereinander liebet. EVANG. JOHANNES XIII 34.
Stellen wir uns einen Menschen vor, dessen einziger Lebenserwerb in einer Mühle besteht. Dieser Mensch ist der Sohn und der Enkel eines Müllers und weiß durch die Tradition ganz genau, wie man mit einer Mühle in allen ihren Teilen umgehen müsse, damit sie gut mahle. Dieser Mensch hat ohne Kenntnis der Mechanik alle Teile der Mühle, so gut er es verstand, derart aneinandergepaßt, daß die Zermahlung eine gute und vorteilhafte war, und der Mensch lebte und nährte sich.
Da geschah’s, daß dieser Mensch über die Einrichtung der Mühle nachzudenken begann und daß ihm unklares Gerede über die Mechanik zu Ohren kam, und er fing an, zu beobachten, was und wodurch es in Bewegung gesetzt wurde.
Und auf dem Wege von der Haue zum Mühlstein, vom Mühlstein zur Welle, von der Welle zum Rade, vom Rade zu den Schleusen, dem Damme und dem Wasser – kam er zu der klaren Erkenntnis, daß alles von dem Damme und von dem Flusse ausgehe. Und der Mensch freute sich derart über diese Entdeckung, daß er, anstatt wie früher nach Prüfung der Güte des gewonnenen Mehles die Mühlsteine zu senken oder zu heben, sie zu schleifen, den Riemen fester zu ziehen oder zu lockern, anfing den Fluß zu untersuchen. Und seine Mühle geriet vollständig in Unordnung. Der Müller wurde hie und da darauf aufmerksam gemacht, daß er nicht richtig handle. Er gab es nicht zu und setzte seine Beobachtungen des Flusses fort. Und er war damit so viel und so lange beschäftigt, er stritt so heftig und so viel mit denen, die ihm das Unrichtige seines Verfahrens nachweisen wollten, daß er schließlich selbst zu der Überzeugung gelangte, daß der Fluß eigentlich die Mühle selbst sei.
Auf alle Beweise für die Unrichtigkeit seines Gedankenganges wird ein solcher Müller erwidern: Keine Mühle mahlt ohne Wasser; um also eine Mühle zu kennen, muß man wissen, wie man das Wasser treiben soll; man muß die Kraft seiner Bewegung kennen und muß wissen, woher diese Kraft kommt, – man muß folglich, um die Mühle zu kennen, den Fluß kennen lernen.