Über die Dichtkunst - Aristoteles - E-Book

Über die Dichtkunst E-Book

Aristoteles

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Beschreibung

Dieses eBook: "Über die Dichtkunst" ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Die Poetik als Vorlesungsgrundlage verfasstes Buch des Aristoteles, das sich mit der Dichtkunst und deren Gattungen beschäftigt. Aristoteles gliedert die Wissenschaften in drei große Gruppen; die Poetik behandelt einen Teil des poietischen, d.h. 'hervorbringenden' menschlichen Wissens in deskriptiver und präskriptiver Weise. In den Bereich der aristotelischen Poetik fallen zunächst all diejenigen Künste, die mimetischen, d. h. nachahmenden bzw. darstellenden Charakter besitzen: Epik, Tragödie, Komödie, Dithyrambendichtung, aber auch Tanz und Musik. Im Verlauf des Werkes zeigt sich aber, dass Aristoteles fast ausschließlich Dichtung im engeren Sinne behandelt, also nachahmende Kunstformen, die sich des Mediums der Sprache bedienen. Aristoteles' Poetik steht im Zusammenhang mit seiner Rhetorik, insofern beide Schriften Sprache und Kommunikation thematisieren, sowie mit seiner Politik, insofern Dichtkunst wie Redekunst zentrale gesellschaftliche Funktionen in der griechischen Polis hatten.

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Aristoteles

Über die Dichtkunst

e-artnow, 2017 Kontakt [email protected]
ISBN 978-80-268-7051-7
Inhaltsverzeichnis
VORWORT
EINLEITUNG
1. Die Bedeutung der Poetik.
2. Die Poetik im Altertum.
3. Textgeschichte.
4. Die Poetik in der Neuzeit.
5. Die Quellen der Poetik.
KAPITEL I
KAPITEL II
KAPITEL III
KAPITEL IV
KAPITEL V
KAPITEL VI
KAPITEL VII
KAPITEL VIII
KAPITEL IX
KAPITEL X
KAPITEL XI
KAPITEL XII
KAPITEL XIII
KAPITEL XIV
KAPITEL XV
KAPITEL XVI
KAPITEL XVII
KAPITEL XVIII
KAPITEL XIX
KAPITEL XX
KAPITEL XXI
KAPITEL XXII
KAPITEL XXIII
KAPITEL XXIV
KAPITEL XXV
KAPITEL XXVI
NAMENVERZEICHNIS
SACHVERZEICHNIS

VORWORT

Inhaltsverzeichnis

Die Aufforderung des Verlegers der Philosophischen Bibliothek eine Neuauflage der vergriffenen Ueberwegschen Übersetzung der aristotelischen Poetik (1869) zu besorgen, traf mich mitten in der Vorbereitung eines exegetischen und kritischen Kommentars des Büchleins und einer ihn begleitenden ausführlichen Abhandlung zu dessen Textgeschichte. Unter normalen Umständen hätte ich Bedenken gehabt, die mir aufgetragene Aufgabe vor der Veröffentlichung jener Arbeiten, die unter anderem die nähere Begründung und Rechtfertigung meines neuen Textes bringen werden, zu übernehmen. Wenn ich dennoch diese Bedenken habe fallen lassen, so geschah dies hauptsächlich aus folgenden Gründen. Jener Übelstand schien insofern nicht allzu schwerwiegend, weil derartige kritische Erörterungen philologische Leser zur notwendigen Voraussetzung haben. Sodann gestatten es die zurzeit herrschenden, jedes Maß überschreitenden Herstellungskosten wissenschaftlicher Werke größeren Umfangs noch nicht, einen Erscheinungstermin für obige Arbeiten auch nur annähernd im voraus zu bestimmen.

Freilich, an dem ursprünglichen Plane einer Neubearbeitung konnte nicht festgehalten werden, denn es stellte sich gar bald heraus, daß eine solche sehr unbefriedigend ausfallen müßte und so entschloß ich mich die Ueberwegsche Übertragung durch eine ganz neue zu ersetzen. Jene beruhte nämlich noch auf dem Bekkerschen Texte, der im wesentlichen nur die Aldina wiedergab, während der meinige, obwohl durchaus konservativ, selbst von dem Vahlen's (1886) an fast 300 Stellen abweicht, ein Ergebnis, das zum großen Teil der bisher nicht genügend ausgebeuteten syrisch-arabischen Übersetzung zuzuschreiben ist.1 Sodann hatte sich Ueberweg, ebenso wie seine Vorgänger und Nachfolger, nicht eng genug an den Wortlaut des Originals angeschlossen und gab so einen m.E. irreführenden Eindruck von dem eigentümlichen, lehrhaften Charakter der Poetik. Denn sie ist mit ihrer stark elliptischen und wortkargen Ausdrucksweise und ihren oft stichwortartig und aphoristisch hingeworfenen Gedanken und Lehrsätzen, ihrer Entstehungsweise durchaus entsprechend, alles eher als ein Erzeugnis attischer Kunstprosa. Wir haben nämlich in ihr, um kurz zu sagen, was an einem anderen Orte ausführlich nachgewiesen werden soll, nicht ein Exzerpt, sondern nur die Überbleibsel eines Kollegienheftes zu erblicken, das auf aufmerksame und nachprüfende Leser keinerlei Rücksicht zu nehmen brauchte und das oft nur leise Angedeutete der weiteren mündlichen Ausführung überließ. Es kam endlich noch hinzu, daß ich mir an sehr zahlreichen Stellen die Auffassung Ueberwegs nicht aneignen konnte. Eine Übersetzung soll aber, zumal die einer technischen und schwierigen Schrift, wenigstens zum Teil einen Kommentar ersetzen. Dementsprechend war ich vor allem bemüht, den auf eine neue Recensio gegründeten Text so wort- und sinngetreu wiederzugeben, wie dies ohne Schädigung des deutschen Ausdrucks nur irgend möglich war. Daß nun der textkritische Anhang Ueberwegs in Wegfall kommen mußte, versteht sich von selbst. Dasselbe Schicksal traf aber auch die erklärenden Anmerkungen, die im wesentlichen dazu bestimmt waren, wie der Verfasser selbst angibt, "noch unerledigte Streitfragen ihrer Lösung zuzuführen". Inwieweit sie diesen Zweck erreicht haben, mag hier unerörtert bleiben, in jedem Fall waren auch sie, einige rein sachliche Belege ausgenommen, für den Leser, welchen die "Philosophische Bibliothek" vorzugsweise im Auge hat, von keinem nennenswerten Nutzen. Sollte sich jemand dennoch für diese besonders interessieren so ist ja die alte Ausgabe in Bibliotheken leicht zugänglich. An deren Stelle sind nun erklärende Verzeichnisse der Namen und Sachen getreten, die lediglich das geben sollen, was mir für das unmittelbare Verständnis zweckdienlich schien, wobei von einer Erläuterung oder gar Kritik der aristotelischen Lehren natürlich abgesehen werden mußte, um den mir zu Gebote stehenden Raum nicht zu überschreiten.

Was die ebenfalls neu hinzugekommene Einleitung anbelangt, so bezweckt auch sie nur eine vorläufige Orientierung. Für die ausführlicheren Darlegungen aller darin kurz behandelten Fragen muß ich wiederum auf die obenerwähnten Arbeiten verweisen, in der Hoffnung daß deren Erscheinen dennoch in absehbarer Zeit ermöglicht wird.

Meinem Mitleser, Herrn Professor E. Wüst (München), bin ich für seine wertvolle Hilfe zu besonderem Dank verpflichtet.

München, Juli 1920.

Alfred Gudeman.

1Eine kleine Probe der Bedeutung dieser Textesquelle gibt mein Artikel im Philologus LXXVI (1920) S. 239—265.

EINLEITUNG

Inhaltsverzeichnis

1. Die Bedeutung der Poetik.

Inhaltsverzeichnis

Es gibt kein Werk gleich geringen Umfangs, das sich auch nur entfernt mit dem Einfluß messen kann, den die aristotelische Poetik Jahrhunderte lang ausgeübt hat. Freilich werden wir heute nicht mehr, wie einst Lessing, deren Lehren für ebenso unfehlbar halten wie die Elemente des Euklid. Im Gegenteil, man wird ohne weiteres zugeben müssen, daß für die Dramatiker der Gegenwart—das Epos kommt nicht in Betracht da es ganz in dem Roman aufgegangen ist—Aristoteles als literarischer Gesetzgeber ein völlig überwundener Standpunkt ist.

Andrerseits ist es aber nicht minder wahr, daß auch heute noch niemand der Kenntnis der Poetik schadlos entraten kann, der auch nur oberflächlich sich mit den Literaturen, namentlich Italiens, Frankreichs und Englands vom 16. bis etwa zur Mitte des 18. Jahrh., beschäftigen will. Und ebensowenig darf der Ästhetiker, der literarische Kritiker oder Literarhistoriker an diesem Büchlein achtlos vorübergehen, sollen seine rein theoretischen Darlegungen über viele in das Gebiet der Dichtkunst einschlägige Probleme nicht von vornherein einer wichtigen Grundlage entbehren. Was vollends dem klassischen Philologen die Poetik des Aristoteles ist und stets sein wird, bedarf keines weiteren Wortes.

2. Die Poetik im Altertum.

Inhaltsverzeichnis

Unter diesen Umständen mag es auf den ersten Blick sehr befremden, daß sich im Altertum selbst bisher keine sicheren Spuren einer aus erster Hand geschöpften Kenntnis, geschweige denn eines Einflusses der aristotelischen Poetik haben nachweisen lassen. Dagegen spricht auch nicht eine Anzahl direkter Zitate bei späten Erklärern des Aristoteles, zumal man nicht einmal ohne weiteres annehmen darf, daß jene Stellen nicht einfach den von ihnen ausgeschriebenen, älteren Quellen entlehnt sind.

Zur Erklärung dieser bemerkenswerten Tatsache mag vielleicht folgendes dienen. Zunächst scheint unsere Poetik überhaupt zuerst von Andronikos v. Rhodos, einem Zeitgenossen Ciceros, zusammen mit anderen Werken des Aristoteles in Rom herausgegeben worden zu sein. Horaz, bzw. sein viel älterer Gewährsmann, Neoptolemos v. Parion (c. 260 v. Chr.), zeigt trotz mancher sachlichen Übereinstimmungen keine direkte Benutzung der Schrift und dasselbe gilt von einem uns nur in Bruchstücken erhaltenen, umfangreichen Werke "Über die Dichtungen", dessen Verfasser Philodemos v. Gadara zum Freundeskreise des Horaz gehörte. Sodann brachten die Griechen der römischen Kaiserzeit der Poesie überhaupt nicht das geringste Interesse entgegen. Ist uns doch aus dieser ganzen Epoche keine einzige Tragödie auch nur dem Titel nach bekannt. An die Stelle der Komödie waren der dramatische, aber literarisch wertlose Mimus und der Pantomimus getreten und die wenigen uns meist erhaltenen Epen, wie die des Oppian, Quintus Smyrnaeus, Claudian, Kolluthos, Triphiodor, ja selbst des Nonnos, stammen aus sehr später Zeit und kommen als echte Kunstwerke überhaupt nicht in Betracht, wie sie denn auch von den Lehren des Aristoteles keinen Hauch verspüren lassen. Es darf daher nicht Wunder nehmen, daß eine wissenschaftliche Technik des Dramas und des Epos, wie unsere Poetik, keinerlei Beachtung fand oder finden konnte. Diese der Dichtkunst allenthalben entgegengebrachte Gleichgültigkeit wird es wohl auch zum Teil verschuldet haben, daß zahlreiche andere literargeschichtliche Werke des Aristoteles ganz verloren gingen. So vor allem die "Didaskalien", eine vollständige Liste aller in Athen aufgeführten Dramen, der reichhaltige Dialog "Über die Dichter" in 3 B., von dem uns noch einige Bruchstücke mannigfachen Inhalts erhalten sind, und die "Pragmateia (Untersuchung der Dichtkunst", in 2 B. In dieser wird Aristoteles das, was in dem unvollständig auf uns gekommenen Kollegienheft skizzenhaft entworfen oder zwecks weiterer mündlicher Ausführung nur angedeutet war, erschöpfend, wie wir es bei ihm gewohnt sind, behandelt haben. Unsere Poetik verdankt ihre Erhaltung wohl nur dem glücklichen Umstand, daß sie als Anhängsel der Rhetorik oder der Logik, die als Schulfächer sich stets eifriger Pflege erfreuten, betrachtet und so mit diesen Schriften vereint überliefert wurde.

3. Textgeschichte.

Inhaltsverzeichnis

Die nachweisbar älteste Handschrift war ein in Unzialen ohne Worttrennung oder Interpunktion geschriebener mit zahlreichen Randbemerkungen versehener und spätestens dem 5./6. Jahrh. angehöriger Kodex, dem der Schluß der Poetik aber ebenfalls bereits abhanden gekommen war. Im 9. Jahrh. wurde er von einem Nestorianischen Mönch wörtlich ins Syrische übersetzt. Diese Übertragung bildete ihrerseits die Vorlage für die arabische Übersetzung des Abu Bishar Matta (990—1037), die in einer arg ververstümmelten und lückenhaften Pariser Hs des 11. Jahrh. erhalten ist. Aufs dem arabischen Text beruhte die jämmerlich verkürzte, zum Teil sinnlose Paraphrase des berühmten arabischen Gelehrten Averröes (1126 bis 1198), denn die orientalischen Übersetzer standen dem Inhalt der Poetik mit der denkbar tiefsten Verständnislosigkeit gegenüber. Eine genaue Untersuchung hat aber den unwiderleglichen Beweis erbracht, daß jene alte, griechische Hs einen weit vorzüglicheren Text darbot als die älteste uns erhaltene Hs, der Parisinus 1741 aus dem 10. Jahrh. und daß die bisher fast allgemein geltende Ansicht, dieser sei der Stammvater aller späteren, übrigens sehr zahlreichen Hss, den Tatsachen nicht entspricht.

4. Die Poetik in der Neuzeit.

Inhaltsverzeichnis

Es ist ein seltsames Zusammentreffen, daß gerade um die Zeit, da die Hegemonie des Philosophen Aristoteles, der die Gedankenwelt des Mittelalters beherrscht hatte, sich ihrem Ende zuneigte, seine Poetik aus langer Vergessenheit im Abendlande wieder auftauchte und er nun alsbald als literarischer Diktator, gleichsam als Ersatz für das verlorene Reich, einen erneuten Siegeslauf antrat. Die Poetik erschien zuerst in einer wörtlichen lateinischen Übersetzung des Georgius Valla (1498), die editio princeps des Originals zehn Jahre später in einer Aldina. Den ersten Kommentar lieferte F. Robortelli (Florenz l548), dem innerhalb zwei Dezennien drei weitere gelehrte und umfangreiche Kommentare folgten: Madius (Venedig 1550), P. Victorius (Florenz 1560) und Castelvetro (Wien 1570). Bis etwa zur Wende des 18. Jahrh. waren bereits mehr als 100 Ausgaben und Übersetzungen erschienen—die Poetik wurde öfter als irgendein anderes Werk griechischer Prosa herausgegeben,—doch ist im wesentlichen, weder in der Textkritik noch in der Erklärung, ein nennenswerter Fortschritt über die genannten Leistungen zu verzeichnen. Ein solcher trat erst mit den Arbeiten zweier Engländer, Twining (1789) und Tyrwhitt (1794) ein, während Lessing etwas früher in der Hamburgischen Dramaturgie (1767/8) das Studium der Poetik in Deutschland zu neuem Leben erweckte. Die erste deutsche Übersetzung von Curtius (1755) war nämlich als solche sehr kläglich ausgefallen und die ihr beigegebenen Abhandlungen waren ganz von Dacier (1692) abhängig und in Gottschedschem Geiste geschrieben Sie hat aber insofern ein gewisses historisches Interesse, weil sowohl Goethe wie Schiller die aristotelische Schrift aus ihr kennen lernte. Eine neue Epoche sowohl für die Textkritik wie für die Erklärung begann dann erst wieder mit Vahlen, der zuerst konsequent die Recensio auf die älteste Hs, den Parisinus 1741 (Ac), aufbaute und in seinen "Beiträgen zu Aristoteles Poetik" ("Wien 1865/6), einer der hervorragendsten hermeneutischen Leistungen unserer Wissenschaft, das Verständnis der Poetik mächtig förderte. Mehr negativ von Bedeutung war sodann die glänzende Abhandlung von J. Bernays (1857) über die Katharsis da sie der Ausgangspunkt einer gewaltigen Kontroverse wurde, die bis auf den heutigen Tag noch nicht zur Ruhe gekommen ist.

Etwa gleichzeitig mit jenen vier großen italienischen Kommentatoren des 16. Jahrh. begann die literarische Kritik sich mit den Lehren der Schrift zu beschäftigen, wobei der Einfluß des Castelvetro besonders verhängnisvoll werden sollte, denn das berühmte Gesetz der "Drei Einheiten," der Handlung, der Zeit und des Ortes, von denen Aristoteles einzig und allein die erste kennt und fordert, beruht auf einem Mißverständnis des Castelvetro. Sogenannte "Poetiken" sprangen vom 16. Jahrh. wie Pilze aus dein Boden. Samt und sonders nehmen sie zu den wirklichen, leider zu oft auch zu den vermeintlichen Lehren des Aristoteles Stellung und gar bald versuchten epische und dramatische Dichter, zuerst in Italien, dann in Frankreich jene Lehren praktisch zu verwerten. Unter den Kritikern und Verfassern von Lehrbüchern der Dichtkunst des 16. Jahrh. seien hier nur die einflussreichsten genannt, was aber keineswegs immer besondere Originalität oder Selbständigkeit voraussetzt: Minturno, De poeta (1559), J.C. Scaliger, Poetices libri VII (1561),1Sir Philip Sidney, Defense of Poesy (c. 1583, gedruckt 1595), Patrizzi, Della Poetica (1586), ein fanatischer Gegner des Aristoteles und seiner Poetik. Von Dichtern, die unter dem Einfluß des Aristoteles standen und in eigenen Abhandlungen oder auch in Einleitungen zu ihren Werken sich mit ihm auseinandersetzten, seien erwähnt: Trissino, dessen "Sophonisba" als die erste italienische Tragödie gilt (1555), Fracastoro, Naugerius sive de Poetica dialogus (1555), T. Tasso, Discorsi dell' Arte Poetica (1586), Jean de la Taille, Préface zu Saul (1572). Dieser und die früheren französischen Kritiker überhaupt wie Jodelle, der Verfasser der ersten französischen Tragödie, Cleopâtre (1552), Vauquelin de la Fresnaye, Art poetique (begonnen 1574, gedruckt 1605), Ronsard und die anderen Mitglieder der Pléiade, sie alle beschäftigten sich mehr oder weniger eingehend mit den aristotelischen Lehrsätzen, aber sie verdankten deren Kenntnis, wie es scheint, meist nicht dem Original, sondern den Arbeiten ihrer italienischen Vorgänger. Dies änderte sich erst im 17. Jahrh., als der heftige Streit um die "Regeln" in den Mittelpunkt des literarischen Interesses trat. Mairet, der die erste "regelrechte" Tragödie, "Sophonisbe", (1629) verfaßte, kannte die Poetik aus erster Hand, wie er selbst in der Vorrede zu "Silvanire" (1626) bezeugt, und dies gilt natürlich auch von den Führern in der Cid-Kontroverse (1636—1640), wie Chapelain und Hedelin d'Aubignac. Corneille selbst aber scheint sie erst am Ende seiner dramatischen Laufbahn aus erster Hand kennen gelernt zu haben, obwohl er in einigen früheren Vorreden zu seinen Dramen wiederholt auf Aristoteles Bezug nimmt. In seinen drei "Discours" macht er sodann den freilich vergeblichen Versuch nachzuweisen, daß seine Tragödien den Lehren der Poetik allenthalben entsprechen.

Engländern wurde die Poetik durch die Italiener und Franzosen vermittelt, doch spielte sie bei ihnen nie eine so große Rolle, und auch diese beschränkte sich fast ausschließlich auf jene drei "Einheiten." Daß Shakespeare diese kannte, geht aus der Ansprache an die Schauspieler im Hamlet, den Prologen zu Heinrich V. und dem "Chorus" der Zeit im Wintermärchen (IV1) hervor. Da er sich sonst ihnen gegenüber noch weit gleichgültiger verhält als seine dramatischen Zeitgenossen (ein Marlow, Jonson, Greene, Beaumont und Fletcher), so möchte ich doch hier nicht unterlassen, wenigstens auf eine interessante Tatsache hinzuweisen, weil sie bisher m.W. nicht beobachtet worden ist. Die beiden letzten2 Dramen aus seiner Feder sind das "Wintermärchen" und der "Sturm." Während nun in dem ersteren die "Einheiten" weit gröblicher verletzt werden als in irgend einem anderen Stücke, hat er diese im "Sturm" und in ihm allein so streng wie nur irgend möglich durchgeführt. Sollte er damit haben zeigen wollen, daß für den wahren Dramatiker die Einhaltung oder die Vernachlässigung der Regeln," soweit die Wirkung in Betracht kommt, gleichgültig ist? Um die Mitte des 17. Jahrh. haben dann Milton, in der Einleitung zu seiner Tragödie "Samson Agonistes" (1671), und insbesondere Dryden, namentlich in seinem "Essay über dramatische Poesie" (1668), der aristotelischen Poetik ein besonderes Interesse zugewandt, letzterer allerdings ganz unter dem Einfluß von Corneille Rapin, de Bossu und Boileau.

Die Beschäftigung mit unserer Poetik in Deutschland beginnt, wie erwähnt, mit Lessing. Goethe und durch ihn veranlaßt auch Schiller (nach 1797) haben sich lebhaft mit ihr befaßt. In ihrem Gedankenaustausch über die Schrift spiegelt sich die Eigenart der beiden Dichterfürsten in charakteristischer Weise wieder, doch hat man die Empfindung, daß in diesem Briefwechsel Schiller durchaus der Gebende ist. Noch wenige Jahre (1826) vor seinem Tode ist Goethe in seiner ganz kurzen "Nachlese zur Poetik" nochmals auf den Gegenstand zurückgekommen, worin er, wohl durch seine künstlerische Weltanschauung verleitet, eine ganz falsche Übersetzung des Schlusses der Tragödiendefinition gibt.

Im 19. Jahrh. ist es, von der mächtigen Wirkung der bereits erwähnten Abhandlung von Bernays abgesehen, vor allem die Ästhetik, die sich allenthalben mit unserer Poetik auseinandersetzt, so E. Müller, Vischer, Volkelt, Günther, Walter, W. Dilthey, Lippe, Bosanquet, Nietzsche, Baumgart und Carrière, um nur diese zu nennen. In den Hauptfragen wie über den Ursprung der Poesie, den Begriff des Kunstschönen, den Endzweck der Dichtung, sind manche dieser Forscher zwar zu neuen und eigenartigen aber im großen und ganzen keineswegs einwandfreieren oder sichereren Ergebnissen gelangt, als sie schon in den kurzen, fast ohne Begründung hingeworfenen Lehrsätzen des Aristoteles uns vorliegen.

1Poet. 7, 2, 1: Aristoteles, Imperator noster, omnium artium dictator perpetuus.

2Von Heinrich VIII. sehe ich aus bekannten Gründen ab.

5. Die Quellen der Poetik.

Inhaltsverzeichnis

Originalität ist ein rein relativer Begriff, ja in einem gewissen Sinne gibt es eine solche überhaupt nicht, ist doch jeder Denker ein Erbe der Vergangenheit1 und irgendwie von Vorgängern, wenn nicht direkt abhängig, so doch, und zwar oft unbewußt, beeinflußt. Andrerseits steckt nicht minder häufig in der Art, wie ein Forscher den ihm vorliegenden Stoff verarbeitet, in der Beleuchtung, in die er ihn rückt, in dem Zusammenhang in den er ihn einreiht oder, falls er sich mit ihm im Widerspruch befindet, in der Begründung seines entgegengesetzten Standpunkts ein ebenso hoher Grad von Selbständigkeit und Originalität als in dem ganz Neuen, das er im übrigen bringen mag. So ist denn zweifellos auch die Poetik des Aristoteles nicht wie Athene in voller Rüstung aus dem Haupte des Zeus entsprungen, auch er hat, und zwar nachweisbar, eine umfangreiche Literatur über seinen Gegenstand, vor allem in den Schriften der Sophisten, schon vorgefunden und so weit zweckdienlich verwertet oder auch zu widerlegen sich veranlaßt gefühlt. Gegen das Verdammungsurteil, das Platon