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Bichsel und Religion? Hat er, der bekennende Sozialist, denn etwas mit ihr zu tun? Er hat: Über Jahrzehnte hinweg äußerte er sich immer wieder zu religiösen Themen. In Essays und Erzählungen, aber auch in Laienpredigten zeigt er sich als wacher Beobachter, der beides zu verbinden weiß: ein existentielles Interesse an Religion und einen klaren Blick für ihre problematischen Begleiterscheinungen. Neben engagierten Plädoyers zum Verhältnis von Religion und Gesellschaft finden sich immer wieder auch Hinweise auf die religiöse Dimension der fundamentalen kulturellen Praktiken des Lesens und Erzählens. Dank bislang verstreut oder noch gar nicht publizierter Texte bietet der Band erstmals Einblick in eine facettenreiche Auseinandersetzung, in der Gott konsequent von der Welt aus in den Blick genommen wird.
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Seitenzahl: 364
Veröffentlichungsjahr: 2010
Umschlagfoto: Isolde Ohlbaum
Verlag und Herausgeber danken Peter Bichsel für die Zustimmung, auch unpublizierte Texte in den Band aufzunehmen, und Fulbert Steffensky für die Genehmigung des Abdrucks des Gesprächs von Peter Bichsel mit Dorothee Sölle. Für Hilfe bei den Recherchen im Archiv Peter Bichsels geht ein Dank an Dr. Rudolf Probst vom Schweizerischen Literaturarchiv Bern.
ebook Suhrkamp Verlag Berlin 2010
© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2009
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das
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www.suhrkamp.de
eISBN 978-3-518-73160-4
Inhalt
I Schaut die Lilien auf dem Felde: Predigten
Der Herr ist mein Trotz!
Selig sind die Friedfertigen
Schaut die Lilien auf dem Felde
Ein Mann veranstaltete ein großes Gastmahl
Aber die Schlange war listiger als alle Tiere
II 24. Dezember: Geschichten
24. Dezember
Lesebuchgeschichte
Kinderfragen
III Das Fest des Dazugehörens: Kolumnen
Im Winter muß mit Bananenbäumen etwas geschehen
Nostradamus
Dummheit ist Macht
Die heilige Zeit der Gewalt
Feiertage
Zum Beispiel das mit den Käfern
Die Weihnachtsgeschichten
Erzählen gegen den Tod
Probleme, Probleme
Ein außerordentlich flugtüchtiger Engel
Weiße Weihnachten
Vor dem Haus steht ein Baum
Die Linsen meiner Mutter
Die heilige Zeit
Der Glaube an die Muskatnuß
Heute ist Sonntag
Etwas weihnächtliche Nostalgie
Von der Macht und der Weisheit
Das Fest des Dazugehörens
IV Wie christlich sind die Christen? Essays und Reden
Christentum und Politik
Abschied von einer geliebten Kirche
Sport als Religion?
Wie christlich sind die Christen?
Der abwesende Krieg
Das Geschäft mit der Angst
Wieviel Sicherheit braucht der Mensch?
Frau Müller, Sie sind verhaftet
Von der Erfindung der heiligen Schriften
Man muß sie gesehen haben
V Das Recht, ein Anderer zu werden: Dorothee Sölle und Peter Bichsel im Gespräch
Peter Bichsels Texte zur Religion Ein Nachwort
Anmerkungen
Nachweise
so ist es
sagt man
ein baum zum beispiel
ist so
so ist ein baum
und ein baum ist nicht so
und alles ist nicht so
so ist es
Der Herr ist dein Trotz;
er behütet deinen Fuß,
daß er nicht gefangen werde.
Sprüche 3,26
Meine Lieben,
schon die Anrede fällt mir schwer, soll ich sagen »meine lieben Schwestern und Brüder«, »liebe Gemeinde«, »Mitchristen«, »Mitmenschen«. Schon wenn ich Sie anrede, beginnt die Lüge, und wenn ich Sie anrede mit »meine Lieben«, dann weiß ich, daß ich unfähig sein werde, Sie alle zu lieben.
Ich bin ein Schriftsteller, und ich betreibe mit Spaß und Ärger ein Lügengeschäft, ein Fabuliergeschäft, und nun stehe ich hier und soll bekennen, was ich nicht bekennen kann.
Ich bin ein Mensch, ein Mitglied der menschlichen Gesellschaft, und ich bin das gern, und weil ich das gern bin, bin ich auch ein Opportunist, ich bin schnell unter Christen ein Christ, unter Sozialisten ein Sozialist, unter Fußballfans ein Fußballfan – und ich schäme mich nicht dafür, ein Opportunist zu sein. Ich will dazugehören, ich will mit dabei sein. Opportunismus ist auch eine menschliche Fähigkeit.
Trotzdem – nichts anderes macht mir so angst wie mein Opportunismus.
Deshalb fürchte ich mich vor einem Bekenntnis. Ich stelle mich nicht gern vor Christen und sage: »Ich bin ein Christ.« Ich stelle mich nicht gern vor Gläubige und sage: »Ich glaube an einen Gott.«
Wenn ich so etwas unter Sozialisten sage oder unter Fußballfans, dann vertraue ich mir mehr, denn dort ist es trotzig gesagt, und ich vertraue meinem Trotz.
Ich vertraue meinem »Nein, nein« mehr als meinem »Ja, ja«. Und Christ sein in unserer Zeit, das hat mit Nein sagen wohl mehr zu tun als mit Ja sagen.
Es gibt ein christliches Nein, und das wohl erschütterndste Nein stammt von Jesus selbst. »Meinet ihr, daß ich gekommen bin, Frieden zu bringen auf Erden? Nein, sondern Zwietracht«, sagt der trotzige Jesus in Lukas 12,51.
Und er meint wohl damit »Auseinandersetzung«, »Dagegen sein können«.
Mir gefällt das kleine, stille, liebe Kind, dem der Onkel zärtlich übers Haar streichelt und sagt: »Du besch e ganz e Liebe«, und es stampft auf den Boden und sagt: »Nei, e be e ganz e Böse.«
Das heißt: Ich bin nicht nur lieb und opportun, ich bin auch selbst jemand.
Ich bin ein anderer – das ist Trotz.
Und der wunderbare Satz von Dorothee Sölle ist ein trotziger Satz: »Christ sein bedeutet das Recht, ein Anderer zu werden.«1
Eine andere, ein anderer werden – das bedeutet das Recht, nein zu sagen.
»Der Herr ist mein Trotz!«
Ich weiß nicht, ob ich an einen Gott glaube – und Fromme werden mir diesen Satz nicht verzeihen, aber ich kann in dieser einen Sache nicht lügen – das ist schon sehr eigenartig, daß ich es in dieser Sache nicht kann, und vielleicht ist das schon ein Teil eines Gottesbeweises – aber ich kann wirklich beim besten Willen nicht wissen, ob ich an ihn glaube.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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