Über Nichtstun, Moral, Recht und Wissenschaft - Leo N. Tolstoi - E-Book

Über Nichtstun, Moral, Recht und Wissenschaft E-Book

Leo N. Tolstoi

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Beschreibung

Der hier vorgelegte Sammelband enthält vier kleine Schriften Leo N. Tolstois über grundlegende Felder des öffentlichen Gefüges: "Das Nichtstun" (Nedelanie, 1893); "Religion und Moral" (Religija i nravstvennost', 1893); "Über das Recht. Briefwechsel mit einem Juristen" (Pis'mo studentu o prave, 1909); "Über die Wissenschaft" (O nauke, 1909). Diese Texte beziehen sich auf drängende Fragen unserer Zeit. Sie sind bedeutsam für das Studium der Anschauungen des weltberühmten Russen, aber für deutschsprachige Leserinnen und Leser heute nicht mehr leicht greifbar. Die Neuedition der Tolstoi-Friedensbibliothek sorgt für Abhilfe. - Dokumentiert wird im Anhang des Bandes auch ein Beitrag von Dirk Falkner über "Tolstois Kritik am Strafrecht" (2021). In der vierten Schrift des russischen Schriftstellers ist gleichsam der Positivismus-Streit späterer Jahrzehnte vorweggenommen: "Nur bei der bestehenden Absonderung der Menschen in zwei Kasten, in die Kaste der Herren und in die Kaste der Knechte, haben die heutigen Errungenschaften der angewandten Wissenschaften einen Bestand. Sobald die Menschen ein gemeinschaftliches Leben führen, wäre es nicht denkbar, dass sie sich um ... Aeroplane, Unterseebote und ähnliches kümmern; ... um ganz andere Sachen würden sie Sorge tragen. Jeder würde ... sich klar machen, was er zu tun habe, damit es keine Hungernden gebe, damit niemandem die Benützung des Bodens, auf dem er geboren ist, entzogen werde ..., die Völker keinen Hass gegen einander schüren, es keine Kriege, keine Guillotinen und Galgen gebe". Tolstoi-Friedensbibliothek Reihe B, Band 8 (Signatur TFb_B008) Herausgegeben von Peter Bürger

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Tolstoi-Friedensbibliothek Reihe B | Band 8

Herausgegeben von Peter Bürger

Inhalt

Vorbemerkungen des Herausgebers

I.

DAS N

ICHTSTHUN

(

Nedelanie, 1893)

Leo N. Tolstoi

Mit einer Rede Emile Zola's und einem Briefe Alexander Dumas'.

Ins Deutsche übertragen von Adolph Garbell

II.

R

ELIGION UND

M

ORAL

(

Religija i nravstvennost', 1893)

Leo N. Tolstoi

Antwort auf eine in der „Ethischen Kultur“ gestellte Frage.

Aus dem russischen Manuscript übersetzt von Sophie Behr

III.

Ü

BER DAS

R

ECHT

Briefwechsel mit einem Juristen (Pis'mo studentu o prave, 1909)

Leo N. Tolstoi

Übersetzt von Dr. Albert Škarvan. Mit einem Vorwort herausgegeben von Heinrich Schmitt

IV.

Ü

BER DIE

W

ISSENSCHAFT

(

O nauke, 1909)

Leo N. Tolstoi

Einzige vollständige autorisierte Ausgabe. Übersetzt von Dr. Albert Škarvan.

Samt brieflicher Diskussion mit Tolstoi herausgegeben von Dr. Eugen Heinrich Schmitt

_____

Anhang

T

OLSTOIS

K

RITIK AM

S

TRAFRECHT

Ein Auszug aus der Dissertation „Straftheorie von Leo Tolstoi“, 2021

Dirk Falkner

G

ESAMTÜBERSICHT

Kommentierte Bibliographie zu den neu edierten Tolstoi-Texten

VORBEMERKUNGEN DESHERAUSGEBERS

Der hier vorgelegte Sammelband enthält vier kleine Schriften LEO N. TOLSTOIS aus den Jahren 1893 und 1909 über grundlegende Felder des öffentlichen Gefüges: verfasste Religion (auch in säkularer Gestalt), Moral (und bürgerliches Ethos), Recht und Wissenschaft. Die Beiträge sind bedeutsam für das Studium der Anschauungen des russischen Schriftstellers, aber für deutschsprachige Leserinnen und Leser heute nicht mehr leicht greifbar. Unsere Neuedition in der Tolstoi-Friedensbibliothek (Reihe B) sorgt für Abhilfe.

Auch eine verdienstvolle Ausgabe der ‚Philosophischen und sozialkritische Schriften‘1, die 1974 in der Deutschen Demokratischen Republik erschienen ist, enthält bezeichnenderweise keinen dieser z. T. wirklich ‚hochkarätigen‘ Texte. Staatstragende Redaktionen haben zu allen Zeiten die Aufgabe, Religions-Gebilde zur Legitimierung des Bestehenden, die Geltung des Öffentlichen Rechts und die hegemoniale Wissenschaft zu stützen. Bezogen auf solche Vorgaben kann TOLSTOI die entsprechende Nachfrage freilich nicht bedienen.

I. DAS NICHTSTUN | 1893

Ein Pariser Redakteur sendet zwei Texte der französischen Schriftsteller ÉMILE ZOLA (1840-1902) und ALEXANDER DUMAS d. J. (1824-1895) an LEO TOLSTOI. Dieser nimmt die Lektüre zum Anlass, unter Bezugnahme auch auf den Taoismus eine eigene Schrift über „Das Nichtstun“ (Nedelanie, 1893) zu verfassen. Darin dokumentiert er ausführlich den Wortlaut einer Rede des ‚eingefleischten Positivisten‘ ZOLA und einen Brief von DUMAS als Zeugnisse höchst unterschiedlicher Ausblicke in das Kommende. TOLSTOI zählt ZOLA, welcher der Jugend einen unerschütterlichen ‚Glauben an Wissenschaft und Arbeit‘2 nahelegt, zu den Beharrenden und entdeckt ein Fortschreiten im Sinne der lichten Vernunft, wie er sie versteht, nur beim Zweitgenannten. Die Menschen sollen DUMAS zufolge „mit Bewusstsein und unaufhaltsam die bevorstehende Einigung und den regelrechten Progress der noch unlängst einander feindlichen Nationen verwirklichen“. Angesichts der „Rüstung aller Völker“ und „des bevorstehenden allgemeinen Vernichtungskrieges“ müsse die Menschheit eintreten in eine neue Epoche, „in der sich das Wort: ,Liebet einander‘ ohne Rücksicht darauf, ob es ein Gott oder ein Mensch gesagt hat, verwirklichen wird“. – TOLSTOI pflichtet dem bei und meint, dass ein Fortführen des Zeiten- bzw. Weltenlaufs – gemäß der an sich seit 18 Jahrhunderten geistig überwundenen „heidnischen Prinzipien“ – „die Menschheit unvermeidlich in’s größte Elend stürzen wird und dass diese Zeit nicht mehr fern ist“. Die Alternative zum Abgrund sei jedoch längst gewiesen: „Einigung und Liebe unter allen Geschöpfen“ in einer anderen Welt, in der endlich „die Schwerter in Pflugscharen, die Lanzen in Sicheln umgeschmiedet“ sein werden.

ROSA LUXEMBURG hat 1908 folgendermaßen auf einen Aspekt dieser Schrift Bezug genommen: „Wie originell und tief die soziale Analyse Tolstois ist, zeigt z. B. der Vergleich seiner Ansicht über die Bedeutung und den sittlichen Wert der Arbeit mit der Ansicht Zolas. Während dieser die Arbeit als solche in echt kleinbürgerlichem Geiste auf das Piedestal erhebt, wofür er bei manchen hervorragenden französischen und anderen Sozialdemokraten in den Geruch eines Sozialisten von reinstem Wasser gekommen ist, bemerkt Tolstoi ruhig, indem er mit wenigen Worten den Nagel auf den Kopf trifft: ‚Herr Zola sagt, dass die Arbeit den Menschen gut mache; ich habe immer das Gegenteil bemerkt: Die Arbeit als solche, der Stolz der Ameise auf ihre Arbeit, macht nicht nur die Ameise, sondern auch die Menschen grausam … Aber wenn sogar die Arbeitsamkeit kein erklärtes Laster ist, so kann sie in keinem Falle eine Tugend sein. Die Arbeit kann ebensowenig eine Tugend sein wie das Sichernähren. Die Arbeit ist ein Bedürfnis, das, wenn es nicht befriedigt wird, ein Leiden und nicht eine Tugend ausmacht. Die Erhebung der Arbeit zu einer Tugend ist ebenso verkehrt wie die Erhebung des Sichernährens des Menschen zu einer Würde und Tugend. Die Arbeit konnte die Bedeutung, die man ihr in unsrer Gesellschaft zuschreibt, nur als eine Reaktion gegen den Müßiggang gewinnen, den man zum Merkmal des Adels erhoben hat und den man noch als Merkmal der Würde in reichen und wenig gebildeten Klassen hält … Die Arbeit ist nicht bloß keine Tugend, sondern sie ist in unsrer falsch geordneten Gesellschaft zum größten Teil ein das sittliche Empfindungsvermögen ertötendes Mittel.‘ – Wozu zwei Worte aus dem ‚Kapital‘ das knappe Gegenstück bilden: ‚Das Leben des Proletariats beginnt, wo seine Arbeit aufhört.‘ Bei der obigen Zusammenstellung der beiden Urteile über die Arbeit zeigt sich übrigens genau das Verhältnis Zolas zu Tolstoi im Denken wie im künstlerischen Schaffen: das eines biederen und talentvollen Handwerkers zum schöpferischen Genie.“3

Gleich drei unterschiedliche Übersetzungen von TOLSTOIS Schrift „Das Nichtstun“ erschienen 1893/94 für die deutschsprachigen Leser.4

II. RELIGION UND MORAL | 1893

Der Aufsatz „Religion und Moral“ (Religija i nravstvennost', 1893) ist „Tolstojs Antwort auf zwei Fragen, die ihm Georg von Gizycki (1851-1895), Professor für Philosophie in Berlin und Gründer der ‚Ethischen Gesellschaft‘ sowie der Zeitschrift ‚Für ethische Kultur‘, in einem Brief vom 6. August 1893 gestellt hat: 1) was Tolstoj unter dem Begriff ‚Religion‘ verstehe und 2) ob nach Tolstojs Auffassung Moralvorstellungen, die nicht religiös motiviert seien, existieren können. Tolstoj wollte ‚unverzüglich auf diesen würdigen Brief‘ antworten, doch da die ‚Fragen so gut gestellt waren‘, sah er sich gezwungen, sie ausführlicher zu beantworten, als er das zunächst vorhatte. Tatsächlich hat sich Tolstoj intensiv mit diesem Aufsatz beschäftigt, von dem mehrere handschriftliche Fassungen existieren und an dem er bis Ende Oktober 1893 gearbeitet hat.“5

Die im vorliegenden Band nachzulesende Übersetzung des Textes besorgte die Russin SOPHIE BEHR (nicht zu verwechseln mit der Ehefrau des Dichters: SOFJA ANDREJEWNA TOLSTAJA, geb. BEHRS). Sie erschien im Dezember 1893 in zwei Ausgaben der Zeitschrift ‚Ethische Kultur‘, im Folgejahr aber auch als eigenständige Veröffentlichung in Ferd. Dümmelers Verlagsbuchhandlung (Berlin 1894). Bibliographisch erfasst ist noch eine zeitnahe Übertragung von LOUISE FLACHS (Verlag Hugo Steinitz, Berlin 1895). Ein äußerer Hinweis auf die Bedeutsamkeit des Textes ist der Umstand, dass er 2014 in einer neuen Übersetzung von DOROTHEA TROTTENBERG für den Sammelband „Tolstoj als theologischer Denker und Kirchenkritiker“ zugänglich gemacht worden ist.

HEINRICH SCHMITT bezeichnete den Aufsatz 1909 als eine der „tiefgedachtesten Schriften“ TOLSTOIS; in ihr werde ausgeführt, „dass all das Moralisieren der ethischen Gesellschaften, an deren Adresse die Schrift direkt gerichtet ist, fruchtlos sei, dass diese Leute Kindern gleichen, die wurzellose schöne Blüten in den Sand stecken, weil die Sittlichkeit nur auf der Grundlage einer entsprechenden Weltanschauung gedeihen könne“ (→S. →). TOLSTOI selbst spricht freilich 1893 nicht einfach von Weltanschauung, sondern ausdrücklich von der Religion, welche richtungsweisend jeder geistigen Tätigkeit und der Sittlichkeit vorausgehe (Philosophie und Wissenschaft können hingegen „dem Menschen, diesem fühlenden, leidenden, sich freuenden, fürchtenden und hoffenden Wesen, seine Stellung in der Welt nicht klar machen“).

Zunächst werden alle äußerlich bleibenden Definitionen von Religion verworfen, um zum Kern kommen zu können: „Das Wesen jeder Religion besteht nur in der Antwort auf die Frage: wozu lebe ich und in welcher Beziehung stehe ich zu der mich umgebenden, unendlichen Welt? – Die ganze Metaphysik der Religion aber, alle Lehren über die Gottheiten, über die Entstehung der Welt, alle äußere Gottesverehrung, die gewöhnlich für Religion angenommen wird, sind bloß, je nach geographischen, ethnographischen und historischen Bedingungen, verschiedene, die Religion begleitende Merkmale.“ Drei – bzw. streng genommen nur zwei – Grundformen der Religion möchte Tolstoi unterschieden wissen: „1. die primitive, persönliche, 2. die heidnische, d. i. der Gemeinschaft, der Familie oder des Staates, und 3. die christliche oder göttliche.“6 In Entsprechung dazu „existieren auch nur drei sittliche Lehren: die ursprüngliche rohe persönliche Sittenlehre, die heidnische Familien-, Gemeinschafts- und Staats-Sittenlehre und die christliche, die darin besteht, dem Weltall oder Gott zu dienen – die göttliche Lehre.“7

Genau besehen ermöglicht es TOLSTOIS schon zwei Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg dargelegte Unterscheidung, dem berechtigten Anliegen der dialektischen Theologie (bzw. der Schule KARL BARTHS) gerecht zu werden – ohne in der Theologie auf fatale Weise die Kategorie der Erfahrung und des ‚Interreligiösen‘ zu verdammen: Die nach außen hin abgrenzende primitive Selbstsicherungs-Religion des Individuums oder des größeren Kollektivs (Familie, Volk, Staat) gilt als heidnisch; sie muss als Perspektive bzw. Produkt der unglücklichen, in Not befindlichen Menschenwelt überwunden werden. Erst die wahre – 1893 von TOLSTOI noch eng als die christliche identifizierte – Religion erschließt im Menschen ein ‚Verständnis des Lebens‘8, das sich gleichsam in die göttliche Perspektive einfinden kann: universelles Wohl-Wollen, das allem Leben gilt und kein Wesen ausklammert. Erst später entdeckt Tolstoi, dass diese dritte (bzw. zweite) Weise von Religion, der allein er die Qualität von ‚Offenbarung‘9 zuschreibt, nicht exklusiv der ‚Lehre Christi‘ eigen ist.

Was dem späten DIETRICH BONHOEFFER vorschwebte – ein „religionsloses Christentum“ der Zukunft –, steht L. TOLSTOI schon vor Augen, ist sogar dessen zentrales ‚Lebensthema‘.10 Wie bei MEISTER ECKART (1260-1328) zeigt sich außerdem in der Anschauung des Russen jenes scheinbare Paradox, dem zufolge das Individuellste zugleich (bzw. erst) das Umfassendste offenbart: die Einheit des Menschengeschlechts (humani generis unitas11). TOLSTOI spricht unbedingt vom Einzelnen, aber ebenso von der Menschheit, die nunmehr als Ganzes in eine neues Verhältnis zur Welt tritt. Die wirkliche – kommunizierbare – Religion „besteht darin, dass der Sinn des Lebens von dem Menschen nicht mehr in der Erreichung seines persönlichen Zweckes oder des Zweckes einer beliebigen Gesamtheit [= selektive Kollektive] erkannt wird, sondern nur darin, dem Willen zu dienen, der ihn und die ganze Welt hervorgerufen hat“. (Die Alten, ihrer Sterblichkeit eingedenk, können unter Umständen eine besondere Affinität zu diesem Verständnis des Lebens aufweisen. Zu betonen wäre heute die sorgende Verbundenheit mit den noch nicht Geborenen, den nach uns kommenden Generationen.)

Die Schwachstelle der TOLSTOI'schen Darlegungen scheint mir – bis auf weiteres – darin zu liegen, dass in ihnen jene Erfahrung (Offenbarung), die ein neues ‚Verständnis des Lebens‘ – bzw. ein neues ‚Selbstverstehen‘ des Menschen – erst ermöglicht, nur unzureichend zur Sprache kommt. Der ‚Logos‘ im Prolog des Johannes-Evangeliums wird in TOLSTOIS Bibelarbeit als ‚Verständnis (bzw. Verstehen) des Lebens‘ bezeichnet. Das ist, da der russische Christ ‚Vernunft‘ und ‚Liebe‘ als ein nahezu symbiotisches Gespann auffasst, keine intellektuelle12 Angelegenheit.

Wäre es nicht hilfreicher, getreu dem biblischen Kontext von dem einen (Ja-)Wort des Lebens zu sprechen? Wer dieses eine „Wort“, aus dem die ganze Offenbarung besteht, vernimmt, dem ist unbedingte Geltung zugesprochen; damit wird es – förmlich im gleichen Atemzug – möglich, sich selbst loszulassen und teilzunehmen am universellen ‚Wohl-Wollen‘ Gottes. Oder besser noch: Wer in sich das (Ja-)Wort des Lebens vernimmt, der bewegt sich bereits im Atemraum des universellen göttlichen ‚Wohl-Wollens‘, welches keine Grenzen kennt. Treffend könnte also ein Aufsatz über „Religion und Moral“ so überschrieben werden: Gut sein können nur die Geliebten. Alles läge daran, diese Erkenntnis auf den Weg der menschlichen Zivilisation anzuwenden, also auch die Möglichkeiten einer Ökonomie, Kultur, Wissenschaft … der Geliebten zu erkunden.

III. ÜBER DAS RECHT | 1909

Als Reaktion auf den Brief eines Jurastudenten bringt LEO N. TOLSTOI, der gelernte Jurist, im Alter seine Gedanken „Über das Recht“ (Pis'mo studentu o prave, 1909) noch einmal zu Papier. – Der Student hat ihm von einer zeitgenössischen Theorie der ‚Rechtspädagogik‘13 berichtet; dagegen setzt er seine Überzeugung, dass mit „Recht“ stets bezeichnet wird, was den Herrschenden nützt, ihre Verbrechen ‚legalisiert‘ und ihrem Gefüge Dauer verleiht. Das „Recht“ gilt ihm als Gegenteil von Gerechtigkeit. Es mache die Beherrschten gefügig und führe zu ihrer Demoralisierung. Zielsetzung sei es, „das bestehende Übel zu rechtfertigen“. Man könne „von einer erzieherischen Bedeutung des ‚Rechts‘ schon deshalb nicht sprechen, weil die Beschlüsse des ‚Rechts‘ durch Gewaltmaßregeln, durch Ausweisungen, Gefängnisse, Hinrichtungen, d. h. durch die unsittlichsten Handlungen zu ihrer Vollstreckung gelangen. Heute von einer ethischen, edukativen Bedeutung des ‚Rechts‘ zu sprechen, ist ganz dasselbe, als wollte man (und man tat es auch) von einer sittlichen, erzieherischen Bedeutung der Macht der Sklavenhalter für die Sklaven sprechen. Wir in Russland beobachten jetzt ganz handgreiflich die erzieherische Bedeutung des ‚Rechts‘. Wir sehen, wie vor unseren Augen das Volk demoralisiert wird infolge der unaufhörlichen verbrecherischen Handlungen, die – wahrscheinlich vom ‚Recht‘ approbiert – die russischen Behörden vollführen. Der demoralisierende Einfluss der Wirksamkeit, die auf dem ‚Recht‘ basiert, ist besonders deutlich jetzt in Russland sichtbar, aber dasselbe ergibt sich und hat sich stets und wird sich immer und überall ergeben, wo eine Anerkennung (und die gibt es überall) der Gesetzmäßigkeit von allerlei auf dem ‚Recht‘ basierenden Gewalttaten – den Mord [u. a. Hinrichtungen, Militärhandwerk] mit inbegriffen – besteht. […] Eine ethische, erzieherische Bedeutung des ‚Rechts‘! Das ist ja grässlich!“ (→S. →-→). – Dargeboten wird im vorliegenden Band die Übersetzung der Schrift von Dr. ALBERT ŠKARVAN14 (1869-1926).

Zur „Straftheorie von Tolstoi“ liegt seit 2021 eine rechtswissenschaftliche Studie von DIRK FALKNER15 vor, deren methodische Stärke nicht zuletzt darin besteht, neben den theoretischen Schriften Tolstois auf Schritt und Tritt auch dessen dichterisches Werk heranzuziehen. Im Anhang zur BoD-Verlagsausgabe des vorliegenden Bandes der Tolstoi-Friedensbibliothek können wir dankenswerterweise einen Auszug aus dieser Forschungsarbeit dokumentieren (→S. →-→).

IV. ÜBER DIE WISSENSCHAFT | 1909

Die vierte hier neu edierte Schrift – „Über die Wissenschaft“ (O nauke, 1909) – könnte man im deutschsprachigen Raum als ein Vorspiel zum Positivismus-Streit späterer Jahrzehnte betrachten. Der TOLSTOI nahestehende ‚Neugnostiker‘ Dr. EUGEN HEINRICH SCHMITT16 (1851-1916) betont die „tiefe Berechtigung der vernichtenden Anklage, die Tolstoi gegen unser modernes Gelehrtenwesen“ und den Wissenschaftsbetrieb formuliert; hier gehe es mitnichten etwa um ‚seichten Moralismus‘. Das Anliegen habe den Verfasser jedoch dazu verführt, „das Kind mit dem Bad auszugießen und alle gelehrte, streng wissenschaftliche Tätigkeit überhaupt zu verwerfen“. Um Schaden abzuwenden, will Schmitt bei der Publizierung der von Dr. ALBERT ŠKARVAN besorgten Übersetzung für Klarstellungen gemäß seiner Sichtweise sorgen. Inhalte und Umfang jener Texte, mit denen der Herausgeber seine eigene, z. T. von TOLSTOIS Darlegungen abweichende Position in der Veröffentlichung zum Zuge kommen lässt, könnte man durchaus als ‚übergriffig‘ bewerten.

Andererseits lernen wir mit SCHMITT, dem pazifistischen Philosophen, einen Wissenschaftler kennen, der das Grundanliegen des russischen Denkers durchaus gut vermittelt und in seinem eigenen Leben schwerwiegende Konsequenzen ganz im Sinne TOLSTOIS gezogen hat. („Man schwankte nunmehr bloß, ob man in meiner Person mit einem staatsgefährlichen Verbrecher oder einem gemeingefährlichen Wahnsinnigen zu tun habe. Denn was konnte es Unsinnigeres und Gemeingefährlicheres geben, als in dieser von Mordwaffen starrenden ‚christlichen‘ Welt die Grundsätze der erhabenen Milde des Bergpredigers zu verkünden?“)

Als Herausgeber lässt EUGEN HEINRICH SCHMITT die Leserschaft teilhaben an einer Kontroverse zwischen Menschen, die sich der gleichen ‚Sache‘ verpflichtet fühlen. TOLSTOI selbst verspürt offenbar die Neigung, im brieflichen Austausch ‚noch eins draufzulegen‘, indem er nachdrücklich das bestehende Bildungswesen als Hindernis für ein richtiges Verständnis des Lebens – im Sinne ‚höherer religiöser Wahrheit‘ – thematisiert (Anlass zum Verfassen der Schrift war die Zuschrift eines russischen Bauern gewesen, der Zweifel hegte hinsichtlich der Notwendigkeit von ‚Bildung‘). Er denkt auch nicht daran, seine ‚Weltanschauung‘ im Sinne SCHMITTS noch präziser zu bestimmen.

Ärgerlich ist auf jeden Fall die Form der Darbietung des im Zentrum stehenden TOLSTOI-Aufsatzes „Über die Wissenschaft“. Nimmt man die Setzung der Anführungszeichen ernst, so besteht die Übersetzung zum größten Teil nur aus einem Referat, das die Inhalte des Originaltextes weithin über ‚indirekte Rede‘ wiedergibt. Ob dabei Passagen aus TOLSTOIS Schrift „O nauke“ ganz entfallen, können die Leser nicht wissen. Ausgerechnet der partielle Wissenschaftsapologet E. H. SCHMITT sorgt somit als Herausgeber dafür, dass die Schrift in einer Fassung ediert wird, die für den ‚wissenschaftlichen Gebrauch‘ im Grunde nicht tauglich sein kann.17

Worin nun besteht die ‚Positivismuskritik‘? Leo TOLSTOI fordert, so formuliert es SCHMITT, „dass die Wissenschaft sich in erster Linie und im Wesentlichen mit dem Seinsollenden, mit der Bestimmung des Menschen beschäftige und alles sonstige Wissen diesem Gesichtspunkte unterordne“. Demgegenüber benutze der Mensch in der Herrschafts- und Beherrschungswissenschaft „seinen Verstand, sein Wissen nur dazu, um in der modernen Technik, ihrem Maschinenwesen und Kommunikationswesen, der Menschheit die furchtbarsten Fesseln zu schmieden“.

„Die wahre Wissenschaft“, so meint der russische Kritiker der vorherrschenden ‚Moderne‘, „müsse uns die Kunst des glückseligen Lebens lehren, müsse vor allem lehren, was die besten und weisesten Männer aller Zeiten zum Heil aller Menschen verkündet haben“. Diese Wissenschaft „werde nicht der Diplome halber gepflegt, sondern bloß, um den Brüdern zu helfen, und man könne sie sich immer und überall aneignen, ohne Geld, ohne Gymnasium und Universitäten“: „Nur bei der bestehenden Absonderung der Menschen in zwei Kasten, in die Kaste der Herren und in die Kaste der Knechte, haben die heutigen Errungenschaften der angewandten Wissenschaften einen Bestand. Sobald die Menschen ein gemeinschaftliches Leben führen, wäre es nicht denkbar, dass sie sich um Lustgärten, Automobile, Statuen, fünfzehn Stock hohe Häuser, Rennpferde, Aeroplane, Unterseebote und ähnliches kümmern; … um ganz andere Sachen würden sie Sorge tragen. Jeder würde trachten, sich klar zu machen, was er zu tun habe, damit es keine Hungernden gebe, damit niemand die Benützung des Bodens, auf dem er geboren ist, entzogen werde, dass es keine Frauen gebe, die ihren Körper der Schändung preisgeben, dass … die Völker keinen Hass gegen einander schüren, dass es keine Kriege, keine Guillotinen und Galgen gebe“.

pb

1 Lew TOLSTOI: Philosophische und sozialkritische Schriften. Aus dem Russischen übersetzt von Günter Dalitz. (= Gesammelte Werke in zwanzig Bänden, hg. von E. Dieckmann und G. Dudek, Band 15). Berlin: Rütten & Loening 1974.

2 Wörtlich wird aus der Rede des im bürgerlichen Sinn fortschrittsgläubigen Zola übersetzt: „Arbeiten Sie, meine Herren! … Ich hatte nur einen Glauben, eine Kraft – die Arbeit. Mich hielt nur jene ungeheure Arbeit aufrecht, die ich mir gestellt, vor mir stand stets jenes Ziel, dem ich zustrebte“.

3 R[osa] LUXEMBURG: Leo Tolstoi als sozialer Denker. In: Leipziger Volkszeitung. Organ für die Interessen des gesamten werkthätigen Volkes. Leipzig. 15. Jg., Nr. 209 vom 9.9.1908, S. 1-2. [Rosa Luxemburg Werke, Berlin 1970ff., Karl Dietz Verlag Berlin, Bd. 2, S. 246-253. https://rosaluxemburgwerke.de].

4 Wir edieren im vorliegenden Band die Übersetzung des in Kurland geborenen Adolph Garbell (1864-1902): „Vom 1. April 1898 bis zu seinem Tode 1902 Lektor für die russische Sprache in der Abteilung VI für Allgemeine Wissenschaften, insbesondere für Mathematik und Naturwissenschaften der Königlichen Technischen Hochschule zu Berlin.“ (https://cp.tu-berlin.de/person/1532).

5 [Daniel Riniker.] In: Martin GEORGE / Jens HERTH / Christian MÜNCH / Ulrich SCHMID [Hg.]: Tolstoj als theologischer Denker und Kirchenkritiker. Zweite Auflage. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015, S. 188 (ebd., S. 188-210 eine neue Übersetzung des Textes u. d. T. ‚Religion und Sittlichkeit‘ von Dorothea Trottenberg).

6 Jede kollektive oder nationalreligiöse – auf die eigene Gruppe bzw. das eigene ‚Volk‘ oder gar den Staat bezogene – Gestalt der Religion ist für Tolstoi heidnisch (wie immer auch die Selbstbezeichnungen lauten mögen) und mit der ‚Lehre Christi‘ unvereinbar.

7 Unter dem Begriff Religion werden zunächst alle Weisen des ‚Weltverhältnisses‘ bzw. ‚Verstehens des Lebens‘ subsumiert, aber als ‚wahre Religion‘ gilt selbstredend nur die zuletzt genannte.

8 Vgl. die philosophische Schrift: Leo N. TOLSTOI, Über das Leben. Übersetzungen von Raphael Löwenfeld (1902) und Willy Lüdtke (Auswahl 1929). Neu ediert von Katrin Warnatzsch, unter Mitarbeit von Peter Bürger. (= Tolstoi-Friedensbibliothek Reihe A, Band 8). Norderstedt: BoD 2023.

9 Das wahre Verständnis des Lebens ist auch bei Tolstoi keine Eigenkonstruktion, sondern durchaus ein geschenktes neues (Selbst-)Verstehen. In der hier behandelten Schrift führt er aus: „Da die religiöse Erkenntnis diejenige ist, auf welche jede andere sich gründet, und die jeder andern Erkenntnis vorangeht, so können wir sie nicht präzisieren, da uns das Werkzeug dazu fehlt. In der theologischen Sprache wird diese Erkenntnis Offenbarung genannt. Und diese Benennung, wenn man dem Worte Offenbarung keinerlei mystische Bedeutung beilegt, ist vollkommen richtig, weil die Erkenntnis weder durch Studium, noch durch Bemühungen eines einzelnen oder mehrerer Menschen, sondern dadurch gewonnen wird, dass einzelne oder mehrere Menschen jene Äußerung der unendlichen Vernunft, die sich allmählich den Menschen offenbart, in sich aufnehmen.“

10 Tolstoi nennt zwar auch das den Modus der Selbstsicherung überwindende, neue Selbstverstehen des Menschen (als Sohn bzw. Tochter Gottes) noch Religion, aber die unterschiedlichen Entscheidungen bezogen auf die Begrifflichkeit sind kein wirkliches Hindernis für eine Verständigung an dieser Stelle.

11 Vgl. Peter BÜRGER (Hg.): Wie die Menschheit eins ist. Die katholische Lehre „Humani generis unitas“ für das dritte Jahrtausend. Düsseldorf: onomato Verlag 2016. Die angesichts der ökologischen Frage für die menschliche Spezies so überlebenswichtige ‚Katholizität‘ – die Befähigung, auf das Ganze zu schauen – scheitert bislang auch in den hoffnungsvollsten Ansätzen, weil immer wieder – zumal in der hier in historischer Perspektive besonders herausgeforderten ‚römischen‘ Weltkirche – die von Tolstoi zielsicher diagnostizierten Regressionen (Familien-, Bürger-, Volks- und Nationalreligion etc.) die Oberhand gewinnen. Warum? Tolstoi würde antworten: Weil das sogenannte ‚Christentum‘ nicht christlich ist.

12 Tolstoi betont in seiner Schrift: „Zum Verständnisse der Philosophie und der Wissenschaft bedarf es der Vorbereitung und des Studiums; für den religiösen Begriff ist solches nicht notwendig; er ist sofort jedem zugänglich, sei es auch dem beschränktesten und ungebildetsten Menschen.“

13 Eine Pädagogik im Sinne der ‚Goldenen Regel‘ könnte Tolstoi indessen kaum ablehnen, insofern diese – schon bei Kindern – Erfahrungen begünstigt, die zur Selbstannahme und Achtung der anderen (bzw. von allem, was lebt) führen.

14 Er hat 1895 nach Lektüre der Tolstoi-Schrift „Das Reich Gottes ist in Euch“ seinen Dienst als Militärarzt aufgegeben, worauf die österreichisch-ungarischen Staatsorgane u. a. mit seiner mehrmonatigen Inhaftierung reagierten. Vgl. zu ihm in: Leo N. TOLSTOI: Das Töten verweigern. Texte über die Schönheit der Menschen des Friedens und den Ungehorsam. Neu ediert von Peter Bürger und Katrin Warnatzsch. (Tolstoi-Friedensbibliothek: Reihe B, Band 3). Norderstedt: BoD 2023, S. 12, 113, 202-210.

15 Dirk FALKNER: Straftheorie von Leo Tolstoi. (= Juristische Zeitgeschichte – Abteilung 6, Band 57). Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2021. – Aus theologischer Sicht behandelt das Thema Eugen DREWERMANN: Richtet nicht! Strafrecht und Christentum. Band 1-3. Ostfildern: Patmos Verlag 2020, 2021, 2023.

16 Vgl. zu ihm: „Die Rettung wird kommen …“. 30 unveröffentlichte Briefe von Leo Tolstoi an Eugen Heinrich Schmitt. Ein Weltanschauungsbild des russischen und des deutschen Denkers. Zusammengestellt von Ernst KEUCHEL. Hamburg: Harder Verlag 1926.

17 Man könnte freilich anmerken: Dieses Verfahren einer eigenwilligen ‚Quellenedition‘ hat er sich von Tolstoi abgeschaut; in dessen ‚Lesewerken‘ werden die Vorlagen bisweilen auch frei abgewandelt bzw. im Sinne der eigenen Tendenz ‚nacherzählt‘.

I. Das Nichtsthun

(Nedelanie, 1893)

Leo N. Tolstoi

Mit einer Rede Emile Zola's und einem Briefe Alexander Dumas'

Ins Deutsche übertragen von Adolph Garbell18

Der Redakteur des Pariser Journals „Revue des Revues“ schickte mir, im Glauben – wie er sich in seinem Briefe ausdrückte – daß die Meinung zweier berühmter Schriftsteller über den zeitgenössischen Zustand der Gemüter für mich von Interesse sein dürfte, zwei Ausschnitte aus französischen Zeitungen zu. Der eine enthält eine Rede Zola' s, der andere einen Brief von Dumas an den Redakteur des ,,Gaulois“. Ich bin dem Herrn Smith für seine Sendung sehr dankbar. Beide Dokumente gewähren infolge der Berühmtheit ihrer Autoren, ihres zeitgenössischen Charakters sowie hauptsächlich durch den in ihnen enthaltenen Gegensatz ein tiefes Interesse, und ich möchte hier einige Gedanken wiedergeben, die durch sie in mir angeregt worden sind.

Es hält schwer, in der zeitgenössischen Literatur eine knappere, kräftigere und bestimmtere Form für den Ausdruck jener zwei elementarsten Kräfte aufzufinden, aus denen sich die gleichmäßigen Bewegungen der Menschheit zusammensetzen, als die oben angegebene*19: die eine – ist die tote Kraft des Beharrungsgesetzes, das die Menschheit auf dem einmal eingeschlagenen Wege aufzuhalten sucht, die andere – die lebendige Kraft der Vernunft, die sie zum Lichte hinzieht.

Die vollständige „Rede“ Zola's lautet wie folgt:

„An die Jugend!

Sie haben mich tief beglückt und sehr erfreut, daß Sie mich zum Vorsitzenden dieser jährlichen Versammlung erwählt haben. Es giebt keine bessere, liebenswürdigere Gesellschaft und hauptsächlich kein sympathischeres Auditorium, als die Jugend, vor der sich das Herz weit öffnet, voll des Wunsches, geliebt und beachtet zu werden. Aber ach! Ich befinde mich bereits in dem Alter, in dem man die vergangene Jugendzeit zu beklagen anfängt und wo man bereits für die neu heranwachsenden Generationen zu sorgen pflegt. Dieselben werden sowohl unsere Richter sein als auch unsere Werke fortsetzen. Von ihnen hängt die Gestaltung der Zukunft ab, und ich lege mir daher mit Unruhe die Frage vor, was sie von dem Unsrigen abschaffen und was sie beibehalten werden, wie es unserem Werke in ihren Händen ergehen wird, denn erst in ihren Händen wird es zu einem Werke werden, erst dann wird es existieren, wenn sie es aufnehmen, um es zu erweitern und bis zu Ende zu führen. Deswegen beobachte ich eifrig den Gedankengang der zeitgenössischen Jugend, lese die maßgeblichen Zeitungen und Journale und bemühe mich, den neuen Geist, der die Schulen belebt, kennen zu lernen, und schließlich zu erkennen, welchem Ziele Ihr alle zustrebt – Ihr, die Ihr den Verstand und Willen der Zukunft ausmacht. In der That, meine Herren, es ist hier Egoismus im Spiel, ich will es nicht verhehlen. Ich gleiche einem Arbeiter, der den Bau eines Hauses vollendet, in dem er den Rest seiner Tage zuzubringen hofft, und der sich beunruhigt, was es für Wetter geben wird. Ob nicht der Regen den Mauern schaden könnte? Oder daß nicht plötzlich ein Nordwind sich erhebe und das Dach vom Hause herunterreiße. Und hauptsächlich, ob er das Haus auch stark gebaut habe, ob es vor einem Sturm bestehen könnte. Ob das Material dauerhaft sei, und ob Unglücksfälle vorhergesehen seien. Ich sage damit nicht, daß ich der Meinung bin, es könnten irgend welche menschlichen Werte ewig und endgültig sein. Die größten unter ihnen müssen sich damit zufrieden geben, nur einen Moment in der fortlaufenden Entwickelung des menschlichen Verstandes auszumachen. Es reicht vollkommen hin, sich, wenn auch nur für die allerkürzeste Zeit, als den Wortführenden einer Generation zu fühlen. Und da es unmöglich ist, die Literatur aufzuhalten, sondern alles sich fortschreitend entwickelt, alles von neuem anfängt, so muß man gewärtig sein, jüngere entstehen und aufwachsen zu sehen, die Euch ersetzen oder vielleicht gar das Andenken an Euch vertilgen werden. Ich will durchaus nicht sagen, daß die alte Kampflust, die in mir lebt, nicht zu Zeiten in mir den Wunsch aufkommen läßt, mich zu widersetzen, wenn ich sehe, daß man mein Werk angreift. Aber ich verhalte mich in der That dem kommenden, künftigen Jahrhundert gegenüber mehr neugierig als empört, bringe ihm mehr warmes Mitgefühl als persönliche Unruhe entgegen, und möge ich selbst, möge unser ganzes Geschlecht untergehen, sofern wir wirklich dadurch der kommenden Generation förderlich sind und ihr den Weg zum Lichte leichter machen.

Meine Herren! Ich höre beständig sich darüber äußern, daß der Positivismus in den letzten Zügen liegt, daß der Naturalismus bereits tot, daß die Wissenschaft, ehe man sich dessen versehen werde, ihrem Bankerott nahe sei, da sie dem Menschen nicht die sittliche Welt und das Glück gegeben, die sie ihm versprochen. Sie werden wohl begreifen, daß ich hier nicht die großen Aufgaben lösen will, die durch diese Frage berührt werden. Ich bin ein Unwissenden Ich habe kein Recht, im Namen der Wissenschaft und der Philosophie zu reden. Wenn Sie es wissen wollen, so schreibe ich einfach Romane, bin ein Schriftsteller, der manchmal etwas richtig erfaßt, und meine ganze Bedeutung besteht darin, daß ich viel beobachtet und viel gearbeitet habe. Und ich werde mir blos in der Eigenschaft eines Zeugen darüber zu sprechen erlauben, was meine Generation gewesen, oder wenigstens hatte sein wollen; es sind Leute, die fast fünfzig Jahre alt sind und die Eure Generation bald Eure Vorfahren nennen wird. Vor einigen Tagen setzte mich das besondere Aussehen der Ausstellungssäle auf dem Marsfelde sehr in Verwunderung. Man nimmt an, daß die Bilder immer ein und dieselben sind. Das ist eine irrige Annahme, daß diese Wandlungen langsam vor sich gingen; wie groß aber würde das Erstaunen sein, wenn man die früheren Ausstellungen wieder ins Leben rufen könnte! Was mich betrifft, so entsinne ich mich sehr gut der akademischen und romantischen Ausstellungen vom Jahre 1863. Die Arbeiten à plein air