Überleben für Anfänger - Franca Düwel - E-Book

Überleben für Anfänger E-Book

Franca Düwel

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Beschreibung

HILFE!! Mein Leben ist ein Albtraum! Erst Anna-Constanza und ihre fiesen Mobbingattacken. Dann der Ärger mit Nael, meinem vermeintlichen Mister Perfect - den ich inzwischen selbst dann noch hassen würde, wenn er und ich die letzten Menschen auf der Welt wären. (Und momentan sieht es ganz danach aus …) Aber das Schrecklichste ist die Sache mit diesem Survivalcamp mitten im Atlantik! Drei Wochen mit fünf anderen Jugendlichen auf einer einsamen Insel ohne Internet. Wie zum Teufel können meine Eltern nur denken, das würde mir guttun? Gerade jetzt, wo ich seit Tagen von einem schwarzen Volvo verfolgt werde, der garantiert mit Papas mysteriösem Nebenjob zu tun hat? Aber keiner glaubt mir!!! Dabei sind die, die hinter mir her sind, definitiv gefährlich! Und inzwischen frage ich mich ernsthaft, ob ich das hier überleben werde … Ein wahres Gefühlsgewitter! Ein E-Mail- und Tagebuchkrimi, dem sich keiner entziehen kann. Denn Mias Geschichte ist so intensiv wie das echte Leben und ihre Ängste sehr viel realer als gedacht. "Überleben für Anfänger" ist durchgehend mit coolen Bildern im Scribble-Style von Künstlerin Miri D'Oro illustriert. Gedruckt auf Umweltschutzpapier, ausgezeichnet mit dem Blauen Engel.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 467

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Franca Düwel

Überleben für Anfänger

Weitere Bücher von Franca Düwel im Arena Verlag:

Julie und Schneewittchen (Band 1)

Julie uns die Schwarzen Schafe (Band 2)

Julie und das Herzschlamassel (Band 3)

Julie und die Frage, was Jungs wollen (Band 4)

Julie und der achte Himmel (Band 5)

Franca Düwel,

geboren 1967, studierte Literaturwissenschaft und Pädagogik.

Nach diversen Stationen in der Filmbranche erfand sie die TV-Serie

»Die Pfefferkörner«, die inzwischen als Deutschlands erfolgreichste

Kinderserie gilt. Neben zahlreichen Drehbüchern (»Berlin, Berlin«, »Vier gegen Z«) schrieb sie die Mädchenbuchreihe »Julie« und eroberte damit die Herzen der Leserinnen im Sturm. Franca Düwel lebt mit Mann, Töchtern, Eltern, Katzen, Eidechsen und Schildkröten in der Nähe von Hamburg. »Überleben für Anfänger« ist ihr sechster Roman.

Miri D’Oro,

geboren 1983, wuchs in Deutschland und Spanien auf und lebte ab ihrem 18. Lebensjahr in den USA, wo sie studierte und arbeitete.

Seit 2013 ist sie in Köln als Illustratorin im Bereich Buch,

Musik, Theater und Editorial tätig. 2010 erhielt sie den New Yorker

Holly T. Popper Award und den Peggy Guggenheim Award Venedig.

2017 war sie für den deutsch-französischen Jugendliteraturpreis nominiert.

Ein Verlag der

1. Auflage 2021

© 2021 Arena Verlag GmbH

Rottendorfer Str. 16, 97074 Würzburg

Alle Rechte vorbehalten

Cover und Innenillustrationen: Miri D’Oro

Umschlaggestaltung: Miri D’Oro

Lektorat: Antonia Thiel

Satz: Manja Hellpap

E-Book-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net

E-Book ISBN 978-3-401-80921-2

Besuche den Arena Verlag im Netz:

www.arena-verlag.de

An: Dr. G. Müller, Stewa-Tech

Von: E. Wolgast

Gesendet: 9. Juni, 11.07 Uhr

Betreff: Fighting Pandas

M. wie erwartet bei erster Kontaktaufnahme eher unzugänglich. Nutzen weiterer Gespräche insofern fraglich. Aufenthalt auf P. weiterhin erforderlich? Erbitte Anweisung.

An: E. Wolgast

Von: Dr. G. Müller, Stewa-Tech

Gesendet: 9. Juni, 11.14 Uhr

Betreff: Re: Fighting Pandas

Kontakt bitte weiterführen und intensivieren, da Aufenthalt auf P. nach derzeitiger Lage unbedingt erforderlich. Ich wiederhole: unbedingt erforderlich.

Letzten Dienstag war ich das erste Mal bei Frau Dr. Wolgast, dieser Psychologin, von der Papa die ganze Zeit redet. Eigentlich wollte ich da überhaupt nicht hin, aber dann ist Mama am Montag beim Abendbrot wegen mir wieder in Tränen ausgebrochen und da hab ich mich notgedrungen doch dazu bereit erklärt. Obwohl ich das eigentlich nach wie vor völlig absurd finde. Aber gut, egal.

Auf alle Fälle hat mir diese Frau Dr. Wolgast (die mit ihrem grauen Lockenkopf und der dicken Hornbrille genauso aussieht, wie ich mir eine Psychologin immer vorgestellt habe) letzte Woche lang und breit erklärt, wie hilfreich es in meinem Alter wäre, regelmäßig Tagebuch zu schreiben, und eigentlich war ich schon richtig genervt davon.

Aber dann stand eben, als ich aus der Schule gekommen bin, wieder der schwarze Volvo mit der Nummer in einer Parklücke vor dem Haupteingang und mir ist vor lauter Schreck fast das Herz stehen geblieben. Na, und weil ich mit meinen Eltern nicht darüber reden kann, weil sie garantiert wieder glauben würden, dass ich mir das alles nur ausdenke, hab ich mich jetzt doch entschlossen, das mit dem Tagebuchschreiben mal auszuprobieren. Irgendwas muss ich schließlich tun, sonst raste ich noch aus!

Immerhin ist dieser schwarze Volvo genau dasselbe Auto, das mich schon letzte und vorletzte Woche auf dem Schulweg verfolgt hat, und inzwischen bin ich mir absolut sicher, dass das kein Zufall mehr ist. Never ever! Vor allem, weil der Mann hinter dem Steuer diesmal sogar ausgestiegen ist! Ich hab nämlich versucht, über den Fußweg hinten bei der Turnhalle abzuhauen, aber das hat er anscheinend bemerkt, denn als ich bei dem kleinen Kiosk rausgekommen bin, stand der Fahrer, ein Typ mit tief ins Gesicht gezogenem Baseball-Cap, schon da und hat auf mich gewartet. Weswegen ich dann auch gleich wieder kehrtgemacht hab und in die nächste Seitenstraße rein bin, aber die hat sich als Sackgasse entpuppt und ab da ist alles nur noch schiefgelaufen.

Wie in drei Teufels Namen konnte ich auch nur so dämlich sein, mich ausgerechnet in einem Müllcontainer zu verstecken? Und dann auch noch einem Kita-Müllcontainer? Ich mein, hätte mich nicht wenigstens der Gestank warnen müssen? Ganz abgesehen von der bräunlichen Masse an der Innenseite dieser durchsichtigen Mülltüten, die da obenauf lagen? Was zum Donnerwetter hab ich mir bloß dabei GEDACHT???

Eine Hundertstelsekunde, bevor ich reingeklettert bin, hab ich sogar noch vermutet, dass das jetzt nicht unbedingt die genialste meiner Ideen ist, aber dann habe ich hinter mir ein Auto in die Sackgasse einbiegen hören. Und da hat mein Gehirn quasi aufgehört zu denken und ich bin einfach reingesprungen – mitten rein in den Haufen durchsichtiger weicher Plastiktüten, der auf den ersten Blick gar nicht so schlimm aussah. Was sich allerdings zwei Sekunden später als größtmöglicher Irrtum entpuppt hat. Denn was befand sich unter der obersten Schicht verknoteter Mülltüten? Ja, genau: ein gigantischer Haufen benutzter Windeln OHNE Mülltütenumhüllung, sozusagen eine Jahresladung mehr oder weniger eingetrocknetes Baby-Aa. Und ich mittendrin!

Im selben Augenblick, wo ich vor Ekel aufschreien wollte, ist draußen ein Auto vorgefahren. Und weil ich mir in dem Moment hundertprozentig sicher war, dass das jetzt garantiert der schwarze Volvo ist, hab ich mir panisch die Hand vor den Mund gehalten und gleichzeitig hat mein Herz so laut geklopft, dass ich ernsthaft Angst hatte, dass der Kerl mit dem Cap jede Sekunde den Deckel aufreißt und mich mit einem eiskalten »Na, wen haben wir denn da?« zum Aussteigen auffordert. Aber das ist dann doch nicht passiert. Gott sei Dank!

Stattdessen war einige Minuten später von draußen ein wütendes »Fuck!« zu hören (ich glaub, mit amerikanischem Akzent, aber ich kann’s nicht beschwören) und kurz darauf ertönte dann erneut ein Motorengeräusch und danach – Stille. Puh.

Anschließend bin ich noch bestimmt fünf Minuten mit klopfendem Herzen in dem stinkenden Container hocken geblieben, aber irgendwann hab ich mich doch getraut, den Deckel hochzuschieben, und na ja, dabei ist es dann passiert: Gerade als ich mein rechtes Bein über den Rand des Müllcontainers geschwungen und mich von unten abgestoßen hab, hab ich ihn draußen stehen sehen. Nael. Meinen Nael. Beziehungsweise Anakondas Nael.2

Gott, in dem Moment hab ich echt gedacht, ich kollabiere! Da meide ich diesen Typen seit Wochen wie die Pest, entwickele sogar einen generalstabsmäßigen Nael-Vermeidungsplan, der beinhaltet, dass ich 90 % aller Pausen nur noch auf dem Schulklo verbringe, um ihm bloß nicht über den Weg zu laufen, und was passiert? Ich begegne ihm genau in dem Moment, wo ich wie eine stadtbekannte Irre, zitternd und mit Babykacke im Haar, aus einem Kita-Müllcontainer klettere. Finde den Fehler!

Vielleicht wäre es nicht ganz so schlimm gewesen, wenn er allein gewesen wäre, aber nein! Wenn ich beliebtheitstechnisch schon Selbstmord begehe, dann natürlich gleich vor allen drei tonangebenden Playern aus dem elften Jahrgang gleichzeitig. Tja, bei so etwas macht Mia keine halben Sachen! Jetzt hat Naels ätzende Pflegeschwester Anakonda wenigstens noch einen Grund mehr, mich in der ganzen Schule als Verrückte abzustempeln. Oh, verflucht! So eine Riesen-, Ober-, Megakacke! (Im wahrsten Sinne des Wortes, grrr …)

Ich mein, warum musste ich beim Rausklettern auch noch hinfallen? Sonst hätten sie mich vielleicht gar nicht bemerkt. Und dann ist Nael auch noch auf mich zugelaufen, um mir zu helfen und … Ohhhhh … Ich darf gar nicht daran denken. Allein was sich auf seinem Gesicht abgespielt hat, als er gemerkt hat, dass ich das bin, die da aus dem Container gefallen ist. Erst Erschrecken und dann Ungläubigkeit und anschließend Abscheu, gekoppelt mit Verwirrung und noch etwas anderem, das ich nicht deuten konnte …

Und dann auch noch der blöde Spruch von seinem Freund: »Ey, Nael, ist das nicht die Kleine aus der Neunten, die bei Anna-Constanzas Party die Feuerwehr gerufen hat?«

»Nein, ich … äh …«

»Doch, klar. Mia, richtig? Scheiße, was machst du hier? Und warum kletterst du aus einem Müllcontainer?«

»Äh … Ich … Ich …«

Leider war mein Gehirn in dem Moment komplett leer, aber selbst wenn ich was gesagt hätte, hätte das wahrscheinlich auch nichts gebracht, weil Naels anderer Freund im selben Augenblick bereits seine Lippen zu einem breiten Grinsen verzogen und sich feixend zu seinen beiden Kumpels umgedreht hat.

»Na, ist doch klar, was die hier macht! Die stalkt ihn! Ey, Nael, deine Schwester hatte recht, du hast ’ne Stalkerin! Die klettert sogar in Mülltonnen, um dir nahe zu sein …«

Fuck, fuck, fuck!!!!

Gott, wenn ich das hier aufschreibe, dreht sich mir sogar noch nachträglich der Magen um. Außerdem wird mir, je länger ich darüber nachdenke, eines zunehmend klar: Nach der Sache kann ich morgen unmöglich in die Schule gehen! Da kann ich mich genauso gut selbst filetieren! Das ist für Anna-Constanza und ihre beiden Scherginnen schließlich ein gefundenes Fressen. Aber wenn ich Mama noch mal erzähle, dass ich tierische Regelschmerzen hab, dann wird sie garantiert misstrauisch. Und das mit dem Kopfweh hab ich letzte und vorletzte Woche schon zu oft verbraten und außerdem schreiben wir morgen Mathe, was Mama weiß und weswegen sie mich garantiert nie und nimmer zu Hause bleiben lässt. Und zu allem Überfluss ist morgen auch noch Dienstag, was bedeutet, dass ich gleich noch diesen ätzenden Aufsatz für Frau Dr. Wolgast schreiben muss. Verdammt! Als ob ich nicht schon genug auf dem Zettel hätte – nein, jetzt kann ich auch noch einmal die Woche nervige Briefe an eine Psychologin schreiben. Und das alles nur wegen Papa. Aaaaahhhhhhh!! Wie zum Teufel konnte mein Leben in so kurzer Zeit nur so vollkommen aus dem Ruder laufen???

An: Kinder- und Jugendpsychotherapeutin

Dr. Elisa Wolgast

Von: Mia Fromberg

Gesendet: 14. Juni, 16.02 Uhr

Betreff: Hausaufgabe vom 8. Juni:

»Wie ich meine Familie sehe«

Liebe Frau Dr. Wolgast,

hiermit schicke ich Ihnen meine erste wöchentliche Brief-Hausaufgabe zum Thema »Wie ich meine Familie sehe«, obwohl ich das — wie ich Ihnen bei unserem Kennenlernen letzte Woche schon gesagt habe — völlig überflüssig finde. Schließlich müssten gerade Sie als Kinder- und Jugendpsychologin eigentlich wissen, dass man in der neunten Klasse schon genug Hausaufgaben aufbekommt.

Der einzige Grund, warum ich mich entschlossen habe, diese wöchentlichen Briefe trotzdem zu schreiben, ist Ihr Angebot, dass ich dann nicht zweimal, sondern nur einmal wöchentlich zu Ihnen kommen muss. Außerdem hoffe ich, dass Sie möglichst schnell feststellen, wer das eigentliche Problem in unserer Familie ist. Das bin nämlich nicht ich, sondern das sind meine Eltern.

Immerhin sind sie es, die mir nicht die Wahrheit über ihre wahre Identität sagen, obwohl ich ihnen x-mal versprochen habe, darüber zu schweigen wie ein Grab. Aber nein, offenbar schicken sie ihre einzige Tochter lieber zu einer Psychologin, als gegen ihren Schweigeschwur (ich nehme an, so etwas in der Art mussten sie beim Geheimdienst wohl leisten) zu verstoßen. Wenn das nicht traurig ist, weiß ich auch nicht …

Das soll jetzt allerdings nicht heißen, dass ich Ihnen als Psychologin einen Vorwurf daraus mache, dass Sie auf die Geschichte meiner Eltern über mich und meine vermeintlichen Wahnvorstellungen hereingefallen sind. Ich weiß ja, Mama und Papa können sehr überzeugend sein, und gerade wenn’s drauf ankommt, ausgesprochen »echt« wirken. Wahrscheinlich haben der BND oder die CIA sie auch aus genau diesem Grund für ihre Arbeit rekrutiert. Außerdem kann ich mir gut vorstellen, was Mama Ihnen vor unserem ersten Treffen erzählt hat: höchstwahrscheinlich, dass sie sich furchtbare Sorgen um mich macht, weil ich, seit Anna-Constanza, Levke und Vanessa mich bei Whatsapp blockiert haben, immer nur in meinem Zimmer sitzen und zeichnen oder irgendwelche Serien gucken würde, die überhaupt nicht für mein Alter geeignet sind. Darauf schieben meine Eltern im Moment nämlich alles. Auf meinen, wie Mama es nennt, »exzessiven Medienkonsum«, der mich in ihren Augen zunehmend von der Realität entfernt. Aber das ist blanker Unsinn!!

Und zu dem anderen, was Mama Ihnen erzählt hat, von wegen, ich würde ja so unter meiner neuen Außenseiterrolle in der Klasse leiden, kann ich auch nur sagen: Die, die noch viel mehr darunter leidet, ist meine Mutter! Wer ist neulich schließlich halb ausgerastet, als er erfahren hat, dass Levke sich im Sportunterricht geweigert hat, mich in ihre Volleyballmannschaft zu wählen?

Genau: sie! Auch wenn ich das natürlich ebenfalls nicht gerade toll fand, vor allem nicht, als Anna-Constanza vor allen laut gesagt hat, ich hätte nicht nur eine Schraube locker, sondern würde auch noch nach billigem Deo stinken.

Das war selbst für Anakonda ultra-fies.

Aber Ihnen deshalb zu erzählen, dass ICH psychologische Hilfe bräuchte, ist trotzdem absurd. Schließlich besteht das eigentliche Problem unserer Familie keineswegs aus Anakondas widerlichen Mobbingattacken, sondern vielmehr darin, dass entweder nur Papa oder Papa und Mama israelische oder amerikanische Spione sind, die seit Jahren verdeckt in Deutschland leben.3 UND ZWAR OHNE DAS GEGENÜBER IHRER EIGENEN TOCHTER ZUZUGEBEN! Nein, anstatt mir endlich reinen Wein einzuschenken, schickt Mama mich lieber zu einer Psychologin, was ja wohl bereits überdeutlich zeigt, dass sie entgegen ihrer Aussage, sie wüsste genau, wie es mir gerade geht, nicht die geringste Ahnung von mir hat.

Und Papa ist in der Beziehung noch schlimmer. Wenn’s nach dem ginge, dann hätten Mama und er mich wahrscheinlich schon längst in diesem Survival-Sommer-Camp für Mobbingopfer angemeldet. Von dem redet er nämlich andauernd, seit er aus dem Jemen zurück ist. Dabei würde ich lieber einen Paartanzkurs mit meiner persönlichen Erzfeindin Anna-Constanza machen, als drei Wochen mit einem Haufen durchgeknallter Jugendlicher in einem Zeltlager am Ende der Welt zu verbringen. Aber das ist ihm anscheinend piepegal!

Warum sonst hätte er letzte Woche einen ganzen Stapel dieser bekloppten Camp-Flyer auf unserem Küchentisch liegen lassen? Vorne drauf waren drei Jugendliche abgebildet, die neben ihren Rucksäcken auf irgendeiner Lichtung saßen und dümmlich grinsend Stockbrot überm Lagerfeuer geröstet haben. Und innen drin stand dann, dass gerade hochsensible und/oder sozial auffällige Teenager von diesem Programm profitieren würden, weil das Ganze unter der Leitung zweier auf Pubertätsschwierigkeiten spezialisierter Pädagogen stattfinden würde. Ach ja, und dass die bisherigen Teilnehmer ganz begeistert von der Erfahrung gewesen wären, drei Wochen lang tagsüber durchs Unterholz zu trotten und abends in den Wald zu kacken, um nachfolgend im strömenden Regen in eiskalte Schlafsäcke zu krabbeln, in denen es von Spinnen und Ameisen nur so wimmelt. (Im Flyer haben sie es natürlich anders formuliert, aber genau das war gemeint.)

Falls man noch einen weiteren Beweis dafür bräuchte, dass meine Eltern nicht den geringsten Schimmer davon haben, wie es zurzeit in mir aussieht — hier wäre er! Nur weil ich seit einem Vierteljahr einen Selbstverteidigungskurs mache, heißt das ja wohl nicht, dass ich in meinen Ferien gleich eine paramilitärische Ausbildung am anderen Ende der Welt absolvieren will.

Schließlich habe ich Zeltlager, Nachtwanderungen und diesen ganzen Pfadfinderkram schon IMMER gehasst! Und mich jetzt allen Ernstes bei etwas anmelden zu wollen, wo man sich drei Wochen damit beschäftigt, »Feuer unter erschwerten Bedingungen zu machen« (übersetzt: bei sintflutartigem Regen), »Abenteuerspiele von Naturvölkern nachzuspielen« (übersetzt: nackt und überall am Körper mit Schlamm bemalt) und dafür bereits »vor Sonnenaufgang aufzustehen« (übersetzt: um 4.00 Uhr morgens), ist einfach komplett realitätsfremd!!! Wie bitte schön kann mein Vater bloß glauben, ein Aufenthalt in diesem Teenager-Guantanamo würde mir guttun?

Gott, merke schon wieder, wie ich mich aufrege, dabei will ich das gar nicht. Außerdem muss ich sowieso gleich zum Luta Livre (übermorgen haben die Judo-Kiddies irgendeinen Wettkampf, deswegen trainieren wir ausnahmsweise heute) und anschließend auch noch meine »echten« Hausaufgaben erledigen. Insofern mache ich jetzt lieber Schluss. Ach ja, und davon abgesehen sagten Sie ja auch, dass vier bis acht Seiten ausreichend sind, und das hier sind immerhin fast sechs.

Mit freundlichen Grüßen

Ihre Mia Fromberg

An: Mia Fromberg

Von: Kinder- und Jugendpsychotherapeutin

Dr. Elisa Wolgast

Gesendet: 14. Juni, 17.30 Uhr

Betreff: Re: Hausaufgabe vom 8. Juni:

»Wie ich meine Familie sehe«

Liebe Mia,

vielen Dank für Deine Mail. Ich freue mich, dass Du Dich entschlossen hast, mir einmal die Woche zu schreiben.

Bevor wir uns morgen wieder zum Gespräch treffen, wollte ich Dir nur kurz eine Rückmeldung darüber geben, dass Deine »Hausaufgabe« (die ich ehrlich gesagt lieber »Brief« nennen würde, »Hausaufgabe« klingt in meinen Augen so nach unangenehmer Pflicht und das soll es ja nun wirklich nicht sein) bei mir angekommen ist und ich sie als vollkommen — um in Deiner Formulierung zu bleiben — »ausreichend« empfinde. Natürlich sollen weder Deine schulischen Leistungen noch Deine Hobbys unter unserem Briefwechsel leiden. Schließlich sagte mir Deine Mutter schon, dass Du, was Deinen Kampfsport Cuba Libre anbelangt, außerordentlich begabt bist, und so ein Talent sollte man schließlich pflegen.

Noch einen schönen Abend wünscht Dir

Deine Elisa Wolgast

An: Kinder- und Jugendpsychotherapeutin

Dr. Elisa Wolgast

Von: Mia Fromberg

Gesendet: 23. Juni, 19.05 Uhr

Betreff: Hausaufgabe vom 22. Juni: »Warum ich mir sicher bin, dass Anna-Constanza mich hasst«

Sehr geehrte Frau Dr. Wolgast,

dass Sie mir gestern bei unserem Gespräch angeboten haben, Sie Elisa zu nennen, war bestimmt nett gemeint, aber ehrlich gesagt möchte ich Sie lieber nicht duzen. Fremde Erwachsene zu duzen, ist einfach nicht mein Ding (ich hatte mal einen Schlagzeuglehrer, der das auch unbedingt wollte, und das fand ich definitiv grenzwertig) und Sie als meine Therapeutin zu duzen, finde ich noch unpassender.

Duzen möchte ich nur meine Freunde, und auch wenn meine Mutter mir schon dreimal erzählt hat, dass man es in den USA »rent a friend« nennt, wenn man zum Psychologen geht, halte ich es nicht für sonderlich wahrscheinlich, dass wir irgendwann Freunde werden. Nicht nur wegen des Altersunterschieds oder weil Sie meinen Selbstverteidigungskurs die ganze Zeit Cuba Libre nennen (wobei das ein Cocktail mit Cola und Rum ist, während ich Luta Livre, einen brasilianischen Bodenkampfsport, trainiere, nur zu Ihrer Information), sondern auch sonst. Immerhin zahlt meine Krankenkasse Ihnen einen ganzen Batzen Geld dafür, dass Sie mir gegenüber so tun, als würden Sie sich wahnsinnig für mein Seelenleben interessieren, und das hat meiner Meinung nach mit Freundschaft ungefähr so viel zu tun wie Ameisenkotze mit Zahnzwischenraumbürsten: nämlich gar nichts.

Davon unabhängig fand ich das, was Sie mir gestern Nachmittag erzählt haben, ohnehin etwas … na ja, sagen wir mal: am Thema vorbei. Dass Sie mich erst noch besser kennenlernen wollen, ehe Sie mit mir weiter über die Agententätigkeit meiner Eltern reden, kann ich ja noch nachvollziehen. Schließlich könnte es theoretisch natürlich schon sein, dass ich irgendeinen psychischen Vollschaden habe und mir die ganze Spionagesache nur ausdenke.

Aber diese These von wegen, ich würde die kleine Mia, die doch eigentlich nur geliebt und gemocht werden will, unter einer Schutzhülle verstecken, die ich eventuell ja gar nicht bräuchte, weil meine Klassenkameraden möglicherweise gar nicht so böse sind, wie ich denke — also, die verkennt das eigentliche Problem in meinen Augen komplett. Ich mein, JEDER will ja wohl geliebt und gemocht werden! Um das zu erkennen, muss man nun echt nicht jahrelang Psychologie studiert haben. Außerdem hatte ich das Gefühl, dass Sie anscheinend denken, wenn ich von jetzt an nur noch nett zu Anna-Constanza, Vanessa und Levke wäre, dann würden die sich schon wieder beruhigen und alles würde sich — Abrakadabra — in Eitel-Sonnenschein auflösen. Aber glauben Sie mir: Auch wenn ich ab jetzt nur noch super-nice zu Anna-Constanza wäre und ständig beseelt lächelnd durch die Schule latschen würde, würde sie mich noch immer hassen. Da können Sie Gift drauf nehmen! Schließlich hatte sie wegen meiner Feuerlöscher-Aktion nicht nur vier Wochen Hausarrest, sondern schuldet ihren Eltern auch noch immer fünfhundert Euro für die Renovierung ihres Zimmers. (Das ist der Eigenanteil, den die Hausratversicherung ihrer Eltern nicht bezahlt hat.)

Und außerdem sind Herr und Frau Zitzewitz anscheinend noch immer so sauer auf ihre Tochter wegen dieser entgleisten Party in ihrer Abwesenheit, dass sie in den Sommerferien allein nach Amerika fliegen, während Anna-Constanza und Nael in irgendein Ferien-Jugendlager müssen. (Das sagt zumindest der Schulflurfunk beziehungsweise Aylin, die als Einzige aus der Klasse noch mit mir spricht.) Und der Umstand, dass Anna-Constanzas Eltern nicht mir, sondern ihrer Tochter die Alleinschuld an dem Ganzen geben, macht es im Grunde nur noch schlimmer. Weil Anna-Constanza mich deswegen gleich doppelt hasst.

Dabei hatte ich es auf dieser Party damals eigentlich nur gut gemeint. (Ich weiß, das klingt im Nachhinein schräg, aber es stimmt!) Schließlich war, als ich die Tür zu Anna-Constanzas Zimmer aufgerissen hab, wirklich alles total verqualmt. Und zusätzlich hat der Rauchmelder gepiept und alle haben wie verrückt gehustet und rumgebrüllt — da hätte jeder gedacht, es brennt. Ich mein, wer bitte schön hätte denn ahnen können, dass der ganze Rauch nur deshalb da war, weil sie und ihre bescheuerten Freunde versucht haben, aus ihrem Zimmer eine Hot Box zu machen? Ehrlich gesagt wusste ich vor dieser Scheiß-Party noch nicht einmal, dass es so etwas wie Hot Boxen oder Kiffersaunen oder wie auch immer man das nennt, überhaupt gibt! Und im Grunde kapiere ich selbst jetzt noch nicht, wie man so blöd sein kann, sämtliche Ritzen im Raum mit irgendwelchen Klamotten zu verstopfen, um sich anschließend darin einen Joint nach dem anderen anzuzünden.

So stoned, nicht an den Rauchmelder zu denken, kann man doch gar nicht sein, oder? Anscheinend ja doch. Bräuchte man noch einen Beweis dafür, dass zu viel Dope zu Gehirnschwund führt, hier wäre er.

Gut, ich weiß, was Sie jetzt sagen. Wahrscheinlich, dass meine Aktion mit dem Feuerlöscher trotzdem etwas vorschnell war. Genauso wie die Sache, dass ich Levke angeschrien hab, sie soll sofort 112 anrufen, ohne vorher nachzugucken, ob es wirklich brennt. Und dass ich, seit ich das mit der Agententätigkeit meiner Eltern vermute, schon öfter etwas extrem auf Gefahrensituationen reagiert hab und die Geschichte mit der Party dafür nur ein Beispiel ist. Das stimmt ja auch. Ich weiß, dass ich mich ziemlich oft umgucke und dass das auf einige meiner Klassenkameraden wohl etwas komisch wirkt. Das haben Levke und Aylin mir mal gesagt. Und ja, ich bin schon ein paarmal früher aus dem Bus ausgestiegen, weil mir jemand darin verdächtig vorkam.

Aber das heißt noch lange nicht, dass ich gleich eine durchgeknallte Psycho-Else bin! Selbst wenn ein Teil meiner Mitschüler so etwas anscheinend rumerzählt. Ich bilde mir diese Dinge schließlich nicht ein! Dieser Mann im schwarzen Volvo mit dem Baseballcap existiert — umsonst hab ich mich letzte Woche schließlich nicht in einem (im wahrsten Sinne des Wortes) beschissenen Müllcontainer versteckt!

Und noch mal wegen der Party — ich schreibe das hier auch nicht, um mich irgendwie herauszureden. Ich weiß, dass ich da Mist gebaut hab. Sie glauben gar nicht, wie gern ich diesen ganzen Abend ungeschehen machen würde! In Gedanken hab ich das Ganze bestimmt tausendmal durchgespielt und mich jedes Mal wieder gefragt, warum ich nicht wenigstens gleich, als klar war, dass es nicht wirklich brennt, noch mal die Feuerwehr angerufen hab, um Bescheid zu sagen, dass es ein Fehlalarm war. Dann hätten Naels und Anna-Constanzas Eltern zumindest nicht den überflüssigen Einsatz bezahlen müssen. Das war einfach nur bescheuert von mir! Genauso wie die Geschichte, dass ich mich überhaupt von Vanessa dazu überreden lassen hab, auf diese blöde Party zu gehen. Schließlich waren wir ja noch nicht mal richtig eingeladen! Und normalerweise würde ich NIE auf eine Party gehen, zu der ich nicht eingeladen bin. Aber Nessi hat ständig davon geredet, dass unsere halbe Schule da sein würde und wie cool das alles werden würde, und deswegen haben Levke und ich uns dann irgendwann doch von ihr breitschlagen lassen.

Na ja, und außerdem dachte ich damals auch noch, dass es ganz schön wäre, Nael da zu sehen. Aber zu dem Zeitpunkt war ich wie gesagt auch erst vierzehn und tierisch naiv und hab wirklich noch geglaubt, Nael wäre nett. Dabei ist Anna-Constanzas Pflegebruder für »nett« zu halten, leider ungefähr so schlau, wie einen Haifisch mit einem Delfin zu verwechseln — da hätte es die Total-Blamage mit der Mia-Fromberg-rettet-die-Welt-mit-einem-Feuerlöscher-Einlage im Grunde gar nicht mehr gebraucht.

Aber das ist ein anderes Thema und eigentlich hab ich auch überhaupt keine Lust, jetzt noch weiter über Nael nachzudenken. Das macht mir nur schlechte Laune und wir sehen uns ja ohnehin nächsten Dienstag, dann können wir noch immer darüber reden. (Oder es auch lassen.)

Ihre Mia Fromberg

PS: Wollte die Mail gerade losschicken, aber eben ist meine Mutter in mein Zimmer gekommen und meinte, sie hätte gerade mit Papa in Libyen telefoniert und es gäbe auf seinen Wunsch jetzt bei uns eine neue Regel: Ich müsste sowohl mein iPad als auch mein Notebook abends um 18 Uhr im Wohnzimmer abgeben und würde beides erst am nächsten Tag um 16 Uhr wiederbekommen.

Und das ist noch nicht alles! Außerdem wollte sie meinen PIN-Code wissen, weil Papa und sie jetzt regelmäßig meine Verläufe kontrollieren wollen. Unfassbar! Anscheinend wollen meine Eltern mich jetzt komplett überwachen! Und das, wo sie mir letztes Jahr noch x-mal versichert haben, dass sie nie so wie Vanessas Vater werden würden, der aus Kontrollsucht ständig die Chatverläufe seiner Tochter checkt. Haben Sie meinen Eltern diese neue Regelung vorgeschlagen? Wenn ja, muss ich Ihnen sagen, dass ich das KOMPLETT DANEBEN finde!!! Von wegen »rent a friend«! So ein Verhalten ist in meinen Augen definitiv nicht dazu geeignet, unser Vertrauensverhältnis zu verbessern!!! Nicht im Mindesten!

Gerade hat Mama sowohl mein Handy als auch meinen Laptop einkassiert. Ich fass es nicht! Im Moment passiert wirklich nur Mist! Allein der heutige Morgen! Der war schon wieder die Vollkatastrophe! Dabei hab ich eine halbe Stunde vorher noch gedacht, ich wäre top vorbereitet. Aber denkste!

Zwar bin ich wegen der Mathearbeit in der Ersten extra früh los, aber dann ist mir draußen beim Bücken nach der Fahrradpumpe die Naht von der Hose aufgeplatzt. Und zwar mitten zwischen den Beinen, so richtig schön bescheuert. Also bin ich zurück in den Waschkeller, um zu gucken, ob meine Mutter die schwarze Jeans, die ich mir vorgestern neu gekauft hab, schon gewaschen hat. Tja, und dabei hab ich dann erfahren, dass Mama die schwarze Jeans zwar in der Tat gewaschen, aber danach – dadadadam – weggeworfen hat. Weil sie angeblich »eingelaufen« wäre! Pah! Wer’s glaubt, wird selig!!!

Innerlich bin ich nach Mamas Nachricht natürlich halb ausgerastet, vor allem weil ich mir zu 99 % sicher bin, dass sie die Hose mit voller Absicht weggeschmissen hat. Sozusagen aus pädagogischen Gründen. Weil ich weiß, dass sie es pervers findet, wenn etwas erst hergestellt und dann gleich wieder zerrissen wird. Und außerdem, weil sie dahinter immer gleich Kinderarbeit vermutet. Aber als ich sie deswegen zur Rede stellen wollte (von wegen, dass eine neue Hose, die man einfach wegwirft, NOCH unökologischer ist als eine, die vorher getragen wurde), hat das Telefon geklingelt und Mama ist rangegangen. Na ja, und weil ich nicht so lange warten konnte, bis sie mit ihrer neuen besten Freundin Rachel (die aus unerfindlichen Gründen seit zwei, drei Wochen ständig hier anruft) jede einzelne Macke ihres Steuerberater-Chefs durchgehechelt hat, bin ich dann notgedrungen in der dunkelroten Jeans (die ich eigentlich hasse, weil sie voll fett macht) im strömenden Regen los zur Schule.

Tja, und da ging es dann genauso ätzend weiter. Als ich um fünf nach acht nämlich völlig durchweicht die Tür zu unserem Klassenzimmer aufgerissen habe, war der ganze Raum komplett leer und an der Tafel stand, dass wir Mathe im Musikraum schreiben würden. Aber im Musikraum hat nur irgendeine fünfte Klasse »Ja, ja, ja, der Sommer, der ist da!« auf Blockflöte gespielt und die Lehrerin hatte keine Ahnung, wo die 9c abgeblieben ist. Also bin ich mit fliegenden Fahnen wieder runter ins Sekretariat, wo ich ewig warten musste, bis unsere Schulsekretärin endlich meinte, dass ich es ja mal im Physikraum versuchen könnte. Na ja, und da waren sie dann Gott sei Dank auch, aber inzwischen hab ich in den nassen Klamotten so gefroren, dass meine Stimme total gezittert hat, als ich mich bei unserem Klassenlehrer entschuldigt hab. »Tut mir leid, dass ich zu spät bin, Herr Mäder, aber an der Tafel im Klassenzimmer stand, wir würden im Musikraum schreiben, und da hab ich gedacht …«

Während ich außer Atem abgebrochen hab, hat Herr Mäder mich irritiert angesehen und dabei genervt den Kopf geschüttelt. »Wieso denn im Musikraum? Das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen. Ich hab Vanessa extra gebeten, an die Tafel zu schreiben, dass wir im Physikraum sind. Nicht wahr, Vanessa?«

Herr Mäder hat Vanessa, die neben Anna-Constanza vorne in der ersten Reihe gesessen hat, einen fragenden Blick zugeworfen, aber ehe Nessi noch den Mund aufmachen konnte, hat Anna-Constanza sich schon stöhnend gemeldet. »Können wir das nicht später klären, Herr Mäder? So kann ich mich echt nicht konzentrieren. Und außerdem kann Vanessa ja nun wirklich nichts dafür, wenn Mia nicht lesen kann, oder?!«

Anna-Constanza hat unseren Mathelehrer so treuherzig angelächelt, als könne sie kein Wässerchen trüben, und während Vanessa meinen fassungslosen Blick zwanghaft vermieden hat, hat Herr Mäder sich zu mir umgedreht. »Gut, also, Mia, dann setz dich irgendwo hin und nutz wenigstens noch die Zeit, die dir bleibt …«

»Aber ich …«

»Mia, bitte!« Herr Mäder hat gereizt den Kopf geschüttelt und ich bin unter den Augen der anderen wie die Inkarnation des Wortes »Opfer« zu dem einzig noch freien Platz vorn in der ersten Reihe getapert und hab dabei die ganze Zeit Anna-Constanzas zufriedenes Grinsen wie einen Giftpfeil im Rücken gespürt.

Tja, und wie die Mathearbeit gelaufen ist, war dann natürlich klar. Weil ich noch immer so sauer war, konnte ich mich überhaupt nicht auf die Aufgaben konzentrieren, mit dem Effekt, dass ich, als es geklingelt hat, gerade mal am Anfang von Aufgabe vier war. Von insgesamt sieben! Wahrscheinlich kann ich von Glück sagen, wenn ich dafür noch eine Fünf und keine Sechs kriege. Und alles nur wegen Anna-Constanza! Ich wette, sie hat Vanessa dazu angestachelt, statt Physik- Musikraum an die Tafel zu schreiben. Schließlich ist Nessi zwar immer gern dabei, wenn’s um Mistbauen geht, aber so richtig bösartig ist sie von allein normalerweise nicht. Das ist mehr so

Was sie im Grunde sogar zugegeben hat. Nach der Mathearbeit, als ich völlig fertig meine Sachen eingepackt hab, ist Anna-Constanza nämlich tatsächlich noch zu mir gekommen und hat mir mit übertrieben freundlichem Lächeln ein »Na, war’s schön im Musikraum?« zugezischt.

Deutlicher geht’s ja wohl kaum! Und später im Klassenraum war die Tafel natürlich schon wieder abgewischt, sodass ich Herrn Mäder noch nicht mal beweisen konnte, dass da wirklich Musikraum stand. Gott, ich verabscheue diese fiese Schlange so sehr, ich kann gar nicht sagen, wie doll!!!!!! Warum bin ich damals bloß auf ihre bescheuerte Party gegangen? Warum war ich nur so dermaßen naiv und dämlich?

An: Mia Fromberg

Von: Kinder- und Jugendpsychotherapeutin

Dr. Elisa Wolgast

Gesendet: 29. Juni, 17.16 Uhr

Betreff: Aufgabe für Deinen nächsten Brief

Liebe Mia,

manchmal bin ich wirklich vergesslich. Du bist gerade aus der Tür und erst jetzt fällt mir ein, dass ich über unsere Diskussion zum Thema Handy-Nutzungszeiten ganz vergessen habe, Dir die Fragestellung für Deinen nächsten Brief mitzugegeben. Bevor ich sie Dir nenne, würde ich allerdings gern noch etwas loswerden: Mir ist durchaus bewusst, dass Du allmählich ungeduldig wirst, weil wir die ganze Zeit über Deine Mitschüler reden, während Du mit mir viel lieber über die Agententätigkeit Deines Vaters sprechen möchtest. Aber leider muss ich Dich dabei noch um ein kleines bisschen Geduld bitten. Wenn Du willst, können wir uns in der nächsten Stunde gern ausführlicher mit Deiner CIA-/Mossad-/ BND-Theorie beschäftigen. Vorher möchte ich aber doch noch einmal auf Nael zurückkommen.

Wie in Deinem letzten Brief erwähnest Du ja auch heute bei unserem Gespräch, dass Du Nael anfangs gemocht hättest, ihn jetzt aber verabscheuen würdest, weil er sich öfter negativ über Dich geäußert hätte. Da ich durchaus gemerkt habe, wie emotional Du bei diesem Thema reagierst, erscheint es mir wichtig, hier noch einmal nachzuhaken.

Insofern würde ich Dich bitten, bis zum nächsten Dienstag über die Frage »Warum ich Nael für einen Haifisch halte« nachzudenken. Im Anschluss daran können wir uns dann gern deinem Vater und dem von dir belauschten nächtlichen Telefonat im Keller zuwenden.

Bis dahin wünsche ich Dir viel Spaß

beim Schreiben

Deine Elisa Wolgast

hatte eben beim Mittagessen ein absolutes Horrorgespräch mit Mama! Manchmal könnte ich sie echt erwürgen! Und Frau Wolgast gleich mit! Eigentlich wollte ich meiner Mutter nämlich gar nicht erzählen, dass der schwarze Volvo heute wieder vor der Schule aufgetaucht ist und mich eine Frau aus dem Auto heraus gefilmt hat. Weil ich schon geahnt hab, dass das nichts bringt. Aber gestern in der Praxis hat mir Frau Wolgast noch mal so eindringlich geraten, mich unbedingt zeitnah jemandem anvertrauen, wenn ich wieder etwas Beängstigendes erlebe, dass ich eben gedacht hab: Okay, dann starte ich halt noch mal einen letzten Versuch und erzähl meiner Mutter, was passiert ist. Aber das hätte ich mir genauso gut sparen können!

Während ich geredet hab, hat Mama mich nämlich immer zweifelnder angeguckt, und als ich fertig war, hat sie so besorgt ausgesehen, als hätte ich ihr gerade eröffnet, dass ich überall weiße Mäuse sehe, die Shisha rauchend Lieder von Rolf Zuckowski singen. »Mia, Hase. Was du da eben erzählt hast, das glaubst du doch nicht wirklich, oder? Warum sollten irgendwelche fremden Frauen in einem schwarzen Volvo dich denn filmen wollen? Dafür gibt es doch überhaupt keinen Grund …«

In einem stillen Winkel meiner Seele war mir schon in dem Moment klar, dass das hier gerade völlig sinnlos ist, aber weil ich die Hoffnung, dass sie mir vielleicht doch noch glaubt, auch nicht aufgeben wollte, hab ich ihr noch mal einen flehenden Blick zugeworfen. »Und wenn doch? Ich weiß, Papa will mich da raushalten, aber vielleicht versuchen irgendwelche anderen Agenten ja jetzt, über mich an ihn ranzukommen, und deshalb …«

Eigentlich wollte ich ihr meine Fremder-Geheimdienst-Theorie noch genauer erklären, aber no way. Ehe ich überhaupt den Mund aufmachen konnte, hat sie schon aufgeregt den Kopf geschüttelt. »Mia, hör auf! Bitte! Du machst mir Angst!! Das ist doch alles Blödsinn! Weder Papa noch ich sind Geheimagenten! Ich arbeite halbtags in einem Steuerbüro und …«

»Du vielleicht, aber Papa …« Ich bin Mama ins Wort gefallen, aber die hat sich überhaupt nicht unterbrechen lassen.

»Papa baut Anlagen, die Dünger herstellen. Völlig normalen Mais- und Getreidedünger! Ich hab keine Ahnung, wieso du deswegen auf die Idee kommst, er wäre beim Mossad. Das ist doch absurd!«

»Ist es nicht!«

Mama und ich haben uns mit Blicken gemessen, aber so leicht hab ich nicht aufgegeben. Auch wenn Mamas Reaktion zugebenermaßen ziemlich glaubhaft wirkte. Aber darüber hab ich mir schon Gedanken gemacht. Weil es natürlich auch sein könnte, dass sie wirklich keine Ahnung von Papas Verbindungen zum Mossad hat. Schließlich könnte er sie über sein Doppelleben bisher genauso getäuscht haben wie mich. Also hab ich entschlossen weitergeredet.

»Und weißt du, warum nicht? Weil ich das mit dem Dünger gegoogelt hab. Und da stand, dass sämtliche Firmen, für

die Papa im Nahen Osten arbeitet – und zwar ausnahmslos alle –, in der Lage sind, chemische Kampfstoffe herzustellen, und deshalb …«

»Oh, mein Gott! Chemische Kampfstoffe! Mia, hörst du dir eigentlich manchmal selber zu?!«

»Ja, durchaus, aber du hörst mir einfach nicht z…«

»CHEMISCHE KOMPFSTOFFE!«

»Ja, genau! Chemische Kampfstoffe, wie zum Beispiel Sa… Sarin und … und …« Vor lauter Aufregung hab ich angefangen zu stottern und das hat mich so wütend gemacht, dass ich Mama angemotzt hab, obwohl ich das eigentlich gar nicht wollte. »Verdammt, tust du nur so oder kapierst du wirklich nicht, was hier los ist?! Papas Firma ist genau die Art Firma, bei der Israel versuchen würde, Agenten einzuschleusen. Und dass niemand bei ihm im Büro wissen soll, dass er Jude ist, passt dazu wie die Faust aufs Auge und …«

Eigentlich wollte ich noch weiterreden, aber im selben Moment hat meine Stimme zu zittern angefangen. Und während meine Augen sich gegen meinen Willen mit Tränen gefüllt haben, hat Mama stöhnend gemeint, dass sie meine Gedankengänge manchmal wirklich nicht nachvollziehen könne.

»Herrgott, Mia, das hier ist doch nicht Homeland oder Fauda oder wie deine ganzen Agentenserien bei Netflix noch heißen! Nur weil deine Oma Jüdin war, arbeitet dein Vater doch nicht gleich für den israelischen Geheimdienst! Was ist denn das für eine Logik?! Als Nächstes unterstellst du noch Herrn Mäder, dass er für die Schweizer Garde spioniert, nur weil er katholisch ist …«

»Ich hab doch gar nicht gesagt, dass es der Mossad ist! Vielleicht ist es ja auch die CIA oder der BND, aber auf alle Fälle führt Papa nachts heimliche Telefonate auf Hebräisch und …«

»Das ist doch Humbug, Mia! Ich hab dir schon mal gesagt: Papa kann überhaupt kein Hebräisch!«

»Das glaubst du vielleicht, aber …«

»Das glaube ich nicht nur, das weiß ich.« Mama hat ein grimmiges Schnauben ausgestoßen und ich hab den Mund aufgemacht, aber ehe ich noch etwas dazu sagen konnte, hat sie schon entschlossen weitergeredet: »Und außerdem ist es ja wohl allein Papas Sache, mit wem er über die Religion seiner Mutter redet und mit wem nicht. Ich habe der Steuerberaterin, für die ich arbeite, ja auch nicht erzählt, dass ich mit zwanzig mal für sechs Wochen in einem buddhistischen Kloster war und …«

»Aber du arbeitest auch nicht als Jüdin in einer Firma, die Anlagen für arabische Chemiefabriken baut, oder?«

Ich hab meine Mutter finster angesehen, aber als einzige Antwort hat sie mir nur einen Blick der Marke »Herrgott, jetzt mach es mir doch nicht so schwer!« zugeworfen.

»Hase, bitte. Ich versteh ja, dass du es in der Schule zurzeit nicht leicht hast, und ich kann mir vorstellen, dass du dich durch Papas häufige Abwesenheit manchmal vernachlässigt fühlst, aber …«

»Was hat das denn jetzt damit zu tun??« Ich hab Mama irritiert angeguckt, aber dann ist bei mir der Groschen gefallen. »Äh, Moment. Du glaubst jetzt aber nicht etwa, ich denk mir das alles nur aus, um eure Aufmerksamkeit zu kriegen, oder?«

»Nein, aber …« Mama hat innegehalten, doch an ihrem Gesichtsausdruck habe ich plötzlich gemerkt, dass ich damit den Nagel auf den Kopf getroffen habe. Anscheinend glaubt sie tatsächlich, dass ich mir die ganze Geschichte mit dem Volvo nur ausgedacht habe, um endlich mal wieder im Mittelpunkt zu stehen!

»Genau das denkst du! Herrgott! Ich fass es nicht!« Ich hab empört den Kopf geschüttelt, aber meine Mutter hat überhaupt nicht gemerkt, was sie da gerade für einen Bolzen geschossen hat, und weiter irgendetwas erzählt von wegen, wenn Papa das nächste Mal zu Hause sei, würden wir auch wieder mehr gemeinsam unternehmen. Ich glaub, sie hofft echt, wir müssten nur mal wieder zusammen ins Kino gehen, und schon wären wir wieder eine heile Rama-Familie. So viel also zum Thema »Hase, ich weiß ja so gut, was in dir vorgeht!«. Aber sicher. Für einen Augenblick ist mir vor lauter Enttäuschung richtig schlecht geworden, aber dann hat sich mein Magen zum Glück wieder beruhigt und ich bin ohne ein weiteres Wort in mein Zimmer abgerauscht, wo ich erst mal eine halbe Stunde durchgeheult hab. Fuck!

Ich befürchte, Mama hat nicht einmal den Bruchteil einer Sekunde in Betracht gezogen, dass ich wirklich verfolgt werden könnte. Das letzte Mal, als ich ihr von dem Volvo erzählt habe, hat sie ja wenigstens noch so getan, als ob sie mir glauben würde. Aber diesmal hat sie noch nicht mal mehr das für nötig gehalten! ARGH!! Weißt du, was mir gerade klar wird? Dass meine Mutter mir vermutlich NIE glauben wird – ganz egal, was passiert. Dafür ist sie in ihrem Innersten viel zu fest davon überzeugt, dass Papas Job ein ganz normaler Durchschnittsjob ist, der halt nur ab und zu eine längere Geschäftsreise in den Nahen Osten mit sich bringt. Wahrscheinlich könnte ich auch direkt vor ihren Augen gekidnappt werden und sie würde noch immer denken, dass mich nur gerade irgendwelche neuen Freunde zum Fußballspielen abgeholt haben …

Ach, verdammt! Am liebsten würde ich mir die Bettdecke über den Kopf ziehen und mich einfach wegbeamen! Irgendwohin, wo alle mich mögen und mir glauben und wo es keine Anakondas und keine schwarzen Volvos gibt. Aber stattdessen darf ich gleich diesen bescheuerten Brief über Nael an Frau Wolgast schreiben! Wonach es mir wahrscheinlich NOCH schlechter geht! Grr! Manchmal wünschte ich wirklich, ich wäre wieder klein. Da hab ich mich immer ganz geborgen und beschützt gefühlt, und wenn ich dann noch eine Tafel Schokolade und ein Donald-Duck-Heft hatte und mich ins Bett kuscheln konnte, bin ich mir vorgekommen wie im Paradies! Das war so schön!! Gott, zurzeit kommt es mir vor, als wäre das EWIG her!!!

An: Kinder- und Jugendpsychotherapeutin

Dr. Elisa Wolgast

Von: Mia Fromberg

Gesendet: 30. Juni, 16.47 Uhr

Betreff: Hausaufgabe vom 29. Juni:

»Warum ich Nael für einen Haifisch halte«

Liebe Frau Wolgast,

irgendwie hab ich schon geahnt, dass Sie sich in das Thema »Nael« verbeißen werden. Aus unerfindlichen Gründen interessieren Sie sich ja immer besonders für die Sachen, über die ich nicht sprechen will. Ist wahrscheinlich so eine Berufskrankheit nach dem Motto »Ah, da ist ihr schwacher Punkt, da bohren wir jetzt mal besonders tief drin rum!«. Aber glauben Sie mir — auch wenn Sie den Eindruck hatten, ich würde bei diesem Thema auffallend »emotional« reagieren: Was Nael von mir denkt oder nicht denkt, hat nicht das Geringste mit meinem eigentlichen Problem zu tun! Schließlich ist er weder beim Geheimdienst, noch tyrannisiert er mich in der Schule, noch bin ich in ihn verknallt. Nichts von alledem. Er ist einfach nur der Pflegebruder der Würgeschlange, den ich früher mal für ganz nett gehalten habe und heute nur noch zum Kotzen finde. Punkt.

Warum ich also trotzdem eine ganze Stunde meines Lebens opfern soll, um mir — dazu auch noch schriftlich — über Nael klar zu werden, ist mir ehrlich gesagt schleierhaft. Vor allem, weil es in meinen Augen zurzeit weitaus dringendere Themen gibt. Heute Morgen stand nämlich wieder genau derselbe schwarze Volvo vor meiner Schule, der mich schon am Montag vor zwei Wochen verfolgt hat. Diesmal saß zwar nicht der Typ mit dem Baseballcap hinterm Steuer, sondern eine Blondine, und das Nummernschild war auch ein anderes, aber … Ich bin mir absolut sicher: Es war DEFINITIV dasselbe Fahrzeug! Das hab ich an den zwei Kratzern erkannt, die ich mir letztes Mal gemerkt hab und die sich genau an derselben Stelle befanden! Und auch wenn die Frau die ganze Zeit so getan hat, als würde sie telefonieren — wissen Sie, was ich glaube? Ich glaube, sie hat das nur gefaked, um mich so unauffälliger filmen zu können.

Und jetzt meine Frage: Sind Sie in Anbetracht der Umstände noch immer der Meinung, dass ich diesen Aufsatz über Nael schreiben soll? Oder sollten wir die Zeit nicht lieber nutzen, um herauszufinden, ob das Fahrzeug vielleicht gestohlen wurde oder sonst irgendetwas damit ist? Wobei mir gerade einfällt: Kennen Sie eventuell einen Polizeibeamten, der uns in dieser Sache helfen könnte, ohne allzu viel Staub aufzuwirbeln? Ich könnte sonst auch Aylin aus meiner Klasse fragen, die kennt sich mit Computern ziemlich gut aus und kann vielleicht auf die Art etwas herausbekommen. Aber ein Polizist wäre wahrscheinlich noch hilfreicher.

Hoffentlich lesen Sie diese Mail relativ bald.

Je länger ich über die ganze Sache mit dem Auto nachdenke, umso mehr Sorgen mache ich mir nämlich. Auf den ersten Blick sah der Mann mit dem Cap wie ein Araber aus und die Frau könnte durchaus eine blonde Perücke getragen haben, was auf den saudi-arabischen, türkischen oder ägyptischen Geheimdienst hinweisen könnte. (Ich hab’s recherchiert, die drei sind zurzeit in Deutschland wohl am aktivsten.)

Allerdings sah die Frau am Steuer tendenziell eher westlich aus (genau konnte ich das nicht erkennen, weil sie die meiste Zeit das Handy vorm Gesicht hatte), was eventuell auch für einen europäischen Geheimdienst sprechen könnte, wie zum Beispiel den MI6 oder den DGSE der Franzosen. Na ja, und der Bundesnachrichtendienst könnte natürlich auch dahinterstecken, genauso wie die Amerikaner! Gott, so viele Möglichkeiten. Das ist echt gruselig!

Ach ja, und wenn Sie jetzt wieder damit ankommen, dass ich darüber doch bitte unbedingt noch mal mit meinen Eltern reden sollte — das habe ich gemacht! Habe eben zum x-ten Mal versucht, meiner Mutter davon zu erzählen (Papa ist schon wieder in Libyen), aber sie hat mir kein Wort geglaubt! Und das mit dieser PEP-Klopftechnik bei Angst- und Panikattacken, die Sie mir letzte Woche in der Praxis gezeigt haben, hat auch nichts gebracht! Nicht nur, dass ich mir dabei ultradämlich vorgekommen bin — ich mein, welche Fünfzehnjährige sitzt schon nachmittags eine halbe Stunde in ihrem Zimmer und beklopft sich ihr Gesicht?? –, nein, außerdem hab ich mir beim Beklopfen meiner Schläfe auch noch aus Versehen mit dem Finger ins Auge gepikt und jetzt kann ich links nur noch verschwommen sehen.

Gibt es nicht irgendeine einfachere Art, etwas gegen diese Kack-Panikanfälle zu tun? Eine, die vielleicht auch nicht ganz so grenzbescheuert aussieh…

Oh, fuck. Hab gerade auf die Uhr geguckt, ich muss los zum Luta Livre, bis nächsten Dienstag.

Ihre neuerdings matschäugige Mia (Fromberg)

An: Mia Fromberg

Von: Kinder- und Jugendpsychotherapeutin

Dr. Elisa Wolgast

Gesendet: 1. Juli, 13.16 Uhr

Betreff: Dein Vater und der schwarze Volvo

Liebe Mia,

bin gerade auf dem Sprung, deshalb nur ganz kurz: Das mit Deinem Auge tut mir wirklich leid! Den meisten meiner jugendlichen Patient*innen hilft diese Klopftechnik recht gut, aber wir können nächste Stunde auch gern noch etwas anderes ausprobieren.

Bezüglich der Nael-Hausaufgabe und Deiner Nachfrage, ob sie überhaupt sinnvoll ist, melde ich mich in den nächsten Tagen noch einmal. Jetzt wollte ich Dir nur schnell eine kurze Rückmeldung zu dem Gespräch mit Deiner Mutter geben und um ein bisschen Verständnis für sie werben: Liebe Mia, ich kann gut verstehen, dass Du wütend und enttäuscht darüber bist, dass sie Dir nicht glaubt, aber sieh es doch mal so: Für Deine Mutter ist das Ganze auch nicht einfach. Schließlich ist das, was Du ihr da erzählt hast, ausgesprochen ungewöhnlich, und da sie im Gegensatz zu Dir davon ausgeht, dass Dein Vater ein ganz normaler Maschinenbau-Ingenieur ist, ist es doch in gewisser Hinsicht auch verständlich, dass ihr Deine Geschichte seltsam vorkommt. Findest Du nicht?

Und noch ein anderer Gedankengang: Selbst wenn Du recht hättest und Dein Vater wirklich Mitglied eines Geheimdienstes wäre — müsste er dann nicht ausgesprochen besorgt über das Auftauchen dieses mysteriösen schwarzen Volvos sein? Und könnte die Tatsache, dass er deswegen anscheinend keineswegs besorgt ist, nicht ein Hinweis darauf sein, dass er a) doch kein Spion ist beziehungsweise b) der schwarze Volvo ganz harmlos ist?

Dies nur als kleine Gedankenspielerei für Dich, um die Zeit bis zu unserem nächsten Treffen am 13. Juli zu überbrücken. (Für nächste Woche muss ich aus privaten Gründen leider absagen.

Ich hoffe, Du hast meine diesbezügliche Nachricht auf Eurem Anrufbeantworter bereits abgehört.)

Herzliche Grüße

Deine Elisa Wolgast

Mist! Habe eben eine E-Mail von Frau Wolgast bekommen, die mich total verunsichert hat. Darin hat sie mich nämlich gefragt, ob es nicht seltsam sei, dass Papa wegen des schwarzen Volvos die ganze Zeit so cool bleibt, und irgendwie hat sie damit natürlich recht. Ich mein, merkwürdig ist das schon. Habe deswegen eben bestimmt eine halbe Stunde hin und her überlegt und kurzzeitig sogar an meiner Spionage-Theorie gezweifelt, aber dann hab ich gedacht: nein! Wenn ich Frau Wolgast jetzt zurückschreibe, dass ich mir das auch nicht erklären kann, dann wittert sie garantiert Morgenluft und zählt mir zum hundertsten Mal die Argumente auf, die gegen meine Geheimdienst-Vermutung sprechen, und dann werde ich nur wieder unsicher und fange an, alles und jedes infrage zu stellen.

Schließlich weiß ich, dass sich alles, was ich denke, wie eine gigantische Räuberpistole anhört. Ich bin ja nicht blöd! Natürlich klingt es total unwahrscheinlich, dass mein Vater Geheimagent ist, und natürlich spricht der Umstand, dass ich mit sechs Jahren schon mal für ein paar Wochen bei einer Kinderpsychologin war, weil ich eine unsichtbare Freundin namens »Line« hatte, mit der ich stundenlange Gespräche über meine Barbie-Puppen geführt habe, nicht unbedingt für die Zuverlässigkeit meiner Angaben.

Aber nur weil ich schon immer viel Fantasie hatte, muss das doch nicht heißen, dass ich mit meiner These jetzt unrecht habe, oder? Ich mein, nehmen wir mal an, ich hätte recht – eigentlich kann mein Vater doch nur so tun, als wenn ihn der schwarze Volvo kein bisschen beunruhigen würde, oder? Denn wenn er zugeben würde, dass er sich wegen des schwarzen Volvos Sorgen macht, dann würde er ja gleichzeitig automatisch anerkennen, dass da tatsächlich jemand ist, der mich verfolgt – und das will er ja partout vermeiden. Keine Ahnung, ob er Angst hat, dass der Geheimdienst ihn dann wegen Verrats rausschmeißen würde, oder ob er befürchtet, dass er mich damit in Gefahr bringt …

Auf alle Fälle scheint er eine Riesenpanik davor zu haben, dass ich herausfinden könnte, was wirklich los ist. Sonst hätte er mir letztens ja wohl kaum so dreist ins Gesicht gelogen! Was ich ihm übrigens noch immer übel nehme! Das mit dem Lügen, meine ich. Schließlich erinnere ich noch sehr genau, wie er mir damals mit zwölf, als ich wegen dieser bescheuerten Mutprobe beim Klauen erwischt worden bin (dämliche dunkelblaue Herrensocken in Größe 46!), eine ewig lange Standpauke zum Thema Ehrlichkeit gehalten hat. Aber davon war vor ein paar Wochen, als ich ihn am Frühstückstisch gefragt hab, mit wem er da eigentlich letzte Nacht im Keller telefoniert hätte, definitiv nichts mehr zu merken.

Zuerst hat er so getan, als wenn er meine Frage nicht gehört hätte, aber seine Augenlider haben kurz geflackert, woran man voll gemerkt hat, dass er sie durchaus verstanden hatte. Na, und dann hat er den Spieß einfach umgedreht und einen auf »Angriff ist die beste Verteidigung« gemacht, wie er das manchmal tut, wenn er keinen Bock auf Erklärungen hat. »Ich glaub, ich versteh deine Frage nicht, Mia. Und davon mal ganz abgesehen – was hast du eigentlich nachts im Keller zu suchen? Solltest du da nicht schlafen?«

»Ja, klar, aber …«

»Na, wenn’s so klar ist, dann wundere ich mich, dass du trotzdem nachts durchs Haus geisterst. Und das, wo ihr, wenn ich mich recht erinnere, heute in der zweiten Stunde eine Chemiearbeit schreibt.« Papa hat mich mit diesem ganz speziellen Papa-Blick angeguckt, der zu siebzig Prozent streng, zu zwanzig Prozent liebevoll und zu zehn Prozent ironisch ist, und fast wäre ich ihm dabei auf den Leim gegangen, aber nur fast.

»Chemie ist erst morgen dran und …«

»Nicht ablenken, Mia. Chemie ist viel wichtiger, als du denkst. Schließlich ist die ganze Arzneimittelbranche ohne Chemie nicht vorstellbar, genauso wenig wie große Teile der Industrie und die gesamte Kommunikationstechnik. Denk nur mal an dein Handy, das ohne LC-Display gar nicht funktionieren würde, und …«

»Ich weiß, aber das erklärt noch immer nicht, warum du nachts um halb zwölf mit jemandem bei uns im Keller auf Hebräisch telefonierst!«

Yes! Für eine Sekunde war ich richtig stolz, dass ich mich von Papas altbekanntem Chemievortrag nicht hab einlullen lassen, sondern glashart bei meiner Frage geblieben bin. Aber ehe ich mich darüber freuen konnte, hat mein Vater bereits irritiert die Stirn gerunzelt. Na, und mit der Antwort, die dann von ihm kam, hab ich echt nicht gerechnet.

»Auf Hebräisch? Nein, das musst du falsch verstanden haben, Mia. Kann sein, dass ich mir gerade im Keller eine Flasche Wein geholt hab, als das Telefon geklingelt hat, aber das war nur Tareq aus dem Jemen, der Probleme mit der Steueranlage hatte …«

Wirklich, das hat er gesagt! »Kann sein, dass ich mir gerade im Keller eine Flasche Wein geholt hab, als das Telefon geklingelt hat.« Mhm. Total klar.

»Und dazu nimmst du dein Handy mit in den Keller? Zum Weinholen?« Ich hab Papa einen skeptischen Blick zugeworfen, aber anstatt die Chance zu nutzen, seiner Tochter endlich zu gestehen, dass er regelmäßig mit dem israelischen und/oder amerikanischen Geheimdienst in Kontakt steht, hat er Mama nur seufzend angeguckt und anschließend völlig ungerührt gemeint, tja, das müsse dann wohl so gewesen sein. »Aber wie auch immer, Hase, das, was du gehört hast, war auf jeden Fall kein Hebräisch, sondern Arabisch …«

»Aber …«

»Und damit Ende der Diskussion. Schließlich hab ich Mama versprochen, gleich noch den Rasen zu mähen. Das macht er nämlich leider nicht von allein. Also auf ins Gefecht!«

Tja, und damit ist er dann aufgestanden und hat mich sprachlos am Tisch sitzen lassen. Unglaublich, oder?

Ich lass mir ja viel erzählen, aber dämlich bin ich dann doch nicht! Es war eindeutig Hebräisch – und wenn er es noch so oft abstreitet! Immerhin hat Papa mir früher, als wir noch Chanukka gefeiert haben4, selbst ein paar Brocken beigebracht. Und als wir damals zu Besuch bei seinem Bruder in Tel Aviv waren, haben auch alle hebräisch geredet. Ich weiß also, wie sich die Sprache anhört! Und davon mal abgesehen: Seit wann verabschiedet man sich auf Arabisch bitte schön mit einem »Shabbat shalom«? Und dann noch von einem muslimischen Kollegen??

Gott, ich werde schon wieder stocksauer, wenn ich nur daran denke! Für wie doof hält mein Vater mich eigentlich?! Ein Telefonat mit Tareq! Aber sicher! Ich mein, ich nähe extra für ihn eine tierisch komplizierte Laptop-Hülle zum Geburtstag, sogar aus Leder, obwohl das richtig teuer war, und er lügt mich an und tut anschließend noch so, als wenn einen an der Klatsche hätte! Das ist so respektlos und verletzend und …

Ach, verdammt. Im Moment fühle ich mich echt beschissen, aber was soll’s. Ich kann Mama und Papa ja schlecht dazu zwingen, mir zu vertrauen. Letztlich bleibt mir wahrscheinlich nur die Möglichkeit, so lange Beweise zu sammeln, bis Mama mir doch irgendwann glaubt und Papa sich dadurch gezwungen fühlt, sein Lügengebäude aufzugeben und endlich mit der Wahrheit herauszurücken. Und zwar hoffentlich bald! Langsam sind mir das hier wirklich ein paar Baustellen zu viel.

In der Schule war’s heute nämlich auch wieder grässlich. Heute Mittag hatte ich in der Mensa kurzzeitig das Gefühl, als wenn Nael zu mir herübergucken würde, aber als ich hingesehen hab, ist er abrupt aufgestanden und weggegangen. Und in Deutsch hat Vanessa überall rumgefragt, ob jemand eine Tintenpatrone für sie hätte, aber als ich ihr eine rüberreichen wollte, hat sie ganz laut gesagt, von mir würde sie keine nehmen, nachher würde ich sonst wieder die Feuerwehr rufen. Ha, ha, ha! Fand den Spruch nicht im Geringsten lustig, aber Anakonda und Levke haben trotzdem hysterisch losgegackert und ich bin mir superdämlich vorgekommen. Aber gut, was soll’s. Habe immer noch die stille Hoffnung, dass es ihnen irgendwann zu langweilig wird, schlechte Witze über mich zu machen, und dann wird vielleicht endlich wieder alles wie vorher. Das wär echt, echt schön!!!!!!!!

An: Mia Fromberg

Von: Kinder- und Jugendpsychotherapeutin

Dr. Elisa Wolgast

Gesendet: 5. Juli, 14.05 Uhr

Betreff: Deine Anfrage

Liebe Mia,

entschuldige bitte, dass ich mich jetzt erst wieder bei Dir melde, aber auch bei mir läuft manchmal nicht alles rund. Vorhin hat mich nämlich mein 82-jähriger Vater angerufen, der sich gerade aus seiner Fuhlsbüttler Wohnung ausgeschlossen hat. Und zwar, nachdem er den Wasserhahn der Badewanne voll aufgedreht hatte. Du kannst Dir meine Sorge vielleicht vorstellen. Aber zum Glück ist alles gut ausgegangen und nach zwei Stunden Aufwischen war sein Badezimmer auch wieder betretbar. Dies nur als Erklärung, warum Dich meine Antwort jetzt erst erreicht. Jetzt aber zu Deiner Frage.

Ehrlich gesagt fände ich es schon gut, wenn Du die Hausarbeit trotzdem wie besprochen beantworten könntest. Nur weil ich Dein Verhältnis zu Nael gern noch etwas genauer beleuchten würde, bedeutet das ja nicht, dass ich an Deinem Erlebnis mit dem schwarzen Volvo zweifele. Das tue ich nämlich nicht. Wenn du sagst, der schwarze Volvo, aus dem Dich damals dieser dunkelhaarige Mann beobachtet hat, stand vor ein paar Tagen wieder vor Deiner Schule, dann stand der Volvo auch vor ein paar Tagen da. Punkt. Schließlich bin ich mir absolut sicher, dass Du keine Wahnvorstellungen hast.

Allerdings halte ich es für durchaus denkbar, dass Du die Dinge ab und zu etwas anders als ich interpretierst. Das heißt: Wo Du den Spion eines fremden Geheimdienstes hinterm Steuer vermutest, vermute ich vielleicht nur den Elternteil eines Mitschülers. Beweisen kann ich das aber genauso wenig wie Du, weil ich leider keinen Polizeibeamten kenne, den man mit einer entsprechenden Nummernschild-Recherche beauftragen könnte. Aber ich werde mich mal schlaumachen, wie man sonst noch herausfinden könnte, wem das Auto gehört — allein schon, um Dich zu beruhigen. Versprochen.