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Julie ist fast 14 und seit Kurzem wohnt der Däne Jesper bei ihr zu Hause. Jesper sieht aus wie ein Gott und flirtet wie ein Profi. Davon ist Julies Freund Ben alles andere als begeistert, vor allem weil er bald zu einem Schüleraustausch nach Amerika fliegt. Als Julie in Bens Reisegepäck dann eine unfassbare Entdeckung macht, beginnt sie an ihrer Beziehung zu zweifeln … und das Chaos ist wieder einmal perfekt.
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Seitenzahl: 338
FRANCA DÜWEL
Julie
und das Herzschlamassel
Schlimmer geht’s immer
Mit Illustrationen von Katja Spitzer
Franca Düwel, geboren 1967, studierte Literaturwissenschaften und Pädagogik. Nach diversen Stationen in der Filmbranche ist sie als Drehbuchautorin hocherfolgreich. Sie entwickelte unter anderem die Kinderserie »Die Pfefferkörner« und schrieb zahlreiche Folgen von »Berlin, Berlin«. Franca Düwel lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Töchtern in der Nähe von Hamburg.
Von Franca Düwel sind im ArenaVerlag bereits erschienen: Julie und Schneewittchen und Julie und die schwarzen Schafe. Die gleichnamigen Hörbücher sind bei Arena audio veröffentlicht.
Mehr zu Julie unter www.julies-tagebuch.de.
1. Auflage 2012 © Arena Verlag GmbH, Würzburg © Text: Franca Düwel Coverillustration und Innenvignetten: Katja Spitzer Vermittelt durch die Agentur Susanne Koppe, Hamburg Innengestaltung: Georg Behringer · Umwerk München ISBN 978-3-401-80245-9
www.arena-verlag.de Mitreden unter forum.arena-verlag.de
Inhaltsverzeichnis
Dienstag, der 28. August
Mittwoch, der 29. August
Donnerstag, der 30. August
Freitag, der 31. August
Samstag, der 1. September
Sonntag, der 2. September
Montag, der 3. September
Dienstag, der 4. September
Mittwoch, der 5. September
Donnerstag, der 6. September
Freitag, der 7. September
Samstag, der 8. September
Sonntag, der 9. September
Montag, der 10. September
Dienstag, der 11. September
Mittwoch, der 12. September
Donnerstag, der 13. September
Freitag, der 14. September
Samstag, der 15. September
Montag, der 8. Oktober
Für meine Eltern
Dienstag, der 28. August
Höhepunkte
1) Ich sag nur – Sommer,Sonne,Freibad! Könnten eigentlich als drei Höhepunkte durchgehen, wenn man es genau nimmt!
2) Habe eben auf unserer Waage zweieinhalb Kilo weniger als gestern gewogen. Und das, obwohl ich nach dem Abendbrot noch Papas Schokoladen-Notration, vierundzwanzig Gummibärchen und den Rest Popcorn von Sophies und meinem Kinobesuch weggemampft habe. Habe andere, die Unmengen in sich reinstopfen können, ohne dick zu werden, bisher immer für genmanipulierte Außerirdische gehalten, aber jetzt bin ich anscheinend selber eine. Unglaublich!
Tiefpunkte
1) Nur noch vier Tage, bis Bens Flieger geht. Weiß gar nicht, was schlimmer ist. Dass Ben bald in Amerika ist oder dass …
2) … Papa heute die 21. Jobabsage bekommen hat und damit endgültig am Rad dreht1 oder dass …
3) … gestern Jesper, der schöne Vampirklon, bei uns eingezogen ist.
Oh, Mann. Kann es noch immer nicht fassen. Er hat es wirklich wahr gemacht! Jesper, Papas und meine dänische Urlaubsbekanntschaft, die ich wegen dieser schrecklichen Binden-Geschichte im Frühjahr am liebsten nie wiedergesehen hätte, wohnt jetzt für zwei Monate bei uns im Keller. Und das nur, weil er in Hamburg ein bescheuertes Praktikum als Kameraassistent macht und mein Vater in einem akuten Anfall kumulierenden2 Schwachsinns beschlossen hat, dass das eine Win-win-Situation für beide Parteien wäre, weil Jesper sich bei uns bestimmt wohlfühlen würde und wir die Miete im Moment dringend gebrauchen könnten. Ohne Worte.
Franzi und Jette platzen vor Neid, aber die müssen sich das Badezimmer ja auch nicht mit einem sechzehnjährigen Schönling teilen, der dazu noch ein Anhänger der Freikörperkultur zu sein scheint. (Heute kam er mit nichts als einem klitzekleinen Handtuch bekleidet aus dem Bad, und als ich hochrot weggeguckt habe, fand er das auch noch lustig. Was für ein Idiot!)
Als Jesper das Zimmer letzte Woche besichtigt hat, habe ich natürlich alles versucht, um das Schlimmste abzuwenden, aber keine Chance! Nicht mal meine Warnung, dass der Teppich im Keller total verhaart ist und schon seit Monaten nach Katze riecht, hat ihn abgeschreckt. Dabei hat Papa mir vorher noch erzählt, dass Jesper eine ziemlich heftige Katzenhaarallergie hat! ABER ER HAT DAS ZIMMER TROTZDEM GENOMMEN! Wie verzweifelt muss der Typ sein?!
Papa meint, Jesper hätte das Zimmer gemietet, weil er sich über Ostern unsterblich in mich verliebt hätte, aber das sagt er natürlich nur, um mich zu ärgern. Leider ärgert es mich tatsächlich! Ich meine, da bekomme ich meine Regel zum allerersten Mal auf einer einsamen dänischen Insel, auf der niemand wohnt außer einem hundertjährigen zahnlosen Dänen und einem romantisch aussehenden Sechzehnjährigen mit Vampirflair, mache mich nachfolgend zum absoluten Deppen, lande letztendlich mit einer riesigen Packung Damenbinden aus dem Jahr 1992 im Regen, und wer taucht kaum vier Monate später mit einem Koffer in der Hand vor unserer Haustür auf? Der einzige Zeuge meines Bindendesasters. (Von Papa und Jespers Opa mal abgesehen.) Demütigender geht’s nicht!
Zu allem Überfluss kann ich Ben noch nicht einmal erklären, warum ich Jespers Anwesenheit so unerträglich finde, weil ich ihm sonst ja die ganze Geschichte mit meiner ersten Regelblutung in Dänemark berichten müsste, und das ist nun wirklich ausgeschlossen. Einen Rest Schamgefühl habe ich schließlich auch noch, selbst wenn wir uns seit Ewigkeiten kennen (nämlich quasi seit meiner Geburt) und schon über sechzehn Monate zusammen sind.
Mumi mit ihrer Hippie-Vergangenheit meint natürlich noch immer, dass ich mir mit einer so langen Beziehung nur meine Jugend ruinieren würde (wer so eine Oma hat, braucht keine Feinde mehr), aber das ist mir ganz egal. Auch wenn meine Freundin Franzi (die in den letzten Wochen sowieso schräg drauf ist) inzwischen in die gleiche Kerbe wie Mumi haut3 und behauptet, das sei ja irgendwie abartig in unserem Alter, so lange mit einem Jungen zusammen zu sein. Aber Mumi und Franzi haben eben keine Ahnung von Ben und mir.
Gut, vielleicht wird mir nicht unbedingt mehr heiß und kalt, wenn er meine Hand nimmt, und das mit den Schmetterlingen im Bauch ist auch nicht mehr ganz so wie am Anfang. Aber ich könnte mir nie, nie, nie vorstellen, dass Ben und ich getrennt sind. Ben und ich – wir gehören einfach zusammen. Egal, was die anderen sagen.
Und deswegen habe ich auch ziemliche Angst vor den nächsten Wochen. Weil Ben doch in vier Tagen nach Amerika fliegt! Zu diesem blöden Schüleraustausch. Es sind zwar nur zwei Wochen, aber das sind immerhin 14 Tage oder – noch schlimmer – 336 Stunden. (Okay, ja, ich gebe zu, die Minuten hab ich auch noch ausgerechnet, aber egal.) Und ich werde hier allein hocken und vermutlich wird Papa Jobabsage Nummer 22 und Nummer 23 einkassieren, während der schöne Jesper weiterhin halbnackt vor mir herumtänzeln wird, als wäre er Rocky aus der Rocky Horror Picture Show und ich die Vorsitzende seines Fanclubs.
Arrrrrrrrrrrrrrrrrrrgh!
Denke, ich brauche mal kurz eine Pause. Hole mir schnell einen Keks.
Okay, weiter im Text. Wo war ich stehen geblieben? Bei Ben und Amerika und dass ich noch nie so lange von ihm getrennt war und …
Stopp! Halt!! Nein!!! So geht das nicht. Wenn ich noch weiter darüber schreibe, halte ich es vor Sehnsucht jetzt schon nicht mehr aus. Und außerdem habe ich gerade eben auf die Uhr geguckt und festgestellt, dass ich gleich dran bin, Otti zu baden, weil Mama meint, ich müsse das langsam auch mal lernen, um sie zu entlasten, wenn sie demnächst ihre Stundenzahl im Buchladen aufstockt. Frag mich mal nach Lust! Stelle mir das Baden meiner einjährigen Schwester ähnlich verlockend vor wie das Wickeln, und das ist wirklich Hardcore. Schließlich riechen Ottis volle Windeln längst nicht mehr so harmlos wie früher, sondern stinken wie ein riesiger Hundehaufen, garniert mit einer gewaltigen Portion Kuhfladen.
Neulich hat Papa mir drei Euro angeboten, wenn ich Otti wickele, obwohl er eigentlich dran war, aber ich habe abgelehnt. Oben aus der Windel quoll nämlich schon alles raus und so notwendig brauchte ich die drei Euro dann doch nicht.
Aber gut, abgesehen von dem Geruch ihrer Windeln ist Otti wirklich süß! Die meiste Zeit wankt sie auf ihren kurzen, krummen Beinen wie Mini-Godzilla durch die Gegend4 und guckt dabei so ernsthaft, als würde sie gerade die Relativitätstheorie entwickeln, und spätestens dann ist jeder hin und weg – selbst Mumis Freund, der töpfernde Thorwald, der sonst immer schlecht drauf ist, weil er überall »Störer« und »Kriminelle« vermutet. (Im Hauptberuf ist er Sachbereichsleiter für Jugendschutz bei der Kripo, da wird man wahrscheinlich so.)
Schari, meine beste Freundin, die ein paar Wochen lang mit Jannick, Thorwalds Sohn, zusammen war, meint zwar, in der Tiefe seines Herzens wäre Thorwald gar nicht so schlimm, aber ich bin mir da nicht so sicher. Jemand, der meiner Oma als Einschlafritual freiwillig die Füße massiert, muss schon ziemlich einen an der Klatsche ha…
Mist, unten ruft Mama. Muss zum Babybaden, aber wenigstens geht’s anschließend dafür mit Schari ins Freibad.
1 Nummer 19 (Marketingassistent bei einem Radiergummihersteller in Neu Wulmsdorf) und Nummer 20 (Online-Redakteur für eine Seniorenzeitschrift in Itzehoe) hat er noch halbwegs locker weggesteckt, aber heute ging es um eine coole Pressesprecherstelle in Hamburg, und das hat ihn ziemlich kalt erwischt.
3 Oder heißt es »in eine Kerbe schlagen«? Und wer denkt sich eigentlich solche bekloppten Sprichwörter aus?
4 Mama meint, das mit ihren O-Beinen verwächst sich noch. Na ja, die Hoffung stirbt zuletzt.
Mittwoch, der 29. August
Höhepunkte
1) Bin jetzt schon seit drei Tagen in der achten Klasse! Dachte früher immer, dass die aus der Achten die Obercoolen sind, bin mir jetzt aber nicht mehr so sicher. Fühle mich bisher nämlich noch nicht die Bohne cool, aber das kommt hoffentlich noch. (Wehe, wenn nicht!)
2) Gestern im Freibad haben mich diese bekloppten Jungs vom Pommesstand, die den Mädchen immer versaute Sachen hinterherrufen, zum allerersten Mal in Ruhe gelassen. Strike! Auch wenn Schari mich gefragt hat, ob ich nicht gleich eine Burka anziehen will – finde, die Idee, beim Baden mein weites Schlabbershirt anzubehalten, hat sich gelohnt.
3) Wiege heute trotz der anderthalb Portionen Pommes gestern im Freibad noch ein Kilo weniger als gestern. YES!
Tiefpunkte
1) Ben ist eifersüchtig. Oder auch nicht. Auf jeden Fall verhält er sich merkwürdig.
2) Heute Morgen hat Jesper eine geschlagene Dreiviertelstunde das Bad blockiert. Hatte infolgedessen keine Zeit mehr, mir die Haare zu waschen, und sah den gesamten Vormittag wie ein Oger aus.
Das mit dem Bad heute Morgen war echt der Klopper. Was bitte schön macht dieser komische Däne so lange da drinnen? Sich den Rücken enthaaren? Drogen einwerfen?? Rhythmische Tanzübungen?? Habe, als ich endlich reinkonnte, heimlich einen Blick in seine Kulturtasche geworfen und ungefähr zehn verschiedene Cremeproben, Haargele und Männer-Parfümfläschchen entdeckt. Sogar eine Maske für trockene Haut war dabei. Anscheinend ist Jesper nicht nur ein verkappter FKK-Fetischist, sondern auch noch tierisch eitel. Und ein bisschen angeberhaft. Zumindest hat er, als Papa ihn nach seinen Hobbys gefragt hat, geantwortet, er liebe deutsche Lyrik5, die japanische Küche und französische Filme der Nowellwag6.
Hat man in Dänemark keine normalen Hobbys? Hoffe, das mit der Dreiviertelstunde war heute nur eine Ausnahme. Falls nicht, müsste ich mir den Wecker morgen nämlich eine halbe Stunde früher stellen, um auf alle Fälle vor ihm im Bad zu sein, und darauf habe ich null Bock.
War in der Schule so genervt von der morgendlichen Badblockade, dass ich Ben in der Pause gefragt habe, ob ich nicht vielleicht einen neuen Versuch starten sollte, Jesper bei uns rauszuekeln, woraufhin er mich nur gereizt gefragt hat, ob ich nicht allmählich mal ein anderes Thema auf Lager hätte.
»Fällt dir das nicht auf? Seit Tagen redest du nur von diesem Typen. Oder soll das vielleicht ein Wink mit dem Zaunpfahl sein?«
Ich habe Ben verwirrt angeguckt und er hat mit den Augen gerollt.
»Jetzt tu doch nicht so, Julie. Du weißt genau, was ich meine. Schließlich hast du selbst gesagt, dass dieser Jesper wie Robert Pattinson aussieht. Also meinetwegen kannst du ruhig zugeben, dass du ihn cool findest.«
»Bitte was??«
»Herrgott, mir ist schon klar, dass es dich nicht kaltlässt, wenn so ein Model-Verschnitt auf einmal bei euch einzieht. Ein bisschen kann ich das sogar verstehen. Wir sind ja schon ziemlich lange zusammen, und wo ich jetzt für diese zwei Wochen wegfliege, ich meine, wenn wir ’ne Pause machen wollen, musst du es nur sagen, also meinetwegen …«
Ich hab Ben angestarrt, als hätte er nicht mehr alle Tassen im Schrank. Und dann bin ich ihm ungläubig ins Wort gefallen.
»Aber er lässt mich absolut kalt! Total!! Eiskalt!!! Dieser Typ ist mir so was von schnuppe, ich kann’s dir gar nicht sagen!«
»Wirklich?«
Ben hat innegehalten und mich ganz sonderbar angeguckt und ich hab genickt.
»Wirklich!«
Während die Glocke zum Unterrichtsbeginn geläutet hat, hat Ben langsam ausgeatmet, aber etwas in seinem Gesicht war noch immer seltsam. Ben sah nämlich nicht wirklich erleichtert aus, na ja, schon, aber fast auch ein bisschen … enttäuscht. Zumindest kam es mir so vor.
Eine Sekunde war ich kurz davor, ihn darauf anzusprechen, aber da hat Ben schon seufzend den Kopf geschüttelt.
»’tschuldigung, Julie. Ich glaub, ich hab in letzter Zeit zu viel mit Fiete und der Band abgehangen. Die machen einen mit ihren Sprüchen ganz kirre.« Er hat noch einen Moment gezögert, sich dann aber zum Gehen gewandt. »Okay, ich muss los. Bis später.«
Ben hat sich umgedreht, ich hab ihm noch einen Augenblick hinterhergesehen und bin dann auch los, aber irgendetwas an der Sache geht mir nicht aus dem Kopf. Ich meine, wenn Ben wirklich glauben würde, dass ich Jesper megaheiß finde – wieso sollte er dann Verständnis dafür haben? Weil er glaubt, dass ich das will? Oder – ein Gedanke, der mir gerade erst kommt – weil er insgeheim selbst gern eine Pause machen würde???
18.54 Uhr.
War eben den ganzen Nachmittag mit Jette, Sophie und Schari shoppen, was mich zum Glück etwas von dem merkwürdigen Gespräch mit Ben abgelenkt hat, auch weil Jette die neuesten Neuigkeiten in Bezug auf Franzi wusste, und die sind echt der HAMMMER! Franzi war nämlich gar nicht mitgekommen, obwohl sie das vorgehabt hatte, und Jette meinte erst, ihr sei spontan etwas dazwischengekommen, aber sie hat dabei so komisch geguckt, dass wir alle gleich geahnt haben, dass da noch mehr dahintersteckt. Und genauso war’s auch.
Anstandshalber hat Jette noch kurz gezögert und gemeint, dass sie nicht wüsste, ob sie es uns verraten dürfte, aber nachdem wir ihr hoch und heilig versprochen haben, dass wir keinem Menschen ein Sterbenswörtchen erzählen, hat sie uns dann doch eröffnet, dass Franzi heute ein ganz spontanes Date hätte, und zwar mit – jetzt kommt’s – Noah Heisenberg, dem Hardcore-Macho aus der Elften. Wahnsinn!!!!!!
Wenn ich sagen würde, dass Schari, Sophie und ich baff waren, wäre das die Untertreibung des Jahrhunderts. Ich meine, dieser Noah ist quasi so etwas wie ein Mythos bei uns an der Schule. Nicht nur, dass er schon zwei Schulverweise hat, nein, über ihn kursieren auch tierisch viele Gerüchte, von wegen, dass er Drogen nimmt und aus einem total reichen Elternhaus kommt und oft tagelang nicht zur Schule geht. Eine aus der Zehnten meinte neulich sogar, dass er zwei Ratten in seinem Zimmer halten würde! Und na ja, außerdem sieht der Typ auch noch megaheiß aus. Zumindest wenn man auf so magere Jungs mit breiten Lippen steht. Allerdings auch ein bisschen irre. So um die Augen rum. Die haben ein bisschen was von einem Raubtier.
Aber das muss natürlich nichts heißen. Was Menschenkenntnis anbelangt, bin ich ja erwiesenermaßen nicht der totale Knaller. Auf jeden Fall gilt dieser Noah an unserer Schule ganz offiziell als absolutes Nonplusultra, und dass er sich ausgerechnet mit Franzi trifft, ist sozusagen UNGLAUBLICH.
Natürlich haben wir Jette gleich nach weiteren Details ausgequetscht, aber leider wusste sie außer der Date-Geschichte auch nicht mehr als wir. Anschließend haben wir noch darüber diskutiert, ob wir uns von Noah küssen lassen würden. Jette und Schari meinten, jederzeit, Sophie wusste nicht so recht und ich hab mich enthalten, wegen Ben, aber ich glaube, ich würde auch nicht wollen. Danach haben wir noch darüber geredet, ob Franzi sich innerhalb der letzten paar Wochen total verändert hat (Sophies Meinung), ziemlich doll (Jette und ich) oder nur ein bisschen (Schari). Wobei wir uns lediglich darüber einig waren, dass die neue Franzi bedeutend cooler als die alte und die Sache mit Noah insofern vielleicht doch nicht ganz so schockierend ist, wie wir anfangs dachten. Und das liegt nicht nur an ihren neuen Dreadlocks, mit denen sie nach den Sommerferien in die Schule gekommen ist. Sondern daran, dass Franzi seit Neuestem echt ihr Ding macht. Und ihr dabei ganz egal zu sein scheint, was die anderen dazu sagen. Zum Beispiel war sie in der letzten Ferienwoche ganz allein bei einer Sitzblockade gegen Tierversuche, bei der sogar die Polizei angerückt ist, um das Werksgebäude der Kosmetikfirma vor den Demonstranten zu schützen, und das fand ich schon ziemlich muti…
Oh. Papa ruft. Ich soll zum Abendessen runterkommen. Denke, ich mach besser Schluss. In letzter Zeit sind seine Nerven nämlich recht dünn und er brüllt bei jeder kleinen Gelegenheit lo… Hab ich’s nicht gesagt? Jetzt brüllt er schon. Und Otti natürlich gleich mit. War ja klar.
Ob die beiden vielleicht ihre Klappe halten würden, wenn ich ihnen drei Euro anbiete? Wäre eventuell einen Versuch wert …
23.34 Uhr. 26 Minuten vor Mitternacht.
Lag eben über eine Stunde grübelnd im Bett und bin dann doch noch kurz zu Ben rüber, um ihn zu fragen, wie er das vorhin in der Schule gemeint hat. (Ich hab natürlich nicht vorne geklingelt, sondern hinten ein paar Steine an seine Balkontür geworfen, das funktioniert eigentlich immer.)
Zuerst war er noch ziemlich verschlafen und hat gar nicht begriffen, wovon ich rede, und eine Sekunde lang hatte ich Angst, dass er gleich noch mal wiederholt, dass er ja verstehen würde, wenn ich mich demnächst in Jesper verknalle, aber das hat er zum Glück nicht getan. Stattdessen hat er gemeint, ich solle unten auf ihn warten, er ziehe sich nur kurz was an. Und eine Minute später hat er sich in Jeans und T-Shirt an der Regenrinne heruntergelassen, und als ich gerade anfangen wollte, ihm die ganze Sache noch mal zu erklären, hat er mich nur wortlos zu sich herangezogen und geküsst.
Habe ich gestern geschrieben, dass mir nicht mehr heiß und kalt wird, wenn Ben meine Hand hält? Ich nehme alles zurück! Eben ist mir heiß und kalt geworden! Und wie! Dieser Kuss war echt der Hammer!!! Mein Gott, wie konnte ich nur vergessen, wie gut Ben küsst???!!!!
Nach zwei Sekunden hat sich mein Bauch so angefühlt wie Mumis brodelnder Kirsch-Quark-Auflauf, kurz bevor die Kruste aufbricht, aber dann hat die Regenrinne, gegen die wir uns gelehnt haben, nachgegeben und da hat Ben mich hochgehoben und ein paar Meter weiter in Richtung Gartenbank getragen. Auf der Lehne der Bank hat er mich dann abgesetzt und wir haben weitergeküsst und es war soooo romantisch!!! Über uns leuchteten die Sterne und alles andere war stockdunkel, nur hinter der Terrassentür war ein schmaler Lichtschein zu sehen, aber der hat auch nicht weiter gestört, weil es auf einmal so war, als hätte jemand eine Glasglocke über uns gestülpt, die uns komplett von der Außenwelt abgeschirmt hat. Total schön!!!
Irgendwann hat Ben dann innegehalten und wir haben uns superlange in die Augen geguckt und dabei ist er mir ganz sacht mit dem Zeigefinger über die Lippen gefahren und plötzlich hat sich mein gesamter Körper angefühlt, als stände er unter Strom und würde gleich explodieren, aber kurz bevor ich endgültig kollabiert bin, hat Ben mich abrupt losgelassen und fluchend gemeint, wie schrecklich er es fände, ausgerechnet jetzt nach New York fliegen zu müssen und nicht später. Und das hat mich komplett aus dem Konzept gebracht. Jetzt und nicht später??
Ich habe einen Moment gebraucht, um mich zu sammeln, und dann habe ich mich seufzend aufgerichtet und ihn gefragt, was er denn mit »ausgerechnet jetzt« meinen würde, weil eine Trennung doch immer ätzend ist, egal, ob nun jetzt oder später, aber das war wohl irgendwie das Falsche.
Denn eine Sekunde später hat Ben schon tief Luft geholt und dann hat er mich so unmittelbar losgelassen, dass ich fast von der Bank gefallen wäre. »Verdammt, Julie, was glaubst du, wie ich mich fühle? Ich fliege auf die andere Seite des Ozeans und ausgerechnet jetzt zieht bei meiner Freundin plötzlich so ein Schönling ein! Den Typen muss man sich doch nur angucken, dann weiß man schon, wie der tickt!« Ben hat wütend aufgeschnaubt und Jespers dänischen Akzent imitiert. »Oh, das is ja alles so fremd hier für mich, Julie! Und du bist die ganze Zeit in die Sule. Kannst du mir nicht ein bisschen was von deine Stadt zeigen? Damit ich mich nicht mehr so einsam fühle?«
»Häh?«
Ich habe ihn ungläubig gemustert, aber Ben hat mir nur einen flammenden Blick zugeworfen und dabei schnaubend den Kopf geschüttelt.
»Ich weiß ganz genau, wovon ich rede. Solche Typen kenn ich nämlich! Und zwar reichlich!«
»Oh …«
Während ich noch überlegt habe, ob er damit jetzt Fiete meint, den Schlagzeuger der Black Sheep, der bei Mädchen manchmal anfängt zu stottern, oder den bekloppten Marc, der in meinen Augen über die Aufreißer-Qualitäten eines Luftbefeuchters verfügt, hat Ben sich fluchend weggedreht und eine Sekunde später war der Spuk vorbei. Ben hat auf einmal ganz erschöpft ausgesehen und dann hat er kopfschüttelnd gemurmelt, es täte ihm leid, zurzeit wisse er selber nicht, was mit ihm los sei.
»Normalerweise würde ich nie so einen Aufstand machen, aber im Moment muss ich ständig an dich und diesen dänischen Hotdog denken und dann läuft gleich ein ganzer Film bei mir ab. Dabei hättest du wahrscheinlich x-mal mehr Grund zur Eifersucht, weil ich in New York bei dieser Ashley wohne, aber …«
»Du wohnst bei einem Mädchen??«
Ich hab Ben verdattert angeguckt, weil ich bisher ganz selbstverständlich davon ausgegangen war, dass er bei einem Jungen wohnt, aber im selben Augenblick hat Ben mich schon wieder an sich gedrückt und noch mal gesagt, dass es ihm leidtäte und dass er mir hoch und heilig versprechen würde, Jesper vor seiner Abreise nicht mehr mit dem Schwert zu kastrieren.
»Na, da bin ich ja beruhigt.«
Ich bin ein Stück von Ben abgerückt und habe ihn zögernd angeguckt.
»Das hattest du jetzt aber nicht wirklich vor, oder?«
»Na ja …«
Ich habe Ben ungläubig angesehen, aber da hat er schon gegrinst und mir einen Nasenstüber verpasst.
»Du glaubst auch alles, was?«
»Ey!«
Ich hab Ben entnervt gegen das Schienbein getreten, aber er hat nur gegrinst, und zwar so sehr, dass man das Grübchen in seiner linken Wange sehen konnte, und auf einmal habe ich wieder ganz genau gewusst, warum ich mich vor sechzehn Monaten so sehr in ihn verliebt habe.
»Du lässt diese Ashley in Ruhe, hast du gehört? Wenn nicht, dann muss ich mir das mit Jesper nämlich noch mal überlegen …«
»Wehe!«
»Tja, wer weiß …«
Ich hab Ben mutwillig angefunkelt und er hat mich sanft zu sich herangezogen und mir dabei so direkt in die Augen geguckt, dass ich das Gefühl hatte, er sähe mir mitten ins Herz.
»Vielleicht muss ich das dann einfach aushalten. Oder …«
»Oder was?«
Ben hat mir zärtlich eine Haarsträhne hinters Ohr geschoben und dabei gelächelt.
»Oder ich sag die ganze Amerika-Reise einfach ab und entführe dich auf eine einsame Ritterburg, weit entfernt von irgendwelchen Dänen, die wie romantische Vampire aussehen!«
»Gar keine so schlechte Idee!«
Während Ben mit meiner Haarsträhne gespielt hat, habe ich mir vorgestellt, wie Ben und Jesper mit riesigen Schwertern um mich kämpfen, und dabei wohlig aufgeseufzt.
»Sie gehört mir, elender Däne!«
»Niemals! Du bist ins Land der heulenden Kojoten gegangen und nun ist sie mein!«
»Nur über meine Leiche, Nordmann!
»Dann nimm diesen Stich!«
»Ahhhh!!!«
»Haltet ein! Weiche von ihm, Jesper!«
Für einen Moment sah ich mich den Saum meines goldbestickten Gewandes zusammenraffend auf den am Boden liegenden Ben zueilen, um ihm mit zitternden Fingern den blutverschmierten Helm vom Kopf zu nehmen, doch leider war im selben Augenblick eine Stimme aus Richtung Terrassentür zu vernehmen, die mir ziemlich bekannt vorkam.
»Ben? Kannst du Julie bitte sagen, dass sie jetzt endlich rübergehen soll? In dem dünnen Nachthemd holt sie sich sonst noch eine Blasenentzündung.«
Während Ben ein Stöhnen unterdrückt hat, habe ich entgeistert auf die Silhouette von Bens Mutter gestarrt, die in der Terrassentür stand.
»Ben, hast du mich gehört?«
»Ja, Mama, hab ich.«
»Dann ist ja gut. Gute Nacht, Julie.«
Bens Mutter hat die Terrassentür wieder zugeschoben und ich hab ihr noch immer wie gelähmt hinterhergeguckt und dann ist mir das Blut mit einem Flash ins Gesicht geschossen.
AAAAHHHH!!!!!
Ben hat sich leise für seine Mutter entschuldigt, aber ich war erst mal bedient. In letzter Zeit entwickelt Bens Mutter nämlich echte Stalker-Qualitäten. Wenn Ben und ich in seinem Zimmer sind, klopft sie regelmäßig nach einer Viertelstunde an, um zu fragen, ob wir etwas trinken wollen, und spätestens nach einer Dreiviertelstunde fängt sie an zu staubsaugen. Oder die Fenster in seinem Zimmer zu putzen. Alles schon da gewesen! Ben meint, sie hätte panische Angst davor, dass er mit sechzehn Jahren Vater werden könnte, weil sie als Frauenärztin solche Geschichten ständig in ihrer Praxis hört, aber hallo – ich meine, wir sind’s– Julie und Ben!!!!!!!
Das scheint sie in ihrer ganzen Paranoia irgendwie vergessen zu haben. Ben meint zwar jedes Mal, wenn sie wieder ihre Show abzieht, ich solle mir nichts draus machen, manchmal hätte seine Mutter einfach einen Hau, aber irgendwie ärgert es mich doch. Aber egal.
Jetzt sitze ich auf jeden Fall hier in meinem Bett und bin trotz der Blasenentzündungs-Bemerkung von Bens Mutter (und meinem Abgang mit hochrotem Kopf) viel besser gelaunt als vorher. Immerhin wollte Ben Jesper mit einem Schwert kastrieren. Yeah! Und dann dieser Kuss!!! Dieser Kuss war einfach so … Also eigentlich waren es ja mehrere Küsse, und die waren alle so … so anders als die vorher. Ich meine, die vorher waren natürlich auch schön 7, aber das eben, das war viel intensiver. Irgendwie richtig … sexy.
Das hier würde ich nie jemandem erzählen, noch nicht mal Schari, und ich muss auch gleich daran denken, dass ich mein Tagebuch gut wieder abschließe und den Schlüssel nicht wie letzte Woche auf dem Schreibtisch liegen lasse, aber … Wenn die Sache mit dem Sex so ist, wie das eben bei Ben auf der Gartenbank, dann ist es vielleicht gar nicht so strange, wie ich gedacht habe.
Das heißt jetzt nicht, dass ich morgen gleich Sex haben will, die Vorstellung finde ich immer noch total komisch und merkwürdig und da kann Franzi meinetwegen lange so tun, als hätte jeder mit vierzehn schon x-mal Sex gehabt, so weit fühle ich mich einfach noch nicht. Aber zumindest erscheint mir das Ganze nicht mehr ganz so weit weg wie im Sexualkundeunterricht. Und das ist irgendwie ganz schön erstaunlich.
5 Habe noch nie einen Jungen getroffen, der Gedichte mag, aber einmal ist wohl immer das erste Mal.
6 Keine Ahnung, was das ist. Habe es bei Google eingegeben, aber da kam nichts bei raus.
7 Vor allem der allererste, der im Spielhäuschen. Und der in der Küche, als wir nach dieser bescheuerten Pause wieder zusammengekommen sind.
Donnerstag, der 30. August
Höhepunkte
1) Habe heute nach der Schule in einem kleinen Schmuckladen einen silbernen Ring gekauft, den ich Ben schenken will, wenn er übermorgen nach New York fliegt. Vorhin habe ich für einen Moment Angst bekommen, dass er Ringe vielleicht kitschig findet, aber Mama meinte, sie hätte Papa zum ersten Jahrestag ein selbst genähtes Rüschenkissen mit einem aufgedruckten Foto von ihr geschenkt, das er jahrelang auf seinem Bett liegen hatte, und so betrachtet bin ich mit einem silbernen Ring auf der sicheren Seite, finde ich.
2) Franzi hat heute, bevor die erste Stunde angefangen hat, erzählt, dass sie jetzt mit Noah zusammen ist. Und quasi als Beweis hatte sie einen riesigen Knutschfleck am Hals. Bin mir nicht sicher, ob das wirklich unter »Höhepunkte« gehört, weil ich Noah nach wie vor gruselig finde, aber sie wirkte heute früh so glücklich, dass ich mir das vielleicht verkneifen sollte.
3) Habe gestern ganz vergessen zu erzählen, dass Jette, Franzi, Sophie, Scharina und ich neuerdings einen geheimen Cliquennamen haben. (Franzi fand das zwar albern, aber wir haben abgestimmt und der Rest war dafür.) Wir nennen uns die »Girlteers« (wie Musketeers, also Musketiere) von wegen »Alle für eine, eine für alle«.
Tiefpunkte
1) Papas Laune ist unterirdisch. Scheinbar gibt es beim Eishockey irgendwelche Regeln, die er nicht kannte, und deshalb hat das mit seiner Bewerbung (Nr. 22) als Stadionsprecher der Hamburg Freezers auch nicht geklappt. Habe Mama gefragt, wie lange uns Papas Eltern noch mit Geld aushelfen können, aber sie hat nur gesagt, ich solle mir keine Gedanken machen. (Toller Rat, kommt gleich nach »Sei doch mal selbstbewusst!«.)
2) Kann ab jetzt drei lateinische Worte perfekt. Nomen est omen. Unsere neue Klassenlehrerin heißt nämlich Frau Horrowitz. Und die ist im wahrsten Sinne des Wortes der ABSOLUTE HORROR!!!
Heute hat Herr Hahn, unser Rektor, uns unsere neue Klassenlehrerin vorgestellt. Es ist Frau Horrowitz, die mit Abstand unbeliebteste Lehrerin an unserer Schule. Gegen diese Frau ist die Hexe aus Hänsel und Gretel die nette Omi von nebenan! Und das liegt nicht an ihrem Aussehen! (Obwohl das auch gewöhnungsbedürftig ist. Ein bisschen so wie ein weiblicher General mit einer merkwürdigen Betonfrisur, einem megahässlichen Rock und ganz schmalen Lippen, die gar nicht zu ihrem dicken Bauch passen.)
Während Herr Hahn dabei war, hat sie sich noch zusammengerissen und so getan, als könne sie kein Wässerchen trüben, aber kaum war er draußen, hat sie uns erst mal erklärt, dass bei ihr andere Regeln herrschen würden als bei Herrn Clausen und dass bei ihr Schluss mit lustig wäre, dafür aber die Disziplin großgeschrieben würde. Direkter kann man eine Kampfansage ja wohl nicht formulieren.
Zwei Sekunden später hat sie Hubertus drangenommen, unseren bayrischen Neuzugang, um unsere Lateinkenntnisse zu ermitteln. Dummerweise konnte Hubsi aber keine einzige lateinische Vokabel übersetzen. Nach Hubsi hat sie Cem aufgerufen, unseren Mathe-Crack, und dann Zehra, aber die ist auch nur bis zum zweiten Satz gekommen, obwohl sie sonst richtig gut in Latein ist, und deshalb hat sie dann erst mal einen Schreikrampf gekriegt (Frau Horrowitz, nicht Zehra. Obwohl die auch, aber erst später, in der Pause). Irgendwann nach zehn Minuten, als Frau Horrowitz gerade mittendrin war, die gesamte Klasse als faul und dumm zu beschimpfen, hat Franzi sich gemeldet und ihr erklärt, dass wir gar nicht wissen können, was da steht, weil wir in unserem Lateinbuch erst bei Lektion fünfzehn sind und die Vokabeln, die in dem Text vorkommen, noch überhaupt nicht hatten. Eigentlich hätte man annehmen können, dass der Horror sich daraufhin bei uns entschuldigt, aber nein. Danach ging es erst richtig los!
Zuerst hat sie sich darüber aufgeregt, wie unfähig unsere bisherige Lateinlehrerin gewesen sei, und gesagt, dass wir ab jetzt jeden Freitag einen Test schreiben und das Doppelte an Hausaufgaben aufkriegen würden, um den Rückstand wieder aufzuholen. Und dann hat sie Franzi eröffnet, dass sie das nächste Mal einen Eintrag ins Klassenbuch bekäme, wenn sie noch einmal etwas sagen würde, ohne sich vorher gemeldet zu haben.
Anschließend war Franzis gute Laune natürlich futsch und in der Klasse war es totenstill, weil sich niemand mehr getraut hat, noch irgendetwas zu sagen. Noch nicht mal der rothaarige Oliver, obwohl der sonst immer seinen Senf dazugibt. Sophie, die schnell Angst vor Lehrern hat, sah aus, als ob sie gleich losheulen würde, und Schari hat so mit ihrem Unterkiefer gemahlen, dass ich befürchtet habe, sie pfeffert Frau Horrowitz gleich entgegen (ohne sich zu melden), dass sie ja wohl einen Hackenschuss hat, aber dann hat es zum Glück zur Pause geläutet und alle sind nach draußen gestürmt, als sei der Teufel persönlich hinter ihnen her.
Franzi war noch immer wütend, Schari hat versucht, Sophie zu beruhigen, und Jette hat gemeint, wenn diese Frau Horrowitz so weitermachen würde, würde sie demnächst einen Beschwerdebrief an Herrn Hahn schreiben, aber das hat unsere Laune auch nicht sonderlich verbessert. Schließlich hat Herr Hahn noch NIE etwas gegen einen der Lehrer unternommen. Noch nicht mal gegen diesen Religionslehrer, der immer wollte, dass wir ein Kissen mit in die Schule bringen und so tun, als sei das unsere Mutter. Insofern kann man sich ja wohl locker ausmalen, was Jettes Beschwerde bringen würde. Nämlich gar nichts.
Verdammt, was für ein Mist! Und das, wo ich in Latein eh so schlecht bin, dass ich letztes Jahr fast eine Fünf im Zeugnis bekommen hätte! Scheiße! Scheiße, Scheiße, Scheiße …
Okay, was meint Mumi immer? Bevor man sich furchtbar aufregt, sollte man sich erst mal ruhig hinsetzen und eine nüchterne Bestandsaufnahme der Fakten machen. Also …
Fakt eins ist, dass unsere alte Lateinlehrerin Frau Pfarr mir letztes Halbjahr aus Nettigkeit eine Vier minus im Zeugnis gegeben hat, obwohl ich eine Fünf verdient gehabt hätte. Damit ist bei der Horrowitz natürlich nicht zu rechnen. Die gibt mir garantiert eine Fünf. Aber wäre das wirklich so schlimm? Ja!!! Verflixt, nein, Julie, das hier soll eine nüchterne Bestandsaufnahme der Fakten sein. Also noch mal.
Es wäre blöd, aber nicht wirklich schlimm. Schließlich wäre das meine einzige Fünf im Zeugnis und in Deutsch stehe ich immerhin auf einer Eins. Okay, eigentlich auf einer Eins minus und die Drei in Physik ist auch nur eine Drei minus und in Mathe habe ich eine Vier, aber damit bleibt man trotzdem noch nicht sitzen, das tut man nur mit einer Sechs und insofern …
HALT! Was, wenn mir diese Frau Horrowitz keine Fünf, sondern gleich eine Sechs gibt? Oh, Shit!!! Mit einer Sechs im Zeugnis bleibt man garantiert sitzen! Wobei … Ich glaube, eigentlich kann man bei uns an der Schule gar nicht sitzen bleiben. Zumindest ist Klaas letztes Jahr mit seinen drei Fünfen nicht sitzen geblieben, sondern gleich auf eine Stadtteilschule runtergegangen. Das heißt, wenn die Horrowitz wollte, könnte sie mich VON DER SCHULE SCHMEISSEN!!! Oh – mein – Gott!
17.12 Uhr.
Eben war Scharina hier und wir haben meine Chancen abgewägt, von der Schule geschmissen zu werden. Ich weiß nicht, wie sie das immer hinkriegt, aber Schari hat nur fünf Minuten gebraucht, um mich von meinem »Ich-werde-keinen-Schulabschluss-schaffen-und-dann-als-Klofrau-enden«-Trip herunterzubringen. Wenn man Schari mit ihrer pink gefärbten Haarsträhne und dem nagelneuen Glitzerstein im rechten Nasenflügel so sieht, würde man nicht darauf kommen, aber ich kenne niemanden, der bei anderen so gut Krisen entschärfen kann wie sie. Und vorhin hat sie mal wieder eine Glanzleistung hingelegt! Laut Schari darf mir Frau Horrowitz nämlich ausschließlich bei totaler Arbeitsverweigerung eine Sechs geben, also nur, wenn ich bei einer Arbeit ein leeres Blatt abgebe. Wenn ich aber zumindest versuche, den Text zu übersetzen, ist es nach Schari automatisch keine Arbeitsverweigerung und damit auch keine Sechs mehr. Puh! War lange schon nicht mehr so erleichtert!
Nachdem mein Adrenalinspiegel wieder normale Ausmaße angenommen hatte, haben Schari und ich unten in der Küche Marshmellow-Bananen-Muffins gebacken und anschließend sind wir mit den fertigen Muffins in mein Zimmer abgedüst. Und oben hat Schari mir dann mitgeteilt, dass sie in den nächsten Wochen nicht mehr so viel Zeit für mich und die anderen hätte, weil sie arbeiten müsse.
»Wie arbeiten??«
Ich hab Schari irritiert angeguckt und sie hat geseufzt.
»Okay, ich erzähl dir, warum, aber du sagst es nicht weiter, versprochen?«
Ich hab genickt und Schari hat noch mal Luft geholt und dann geantwortet, dass die Magenprobleme ihrer Mutter in letzter Zeit immer öfter gekommen wären, neuerdings sogar gepaart mit regelrechten Spuckkrämpfen, und dass sie die Putzjobs ihrer Mutter deshalb erst mal bis auf Weiteres übernommen hätte. Krawumm. Ich war ganz schön baff, als ich das gehört hab. »Aber … Wie willst du das denn neben der Schule schaffen? Ich meine, ihr kriegt doch Hartz IV. Reicht das nicht?«
Kaum war das heraus, habe ich mir erst mal auf die Zunge gebissen, weil das irgendwie so klang, als würden Schari und ihre Mutter nicht haushalten können, und das wollte ich natürlich überhaupt nicht sagen. Schließlich weiß ich, dass man bei Hartz IV nicht viel mehr als dreieinhalb Euro pro Tag für Lebensmittel zur Verfügung hat, und das ist wirklich scheißewenig. Keine Ahnung, wie überhaupt irgendjemand von so wenig Geld leben soll!
Aber zum Glück hat Schari wohl gleich gewusst, wie ich das meinte, zumindest war sie nicht sauer, sondern hat nur mit den Schultern gezuckt.
»Nee. Vielleicht würde es funktionieren, wenn wir nur zu zweit wären, aber mein Bruder hängt neuerdings wieder ständig bei uns rum und isst den Kühlschrank leer, und dass ich in den Ferien drei-, viermal im Freibad war, war natürlich auch nicht wirklich drin …«
Schari hat geseufzt und ich hab unwillkürlich ein schlechtes Gewissen bekommen, weil ich mich daran erinnert habe, was Jette, Sophie und ich gestern alles auf unserer Shoppingtour bei H & M eingekauft hatten. Ich ein neues T-Shirt, Jette zwei Hosen und Sophie eine Weste fürs Reiten. Nur Schari hatte mal wieder behauptet, sie bräuchte im Moment nichts, und ich hab nicht eine Sekunde darüber nachgedacht, warum.
Kurzzeitig habe ich nicht gewusst, was ich sagen soll, aber dann ist mir plötzlich etwas Grandioses eingefallen.
»Hey, ich könnte dir doch helfen! Beim Putzen, meine ich. Am Freitag ist schlecht, wegen Konfer8, aber am Montag und Dienstag wär’s gar kein Problem.«
Ich hab Schari angestrahlt, aber sie hat mich nur verständnislos gemustert.
»Spinnst du?«
»Aber…«
»Nichts aber. Das ist meine Mutter. Da hast du doch überhaupt nichts mit zu tun!«
Ich hab einen Moment gezögert und sie dann entschlossen angefunkelt. (Bei Schari muss man nämlich manchmal energisch sein. Gerade wenn man ihr etwas Gutes tun will. Das kenne ich schon.)
»Und wenn doch? Schließlich bist du meine Freundin!«
Was ja wohl die total logische Antwort war, aber Schari hat nur gereizt den Kopf geschüttelt.
»Vergiss es. Das gibt nur Ärger! Nachher kriegen deine Eltern was davon mit und sagen in der Schule Bescheid und dann haben wir den Salat.«
»Garantiert nicht! Papa hat die ganze Zeit nur seine Bewerbungen im Kopf und Mama macht sich entweder Sorgen um Ottis Pickel am Po oder darüber, dass Mumi den tollen Thorwald heiratet.«
»Was??«
Schari hat mich ungläubig angeguckt und erst da ist mir eingefallen, dass ich ihr ja noch gar nichts von der neuen Entwicklung in Sachen Mumi und Thorwald erzählt habe. Also habe ich den Rest meines Muffins heruntergeschluckt und den Stand der Dinge kurz zusammengefasst.
»Mama hat letzte Woche eine Hochzeitszeitschrift auf Mumis Couchtisch gefunden und Mumis Erklärung dafür soll sich ziemlich dünn angehört haben, aber eigentlich kann ich mir nicht vorstellen, dass ausgerechnet meine Oma …«
»Oh, Shit, dann wäre Jannick ja quasi dein Onkel!!«
Ich hab Schari verdutzt angesehen und im selben Moment ist mir zum ersten Mal bewusst geworden, dass sie damit ja recht hat. Wenn meine Oma diesen Thorwald, also Jannicks Vater, heiraten würde, dann wäre sein Sohn wirklich – mein angeheirateter Onkel!! AHHHHHH!!!!!!!!!!!!!!
»Nur über meine Leiche!!«
Während Schari mich noch immer ungläubig gemustert hat, habe ich mir vorgestellt, wie ich mit meinem nickelbebrillten Klassenkameraden auf der Hochzeit meiner Oma über die Tanzfläche schiebe, und dabei unwillkürlich eine Gänsehaut bekommen. Okay, dass Jannick wie ein Hobbit aussieht, dafür kann er ja nichts, aber jemand, der an jedem Wandertag sein Akkordeon rausholt, geht gar nicht!
Während ich noch völlig geschockt von der Vorstellung war, dass sich derselbe Jannick, der gestern in der großen Pause mit dem perversen Oliver gewettet hat, wer den größeren Popel aus seiner Nase holt, als mein zukünftiger Onkel entpuppen könnte, ist Schari zum Glück wieder auf unser ursprüngliches Thema zurückgekommen und hat gemeint, am Montag würde das mit meiner Putzbeteiligung sowieso nicht gehen, weil sie bei Heisenbergs immer schon um neun anfangen müsste.
»Bei Heisenbergs??«
Erst hab ich gedacht, ich hätte mich verhört, aber dann habe ich doch geschaltet.
»Jetzt sag nicht, du putzt bei Noahs Eltern?!«
Ich hab Schari verdattert angestarrt, aber die hat nur abwehrend die Hand gehoben und erwidert, bisher hätten Heisenbergs keine Ahnung, dass die Tochter ihrer Putzfrau und ihr Wunderknabe auf dieselbe Schule gehen, und das sei in ihren Augen auch ganz gut so.
»Ich hab schließlich keinen Bock drauf, dass dieser Noah was davon mitkriegt. Vor allem nicht jetzt, wo er mit Franzi zusammen ist. So wie der drauf ist, bin ich dann auf ewig die Tochter seiner Putze … «
Ich hab irritiert den Kopf geschüttelt.
»Aber wie soll er denn davon nichts mitkriegen? Er sieht dich doch, wenn du bei seinen Eltern putzt, das heißt … Was hast du gesagt? Du musst da schon um neun Uhr anfangen? Aber da bist du doch noch in der Schule. Oder … Willst du etwa SCHWÄNZEN??«
Okay, ich muss zugeben, manchmal bin ich etwas schwer von Begriff, aber den Blick, den Schari mir in dem Moment zugeworfen hat, hatte ich echt nicht verdient.
»Julie, kannst du mal aufhören, so zu tun, als ob du noch sechs wärst?«
Ich hab beleidigt geschwiegen und Scharina dann so würdevoll wie möglich eröffnet, dass ich keinesfalls so tun würde, als sei ich noch sechs.