Ukraine - Der lange Weg zur Demokratie - Djordje Andrijasevic - E-Book

Ukraine - Der lange Weg zur Demokratie E-Book

Djordje Andrijasevic

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Beschreibung

Im November 2013 begann sich die ukrainische Bevölkerung gegen die Politik ihres gewählten Präsidenten Janukowitsch zu erheben und eine Demokratie nach westlichem Vorbild zu fordern. Aber wie ist es dazu gekommen? Dieses Buch zeichnet die lange Suche der Ukraine nach dem eigenen politischen System nach: Es begann mit der Unabhängigkeitserklärung 1991, drei Jahre später erhielt das Land seine erste parlamentarische Verfassung. Doch erst durch die „Orangene Revolution“ wurde die Präsidentschaftswahl 2004 zur ersten echten freien Wahl. Viktor Juschtschenko und Julia Timoschenko versprachen den Bürgern vergeblich eine reale Demokratie. Die Präsidentschaft von Viktor Janukowitsch seit 2010 führte nun zum erneuten Aufbäumen gegen Korruption und die totalitären Strukturen im Land. Aus dem Inhalt: Entwicklung der Rechtsstaatlichkeit, Zivilgesellschaft und Demokratie, Präsidentschaftswahlen und Wahlergebnisse seit 1994, Ukrainische Verfassung von 1996 – Bedingungsfaktor für ein autoritäres Regime? Medien und Oligarchie

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Impressum:

Copyright © 2014 ScienceFactory

Ein Imprint der GRIN Verlags GmbH

Druck und Bindung: Books on Demand GmbH, Norderstedt, Germany

Ukraine

Inhalt

Die Entwicklung der Rechtsstaatlichkeit in der Ukraine von Djordje Andrijasevic (2009)

Einleitung

Vorgeschichte, Entstehung der Verfassung, Wende 1989/90, „Orange“ Revolution

Rechtsstaatlichkeit in der Ukraine heute

„Bestandsaufnahme“ des Rechtsstaates anhand von politischen Länderratings

Conclusio

Bibliographie

Die zivilgesellschaftliche Komponente der Demokratisierung Belarus und Ukraine im Vergleich von Veronika A. Bach (2010)

Einleitung und Fragestellung

Die Zivilgesellschaft in Belarus und Ukraine

Fazit

Literatur- und Quellenverzeichnis

Voter’s choice in Ukraine’s Presidential and Parliamentary Elections since 1994 by Nico Rausch (2007)

Introduction

Interest building – a “democratic class struggle”

The first general elections in independent Ukraine-Contradictory voter’s choice in 1994 presidential and parliamentary elections

The parliamentary elections 1998 – no convergence in the centre and Kuchma’s second success in 1999 presidential elections

Parliamentary elections 2002 – the emergence of the democratic centre

Victory for the democratic opposition in the presidential race 2004

The first truly free elections of Ukraine

Conclusion

References

Die Ukrainische Verfassung von 1996 Bedingungsfaktor für ein autoritäres Regime? von Georg Sonnenberger (2010)

Einleitung – Problemstellung – Literaturbericht

Kennzeichen eines autoritären Herrschaftssystems

Diskrepanzen zwischen Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit während der Regierung Kutschmas

Ergebnis

Literaturverzeichnis

Oligokratie: Schwierigkeiten bei der Konsolidierung der ukrainischen Demokratie am Beispiel der Medien von Johannes Stockerl (2010)

Massenmedien als Indikator demokratischer Konsolidierung

Literaturbericht

Die Ukraine nach der Orangen Revolution – Analyse des Status quo

Die Massenmedien in der Gesellschaft

Zum Zustand des ukrainischen Mediensystems

Die Ukraine nach der Orangen Revolution – Ausblick in eine ungewisse Zukunft

Literaturverzeichnis

Ukraine – jüngere politische Entwicklungen seit September 2007 von Nico Carl (2011)

Die Neuwahlen im September 2007

Die Präsidentschaftswahlen 2010

Wahl des neuen Ministerpräsidenten Asarow

Politische Entwicklungen nach der Wahl des neuen Ministerpräsidenten

Literatur

Einzelbände

Die Entwicklung der Rechtsstaatlichkeit in der Ukraine

Einleitung

Nach dem Zerfall der kommunistischen Systeme 1989/90 und dem Zusammenbruch der Sowjetunion proklamierten sich mehrere Staaten für unabhängig, mit ihnen auch die Ukraine. Fast gleichzeitig mit der Unabhängigkeitserklärung folgte aber auch das „Bekennen“ zum westlichen Wirtschafts- und Staatsmodell. Zwar trat in den meisten post-kommunistischen Staaten die neue Verfassung schnell in Kraft, der so genannte Transformationsprozess dauerte jedoch wesentlich länger bzw. ist noch nicht vollendet.

In den ehemaligen Satellitenstaaten der UdSSR wie z. B. der Tschechoslowakei (heutige Tschechische Republik und Slowakei) kann der Transformationsprozess zur Demokratie und freien Marktwirtschaft spätestens mit dem Beitritt zur Europäischen Union 2004 bzw. 2007 als beendet gesehen werden. Für die Ukraine trifft dies nur teilweise zu. Gemessen an wirtschaftlichen Größen wie dem BIP/Kopf oder dem Durchschnittseinkommen und an „politischen“ Indikatoren wie etwa dem BTI[1], sind drastische Unterschiede im Vergleich zu anderen europäischen Transformationsstaaten festzustellen. Für das Jahr 2008 weist die Ukraine beim Status Index des BTI nur 6.93[2] (von max. 10) Indexpunkten auf (BTI 2008a), während hingegen Tschechien 9.56 Punkte aufweist (BTI 2008b). Russland weist einen Status Index von nur 5.94 (BTI 2008c) auf. Dies zeigt sehr deutlich, dass die Ukraine als „Mittelding“, gemessen an politischen und wirtschaftlichen Indikatoren, zwischen den ehem. Satellitenstaaten, die heute wirtschaftlich prosperieren, und Russland gesehen werden kann. Es gibt viele Erklärungsmöglichkeiten, warum die Ukraine in vielerlei Hinsicht, verglichen an den Erfolgen der anderen europäischen (ehem.) Transformationsländer, sich nur geringfügig verbessert hat bzw. in vielen Fragen stagnierte. Ein Grund ist sicherlich der immer noch präsente Ost/West-Konflikt, der das Land in zwei Teile spaltet und nur schwer ermöglicht, dass die Ukraine einen einheitlichen Kurs zu Gunsten aller Bürger einschlägt. Dieser Ost/West-Konflikt kommt in vielen Themen des öffentlichen Lebens wie z. B. der immer noch präsenten Nationalitäten-Frage vor. So könnte man das Land grob in den „traditionell antisowjetischen, katholischen Westen (Galizien, Bukowina) mit seiner ukrainischen Majorität und Agrarwirtschaft [...] [und den] stark sowjetisierte[n], russisch-orthodoxe[n] Osten mit seiner russischen Majorität sowie Metall- und Kohleindustrie [...]“ (Freundel 2007) aufteilen. Dass das Land derart gespalten ist, liegt unter anderem daran, dass die Ukraine in ihren heutigen Grenzen eigentlich so nie existiert hat und fast ununterbrochen zwischen russischer und polnischer Einflusssphäre aufgeteilt war. Der Westen sowie die Zentralukraine gehörten z. B. zu Zeiten der polnisch-litauischen Personalunion[3] zu Polen-Litauen. Zu Zeiten der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn gehörten Teile der Westukraine (z. B. die Bukowina) zu der ungarischen Reichshälfte. Der Osten war wiederum sehr lange vom russischen Reich dominiert, was dort auch heute noch sehr augenfällig ist, da diese Zeit ihre Spuren hinterlassen hat. Diese Aufteilung des Landes in verschiedene Einflusssphären hat die Gesellschaft der Ukraine sehr stark aufgespalten, was sich auch in den Wahlergebnissen nach Regionen niederschlägt. Ebenso interessant ist hier auch die Nationalitäten- und damit verbundene Sprachen-Frage. Auch hier zeigt sich sehr deutlich, dass in den Regionen, wo die Bevölkerung stark von einer ethnisch-ukrainischen Auffassung ausgeht[4], eine starke Befürwortung der freien Marktwirtschaft und der demokratischen Systeme, während hingegen in den östlichen Regionen, die von der ostslawischen Auffassung[5] dominiert sind, eine stärkere Tendenz hin zu Planwirtschaft und autokratisch organisierten Führungssystemen (vgl. Shulman 2005) erkennbar ist. So versuchte der besonders von östlichen Wählern unterstützte Janukovič bei den Präsidentschaftswahlen 2004 mit Wahlverfälschungen diese gegen seinen Rivalen Viktor Juščenko zu gewinnen, um die Nachfolge des autokratisch regierenden Leonid Kučma zu sichern. Dieser Skandal ebnete schlussendlich den Weg für die „orange Revolution“. Juščenko gelang es in den Nachwahlen zu gewinnen. Diese „zweite“ Wende der Ukraine bedeutete einerseits den Bruch mit der autokratischen Vergangenheit und andererseits den Weg zu einer viel versprochenen, modernen und (in die EU) integrierten Ukraine. Zwar konnten die „orangen“ Kräfte die Macht für sich sichern, in der Lage wirklich spürbare Ergebnisse zu liefern, waren sie jedoch nicht. Dies liegt sicherlich daran, dass ein gewisser Bruch zwischen den ehemaligen orangen Kräften erfolgte und diese (nämlich Juščenko und Tymošenko), statt für die Sicherung der Wirtschaft und politischen Stabilität, nur noch für die eigenen Interessen und Machtsicherungen kämpften. Dies zeigte sich sehr deutlich in den Konflikten um die Verfassung und das Kabinettsgesetz, bei denen es Tymošenko und Juščenko eigentlich nur um die persönliche Machtabsicherung ging. Es scheint so, als ob in der Ukraine nicht im Einklang der Regeln, sondern mit diesen gespielt wird (vgl. Whitmore 2007). Sowohl bei der Beobachtung der Konflikte um die Verfassung sowie um das Kabinettsgesetz, welches nur mühevoll und ohne Zustimmung des Präsidenten in Kraft trat, als auch bei der Rolle des Verfassungsgerichtshofes, welcher gleichsam paralysiert wurde, ist eindeutig zu sehen, dass gewisse politische „Spielregeln“ verletzt wurden und dass der Rechtsnihilismus unter allen Parteien (seien sie pro-westlich oder pro-russisch orientiert) weit verbreitet ist (vgl. Segert 2007).

Wie hat sich jedoch die Rechtsstaatlichkeit in der Ukraine etabliert, und welche Rolle spielte dabei der Transformationsprozess und die damit verbundenen Verfassungsänderungen sowie die Umstellung auf eine Marktwirtschaft. Weiters will noch geklärt werden, wie die Lage heute eingeschätzt werden kann und was für die Zukunft vorhergesagt wird bzw. prognostiziert werden kann.

Um dem Leser einen Einblick in die Thematik ermöglichen zu können und um die Frage der „Rechtsstaatlichkeit“ zu klären, wurden in dieser Arbeit zunächst die Geschichte der Ukraine sowie die zur Wende 1989/90 und die zum Transformationsprozess relevanten Fakten behandelt. Besonders wichtig sind hierbei die Implementierungen der neuen „westlichen“ Normen (neue Verfassung, Marktwirtschaft etc.) sowie der soziale Wandel, der sich, wie es aussieht, stark zeitverschoben zu der Implementierung der neuen Werte zu entwickeln scheint. Überleitend von diesem, wird danach dem heutigen ukrainischen Rechtsstaat ein besonderes Augenmerk geschenkt, indem dieser genauer analysiert wird. Schlussendlich wird eine „Bestandsaufnahme“ des heutigen Rechtsstaates Ukraine mit Hilfe von politikbezogenen Länderratings wie dem BTI gemacht, um einerseits einen Einblick in den „Stand des Fortschrittes“ zu bekommen und andererseits einen Vergleich zu anderen Transitionsländer herzustellen.

Vorgeschichte, Entstehung der Verfassung, Wende 1989/90, „Orange“ Revolution

Geschichte des Landes, historische Gründe der Demokratiedefizite

Geographische Lage und Zuordnung

Die Ukraine ist ein osteuropäischer Staat, der im Norden an Weißrussland, im Nordosten an Russland, im Süden an Moldawien und Rumänien und im Westen an die Slowakei, Polen und Ungarn grenzt. Die Hauptstadt des Landes ist mit knapp 2,7 Millionen Einwohnern Kiew. Wörtlich übersetzt bedeutet das Wort ukrajina „Grenzland“, was geschichtlich gesehen einerseits auf die geographische Lage des Landes zwischen der damaligen europäischen Supermacht Polen und dem gigantischen Russischen Reich und andererseits auf die geopolitische Situation vor allem im 20 Jh. als ein geteiltes Land zwischen dem Russischen Reich und Österreich-Ungarn zurückzuführen ist.

Staatsgeschichte und heutige Folgen

Die Aufteilung des Landes, wie schon kurz in der Einleitung angesprochen, hat bis heute seine Spuren in der Gesellschaft wie z.B. bei der Frage des Staats- und Nationsbildungsprozesses und der damit verbundenen Nationalitäten-Frage hinterlassen. Als sehr schwierig hat sich eben dieser Prozess seit der Unabhängigkeitserklärung 1991 erwiesen, da das Land bzw. Teile der heutigen Ukraine – die ja eigentlich in ihren heutigen Grenzen so nie existierte – abwechselnd vom Mongolischen Reich, der polnisch-litauischen Adelsrepublik, der Monarchie Österreich-Ungarn, dem Osmanischen Reich sowie Russland und der Sowjetunion regiert worden ist. All diese Perioden fremder Herrschermächte haben in vielen Bereichen wie etwa in der Sprachen- und Minderheitenfrage – besonders die Krimtartaren auf der Halbinsel Krim – etc. merkliche Spuren hinterlassen. Die Ukraine hat in ihren heutigen Grenzen, wie schon erwähnt, nie unter einer Herrschaft existiert. Zwar versuchten die Bolsheviken von 1917–1921 ein unabhängiges, souveränes Land zu gründen, nach dem Föderalprinzip des Austro-Marxismus[6] mit der Gründug einer Allianz und später einer „Union der Staaten“, was jedoch scheiterte. 1919 wurde von der sowjet-ukrainischen Regierung in Kharkiv die Verfassung verabschiedet, doch 1920 wurde mit der RSFRS[7] eine wirtschaftliche und militärische Union eingegangen, die schließlich mit der Eingliederung der Ukraine in die RSFRS 1922 endete. Die Souveränität bestand weiterhin auf dem Papier, doch diese war mit der Unterordnung der politischen Institutionen der Teilrepublik Ukraine gegenüber der RSFRS ebenfalls untergeordnet, was einen Machttransfer von der Ukraine zu Gunsten der Sowjetrepublik bedeutete, die die Souveränität deutlich eingeschränkt hatte (vgl. Wolczuk 2001: 45f.). Somit wurde ein weiteres Mal die ukrainische Eigenstaatlichkeit verhindert. Positiv ist jedoch anzumerken, dass damals die Grenzen, die bis heute gültig sind und auf dessen territorialer Grundannahme sich die heutige Ukraine konstituiert, geschaffen wurden.

Jedoch wurde das ukrainische Nationalitätsbewusstsein mehr oder weniger von der Sowjetunion unterdrückt – wie in den meisten Vielvölkerstaaten zur Unterdrückung nationalistischer Separationstendenzen –, was sich negativ auf den Staats- und Nationsbildungsprozess nach der Unabhängigkeitserklärung 1991 ausgewirkt hat.

Folgen des Mangels staatlicher Eigenständigkeit

Die eben beschriebenen Probleme der Staatlichkeit der Ukraine, die, wie es Bos (2004: 472) auf den Punkt bringt, „geprägt [ist] von der weitgehend fehlenden Erfahrung staatlicher Eigenständigkeit“, machen sich heute besonders in dem Bereich der Regierungsführung (Governance) bemerkbar. So erreichte die Ukraine beim Failed State Index Score für das Jahr 2006 mit 71.4 Indexpunkten Platz 106 von insgesamt 177 Staaten und wurde unter die Stufe Warning eingestuft[8] (FfP 2006). Bei dem Government Effectivnes[9] Indikator der Weltbank erreichte die Ukraine 30 von 100 % (Worldwide Governance Indicator 2007a: 4), während hingegen Polen bei demselben Indikator knapp 69 von 100% erreicht hat (Worldwide Governance Indicator 2007b: 4).

Transformationsprozess/Wende 1989–91

Mit dem Fall der kommunistischen Regime in Osteuropa und dem Zerfall der Sowjetunion erlangte die Ukraine schließlich 1990 die Souveränität und 1991 die komplette, staatliche Unabhängigkeit von der UdSSR. Dies brachte jedoch die Ukraine vom ehemaligen sowjetischen Kurs einer Teilrepublik zu einem eigenstaatlichen, westlich demokratischen und marktwirtschaftlichen Kurs ab. Gleichzeitig mit dem Inkrafttreten der neuen Verfassung setzte auch ein sozialer Wandel ein, der u. a. durch eine radikale Zunahme an zivilgesellschaftlichen Organisationen wie NGOs gekennzeichnet war.

Die neue Verfassung 1991

Als sehr chaotisch könnte die politische Situation nach der Wende 1991 beschrieben werden. Die ersten freien Wahlen wurden erst 1994 abgehalten, so war im Jahre 1991 noch die alte Verfassung aus kommunistischer Zeit formal gültig. Aus der Notwendigkeit heraus eine neue Verfassung zu verabschieden, wurde unter der Leitung des ersten Präsidenten, Leonid Kravčuk, eine Kommission beauftragt, die die neue Verfassung formulieren sollte. Diese arbeitete sehr langsam, und es schien, als ob es bis zur Verabschiedung der neuen Verfassung lange dauern würde. Die Kommission konnte, rechtlich gesehen, frei arbeiten, da sie nicht mehr der Kontrolle der Sowjetunion untergeordnet war, doch in der Regierung befanden sich noch sehr viele Sozialisten und Kommunisten, die einen Einfluss auf die Kommission hatten. Dessen bewusst, entschied der damalige Premierminister Kučma, dass eine modifizierte Version des Gesetzes über die Staatsgewalt als provisorische Verfassung dienen sollte (vgl. Bos 2004). Eben dieser Kučma wurde nach der Amtsperiode von Kravčuk 1994 Präsident und hatte insofern einen (negativen) Einfluss auf die Verfassung, als er die Macht des Präsidenten sehr stark aufgewertet und ein präsidentielles System eingerichtet hat.

Kučmas Amtszeit 1994–2005, autoritäre Herrschaftszeit

Kučma, der sich sicherlich dank der großen Wahlbeteiligung der Bergleute im Osten und Süden der Ukraine, denen er einen Ausweg aus der Wirtschaftskrise versprochen hatte, gegen Kravčuk durchsetzen konnte, wurde am 19. Juli 1994 ins Amt des Präsidenten vereidigt (vgl. Kappeler 2000: 257). Seine Amtszeit als Präsident dauerte von diesem Tag an bis zum 23. Jänner 2005, als er von Viktor Juščenko abgelöst wurde.

Wie im vorigen Kapitel kurz angesprochen, wurde die Verfassung von 1996, die unter seine Amtszeit in Kraft trat, sehr auf einen starken Präsidenten ausgelegt. Zwar ist eine demokratische Verfassung, die einen starken Präsidenten vorsieht, durchaus angemessen, eine autoritäre Herrschaft des Präsidenten legitimiert sie jedoch nicht.

Kučmas Amtszeit ist sehr stark von Wirtschaftsflaute, Korruption, Kriminalität, Verletzung von rechtsstaatlichen Prinzipien wie etwa Wahlfälschung oder der Ermordung oppositioneller Journalisten (wie z. B. Georgij Gongadze) gekennzeichnet. Die eben erwähnte Wirtschaftskrise erreichte 1994 ihren Höhepunkt als das BIP Wachstum -22,5 % betrug. 1998 belegte die Ukraine beim Corruption Perception Index[10] (CPI) Platz 65 von 85 mit nur 2.8 von 10.00 möglichen Indexpunkten (CPI 1998).

Kučmas autoritäres Regime erreichte einen traurigen Höhepunkt als im Jahr 2000 der regimefeindliche Journalist Georgij Gongadze verschleppt und ermordet wurde. Obwohl Kučma versuchte, so wenig wie möglich zur Aufklärung des Falles beizutragen, wurde unter Druck der Europäischen Union der Fall neu aufgerollt und die Mörder verurteilt. Kučma spricht aber immer noch von einer Intrige gegen ihn, und dass Gongadze noch am Leben sei (vgl. NRCU 2009).

Die „Orange“ Revolution

Eben wurden kurz die Kennzeichen der autoritären Amtsperiode von Präsident Kučma angesprochen, die auf die Zeit von 1994–2005 (dazu genommen werden kann auch Kravčuks Zeit von 1991–94) in der Entwicklung der Rechtsstaatlichkeit einen negativen Einfluss hatten. Die neuen politischen Rahmenbedingungen wurden seitens vieler politischer Akteure nicht dazu genutzt, um die Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu festigen, sondern als Mittel zur Macht- und Geldbereicherung. So kam es oft vor, dass viele neureiche Oligarchen[11] Marionetten in das Parlament einschleusten, um in der Politik zu ihren Gunsten abstimmen zu können.

Auf diese negative Entwicklung hatte die ukrainische Gesellschaft jedoch nur sehr wenig Einfluss, sei es aus Desinteresse, oder aus dem Glauben selbst nichts tun zu können (siehe dazu das Subkapitel Rolle der Zivilgesellschaft). Erst nach der zweiten Amtsperiode von Kravčuk, als ein Nachfolger gewählt werden musste, da die geplante Verfassungsänderung für eine dritte Amtsperiode an der 2/3-Mehrheit im Parlament scheiterte, kam es langsam zu einem Erwachen der Zivilgesellschaft.

Chronologie der Ereignisse

(vgl. zum Folgenden Forbrig/Shepherd 2008: 11–13)

Oktober, 2004

Da Kučma kein drittes Mal kandidieren darf, unterstützt er Viktor Janukovič als seinen möglichen Nachfolger. Diese Methode entspricht nicht der demokratischen Vorstellung von Machtübergabe, Wahlen und Machtlegitimierung, da die Bevölkerung ausgeschlossen wird.

November, 2004

Die OSZE[12] äußert Bedenken beim ersten Wahldurchgang. Jedoch erreichen weder Janukovič noch Jusčenko die nötigen 50 %. Beim zweiten Durchgang gewinnt jedoch Janukovič mit einem knappen Vorsprung. Janukovič setzt sich also durch und wird am folgenden Tag durch die Wahlbehörde als Gewinner bestätigt, Jusčenko aber berichtet von massiven Wahlfälschungen und reicht Protest beim Obersten Gerichtshof ein, obwohl Janukovič ihm anbietet, Premierminister zu werden. Der ukrainische Journalist Andrij Bondar (2004) kritisiert den Wahlbetrug folgendermaßen: „Das Kutschma-Regime hat ein Verbrechen gegen das ukrainische Volk begangen, indem es die Willenserklärung der Bürger massiv verfälscht hat.“

Dezember, 2004

Der Oberste Gerichtshof erklärt die Wahlen für ungültig, und der 26. Dezember wird als neuer Wahltag festgesetzt, bei dem sich Jusčenko mit 51,99 % gegenüber Janukovič durchsetzen kann. Parallel zu den Geschehnissen findet eine riesige Versammlung von über 1 Million Bürger statt, die sich auf dem Kiewer Hauptplatz versammeln, um gegen das alte Regime und die Wahlfälschungen zu demonstrieren.

Der ukrainische Außenminister Borys Tarasyuk fasste die Geschehnisse Ende 2004 im Nachhinein folgendermaßen zusammen: „The peaceful Orange Revolution in Ukraine at the end of 2004 was just such a historic turning point for my country.Ukrainians stood up for their dignity and their freedom. It was a battle that they won.“ (Tarasyuk 2008: 7)

Die Rolle der Zivilgesellschaft

(vgl. zum Folgenden Nanivska 2001)

Wie im vorigen Subkapitel erwähnt, kann die „orange“ Revolution als eine Art des Erwachens der Zivilgesellschaft und des Bewusstwerdens ihrer Rolle in der demokratischen Mitbestimmung gesehen werden. Die Zivilgesellschaft war bis zum Jahr 2004 sehr schwach ausgeprägt, da sie zu kommunistischen Zeiten eigentlich kaum existiert hat. Die Zeit als Teilrepublik der UdSSR war von einem niedrigen Niveau der politischen Partizipation gekennzeichnet und des mangelhaften Anreizes durch das Regime zur Ausbildung einer Zivilgesellschaft. Es existierten zwar Gruppen, Vereine und Ähnliches, doch die meisten waren nicht-politisch und vertraten in ihrem Handeln eine kommunistische Ideologie. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Gruppierungen existierten, doch nur ihm Rahmen des ehemaligen Regimes zu dessen ideologischer Stärkung. Bestes Beispiel hierfür ist sicherlich komsomol, eine Jugendorganisation, die Jugendliche auf ihre Zukunft in der Kommunistischen Partei vorbereitet hat. Eben aber an einer Zivilgesellschaft hatte es in den 90er-Jahren gemangelt. So kam die zweite Wende, die „orange“ Revolution, erst relativ spät, verglichen mit anderen Wenden wie den Streikbewegungen in Polen oder den Protesten gegen die Diktatur in Rumänien etc. So kann auch erklärt werden, warum die Ukraine in demokratischer und rechtsstaatlicher (und damit verbunden auch in wirtschaftlicher) Hinsicht den anderen europäischen Transformationsländern hinterherhinkte. Verglichen zu Polen, wo es schon Anfang der 80er-Jahre eine zivilgesellschaftliche Organisation, nämlich die Solidarność Bewegung, gab, entstanden solche Bewegungen eigentlich erst mit der „orangen Revolution“. Diese Solidarność Bewegung konnte sich schon viel früher trotz kommunistischer Repressalien durchsetzen und eine Wende hin zu mehr Demokratie, Selbstbestimmung etc. herbeiführen. Dass sie sich trotz der Unterdrückung durchsetzen konnte, liegt daran, dass das polnische Nationalbewusstsein sehr stark ausgeprägt war und es eine quasi Dachorganisation gab, massiv beeinflusst von der zentralen Identifikationsfigur der katholischen Kirche. Solch ein Nationalbewusstsein war in der Ukraine sehr schwach ausgeprägt und eigentlich nur im Westen des Landes präsent, eine Dachorganisation gab es nicht einmal in Ansätzen. Insofern spielte aber die Zivilgesellschaft eine wichtige Rolle für die „orange“ Revolution, welche wiederum für die Festigung der Zivilgesellschaft entscheidend war, da die politischen Akteure (die quasi die „Gallionsfiguren“ der Revolution waren) mit den die Leute einigenden Zielen – freie Wahlen und Meinungsfreiheit als Grundlage der Demokratie; Bruch mit der autoritären Vergangenheit; Rechtsstaatlichkeit; bessere wirtschaftliche Lage etc. – ein gemeinsames funktionalistisches Merkmal, welches sehr wichtig ist für die Bildung einer starken und funktionierenden Zivilgesellschaft, festgelegt haben.

Rechtsstaatlichkeit in der Ukraine heute

In den vorigen Kapiteln wurde auf die Geschichte des Landes und deren Folgen auf die Ost/West-Spaltung sowie auf die Entstehung der Verfassung und der „Geschichte“ der demokratischen und rechtsstaatlichen Entwicklung seit der Unabhängigkeitserklärung 1991 bis zur „orangen Revolution“ im Herbst 2004 eingegangen. All diese Themen sind notwendig, um sich ein Bild von der Geschichte machen zu können, um schlussendlich die Spät- oder Fehlentwicklungen der Etablierung demokratischer und rechtsstaatlicher Werte verstehen zu können.

Das folgende Kapitel konzentriert sich jedoch auf die Umsetzung der Rechtsstaatsprinzipien und beabsichtigt eine Art der Untersuchung jener Prinzipien.

Prinzip der Rechtsstaatlichkeit und die Anwendung im Kommunismus

(vgl. zum Folgenden Schroeder 2008 und Seite „Rechtsstaat“)