Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Leben im Internat: Straflager oder glückliches Zuhause? Als die Eltern aus beruflichen Gründen nach Persien gehen, bleibt Ulrike bei ihren Tanten in Deutschland. Doch Ulrikes selbstbewusste und erwachsene Art wird schnell als Respektlosigkeit gewertet, und es wird entschieden, dass Ulrike ins Internat soll. Dort merkt sie, dass sie mit ihrer selbstherrlichen und bockigen Art nicht weiterkommt... Ob das Leben im Internat doch ein Erfolg werden kann? -
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 169
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Marie Louise Fischer
Saga
Ulrike kommt ins InternatUlrike kommt ins Internat (Band 1) Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof Forlag A/S Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, (www.marielouisefischer.de) represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de) Originally published 1963 by F. Schneider Verlag, Germany Copyright © 1963, 2019 Marie Louise Fischer und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726355130
1. Ebook-Auflage, 2019
Format: EPUB 2.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk
– a part of Egmont www.egmont.com
Es war elf Uhr, als Ulrike Moeller aus der Schule kam — ungewöhnlich früh, denn es war der letzte Schultag vor den großen Ferien — ein wolkenloser verheißungsvoller Sommermorgen.
Noch ahnte sie nicht, daß sich an diesem Tag die Ereignisse anbahnen würden, die ihr Leben von Grund auf ändern sollten.
Ulrike fühlte sich sehr wohl in ihrer Haut, war mit sich und der Welt vollkommen zufrieden. Langsam schlenderte sie, ihre Mappe unter dem Arm, zwischen den Gruppen und Grüppchen der anderen Mädchen über den Schulhof und auf die Straße.
Sie wollte grade die Richtung zur Haltestelle der Straßenbahn einschlagen, als sie den kleinen weißen Sportwagen der Tanten entdeckte. Tante Sonja saß am Steuer und winkte ihr lächelnd zu.
In diesem Augenblick bekam sie einen leichten Puff in den Rücken, und eine fröhliche Stimme rief: „Tschüß, Bohnenstange!”
Ulrike drehte sich nicht einmal um. Sie zuckte nur kurz und verächtlich mit der Achsel, murmelte: „Albern!”
Sie ging weiter, öffnete die Wagentür. „Hallo, Sonja”, sagte sie mit der gemacht tiefen, leicht nasalen Stimme, die sie in der letzten Zeit sehr schick fand, „reizend von dir, daß du mich abholst!” Sie setzte sich, zog die Tür hinter sich ins Schloß.
Tante Sonja ließ den Motor an. „Ich habe in der Stadt Einkäufe gemacht, und da dachte ich . . .” Sie sprach den Satz nicht zu Ende, fragte stattdessen: „Sag mal, Uli, war das nicht eben Gaby Reitmann?”
„Wer?”
„Die dich geschubst hat.”
„Schon möglich. Ich habe sie mir nicht angeschaut. Warum interessiert dich das?”
„Bloß weil ich mir gedacht habe, wir hätten sie doch eigentlich mitnehmen können. Sie wohnt ja nur ein paar Häuser weiter.”
„Ausgerechnet Gaby?” Ulrike sah die Tante erstaunt an. „Wie kommst du auf die Idee? Gaby ist einfach unmöglich.”
Tante Sonja bestand nicht auf ihren Vorschlag. „Wieso?” sagte sie nur, „ich kenne sie ja kaum. Ist sie sehr schlimm? Erzähl doch mal!”
Ulrike hatte es sich auf dem gut gepolsterten Sitz bequem gemacht und streckte die Beine aus. „Ach”, sagte sie, „was soll ich dich mit diesen albernen Schulgeschichten langweilen. Erzähl mir lieber . . . was hast du eingekauft?”
„Nur ein paar Kleinigkeiten”, sagte Tante Sonja, „einen Gürtel und ein seidenes Halstuch für mein weißes Kleid . . .”
„Darf ich mal sehen?”
„Bitte!” Tante Sonja beobachtete aufmerksam die Fahrbahn, während sie den Wagen durch die belebten Straßen der Innenstadt lenkte. „Ich habe dir übrigens auch etwas mitgebracht . . . ein Paar neue Perlonstrümpfe!”
„Oh, danke! Du bist wirklich ein Schatz!” Ulrike drehte sich um und angelte vom hinteren Sitz die Päckchen nach vorne. Sie öffnete die Tüten. „Erdbeerfarben”, sagte sie und betrachtete den weichen Ledergürtel voller Anerkennung, „und das Tüchlein paßt haargenau! Du wirst todschick damit aussehen, Tante Sonja! Wie bist du gerade auf diese Farbe gekommen?”
„Weil das der hübscheste Gürtel war!”
„Kann ich mir denken. Darf ich ihn mir mal ausleihen? Und den Schal dazu?”
Tante Sonja lachte. „Von mir aus. Aber nicht gleich jetzt. Erst möchte ich mich mal eine Zeitlang dran erfreuen!”
„Aber natürlich, Sonjalein”, sagte Ulrike gnädig, „ich bin ja kein Unmensch!”
Sie hatten den stärksten Verkehr schon hinter sich gelassen, überquerten den Fluß und erreichten die Vorstadt mit ihren baumbestandenen schattigen Straßen.
„Wirklich eine gute Idee von dir, mich abzuholen”, sagte Ulrike, „mit der Straßenbahn hätte ich mindestens doppelt so lange gebraucht.”
„Weißt du übrigens, daß Emmys Verleger heute morgen angerufen hat, Uli?” fragte Tante Sonja. „Ach nein, das kannst du ja nicht wissen, du warst ja schon in der Schule. Sie hat einen neuen, ganz dicken Übersetzungsauftrag bekommen, einen modernen französischen Roman.”
„Wirklich? Oh, das freut mich. Obwohl ich finde, daß ihr eine kleine Pause ganz gut getan hätte. Sie hat, meiner Meinung nach, in der letzten Zeit viel zu viel gearbeitet.”
Ulrike und ihre Tante plauderten in dieser Tonart weiter, bis Tante Sonja vor dem kleinen weißen Haus bremste, das Ulrikes Eltern gehörte und in dem sie aufgewachsen war. Wenn jemand anders diese Unterhaltung mit angehört hätte, würde er sie wahrscheinlich sehr sonderbar gefunden haben; denn Tante Sonja war zwar jung, aber immerhin doch eine erwachsene Dame Mitte zwanzig, und Ulrike war zwar lang aufgeschossen, aber doch nur ein Mädchen von knapp zwölf Jahren. Trotzdem sprachen beide miteinander, als wären sie gleichaltrig, und fanden selber gar nichts dabei.
Wie war das möglich? Das kam so:
Ulrikes Vater war Ingenieur. Er hatte vor zwei Jahren einen großen und interessanten Auftrag bekommen. Er sollte den Bau eines Staudammes in Persien leiten. Diese Arbeit sollte mehrere Jahre dauern.
Frau Moeller, Ulrikes Mutter, war sofort bereit gewesen, ihn zu begleiten — aber was sollte inzwischen aus ihrer kleinen Tochter werden? Ulrike war damals zehn Jahre alt. Sie war ein zartes Kind, der Arzt fürchtete, daß ihr das Klima in Persien nicht bekommen würde. Außerdem gab es dort, wo der Staudamm errichtet wurde — in der Nähe einer kleinen Stadt ganz im Inneren des Landes — keine deutsche Schule.
Frau Moeller wollte ihre Tochter nicht allein lassen, Herr Moeller wollte nicht ohne seine Frau fahren. So hätte Ulrikes Vater beinahe auf den ganzen Plan verzichten müssen, wenn, ja, wenn die Tanten nicht gewesen wären.
Tante Sonja und Tante Emmy waren Mutters Schwestern, sie lebten beide als Junggesellinnen in einer kleinen Atelierwohnung mitten in der Stadt. Tante Sonja war Sekretärin in einer Bank, und Tante Emmy verdiente ihren Lebensunterhalt, indem sie Bücher aus der englischen, der französischen oder auch der italienischen Sprache ins Deutsche übersetzte. Sie arbeitete zu Hause.
Diese beiden Tanten boten den Eltern an, Ulrike zu sich zu nehmen. Aber ihre Wohnung war zu klein. So schlugen sie vor, sie weiterzuvermieten und während der Abwesenheit von Ulrikes Eltern in das kleine weiße Haus in der Vorstadt zu ziehen.
Natürlich waren Herr und Frau Moeller sehr besorgt. Es wurde noch viel überlegt und beraten und hin und her geredet, aber eines Tages war es dann doch soweit — Ulrikes Eltern flogen nach Teheran, und Ulrike blieb mit ihren beiden Tanten zu Hause zurück.
Die drei vertrugen sich prächtig. Die beiden Tanten fühlten sich zu jung, um Mutterstelle an Ulrike zu vertreten; so behandelten sie ihre Nichte wie eine Kameradin. Und Ulrike fand das wundervoll. Ohne daß sie es selber merkte, gewöhnte sie sich an, wie die Tanten zu reden und sich wie eine große Dame zu benehmen. Es gab niemanden, der ihr gesagt hätte, daß sie eben doch noch ein Kind war.
Als Ulrike diesen Samstag mittag nach Hause kam, stieg sie aus dem Auto und öffnete für Tante Sonja das Gartentor und die Garage. Wenige Minuten später gingen sie — Ulrike bei Tante Sonja eingehakt — von hinten durch den kleinen Garten auf das Haus zu.
Tante Emmy hatte die Gartenstühle nach draußen gestellt und die Markise heruntergelassen. Jetzt brachte sie in einem gläsernen Krug eisgekühlte Limonade aus dem Haus.
„Da seid ihr ja endlich!” sagte sie fröhlich. „Wir haben grade noch Zeit, einen Schluck zu trinken, dann muß ich mich drinnen um das Essen kümmern!”
„Ich komme sofort”, sagte Ulrike, „ich möchte mir nur eben erst die Hände waschen.”
„Dann nimm bitte meine Päckchen mit hinein.”
Ulrike ging ins Haus, legte die Päckchen auf den Dielentisch, hängte ihren Mantel in der Garderobe auf, brachte die Schulmappe nach oben in ihr Zimmer — sie war überaus ordentlich, und sie war sehr stolz darauf.
Dann wusch sie sich im Badezimmer die Hände, bürstete ihre hellblonden, seidigen Haare sehr sorgfältig, betrachtete flüchtig ihr blasses, schmales Gesicht im Spiegel, lief wieder hinunter und trat auf die Terrasse hinaus.
„Uli, mein Schatz”, sagte Tante Emmy, „trink! Die Limonade wird warm. Hast du einen aufregenden Tag gehabt?”
„Aufregend?” Ulrike hob die schmalen Augenbrauen. „Wieso?”
„Nun, ich denke . . . ihr solltet doch heute Zeugnisse kriegen! Oder etwa nicht?”
„Tatsächlich!” sagte Tante Sonja. „Das hatte ich ganz vergessen! Zeig uns doch mal dein Zeugnis!”
Ulrike hatte es sich auf der Rohrliege bequem gemacht, saugte durch einen langen Halm an ihrer Limonade. „Lohnt sich nicht”, sagte sie ruhig.
Tante Emmy machte entsetzte Augen. „Lohnt sich nicht? Soll das etwa heißen, du hast eine schlechte Note bekommen?”
Ulrike sah sie aus ihren kühlen grauen Augen an. „Traust du mir das tatsächlich zu?”
„Nein, natürlich nicht. Aber warum jagst du mir dann einen solchen Schrecken ein?”
„Oh, das bedaure ich außerordentlich”, sagte Ulrike geschraubt, „es lag ganz gewiß nicht in meiner Absicht, dich zu beunruhigen. Du kannst wirklich unbesorgt sein, Emmylein. Mein Zeugnis ist tadellos. Wie immer.” Nicht ohne Selbstgefälligkeit fügte sie hinzu: „Das beste in der Klasse.”
„Wie wunderbar, Liebling!” rief Tante Emmy begeistert. „Dafür muß ich dir einen Kuß geben!”
„Übertreib nicht, alter Schatz”, sagte Ulrike abwehrend und bemühte sich, ein verlegenes Gesicht zu machen. Tatsächlich aber genoß sie diese Schmeicheleien wie eine Hummel den Blütenhonig.
„Ehre, wem Ehre gebührt”, sagte Tante Sonja lächelnd, „aber ich . . . ich hatte so eine Vorahnung. Deshalb die Perlonstrümpfe. Ich hoffe, daß du wenigstens ein Festtagsessen gekocht hast, Emmy.”
„Oh ja, es gibt schon was Gutes”, sagte Tante Emmy verheißungsvoll, „ein paar kleine Leckerbissen.” Sie stand auf. „Es dauert höchstens noch zehn Minuten.”
Auch Tante Sonja erhob sich. „Warte. Ich helfe dir!”
Ulrike sah gemächlich zu, wie die beiden im Haus verschwanden. Sie fühlte sich als Ehrengast und dachte nicht daran, sich von der Stelle zu rühren. Mit halb geschlossenen Augen schlürfte sie ihre Limonade und blickte in das Blättergewirr der großen Kastanie. Acht Wochen unbeschwerter Ferien lagen vor ihr. Das Leben war wundervoll.
Sie stand auch darin nicht auf, als an der Haustüre geklingelt wurde, sehr scharf und mit Nachdruck — einmal, zweimal und noch einmal.
Erst als Tante Sonja auf die Terrasse gestürzt kam, hob sie den Kopf. Sie öffnete den Mund, aber sie kam nicht dazu, eine Frage zu stellen.
„Uli! Denk dir! Deine Eltern kommen!” rief Tante Sonja vergnügt. „Ja, freust du dich denn gar nicht? Sie kommen, Uli, sie kommen auf Urlaub nach Hause!”
Ulrike sah ihre Tante an. „Das glaub ich nicht”, sagte sie ruhig, „das haben sie schon so oft geschrieben, und nachher ist nie etwas draus geworden.”
„Aber diesmal stimmt‘s! Sie haben ja nicht geschrieben, sondern telegrafiert . . .” Sie wandte sich um und rief ins Haus zurück: „Stell dir vor, Emmy, Uli glaubt mir nicht! Bring doch bitte das Telegramm! Es ist aus Zürich, Uli . . . sie sind schon in der Schweiz. Morgen kommen sie hier an.”
Jetzt endlich stieg Farbe in Ulrikes schmales Gesicht. „Na so etwas!” sagte sie. „Das sieht ihnen ähnlich. Erst bleiben sie jahrelang weg, und dann so ganz einfach . . . ohne Vorwarnung!” Sie schwang ihre Füße auf den Boden und setzte sich auf. „Kommen sie mit dem Flugzeug, Tante Sonja? Darf ich sie abholen? Und was zieh‘ ich an?”
„Was du willst, nur nicht meinen neuen Gürtel und das Tüchlein. Die mußt du in Ruhe lassen.”
Ulrike stand auf, dehnte und reckte sich. „Ich kann‘s noch gar nicht glauben, Tante Sonja . . . ich kann es einfach nicht fassen, verstehst du das? Ich habe immer noch das Gefühl, als wenn es nicht wahr wäre! Nicht wahr sein könnte. Vater und Mutter kommen nach Hause. Glaubst du, daß ich sie überhaupt noch erkenne?”
Als Ulrike am nächsten Morgen mit Tante Sonja zum Flugplatz fuhr, pumperte ihr Herz einen richtigen Trommelwirbel. Sie war ganz durcheinander vor lauter Glück und Erwartung.
Aber weil die Tanten so heiter und gelassen waren, wollte sie es sich nicht anmerken lassen. So zwang sie sich, ein möglichst gleichmütiges Gesicht zu machen, was ihr auch einigermaßen gut gelang. Auf dem Weg zum Flughafen saß sie stumm auf ihrem Sitz und ließ Tante Sonja reden — sie spürte, daß ihr vor lauter Aufregung die Stimme nicht richtig gehorcht hätte.
Es war ungewöhnlich viel Verkehr auf den Straßen, und sie kamen nur langsam vorwärts. Die halbe Stadt schien sich entschlossen zu haben, an diesem ersten Ferientag auf Reisen zu gehen.
Am Hauptplatz gerieten sie in eine Verkehrsstockung. Tante Sonja lehnte sich gemütlich zurück, zündete sich eine Zigarette an. Ulrike konnte nicht stillsitzen; sie rutschte unruhig herum, immer wieder schaute sie auf die elektrische Uhr im Armaturenbrett.
„Glaubst du, daß wir es noch schaffen?” fragte sie heiser, als sie gute sieben Minuten nicht vom Fleck gekommen waren.
„Nur keine Bange!” Tante Sonja drückte ihren Zigarettenstummel im Aschenbecher aus. „Und wenn nicht, schadet‘s auch nichts. Die Zollabfertigung dauert eine ganze Zeit. Bis sie die hinter sich haben, sind wir längst da.”
„Ob sie mir wohl was mitgebracht haben?” platzte Ulrike heraus.
Tante Sonja überhörte die Frage, denn grade in diesem Augenblick setzte die Autoschlange vor ihnen sich in Bewegung, sie mußte losfahren. „Ich glaube, es hat einen Unfall gegeben”, sagte sie, als sie langsam über die Kreuzung rollten.
Diese Worte lösten in Ulrike gradezu eine kleine Panik aus — wenn bloß den Eltern nichts passiert war! Sie hatte oft gelesen, daß Fliegen sehr gefährlich war, viel gefährlicher als Autofahren, und ihre Eltern schwebten jetzt, während sie und Tante Sonja zum Flugplatz hinausfuhren, wahrscheinlich noch hoch in der Luft. Wenn der Motor versagte, der Pilot in Ohnmacht fiel, die Maschine abstürzte!
In dieser Sekunde war Ulrike fest überzeugt, daß sie ihre Eltern nie mehr wiedersehen würde. Sie biß fest die Zähne zusammen, aber sie konnte nicht verhindern, daß sie zitterte.
Erst als Tante Sonja das Auto auf dem großen Parkplatz vor dem Flughafen untergebracht und den Zündschlüssel abgezogen hatte, sah sie, wie blaß Ulrike war.
„Was ist los mit dir, Schätzchen?” fragte sie besorgt. „Ist dir schlecht?”
„Nein”, preßte Ulrike heraus, „kein bißchen!” Sie zwang sich sogar zu einem Lächeln.
Tante Sonja sah sie liebevoll an. „Das ist bloß die Aufregung, Uli! Warte nur, wenn du deine Eltern erst wieder ans Herz drücken kannst, geht‘s dir gleich besser!”
Als sie das langgestreckte Gebäude betraten, erkundigte Tante Sonja sich als erstes am Schalter der Lufthansa und erfuhr, daß die Maschine aus Zürich tatsächlich vor wenigen Minuten gelandet war.
Sie liefen zur Zollabfertigung, Ulrike den dicken Strauß dunkelroter Rosen fest in der Hand, den sie am Morgen im Garten für die Mutter gepflückt hatte.
Viele Leute, die ihre Angehörigen abholen wollten, standen beim Zoll, Kinder und Erwachsene. Sie lachten und plauderten miteinander, als wenn das gar nichts Besonderes wäre, und Ulrike kam sich mit ihrer Aufregung und Sorge auf einmal sehr albern vor.
Immer wieder ging die Türe auf, und ein Herr oder eine Dame oder auch eine ganze Familie kam aus dem Zoll heraus, meist begleitet von einem Gepäckträger.
Einmal gelang es Ulrike, einen Blick in das Innere des großen Raumes zu werfen — sie hatte Glück. Grade in derselben Sekunde sah ihre Mutter zur Tür, und sie konnte ihr sogar eine Kußhand zuwerfen.
Ulrike holte dreimal tief Luft und pustete sie wieder aus. „Gott sei Dank”, sagte sie aus tiefstem Herzen, „sie sind wirklich da!”
„Hast du immer noch daran gezweifelt?” fragte Tante Sonja lachend.
„Ach wo!” Ulrike zuckte die Achsel. „Ich habe doch bloß Spaß gemacht!” Mit einem Schlag war ihre ganze Aufregung verflogen.
Sie drehte sich um und versuchte, sich in der schimmernden Scheibe eines Ausstellungskastens zu spiegeln, fuhr sich mit der Hand über die glatte blonde Frisur. Ihr Spiegelbild war zwar ziemlich verzerrt, aber sie wußte trotzdem, daß sie schick aussah — sie trug das modische Pepitakostüm, das sie mit ihren Tanten zum letzten Geburtstag hatte selber aussuchen dürfen, dazu weiße Ballerinaschuhe mit einer kleinen Schleife vorne, weiße Handschuhe und natürlich — die neuen Perlonstrümpfe.
Ulrike war so sehr in ihren eigenen Anblick vertieft, daß ihr tatsächlich der große Augenblick entging, als ihr Vater die Tür der Zollstation öffnete und die Mutter vor sich her in den lichtüberfluteten Gang schob. Erst als sie die Stimmen ihrer Eltern hörte, wandte sie sich um.
Herr Moeller hatte nach der ersten Begrüßung die Tante Sonja ziemlich laut und ungeduldig gefragt: „Wo ist denn Ulrike? Hast du sie etwa zu Hause gelassen, Sonja?”
„Aber nein, Ulrich, ich habe sie ja eben noch gesehen”, sagte die Mutter besänftigend; sie drehte sich um und entdeckte ihre Tochter. „Da ist sie ja!”
Ulrike flog nicht in die ausgebreiteten Arme ihrer Mutter, obwohl sie es am liebsten getan hätte. Sie zwang sich, langsam und gelassen auf sie zuzugehen, machte einen damenhaften kleinen Knicks und überreichte ihre Rosen. „Herzlich willkommen zu Hause, liebe Mutter!” Sie gab dem Vater die Hand. „Ich freue mich sehr, daß ihr gekommen seid!”
„Nanu!” sagte Herr Moeller, „das klingt aber reichlich komisch! Willst du mir nicht wenigstens einen Kuß geben?”
Ulrike stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihrem Vater einen flüchtigen Kuß auf die Wange. Als er sie kräftig in die Arme nehmen wollte, wich sie rasch zurück. „Bitte, nicht, Vati . . . du zerdrückst mir ja mein Kostüm!”
„Ja”, sagte die Mutter rasch, „das Kostüm ist wirklich hübsch! Laß dich doch mal ansehen . . . dreh dich mal um! Sehr hübsch. Und wie groß du geworden bist, Uli . . . fast hätte ich dich vorhin nicht wiedererkannt!” Sie musterte Ulrike von Kopf bis Fuß. „Und Perlonstrümpfe trägst du auch schon?”
„Warum denn nicht, Mutti?” sagte Ulrike imgeduldig. „Schließlich bin ich kein Kind mehr.”
Die Eltern tauschten einen raschen Blick. Ulrike bemerkte es wohl, aber sie reagierte in keiner Weise. „Darf ich euch zum Auto führen?” fragte sie höflich.
Tante Sonja hatte dem Gepäckträger inzwischen schon ihren Sportwagen gezeigt und ihm geholfen, die Koffer zu verstauen. Auf der Heimfahrt saß die Mutter vorne, Herr Moeller und Ulrike quetschten sich auf die Rücksitze. Die Erwachsenen plauderten lebhaft miteinander. Ulrike war froh, daß sie nichts zu sagen brauchte.
Sie fühlte sich sehr enttäuscht. Sie hatte Eindruck machen wollen, aber es war mißglückt. Die Eltern schienen nicht mit ihr zufrieden. Warum eigentlich nicht? Sie hatte sich doch tadellos benommen.
Zu Hause gab es noch einmal eine große Begrüßung. Die Mutter lief durch alle Zimmer und freute sich, daß Tante Sonja und Tante Emmy alles so gut gehalten hatten. Ulrike tat die Rosen in eine Vase und stellte sie auf den Tisch im Wohnzimmer. Der Vater trug die Koffer ins Schlafzimmer hinauf. Eine halbe Stunde später saßen alle auf der Terrasse.
„Ich kann mir vorstellen, daß du sehr erschöpft bist, Susanne”, sagte Tante Sonja zu Ulrikes Mutter, „wenn du möchtest, packen Ulrike und ich dir die Koffer gleich aus.”
„Ach nein, sehr lieb von euch, aber es hat Zeit.” Die Mutter lächelte Ulrike an. „Es sei denn, Ulrike kann es schon jetzt vor Spannung nicht mehr aushalten.”
Ulrike schwieg und schlürfte ihre Limonade.
„Du möchtest sicher gerne wissen, was wir dir mitgebracht haben, nicht wahr, Uli?” versuchte die Mutter sie noch einmal zum Reden zu bringen.
„Oh ja”, sagte Ulrike höflich, „aber du brauchst dir meinetwegen keine Umstände zu machen.”
„Es ist ja auch noch gar nicht heraus, daß Ulrike überhaupt etwas bekommt”, sagte der Vater, „erst einmal möchte ich wissen, ob sie auch brav war!”
„Das ist sie!” sagten beide Tanten wie aus einem Munde.
„Wirklich”, erklärte Tante Emmy, „ein angenehmeres junges Mädchen als Ulrike kann man sich gar nicht vorstellen. Sie hat uns, seit wir mit ihr zusammen leben, auch nicht eine Stunde Kummer oder Sorgen gemacht, nicht wahr, Sonja?”
„Ganz bestimmt”, bestätigte Tante Sonja, „an Ulrike ist wirklich nichts auszusetzen.”
„Hm”, sagte Herr Moeller, und es klang nicht sonderlich zufrieden, „ein Musterkind also! Und wie steht es mit deinem Zeugnis, Uli?”
„Es ist natürlich gut”, sagte Ulrike gelassen.
„Bist du dessen so sicher?” Man konnte Herrn Moellers Stimme anhören, daß er langsam anfing, gereizt zu werden. „Mädchen, rede doch nicht so gräßlich blasiert. Ich kenne mein eigenes Kind nicht wieder. Vielleicht sind wir auch über das, was gut und was nicht gut ist, verschiedener Meinung.”
„Ulrike ist die Beste in ihrer Klasse”, sagte Tante Sonja.
Ulrike stellte ihr Glas aus der Hand. „Danke, Sonjalein.”