Umarmen hat seine Zeit - Lilli Palmer - E-Book
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Umarmen hat seine Zeit E-Book

Lilli Palmer

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Beschreibung

Allen Widerständen zum Trotz will Sophie Berglund, 1903 als Tochter eines deutschen Kaufmanns und einer jungen Türkin geboren, die Welt erobern. Die lebenshungrige junge Frau lebt dabei ganz nach dem Motto ihrer Stiefmutter Anita: »Man muss auch mal ein Risiko eingehen, sonst lebt man nicht.« Sophie gelingt es, zahlreiche Schicksalsschläge und die beiden Weltkriege zu überleben und gleichzeitig immer wieder Augenblicke größten Glücks und Momente voller Leidenschaft und Liebe zu erfahren. Vor allem aber lernt sie in den Schicksalsströmen des 20. Jahrhunderts dabei eines: Alles im Leben hat seine Zeit … Mit der Geschichte ihrer unkonventionellen Heldin fängt Lilli Palmer auf elegante Weise ein Stück Zeitgeschichte ein.

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Lilli Palmer

Umarmen hat seine Zeit

Roman

1. Teil

1

Als Sophie vom Stuhl zu Boden fiel, hielt sie den Löffel noch in der Hand. Sie stieß im Fallen den Stuhl um, landete seitlich und schlug mit der Schläfe auf den Teppich. Der Brei kleckerte drauf, sie merkte es nicht, mühte sich mit allen Kräften zu sagen: »Du siehst, Lutz, ich esse … ich esse Brei, weil du gesagt hast, es setzt an … du siehst, ich gebe mir Mühe … du kannst also nicht sagen, ich tue nichts … ich esse Brei … ich kann nichts dafür, dass noch was übrig ist …«

Und dann ging's nicht weiter: Störung im Gehäuse. Die Hand, die den Löffel hielt, lag auf dem Boden, aber der Weg zum Mund war versperrt.

Sie gab auf, ließ sich absacken, hatte noch ein letztes Gefühl der Erleichterung bei dem Gedanken, dass er ja den Löffel sehen würde, voller Brei, Beweisstück, nicht ins Klo geschüttet. Guter Wille … du siehst ja … nicht meine Schuld …

Lutz, der in der Küche eine Kompottbüchse aufmachte, hatte den Aufprall gehört und fand sie am Boden. Er sah sofort, dass sie bewusstlos war, ließ sie liegen, wie sie gefallen war und lief zum Telefon. Er rief Werner Hensch an, seinen Arzt. Sophie hatte keinen, hatte sich seit Jahren geweigert, sich von irgendjemandem auch nur in den Hals sehen zu lassen.

Dann erst kniete er neben ihr nieder, nahm ihr den Löffel aus der Hand und hob sie aufs Sofa. Keine Kraftanstrengung, sie wog höchstens achtzig Pfund. Er setzte sich neben sie und sah sie an. Othello, der Kater, kam, schnurrte und sprang auf Sophies Bauch. Lutz wollte ihn wegscheuchen, aber Othello streckte sich sofort flach aus, so wie er es immer tat, quer über Sophies Leib wie eine Küchenschürze. Vielleicht hält er sie warm, dachte Lutz, sie friert doch immer, auch jetzt bei dieser Hitze.

Er fühlte weder Unruhe noch Trauer, hatte es ja schon lange erwartet. Eigentlich war es überfällig. Sie hatte schließlich seit Wochen kaum noch gegessen, ihm immer vorgelogen, sie habe gerade oder sie werde später. Als er einmal Werner Hensch in die Wohnung brachte, hatte sie sich geweigert, auf irgendwelche Fragen zu antworten. »Ich war mein Leben lang zu fett«, hatte sie den Arzt angeschrien, »jetzt fühle ich mich endlich wohl in meiner Haut. Untersuchen Sie meinen Mann, wenn Sie schon mal hier sind. Der ist blutarm und schwul. Können Sie da was machen?«

Draußen ertönte, wenn auch von Weitem, die Sirene des Krankenwagens. Lutz stand auf, um Ordnung zu machen, stellte den Stuhl wieder gerade, kratzte den Brei vom Teppich, trug das Geschirr in die Küche zurück. Als er wieder ins Zimmer trat, heulte die Sirene – jetzt ganz nah – noch einmal stark auf und verstummte. Stille. Er sah sich im Zimmer um: alles an seinem Platz, auch die reglose Figur auf dem Sofa mit dem flachen Kater auf dem Leib.

Hatte er Hensch und den Krankenwagen umsonst bestellt? Hielt Sophie vielleicht nur ihr gewöhnliches Mittagsschläfchen? Er lief zum Sofa, kniete nieder und lauschte auf ihren Atem. Ganz anders als sonst, in heftigen, unregelmäßigen Stößen, die Othello sichtlich störten, denn er ließ sich ohne Widerstand aufheben und in der Küche einsperren.

Gott sei Dank, dachte Lutz, Gott sei Dank habe ich Hensch nicht umsonst bemüht. Das wäre doch sehr peinlich gewesen.

Es klingelte.

Der Weg ins Krankenhaus werde eine gute halbe Stunde dauern, hatte Hensch gesagt, es war in der Eile kein Zimmer in der Nähe aufzutreiben gewesen. Lutz saß auf einer Bank mit dem Rücken gegen das milchbeschlagene Fenster. Sophie hatte man auf dem Tragbett angeschnallt, damit sie während der Fahrt nicht hin und her geworfen wurde. Hensch hatte sie nur ganz kurz untersucht – Puls, Herztöne, Blutdruck – und den beiden unbeteiligt dreinschauenden Krankenwagenleuten zugenickt. Er, Hensch, werde in seinem eigenen Wagen später ins Krankenhaus kommen, aber alle Zuständigen zuvor unterrichten, damit Vorbereitungen getroffen werden konnten. Weiter gab er keine Auskunft. »Ich weiß es selbst noch nicht«, hatte er zu Lutz gesagt, »es ist kein Schlaganfall, auch kein Infarkt, wir werden ja sehen.« Auf Lutz' unweigerliche Frage: »Doktor, ist es was … was?« hatte der geantwortet: »Das weiß ich noch nicht. Aber es sieht keineswegs schlecht aus.«

Auch Sophie »sah nicht schlecht aus«, obgleich sie immer noch bewusstlos war. Im Gegenteil: Wie sie da so friedlich und flacher als gewöhnlich dalag, schien sie Lutz weniger abgezehrt, weniger durchsichtig. Aber vielleicht war das nur ein Trick der ungewohnten Umgebung, des wechselnden Lichts der Straße. Schließlich hatte er sie in den letzten Wochen nur innerhalb der griesgrämigen, ockerfarbenen Tapeten des Wohnzimmers gesehen, mühsam aufrecht, hohlwangig, ein knochenloses Knochengerüst. Nun schien sie wieder Haltung zu haben, lag kerzengerade, das Gesicht ausgebügelt, entspannt.

Er fühlte sich ertappt, als sie plötzlich die Augen aufschlug. Sie sah ihn eine Weile nachdenklich an, ohne zu sprechen. Dann wanderte ihr Blick neben ihn, und sie sagte deutlich und etwas ungeduldig: »Ach, geh doch weg, Ei! Wir können dich jetzt nicht brauchen. Dass du das nicht selber fühlst!« Danach schloss sie sofort die Augen, um jede Chance zu einem Gespräch zu vermeiden.

Als sie sie später wieder aufschlug, betrachtete sie erst den leeren Platz neben Lutz, wie um sich zu vergewissern, dass das Ei nicht mehr dort saß.

»Lutz«, sagte sie ruhig, »kann ich mich auf dich verlassen?«

»Das weißt du doch.«

»Ja, aber das jetzt – ist was Besonderes.«

»Trotzdem.«

Sie schwieg einen Moment, als prüfe sie die Verlässlichkeit in seinem Ton.

»Wenn es sich herausstellt, dass es was Schlimmes ist, dann erlaube nicht, dass man mich operiert, um mein Leben zu verlängern. Es ist ja möglich, dass ich bewusstlos bin, und dann wird man dich fragen. Du wirst die Erlaubnis zur Operation verweigern, schwöre mir das.«

Die Stimme sachlich, die Augen trocken und ruhig, wenn auch eindringlich. »Schwöre«, wiederholte sie, »schwöre beim Andenken an Jonathan.«

Er schwieg.

»Du hast recht«, sagte sie, und jetzt war ihre Stimme auf einmal so sanft, wie er sie seit langer Zeit nicht mehr gehört hatte. »Nimm dir Zeit, überleg's dir. Ich weiß, du wirst mich nicht belügen. Schon wegen Jonathan.«

Gemein, dachte er. Warum muss sie mich an Jonathan erinnern. Jetzt habe ich seit Monaten nicht mehr an ihn gedacht, und nun wird das wieder losgehen. Jonathan, sein jüngster Bruder, war siebzehn Jahre alt gewesen, als er sich abends im Zoologischen Garten einschließen ließ. Das war ein Leichtes gewesen. Es gab unzählige dichte Sträucher, in die man sich verkriechen konnte, wenn die Wärter gegen Abend Runde machten und alle Besucher aus dem Gelände herausklingelten. Um sechs Uhr früh hatte er sich vor dem Menschenaffenkäfig erschossen. Der große graue Gorilla hatte unbeweglich am Gitter gestanden und die Leute beobachtet, die von allen Seiten angelaufen kamen und sich um das Bündel Kleider bemühten, das ein paar Meter von ihm entfernt auf dem Boden lag. Dann hatte er sich abrupt umgedreht und war durch die Klappe in seinen Innenkäfig gekrochen, den er sonst im Sommer nie aufsuchte.

Weder Lutz noch sonst jemand hatte je herausgefunden, warum Jonathan das getan hatte, und schon gar nicht, warum er es so getan hatte, vor dem Käfig des grauen Gorillas. Was hatte er die zwölf Stunden getrieben? Was hatte er gedacht? Was hatte ihn gequält? Zwölf Stunden lang. Lutz hatte mit mehreren Psychiatern darüber gesprochen. Einer hatte ihm geholfen; er hatte versucht, ihn zu überzeugen, dass Jonathan sich vielleicht gar nicht gequält, sondern auf den Schuss wie auf eine Belohnung gefreut hatte. Schließlich akzeptierte Lutz diese Version, wie man die Synchronisation eines fremdsprachigen Films akzeptiert, der übersetzt und verständlich gemacht wurde. Er konnte wieder ohne Schlafmittel auskommen, vergaß aber nie, dass das, was er da mit sich herumtrug, nur eine Synchronisation war. Der Urtext blieb unverständlich. All das war nun über dreißig Jahre her. Niemand erinnerte sich an Jonathan, und er und Sophie sprachen seit Jahren nicht mehr von ihm. Aber anscheinend wusste sie, dass er sich immer noch um den Urtext bemühte, sonst hätte sie nicht verlangt, dass er bei Jonathan schwöre. Denn Jonathan war das einzig Unumstößliche, Unantastbare, Unverdorbene in Lutz' Leben. Außer dem Ei natürlich, aber die war sakrosankt. Sophie hätte ihn nie bei ihrem Angedenken schwören lassen.

»Nun?«, sagte sie dann. »Brauchst du noch mehr Zeit?«

Er nickte.

Sie schloss die Augen. »Ob er wohl noch lebt, der große graue Gorilla? Wie alt werden die eigentlich? Vielleicht lebt er noch und erinnert sich. Ich bin ganz sicher, er erinnert sich – wenn er noch lebt.«

Nach einer Weile sagte Lutz: »Ich schwöre. Bei Jonathan.«

Unten in der Krankenhauskantine saß er dann vor seinem dritten Kaffee. Draußen dämmerte es. Es musste wohl gerade Dienstwechsel gewesen sein, denn die Eingangstüren hörten nicht auf zu klappen, und Scharen von Schwestern und Krankenwärtern strömten herein. Vielleicht auch Assistenzärzte. Wer konnte das unterscheiden bei der weiß gestärkten, schlecht geplätteten Dienstkleidung. Hier und da fehlte sogar ein Knopf. Schlamperei, dachte Lutz. Fehlt da auch mal etwas im Operationssaal? Das brachte ihn wieder in sein Gedankengehege zurück, aus dem er seit Stunden nicht herauskriechen konnte. Operationssaal. Noch war nicht die Rede von einer Operation gewesen, obwohl man Sophie sofort in die Röntgenabteilung gebracht hatte. Noch hatte sich niemand festgelegt, was eigentlich mit ihr los war. Hensch hatte sich auch nicht blicken lassen.

Um ihn herum füllten sich die Tische mit Aluminiumtabletts. Es gab nicht genug Tische, man quetschte sich zu sechst an einen Vierertisch, aber keiner versuchte, sich zu Lutz zu setzen. Man wollte scheinbar unter sich bleiben und guter Dinge sein. Man kannte die verstörten Gesichter von Angehörigen, die hier unten warteten und die auch manchmal Fragen stellten. Wusste der Herr Doktor oder die Schwester denn immer noch nicht, was oben im Zimmer vor sich ging? Was konnte man, selbst wenn man es wusste, antworten, außer: »Da müssen Sie sich an den Oberarzt wenden.«

Die eifrige, lärmende, lachende Unterhaltung an den Nebentischen hatte ihre Wirkung auf Lutz. So was gab's also. So ging es im Krankenhaus zu. Es wurde nicht nur gestorben, hier heilte man und entließ die Menschen, gesund und munter – das war durchaus möglich, das war auch oben im Zimmer 384 möglich, in dem Sophie lag. Er sah sie plötzlich aufstehen, sich anziehen, auf den Gang treten, ihn unterm Arm fassen; hörte sie sagen: »Geh doch nicht wie ein alter Mann, Lutz! Komm, wir wollen schnell hier raus … ich muss zum Friseur … hast du Othello versorgt? … wir nehmen ein Taxi, komm schon!«

Wollte er das? Wäre das gut? Zurück in die Wohnung, Sophie ins Schlafzimmer, er aufs Sofa, Othello im Körbchen – und wenn die Uhr fünf schlug, würde sie wieder in Hut und Mantel an der Tür stehen und sagen: »Wieder zurück um sieben Uhr dreißig, wie immer« –, dann mit leichten Schritten die paar Stufen hinunter auf ihren hohen Absätzen. Später, um sieben Uhr dreißig, die schweren, schleppenden Schritte, der unsichere Schlüssel im Wohnungstürschloss, der ewig brauchte, um die richtige Kerbe zu finden, das langsame Öffnen der Tür, das graue herabhängende Gesicht – wollte er das wieder?

Oben im Zimmer 384 schlug Sophie die Augen auf und vergewisserte sich. Man hatte sie also in ein Privatzimmer gelegt, nicht auf die Intensivstation. Ob das die Krankenkasse auch bezahlte? Ihr Kopf war ziemlich klar, und sie konnte die letzten paar Stunden einigermaßen rekonstruieren: Mittagessen zu Hause, plötzlich im Krankenwagen mit Lutz – also war etwas Dramatisches geschehen, wie sie es ja immer erwartet hatte, eigentlich von Tag zu Tag. Nicht erwartet, gewartet hatte sie, voll gleichgültiger Neugier – wenn es so was gab –, gleichgültig einer Krankheit gegenüber und neugierig, was jetzt wohl geschehen würde. Wichtig war nur, dass Lutz geschworen hatte.

Die Tür ging auf, und eine Krankenschwester mit der Haube über dem grauen Haar kam herein. Sie stellte sich neben das Bett und fühlte den Puls, während sie an die Decke sah. Dann legte sie Sophies Hand sorgfältig zurück, beugte sich vor, um ihr ins Gesicht zu sehen, denn es dämmerte draußen, und noch war kein Licht angezündet. Sie schien auf etwas zu warten, aber Sophie sah sie nur an, fragte nichts.

»Ihr Mann wartet unten«, sagte die Schwester extra deutlich, damit Sophie auch verstehe. »Wollen Sie ihn sehen?«

Sophie schüttelte den Kopf, hörte, wie die Tür geöffnet und zugemacht wurde, schloss die Augen.

Als sie sie später wieder aufschlug, saß ein junger Mann im weißen Kittel an ihrem Bett. Sie konnte sein Gesicht nicht genau erkennen, weil er das kleine Nachtlicht auf ein Buch gerichtet hatte, in dem er las. Sophie beobachtete ihn, wie er vorsichtig und geräuschlos die Seiten umblätterte. Nach einer Weile spürte er, dass sie ihn ansah, und legte das Buch zur Seite.

»Wie fühlen Sie sich?« Eine ruhige, summende Stimme, ein Hauch von Akzent bei dem Wort »sich«, ja, ja, dachte sie, das »Ch«, das hat's in sich. Nicht einmal das Ei hatte es ohne Anstrengung geschafft, obgleich sie doch perfekt Deutsch gesprochen hatte.

»Haben Sie Schmerzen?«

Ja. Eigentlich hatte sie Schmerzen, oder besser, sie fühlte einen unangenehmen Druck auf der Brust, der ihr das Atmen erschwerte. Sie zögerte mit der Antwort. Richtige Schmerzen waren es nicht …

»Möchten Sie die Bettschüssel?«

Sophie konzentrierte sich.

»Ja. Aber …« fügte sie ungeduldig hinzu, »warum habe ich keine Nachtschwester?«

»Ich bin Ihre Nachtschwester, Frau Reinhold«, summte der junge Mann. »Der Pfleger auf Ihrem Flur hat Grippe. Ich habe seinen Nachtdienst übernommen. Bin ich Ihnen unsympathisch?« Er sagte »unsympathik«, und Sophie musste darüber lächeln wie auch über die einfache, vertrauensvolle Frage.

»Nein, gar nicht«, sagte sie.

»Dann probieren wir's doch einmal«, sagte er und zog aus dem untersten Fach des Nachttisches die Schüssel heraus, diskret mit einem Handtuch verdeckt.

»Außerdem habe ich mehr Kraft als eine Schwester; dann ist es immer leichter. Passen Sie auf.«

Er schraubte den Kopfteil des Bettes hoch, schob einen Arm unter Sophies Schulter und stützte sie, während er mit der andern Hand versuchte, die Schüssel unter sie zu schieben. Zu ihrem Erstaunen kippte sie seitlich vornüber wie eine Stoffpuppe. Er schaffte es erst nach mehreren vergeblichen Anstrengungen, sie aufrecht sitzend zu halten.

»Ach Gott«, sagte sie, als sie ihm hilflos im Arm hing, »entschuldigen Sie, dass ich so … so …«

»Da gibt’s nichts zu entschuldigen«, meinte er, und sie musste wieder lachen, weil er »enthuldigen« sagte.

»Fertig?«

Sie nickte, und er ließ sie unendlich vorsichtig in die Kissen zurückgleiten, bevor er die Schüssel unter ihr hervorzog und sie nebenan ins Badezimmer trug.

Als er wieder zurückkam und den Kopfteil langsam herunterdrehte, hatte sie Zeit, sich ihn anzusehen. Der Kittel hing lose um ihn herum. Schwarze, dichte, kurze Haare, dunkle Hautfarbe, schwarze Augen hinter einer Stahlbrille. Er lächelte sie an, während sie sacht von ihm weg nach hinten sank, und sie verspürte das Bedürfnis, ihm das Gesicht zu streicheln. Stattdessen sagte sie: »Danke – Sie machen das wirklich gut, aber es ist mir doch etwas peinlich.«

Er schüttelte geduldig den Kopf und sagte: »Beim übernächsten Mal wird's nicht mehr peinlich sein. Das wäre ja ganz dumm. Das ist doch mein Beruf. Da gibt es so was wie ›peinlich‹ gar nicht. Aber wissen Sie, was? Es ist ein gutes Zeichen, denn wenn es schlecht um Sie stehen würde, dann wäre Ihnen gar nichts mehr peinlich, glauben Sie mir.« Ohne ihre Antwort abzuwarten, ging er wieder ins Badezimmer und kehrte mit einer Schüssel warmem Wasser, einem Stück Seife und einem Waschlappen wieder, schlug die Bettdecke ohne Hast zurück, schob das grob gewebte Krankenhausnachthemd auseinander, wusch sie mit ruhigen, festen Griffen, trocknete sie sorgfältig ab, zog die Decke wieder hoch und sah ihr einen Augenblick lang prüfend in die Augen, bevor er Schüssel und Handtuch hinaustrug.

Als er zurückkam, setzte er sich wieder auf seinen Stuhl neben dem Bett. Sie hielt die Augen geschlossen, die kurze Prozedur hatte sie erstaunlich angestrengt.

»Haben Sie Schmerzen?«, fragte er leise. »Ich kann Ihnen eine Spritze geben, dann schlafen Sie ganz ruhig bis zum Morgen.«

»Was für eine Spritze?«

»Ein Morphiumpräparat. Vertragen Sie Morphium?«

Gut, dass das Nachtlicht ihr nicht ins Gesicht leuchtete. Gut, dass ihre Augen noch geschlossen waren, obgleich sie das Gefühl hatte, er werde ihr durch die geschlossenen Lider hindurch die Aufregung ablesen können.

Er glaubte, sie habe ihn nicht verstanden, und wiederholte die Frage langsam und deutlich: »Vertragen Sie Morphium?«

Sie traute ihrer Stimme nicht, nickte nur. Hoffentlich nicht zu emphatisch. Sie war sicher, dass jede Reaktion verdächtig sein würde, also war es am besten, ganz stillzuliegen und keinen Laut von sich zu geben.

Ein drittes Mal: »Haben Sie Schmerzen?«

Sie nickte.

»Wo?«

Schwach und vage deutete ihre Hand auf den Brustkorb.

Er ging schweigend aus dem Zimmer, und sie kreuzte die Arme und umklammerte ihre Schultern, um sich festzuhalten, denn sie hatte Angst, dass sie vor Aufregung zerspringen würde. Also hatte Lutz kein Wort gesagt! Hatte er vergessen? Möglich. Es war schließlich schon so lange her. Oder hatte er mit Absicht geschwiegen? Wollte er ihr einen letzten Genuss gönnen, weil es sowieso ganz gleichgültig war?

Der junge Mann kam zurück. Sie drehte sich seitlich von ihm weg, wie um es ihm zu erleichtern, ihr die Spritze in die Hüfte zu geben. So würde er auf jeden Fall ihr Gesicht nicht sehen können.

»Hat's wehgetan?«, fragte er.

Wehgetan? Was meinte er wohl damit?

Sie lag ganz still auf der Seite, den Kopf in das Kissen gedrückt, und folgte den wohlbekannten, so heiß geliebten, so lange entbehrten Spuren, die sie auf dem uralten Weg langsam, langsam, sanft, aber unaufhaltsam vorwärtstrieben. Sie lag so still, dass er sie vorsichtig umdrehte und in ihr Gesicht spähte. Aber was er sah, beruhigte ihn. Sie lächelte ihn an, die Augen weit offen.

»Fühlen Sie schon eine Wirkung?«

Sie nickte.

»Das ging aber schnell. Umso besser. Jetzt werden Sie bald einschlafen.«

Er setzte sich auf seinen Stuhl, richtete das Nachtlicht auf sein Buch und begann zu lesen.

Sophie, das Gesicht im Schatten, betrachtete ihn unter halb geschlossenen Lidern. Wie schön er war! So still und dunkel und friedlich. Ich liebe ihn, dachte sie. Gut, dass ich gerade jetzt jemanden gefunden habe, den ich lieben kann.

Sie fühlte sich genau wie er, still und dunkel und friedlich. Sein Zwilling.

Ein leises Surren. Er griff schnell in die Kitteltasche, und das Surren verstummte. Instinktiv schloss sie die Augen, spürte, dass er ihr Gesicht aus nächster Nähe betrachtete, glaubte sogar, einen schönen Augenblick lang seinen Atem zu fühlen – dann hörte sie das sachte Öffnen und Schließen der Tür. Natürlich, er hatte Stationsdienst, sie war ja nicht seine einzige Patientin. Schade, dachte sie und fühlte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten. Wie schön wäre es, wenn er jetzt die ganze Nacht hier an meinem Bett sitzen würde. Ich werde sowieso kein Auge zutun, das Heilmittel sorgt dafür, das Heilmittel, das Mittel zum Heil. Ich bin ganz und gar heil, dachte sie, von oben bis unten, eigentlich könnte ich aufstehen, tanzen gehen – aber warum sollte ich tanzen gehen, wenn er an meinem Bett sitzen und für mich sorgen wird. Denn dazu ist er da. Niemand darf mich ihm wegnehmen. Auch das Warten, bis er wiederkommt, ist schön. Nimm dir nur Zeit, die Nacht ist noch lang …

Die Tür öffnete sich, und der junge Mann kam auf Zehenspitzen herein.

»Sie schlafen nicht?«

»Nein, aber ich fühle mich gut.«

»Keine Schmerzen mehr?«

»Nein.«

»Versuchen Sie zu schlafen«, sagte er und nahm wieder sein Buch zur Hand.

Nach einer Weile schreckte ihn ihre Stimme auf, nicht mehr heiser und mühsam die Worte formend, sondern klar und fast heiter: »Wie heißen Sie?«

»Kostas Karanogliu.«

»Das kann ich unmöglich aussprechen.«

Er lachte.

»Sind Sie ein Doktor?«

»Ja. In drei Monaten habe ich mein Klinikum hinter mir.«

»Dann muss ich Sie Herr Doktor nennen.«

»Warum müssen Sie mich überhaupt nennen?«

»Ich möchte Sie anreden können. Ich sage doch auch sonst ›Schwester‹.«

Er überlegte. »Also gut, nennen Sie mich ›Bruder‹.«

»Bruder – was?«

»Gar nichts, nur Bruder.«

Sie schwieg. Wie war das nur möglich! Bruder. Jetzt war auch Turhan wieder da. Er war ihr immer der Bruder gewesen, nicht der Halbbruder, wie Papa ihn so ausdrücklich und bösartig genannt hatte: »Dein Halbbruder ist mal wieder … dein Halbbruder hat mal wieder …« Bruder. Wie lange sie dieses Wort nicht mehr gedacht hatte.

»Bruder«, sagte sie laut.

»Gefällt Ihnen das nicht?«

»Doch. Bitte ein Glas Wasser, Bruder.«

Er goss ihr ein halbes Glas ein, schlang den Arm unter ihr Kopfkissen und hob sie, damit sie trinken konnte. Wenn er doch den Arm nicht wegziehen würde! Sie hätte gern weiter so gehangen, mit seinem Gesicht ganz nah an ihrem.

Vorsichtig ließ er sie wieder zurücksinken. Bevor er nach seinem Buch greifen konnte, fragte sie schnell:

»Wo kommen Sie her?«

»Ich bin auf Kreta geboren.«

Wie schön, dachte sie, und das Wort Kreta erfüllte sie mit überwältigender Seligkeit, denn hier war wieder ein Beweis, dass er ihr Zwilling war, ihr Bruder, verbündet.

»Meine Mutter war Türkin«, sagte sie feierlich, als hebe sie das auf eine Ebene, auf der sie einander nun gleich und gleich begegnen konnten. Tatsächlich sah er erstaunt und erfreut aus.

»Wirklich? Das hätte ich nie gedacht.«

»Ich weiß«, sagte sie verzeihend, »ich sehe wie mein Vater aus. Er war Deutscher, hatte blaue Augen.« Sie schwieg, fügte dann verbissen hinzu: »Und rote Haare. Ich auch. Das heißt, ich hatte sie. Jetzt sind sie weiß, aber rot gefärbt.«

Er nickte, fühlte die Verpflichtung, etwas zu fragen. »Ein Deutscher und eine Türkin – wie haben die sich getroffen? Auf einer Reise?«

Sie schüttelte langsam den Kopf.

»Sie war ein Spezialangebot. Hat ihn nichts gekostet.«

»Wie bitte?«, fragte er erstaunt.

Sie lächelte, und der Glanz in ihren Augen machte ihn einen Augenblick lang stutzig.

»Haben Sie schon einmal Morphium bekommen?«

»Ja.«

»Gegen Schmerzen?«

»Ich hatte einmal Blinddarmentzündung und dann Peritonitis.« Nicht mal gelogen.

»Und – reagieren Sie dann immer so? Sie schlafen nicht danach?«

»Nein.«

Er wollte sagen: Passen Sie auf, sonst werden Sie noch eines Tages süchtig – aber er dachte an den Bericht des Röntgenarztes und fragte sich, wovor er sie eigentlich noch warnen sollte.

Sie seufzte einmal glücklich auf. »Es war alles ganz einfach«, sagte sie langsam und blickte angestrengt an die Decke, als müsste sie dort etwas ablesen. »Keine Angst, Bruder, es ist keine komplizierte Geschichte, Sie werden sofort verstehen …«

Es surrte wieder, und der junge Mann erhob sich automatisch, war im Geist schon draußen auf dem Flur, merkte gar nicht, dass er sie mitten im Satz stecken ließ.

Sie löste ihren Blick von der Decke und betrachtete den leeren Stuhl, aber das wohlige Gefühl, das sie von Kopf bis Fuß erfüllte, blieb ungetrübt. Die Gedanken flogen vor ihr her, quollen in alle Himmelsrichtungen, bis sie ausgewalzt vor ihr lagen, wie eine Landschaft, die man vom Flugzeug aus betrachtet; alles klar und sinngemäß eingeteilt, leicht übersehbar und langsam, langsam, beinah unmerklich abrollend. Seltsam. Das Buch, das sie immer über ihr Leben schreiben wollte, enthielt ganz andere Landschaften: Dschungel, Felszacken, Wüste, hier und da mal eine Oase. Jedes Mal wenn sie in Gedanken daran schrieb, war es anders. Auch der Titel. Eine Zeit lang wollte sie es »Knäuel des Lebens« nennen, später gefiel ihr »Die türkische Mutter« besser, aber dann hätte es genauso gut »Der deutsche Vater« heißen können – oder sogar »Die Stiefmutter«, doch das hätte das Buch in die falsche Bahn gelenkt. Jetzt aber fiel ihr auf einmal der richtige Titel ein: »Umarmen hat seine Zeit«, dachte sie und musste vor Freude laut lachen. Das passte haargenau, von Anita angefangen bis – bis zu dem jungen Doktor hier, dem »Bruder«, den sie so gern umarmt hätte.

Nur der erste Satz war in allen Versionen der Gleiche gewesen, und der passte auch heute in diese neue, friedfertige, versonnene Landschaft: »Im Frühling des Jahres 1903 fuhr der deutsche Kaufmann Johannes Berglund zum vierten Mal nach Konstantinopel.« Da lag alles drin. Und sie beschloss, ihn so lange wie möglich Johannes Berglund zu nennen und nicht Papa, wenigstens bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie selbst zum ersten Mal in Erscheinung treten würde. Vielleicht sogar noch länger, bis zu ihrer ersten klaren Erinnerung an ihn, auf dem Segelboot draußen auf dem Wannsee kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Bis dahin würde er Johannes Berglund sein, ein Mann, den niemand nur flüchtig betrachtete, es sei denn, dass einen die roten Haare störten. Sie waren ziemlich dunkelrot, aber sein Bart und die Haare auf seiner Brust waren blond. Wie eine gelbe Wolldecke, hatte sie immer gedacht, wenn sie am Strand den Kopf darauf legte. Er war groß und stämmig, mit breiten Schultern – später hatte er einen Bauch wegen der Flasche Cognac, die ihn sogar ins Bett begleitete. Seine Augen waren ihr immer unheimlich gewesen, schon als Kind wollte sie sich manchmal hinter der Dade verstecken – aber von der durfte sie noch nicht erzählen, sonst würde alles durcheinandergehen.

Bruder kam leise herein und setzte sich auf seinen Stuhl. Sie schlief immer noch nicht, schien aber keine Schmerzen zu haben. Ihre weit offenen Augen sahen ihn an, aber er war sich nicht klar, ob sie wusste, dass er wieder neben ihr saß. Er holte sein Buch aus der Tasche, drehte das Nachtlicht so, dass es voll auf die Seiten fiel.

»Sie waren groß, rund und blau, die Augen, und standen etwas vor«, kam ihre Stimme plötzlich aus dem Halbdunkel. »Wenn er böse war, sah er aus wie ein Basilisk. Aber er hatte eine sehr schöne Nase. Ich auch, ich habe auch eine schöne Nase, aber seine war noch schöner, weil sie größer war. Sein Mund – da ließe sich drüber streiten. Von Haus aus war's ein guter Mund, breit und flach, aber mit der Zeit wurde er schmaler und geiziger. Zum Schluss war's nur noch ein langer Strich. Aber damals, als er zum vierten Mal nach Konstantinopel reiste – es gibt noch eine Fotografie von ihm, sie steht auf meinem Nachttisch zu Hause –, da war er Mitte dreißig, und das war sicher sein bestes Alter. Es hat doch jeder sein bestes Alter, nicht wahr, Bruder? Welches ist Ihres?«

»Ich glaube, meins ist noch nicht gekommen«, sagte er bedächtig, »ich hab's noch vor mir.«

Sophie schwieg. Beinah hätte sie gesagt: Ich auch, ich hab meins auch noch vor mir – aber irgendwas lachte da.

»Bruder?«, fragte sie atemlos.

Er nahm ihre Hand und hielt sie fest. Sie sah ihm ins Gesicht, sagte jedoch nichts mehr. Nach einer Weile löste er seine Finger und widmete sich seinem Buch. Als er sie später wieder ansah, bewegten sich ihre Lippen ein wenig, wie wenn man die Tasten am Klavier nur halb niederdrückt, damit sie nicht anschlagen.

2

Im Frühling des Jahres 1903 fuhr der deutsche Kaufmann Johannes Berglund zum vierten Mal nach Konstantinopel. Er nahm einen Zug von Berlin nach Wien und stieg am Abend in den Orientexpress. Er streckte sich auf dem Sofa in seinem Abteil aus und dachte, dass er eigentlich nur deshalb mit alten Teppichen handelte, weil er so gern im Orientexpress saß: drei Tage ungestört in dem rollenden, bequemen Zimmer aus Mahagoni, Spiegeln und Plüsch. Zweimal am Tag wanderte er in den Speisewagen, die übrige Zeit sah er aus dem Fenster oder beschäftigte sich mit seinen Bildermappen und Büchern, Fotografien und Zeichnungen von alten Perserteppichen. Er glaubte zwar, dass er allmählich ein Fachmann auf diesem Gebiet war, machte sich aber nichts vor, was den alten Mustafa Karabey betraf. Der würde ihn sein Leben lang übers Ohr hauen können. Trotzdem kaufte er nur bei ihm. Und Mustafa wusste, dass Berglund keine falschen Vorstellungen von ihm hatte, brauchte sich nicht zu verstellen und liebte ihn.

Er freute sich auf den Alten. Warum nannte er ihn eigentlich in Gedanken immer den Alten? So viel älter als er selbst war er sicher nicht. Aber er war von kleiner, gedrungener Statur, ging ihm nicht mal bis zur Schulter und watschelte unbeholfen und würdevoll einher. Wahrscheinlich war er um die Fünfzig. Schwer zu sagen, denn vom Gesicht sah man wenig, eigentlich nur wildes Haargestrüpp, angefangen bei den wüst wuchernden Brauen, die ihm wie bei zottigen Hunden so tief über die Augen hingen, dass man sie nur sehen konnte, wenn sie zornig funkelten. Und dann, gleich unter der kurzen Knollennase, Schnurrbart und Bart ineinander verwachsen. Dieser Bart, weißgrau, war eine Pracht. Er hing ihm bis über die Brust und endete in zwei weißen Spitzen, die nichts voneinander wissen wollten und auseinanderstrebten, obgleich er sie immer wieder zusammenzwirbelte.

Gleich nach der Ankunft würde er ihm eine Botschaft senden. In sein Sommerhaus am Bosporus. Sicher würde er ihn wieder dorthin einladen und in der großen Empfangshalle seine Schätze für ihn aufstellen und nicht in seinem Geschäft in der Stadt. Mustafas Haus war nur für seine Freunde da, und zwischen dem Alten und ihm war es Liebe auf den ersten Blick – aber ohne Illusionen – gewesen.

Am dritten Tag der Reise fuhr der Zug mit nur wenigen Stunden Verspätung gegen Abend im Sirkeci-Bahnhof in Konstantinopel ein. Auf dem Bahnsteig drängten sich die Träger in schmutzigen weißen Pluderhosen, bunten Jacken, den Fes auf dem Kopf. Dutzende von braunen Händen streckten sich seinen zwei Koffern entgegen: Gebrüll, Fluchen, Püffe. Berglund sah dem Treiben vom Fenster aus gelassen zu, sprang nicht mehr wie beim ersten Mal eilig hinunter, um sich an die siegreichen Träger zu hängen, damit sie nicht mitsamt dem Gepäck verschwinden konnten. Inzwischen kannte er den Ehrenkodex der porteurs: Fußtritte für den Kameraden, Moral für den efendi. Wären sie ihm im Gedränge abhandengekommen, so hätte er sie am folgenden Morgen auf den Stufen des Bahnhofs treu neben den Koffern schlafend gefunden.

Vor dem Bahnhofsgebäude Pferdedroschken oder Esel, je nach Brieftasche. Berglund blieb einen Augenblick mitten im Gewühl stehen und atmete den Geruch der Stadt tief ein, das Gemisch aus Nebel, Rauch, Staub, Zwiebeln und salzigem Meerwasser, das er liebte. Dann stieg er in eine offene Kutsche und streckte die Beine von sich, müde von der langen Reise. Die Pferde kämpften sich durch die Menge, Hunderte von Männern mit Fes und in bauschigen Hemden und einige wenige, vorbeihastende, tief verschleierte Frauen, meistens mit Kindern an der Hand.

Als die Pferde über die alte Galata-Brücke trabten, hatte er auch diesmal das Gefühl, dass sie unter ihm wackelte und gleich einstürzen würde. Er wandte den Kopf zurück, noch war es nicht ganz dunkel: Konstantinopel, die Stadt der zwei Kontinente, Europa hier unter seinen Füßen und Asien dort drüben, auf der anderen Seite des Bosporus.

Gleich von Anfang an hatte er im Pera-Palasthotel gewohnt, ehrwürdig-vornehm, gleich links von der Galata-Brücke im hoch gelegenen Stadtteil Beyoglu. Man reservierte ihm immer dasselbe Zimmer im vierten Stock: französische Stilmöbel, Plüschsofa, Gaslampen, zwei kleine Palmen in Töpfen. Wichtig war ihm nur der Balkon, und er blieb kurz angebunden mit dem eifrigen Hoteldirektor, um ihn loszuwerden und hinauszutreten, bevor es ganz dunkel wurde.

Die Aussicht beglückte ihn wie immer. Er kannte jedes Minarett, jede Kuppel, konnte sich aber die Namen nicht merken mit Ausnahme von der dort, ganz hinten am Horizont, der Blauen Moschee, und der Kuppel ihr gegenüber, der Hagia Sophia, rötlich im letzten Licht. Außerdem kannte er noch den Topkapi-Palast beim Namen, aber wer kannte den nicht, dort jenseits des Goldenen Horns, nicht weit vom Bahnhof. Unten auf der Straße wurden die Gaslaternen angezündet. Jemand klopfte an die Tür und wollte dasselbe in seinem Zimmer tun. Eilig schrieb er ein paar Zeilen auf Französisch und schickte sie mit dem Lampenanzünder zum Portier, damit sie noch am selben Abend in den Händen seines Freundes Mustafa Karabey seien.

Die Antwort lag bereits auf dem Frühstückstablett: Mustafa werde sich die Ehre geben, seinen Freund Monsieur Johannes Berglund, den Allah erhalten möge, in seiner Kutsche um zwölf Uhr abzuholen, um mit ihm gemeinsam das Mittagsmahl in einem Restaurant einzunehmen, da sein Küchenchef an Malaria erkrankt sei. Danach hoffe er, ihn in seinem ärmlichen Haus begrüßen zu dürfen. Dort würden einige wertlose Teppiche, die der Beachtung kaum wert seien, auf ihn warten.

Der Morgennebel über dem Goldenen Horn hatte sich noch nicht aufgelöst: ein ockerfarbener Dunst, hinter dem die Sonne lauerte. Erst blitzten die goldenen Halbmonde auf den Minaretten auf, dann brachen die Sonnenstrahlen über die Dächer, eroberten Berglunds Balkon und brannten ihm auf die Stirn. Sie würden in der geschlossenen Kutsche fahren müssen, sein rothaariger Schädel vertrug diese Sonne nicht. Nach dem dritten Aufruf zum Gebet vom Minarett hielt Mustafas Kutsche vor dem Pera-Palasthotel, und Berglund stieg ein. Sein Freund saß würdig und sehr aufrecht im Polster und grüßte mit feierlichem Salam 'aleikum und einer gemessenen Bewegung der Hand vom Mund bis zur Stirn.

»Salam 'aleikum«, erwiderte Berglund. Sein einziger türkischer Satz, und er konnte ihn nur deshalb so lässig hinwerfen, weil die Jungen in seiner Schule »Salam 'aleikum – Gummi arabicum« gerufen hatten, wenn man sich einen Radiergummi borgen wollte.

Mustafa eröffnete seinem Gast, er werde ihn in ein Fischrestaurant führen, da diese Speise Allah und hoffentlich auch Monsieur Berglund gefällig sei.

Durch das offene Fenster feierte er Wiedersehen mit den vielen Wägelchen voll Gemüse, flachen Broten oder Pantoffeln, welche die Straßenhändler brüllend durch die Gassen zogen, mit den Eseln und hochnäsigen Kamelen, die den Pferden den Weg versperrten, und mit den Gassenjungen, die sich ans Kutschenfenster hängten, den winzigen roten Fes auf dem Wollhaar, und »bak-schi-isch« schrien, bis er sie lachend wie Fliegen vom Trittbrett wischte. Mustafa nahm von dem Treiben keine Notiz, meditierte würdevoll in seiner Ecke, bis die Kutsche vor einer alten Holzbaracke am Bosporus hielt.

Berglund stellte mit Befriedigung fest, dass die Latten lose herabhingen und dass die eine Hälfte des Gebäudes von wurmstichigen Pfählen gestützt wurde, die im Wasser standen. Dies alles versprach eine erstklassige – und teure – Mahlzeit.

Drinnen war es dunkel. Nur einige wenige Tische unter den winzigen, schiefen Fenstern. Ein Kellner schleppte Eimer an, in denen Fische zum Auswählen herumschwammen, die wenig später, in Kräutern gekocht, auf rot lackierten Holztellern vor ihnen lagen.

»Allah empfiehlt Schweigen beim Genuss des Fisches«, verkündete der Alte, und so konzentrierten sie sich auf die Gräten und wappneten sich zum bevorstehenden Gefecht; Mustafa mit Tee, Berglund mit Weißwein. Von jetzt ab hieß es auf der Hut sein!

Trotzdem traf ihn das erste Scharmützel unvorbereitet: Der Alte hatte etwas gerufen, und der Kellner war mit der Rechnung herbeigeeilt, aber Mustafas Aufmerksamkeit wurde plötzlich von ein paar Kräutern beansprucht, die sich in seinem Bart verheddert hatten. Eine kleine Pause entstand. Die Rechnung hing fragend in der Luft. Berglund streckte zögernd die Hand aus, betrachtete die Ziffern auf dem schmutzigen Stück Papier und murmelte unwillkürlich: »Großer Gott.«

Der Alte blickte teilnahmsvoll auf: »Sie sehen blass aus, mein Sohn.«

Berglund suchte unter den buschigen Brauen nach den Augen seines »Gastgebers«, aber er fand sie nicht. »Allahs Speise liegt mir teuer im Magen!«

Mustafa neigte mitfühlend den Kopf: »Versuchen Sie, sich eine kleine Luftsäule abzuringen und diese lautstark zu entladen. Ihnen zur erheblichen Erleichterung und Allah zu Ehren.«

Als sie sich kurz darauf erhoben, hatte sich nicht sein Magen, sondern seine Brieftasche erheblich erleichtert.

Während der Fahrt am linken Bosporus-Ufer entlang wurde Mustafa, satt und sonnig nach dem gelungenen Mittagsmahl, gesprächig und berichtete ausführlich, welche Mühe es ihn gekostet habe, die armseligen Teppiche – die wertvollsten im Lande übrigens – herbeizuschaffen. Berglund hörte schweigend zu und hoffte im Stillen, dass er genügend Geld mitgebracht hatte. Er sah aus dem Fenster, und seine schlechte Laune verschwand bei dem Wiedersehen mit den kostbaren kleinen Häusern am Rande des Wassers, die den Wohlhabenden zur Erholung von der Hitze der Stadt dienten; jedes einzelne elegant und zierlich, die Fassaden kunstvoll aus Holz geschnitzt und verschnörkelt.

Mustafas Haus unterschied sich äußerlich in keiner Weise von den anderen. Der Haupteingang war seitlich angelegt und der kleine, blumengefüllte Garten ging nach rückwärts, sodass man ihn von der Straße aus nicht sehen konnte. Berglunds Blick galt – wie immer – dem oberen Stock mit den vielen hohen, schmalen Fenstern, vor denen sich bemalte Gitterstäbe schlängelten, scheinbar gewichtloser Firlefanz, aber er wusste, sie waren aus Eisen und bewachten das kostbarste Gut des Hauses: den Harem. Zwei Diener halfen ihrem Herrn beim Aussteigen, ein dritter hielt den Wagenschlag für Berglund auf. Der Alte drehte sich um, hieß ihn zeremoniell willkommen und erbat Allahs Segen für die Gesundheit des Gastes und den Abschluss des Geschäfts.

Berglund blieb einen Augenblick in der Tür stehen. Die Empfangshalle, quer durch das Haus, vom Eingang bis zur Gartenpforte, war sein liebster Aufenthaltsort in Konstantinopel. Sie war aber auch von besonderer Schönheit. Hoch, mit kuppelähnlicher Decke, einem Fußboden aus poliertem Holz, in der Mitte der traditionelle Springbrunnen. Kleine Alkoven saßen rechts und links in den Wänden wie Geheimfächer in einem alten Schreibtisch. Das Ganze war kühl, hell und still, nur der Springbrunnen plätscherte im schrägen Sonnenlicht.

Mustafa watschelte voraus und deutete stumm auf das hinterste Ende der Halle. Dort, im heiteren Licht des Gartens, lagen etwa ein Dutzend Teppiche verschiedener Größe, einer dicht am anderen. Sie leuchteten wollig oder samten, übersät von kühn verschlungenen Mustern auf buntem Grund. Es waren auch Gebetsteppiche dabei, leicht erkennbar an der ungeschmückten Mittelbahn für Knie und Füße und an den ebenfalls einfarbigen Vierecken zum Aufstellen von Gefäßen. Der Muselman war praktisch: die herrlichsten Verzierungen für das, was Allah sehen konnte, aber weder Zeit- noch Raumverschwendung an Kunst, die er unter dem Gewand oder unter einem Kupferkessel sowieso nicht zu Gesicht bekam.

Berglund entschied sich – wie immer – schnell. Er wusste aus Erfahrung, dass es nur schwieriger wurde, wenn man sich einmal aufs Gegeneinander-Abwägen der einzelnen Muster einließ. Das, was ihm auf den ersten Blick gefiel, das war's dann auch gewöhnlich. Nur zum Schein wendete er verschiedene Stücke um, untersuchte mit gerunzelter Stirn die Knüpfung, roch sogar daran. Mustafa stand etwas abseits mit der Gelassenheit des Kenners, dessen Ware für sich selbst spricht.

Dieser da – das war ein Kasak-Gebetsteppich, nicht wahr? Mustafa nickte. Ungefähr hundert Jahre alt? Der Alte nickte wieder, beifällig und würdevoll. Berglund war stolz auf sich. Und dieser da – war das nicht eine antike persische Pferdedecke? Mustafa warf ihm einen anerkennenden Blick zu, und Berglund seufzte tief auf und entschied sich. Basta.

Der Alte klatschte in die Hände, zwei Angestellte auf weichen Pantoffeln wuchsen aus dem Boden, rollten die übrigen Teppiche zusammen und trugen sie wie angeknickte Riesenzigarren fort. Berglund hockte sich auf den Boden, betrachtete sein neu erworbenes Eigentum und rieb die Handflächen ein paarmal zärtlich gegen die sanft-spröde Wolle. Dann folgte er Mustafa, der bereits in seinem Lieblingsalkoven auf ihn wartete.

Sie saßen einander am Boden gegenüber, jeder auf einem Lederkissen. Mustafa im Türkensitz, Berglund etwas unbequem, die langen Beine seitlich abgewinkelt. Beide waren zufrieden: Berglund, weil er sich über seinen alten Gebetsteppich und die antike Pferdedecke freute, Mustafa, weil der Kasak höchstens zwanzig Jahre alt und die Decke von der Frau seines Stallmeisters geknüpft war. Auf dem niedrigen Tischchen neben ihnen standen je eine Kanne Kaffee und eine winzige Tasse. Neben Berglund lag seine Zigarre, neben Mustafa stand seine Wasserpfeife, die Nargileh. So hatten sie jedes Mal gesessen, wenn das Geschäft abgeschlossen war, schweigend, Kaffee trinkend, rauchend, jeder noch mal im Kopf nachrechnend.

Und jedes Mal war es Berglund, der die friedliche Stille mit der Frage unterbrach, ob er nicht einen Blick in den Harem werfen dürfe. Nur einen Blick. Dabei wusste er, dass harem das türkische Wort für »unzugänglich« war, aber schließlich versicherte ihm Mustafa bei jedem Besuch, er liebe ihn »wie einen Sohn«. War Söhnen das Betreten des Harems verboten? Bisher hatte Mustafa noch niemals eine Antwort gegeben, nur den Kopf geschüttelt und die Nargileh energisch zwischen dem Bartgestrüpp verstaut.

Diesmal aber saß er eine Weile und zwirbelte seine Bartenden zusammen. Berglund war drauf und dran, seine Frage laut und deutlich zu wiederholen, als der Alte plötzlich mühselig aufstand und in seinen Pantoffeln mit den nach oben gebogenen Spitzen quer über den polierten Holzboden watschelte. Nicht weit von der Eingangstür befand sich eine Pforte, der Berglund noch nie Beachtung geschenkt hatte, so niedrig und unscheinbar war sie in die Ecke geklemmt. Lautlos ging er hinter Mustafa her.

Zu seinem Erstaunen war die kleine Tür unverschlossen. Ein langer Gang mündete in einer engen, dunklen Treppe, die ins Obergeschoss führte. Die Pantoffeln schlurften langsam, Stufe für Stufe hinauf, Berglund dicht dahinter. Oben angekommen, blieb der Alte stehen, um zu verschnaufen. Auch hier kein Fenster. Es war so dunkel, dass man die Umrisse einer niedrigen Tür nur an dem fahlen Glimmen der goldenen Verzierungen erkennen konnte. Der Alte stieß sie mit dem Fuß auf.

Die plötzliche Helligkeit blendete Berglund, sodass er stehen blieb, während Mustafa würdevoll über die Schwelle stolzierte. Zwischen Topfpflanzen, Kissen und niedrigen Tischen saßen etwa ein Dutzend heller Stoffbündel auf dem Boden und erstarrten, als sie einen fremden Mann sahen, der sich bückte und ins Zimmer trat. Mit einer einzigen, gleichartigen Bewegung waren alle Gesichter verhüllt. Nur hie und da blieben Stirn und Augen frei.

Berglund trat einen Schritt vor, die Stoffballen saßen regungslos. Etwas Dunkles löste sich aus dem Knäuel, richtete sich zu beträchtlicher Höhe auf, balancierte auf nackten Füßen auf Mustafa zu und küsste ihm die Hand. Sie war ganz und gar eingewickelt, ein großes dunkelbraunes Paket, und Berglund dachte zuerst, sie sei vielleicht die erste Frau im Harem, und dann, als er sie sprechen hörte, glaubte er sogar, sie sei ein Eunuch, denn ihre Stimme war hart und knarrig, aber Mustafa erklärte ihm, dies sei die Dade, die Amme, die anderen seien einige seiner Frauen und Töchter. Wie viel Töchter habe er denn? Der Alte zählte an den Fingern und brachte es auf neun. Diese da drüben sei die Älteste. Er rief etwas, und ein Bündel aus gelbem Musselin drückte sich langsam aus den Kissen und näherte sich zögernd.

Wenn Berglund später an Amina dachte, tauchte immer wieder diese erste Bewegung auf, als sie auf ihn zuwedelte wie ein Schleierfisch unter Wasser oder wie eine von den Gestalten, die man im Traum sieht, ohne Gesicht, geheimnisvoll und leuchtend wie ein Irrlicht. Der Schleier ließ die niedrige Stirn und die großen, dunklen Augen frei. Sie sprach kein Wort, verneigte sich vor ihrem Vater, aber nur ein wenig. Von Berglund nahm sie keine Notiz, und von diesem Augenblick an war er ihr verfallen.

Mustafa sagte etwas zu den anderen Frauen, rief und lachte, und sie riefen und lachten zurück und kreischten und winkten mit den Armen, weil sie wussten, wie schillernd dann die Schleier hin und her fächelten.

Die Dade kam mit kleinen Tassen auf einem Silbertablett. Amina hob den Arm. Der Ärmel fiel zurück und entblößte eine Hand wie ein blasses Rosenblatt. Sie reichte Berglund die erste Tasse, gab die zweite ihrem Vater und nahm die letzte für sich selbst. Ihre Hand schwebte langsam und zierlich durch die Luft, und Berglund folgte jeder Bewegung wie hypnotisiert. Er leerte den süßen Minztee in einem Zug, obwohl ihm davon immer übel wurde. Er wusste, dass man ihn in kleinen Schlucken trinken sollte, aber er wollte sich von den hintergründigen Augen und den schmalen, durchsichtigen Fingern nicht einmal durch das Heben und Senken der Tasse ablenken lassen.

Die Dade hielt ihm das leere Tablett hin, als fordere sie ihn auf, den Raum alsbald zu verlassen. Er stellte seine Tasse hastig ab, fühlte ihre argwöhnischen und feindlichen Augen durch den Schleier hindurch und trat unwillkürlich einen Schritt zurück, während Mustafa und seine Tochter rhythmisch und gemächlich tranken und schwiegen. Um sie herum kicherte und zwitscherte und kreischte es wie in einem Vogelhaus.

Am selben Abend hielt Berglund um Aminas Hand an.

Sie saßen im Alkoven, jeder auf seinem Kissen. Mustafa schien nicht sonderlich überrascht, zwirbelte nachdenklich seine Bartenden. Ob ihn der Antrag ehrte? Ob er ihn kränkte? Vielleicht war er ihm gleichgültig, schließlich hatte er neun Töchter. Er warf Berglund einen kurzen, forschenden Blick zu, verschränkte die Arme und begann ohne Umschweife zu feilschen. Eine älteste Tochter war teuer, wie viel wollte Berglund investieren? Wenn es um Geschäfte ging, sprach der Alte immer fließendes, wenn auch gutturales Französisch, während er sich sonst lediglich auf Stichworte und Gesten beschränkte.

Aber diesmal machte das Feilschen keinen Spaß. Berglund protestierte nur zum Schein, starrte auf die Tür, die zum Harem führte, und hätte am liebsten ja und amen zu allem gesagt, wenn er nicht gewusst hätte, dass sich das nicht schickte. Er selbst stellte nur eine Bedingung: Sofort! Er würde nicht allein abreisen, Amina müsse ihn als seine Frau begleiten.

Der Alte wackelte mit dem Kopf hin und her, dass die weißen Bartspitzen wie Kissenzipfel durch die Luft wirbelten. Dann müsse Berglund eben noch einige Zeit in Konstantinopel verweilen. Beamte müssten »belohnt« werden, geistliche Würdenträger »versöhnt«, und die Rekonvaleszenz nach der Beschneidung würde auch eine gewisse Zeit in Anspruch nehmen.

Berglund kam irgendwie auf die Füße – es sah beinah so aus, als wollte er den Alten schlagen. Beschneidung? Mustafa blinzelte ungerührt zu ihm empor; sein plötzliches Schweigen zeigte an, dass es in dieser Angelegenheit kein Handeln gab.

Berglund trat einen Schritt zurück, weg von dem Lederkissen, aus dem Alkoven heraus, die Beine strecken.

Draußen in der Halle ging er auf und ab, umkreiste den Springbrunnen, zündete sich eine Zigarre an, wanderte weiter, hätte gern seine Jacke ausgezogen. Beschneidung! In seinem Alter! Auf was für ein sinnloses Abenteuer hatte er sich da eingelassen. Heute Morgen war er noch ein freier Mensch gewesen – und nur, weil sich ihm eine verhüllte Gestalt mit schwarzen Augen genähert hatte …

Er blieb stehen, merkte, dass er zitterte. Noch nie hatte er etwas Ähnliches verspürt, hatte den Frauen in seinem Leben kaum einen Gedanken geschenkt, wenn sie nicht gerade in sein Blickfeld gerieten. Sein Nacken war plötzlich steif, und er drehte den Kopf hin und her und hoch hinauf zur Kuppel, die sich über die Empfangshalle wölbte. Er funktionierte einfach nicht wie sonst, sein Kopf. Er konnte sich nicht einmal mehr an den Kaufpreis für das Mädchen erinnern, den er erst vorhin mit dem alten Gauner ausgehandelt hatte.

Seine Mutter kam ihm in den Sinn. Würde es ihm am Ende doch so gehen wie dem Vater? Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Am besten die Unterredung abbrechen, fort aus dem Haus, zurück ins Hotel, abreisen – oder wenigstens Zeit gewinnen zum Nachdenken.

Er drehte sich um und sah zum Alkoven hinüber. Der Alte saß noch da, wie er ihn verlassen hatte, die Wasserpfeife im Mund. Jetzt hob er die Hand und winkte.

»Monsieur Jean!« – »Johannes« war ihm zu beschwerlich.

Berglund setzte sich zögernd in Bewegung. Der Alte deutete auf das Lederkissen. Es war mühselig, so hoch hinaufzusehen, er hatte den großen Mann gern am Boden.

»Sie können eine Narkose haben«, sagte er, nachdem Berglund sich widerstrebend heruntergelassen hatte. »Hier in der Stadt wird es jetzt oft mit Narkose gemacht. Bei uns findet das ja erst statt, wenn die Knaben über fünf Jahre alt sind, damit dieses Ereignis im Bewusstsein bleibt. Es ist ein Ehrentag für das Kind, eine Familienfeier mit Schattenspielen und Zuckerwaren. Wir würden natürlich auch für Sie ein Fest veranstalten, mit Musik und Fahnen – und Spaßmachern.«

Er lächelte entwaffnend, unbekümmert um den Blick, den Berglund ihm zuwarf.

»Man hat mir erzählt, dass im Koran nichts von Beschneidung steht.«

»Aber in den Kommentaren steht es, und die sind ausschlaggebend für uns.« Die Augen unter den wilden Brauen wurden plötzlich ernst, und die Stimme verlor den spöttischen Ton. »Ich bin nicht sehr fromm, und Amina ist nicht meine Lieblingstochter, aber sie wird keinen Unbeschnittenen heiraten.«

Berglund sagte nichts mehr. Er hatte das Gefühl, er sei an diesem Nachmittag in einen reißenden Bach gesprungen und treibe seither willenlos talabwärts.

Mustafa gewährte seinem künftigen Schwiegersohn eine kleine Atempause, bevor er zum letzten Schlag ausholte: Die Dade würde Amina selbstverständlich begleiten und bis ans Ende ihrer Tage an deren Seite bleiben, Allah sei gepriesen.

3

Es war schon spät, als Berglund ins Hotel zurückkehrte. Er hatte seit Mittag nichts als den süßen Tee getrunken, aber er war nicht hungrig, bestellte nur eine Flasche Bordeaux aufs Zimmer.

Oben trat er auf den Balkon hinaus und betrachtete die dunkle, schweigende Stadt. Es musste geregnet haben, während er mit Mustafa gefochten hatte. Die Straßen glänzten wie nasse schwarze Seide im Licht der Gaslaternen. Eine Sänfte glitt langsam auf das Hotel zu. Jemand in weißem Burnus ging nebenher, wahrscheinlich ein Ehemann. Sicher saß seine Frau in ihre Schleier eingewickelt versteckt hinter den geschlossenen Vorhängen.

Er beugte sich über die Brüstung, um vielleicht den Anblick einer Hand oder gar eines Fußes zu ergattern, wenn die Frau die Sänfte verlassen würde. Lächerlich. Was lag schon an einer Hand oder einem Fuß? Nur interessant, weil sie verhüllt waren, die listige Weisheit des Korans. Die Sänfte hielt, aber alles, was er sah, war das Aufleuchten eines hellen Gewandes, das dann ein paar Schritte hinter dem Burnus hertrippelte, so wie sich das gehörte.

Er trat zurück, setzte sich in einen Korbsessel auf den Balkon und widmete sich dem Bordeaux. Nicht nachdenken, erst mal die halbe Flasche austrinken. Das würde genügen; er fühlte sich ohnedies angetrunken, leicht im Kopf, unbeholfen auf den Beinen.

In der Feme die goldene Sichel der Blauen Moschee, blass vom Mond angestrahlt – aber die Gedanken liefen ihm davon, zurück zu Mustafas Haus am Bosporus, zu dem Springbrunnen in der Empfangshalle, zu der kleinen Pforte, der engen Treppe, der Tür, die sich geöffnet hatte …

Er stand auf und holte sich sein deutsch-türkisches Lehrbuch vom Nachttisch, hielt es so, dass er die fett gedruckten Buchstaben im Mondlicht lesen konnte. Allahu akbar! La ilahu illa'llah. »Gott ist groß. Ich bezeuge, es gibt keinen Gott als Allah.« Fünfmal täglich vom Minarett. Das war's nicht, was er suchte. Er blätterte weiter, fand das richtige Kapitel: »Vorschläge für angenehme Unterhaltung im Freudenhaus«. Das war's. Gleich der erste Satz: Seni seviyorum. »Ich liebe dich.«

Ob er sich das merken würde? Seni seviyorum! Ins Gehirn einbläuen, damit er's nicht verpasste, wenn sie es zum ersten Mal zu ihm sagen würde.

Im Anhang fand er das Kapitel: »Türkische Sitten und Gebräuche«, das er studiert hatte, als er vor fünf Jahren zum ersten Mal, neugierig und ahnungslos, nach Konstantinopel gereist war. »Heiratszeremonie«. Diesen Abschnitt hatte er damals überschlagen, hatte nicht heiraten wollen, und wenn, dann bestimmt keine Türkin.

»Beide Familien müssen sich einig sein.« Das war erledigt.

»Beide Brautleute müssen Moslems sein.« Gestrichen. Mustafa hatte großzügig darauf verzichtet.

»Beschneidung«. Wird erledigt, verdammt noch mal.

»Der Bräutigam hat die Braut mit Schmuckstücken auszustatten.« Vielleicht eine Perlenkette. Zweireihig.

»Der Bräutigam muss der Familie einen vorher bestimmten Preis zahlen.« Wird erledigt.

»Der Mann und die Frau bereiten sich drei Tage auf die Hochzeit vor. Der Bräutigam befindet sich im Männerhaus, wo man ihn mit Speis und Trank feiert.« Drei Tage lang?

»Am letzten Tag wird er ins Bad geleitet und dort gründlich gereinigt.« Er lachte laut und hielt sich die Hand vor den Mund, man lacht nicht allein in der Dunkelheit.

»Die Braut befindet sich im Frauenhaus. Sie wird gewaschen, gesalbt und mit wohlriechenden Kräutern eingerieben.« Warum nicht?

»Sie wird an Händen, Füßen, Stirn und Gesäß mit Henna bemalt.« Schade. Amina ohne Henna wäre ihm lieber gewesen. Besonders der Gedanke an das rote Hinterteil – wie ein Pavian! – machte ihm zu schaffen.

»Sie wird dann kunstvoll geschminkt und an allen Stellen rasiert …«

Er klappte das Buch zu. Morgen in aller Frühe würde er Mustafa aufsuchen. Der Alte sollte merken, dass er ihm nicht völlig ausgeliefert war, ihm nicht – und auch ihr nicht. Nötigenfalls würde er den Handel wieder rückgängig machen – aber bei dem bloßen Gedanken fing er wieder an zu zittern.

Er stand auf und lehnte sich über die Brüstung. In der Ferne schlug es zwei Uhr. Bisher war ihm nichts und niemand nahegekommen. Davor hatte er sich sein Leben lang gehütet, erst instinktiv, später bewusst. Keine Abhängigkeit! Nicht von Dingen und schon gar nicht von Menschen. Seine Freunde konnten nicht ohne eine bestimmte Frau oder ohne Tabak oder Alkohol leben, fürchteten sich nicht vor dieser Versklavung, fanden, es lohne sich. Warum hatte er eigentlich immer sofort einen Riegel vorgeschoben, wenn ihm jemand oder etwas zu sehr gefiel? Wann hatte das angefangen? Der Vater und der Ohrensessel! Da war's. Von dem Augenblick an, als er sich als Zwölfjähriger ins Arbeitszimmer zum Vater eingeschlichen hatte, um ihn um eine Mark anzubetteln, bevor er seine Siesta hielt. Zu spät. Der Vater war bereits eingeschlafen in seinem verdammten Ohrensessel. Er hatte ihn betrachtet, wie er da schlief, lächerlich und obszön, zerflossen, den offenen Mund ins Polster gepresst.

Ohne dieses Ding konnte der Vater nicht leben, sagte er. Es war kein Möbelstück für ihn, es war sein bester Freund, war seiner kleinen Statur angepasst, beschützte ihn vor kaltem Luftzug, wärmte ihn, wartete, wenn er ausging, unberührt auf seine Rückkehr. Sonst wartete niemand.

Die Mutter? War sie nun so, weil der Vater so war, oder war er so, weil sie so war? Wer war zuerst »so«? Wie war das, als sie sich kennenlernten? Es gab ein großes ovales Ölbild von der Mutter als junge Frau im Ballkleid, mit entblößten Schultern, das rote Haar auseinandergepufft und aufgesteckt, Perlen um den Hals und eine Rose in der Hand. Die Rose war weiß, aber die Schultern der Mutter waren noch weißer, beinah wie Kreide. Wahrscheinlich war der Vater von ihr besessen gewesen, und sie hatte den kleinen Mann akzeptiert, weil er nach Geld roch.

Niemals wurde von dieser frühen Zeit gesprochen. Es gab keine Anekdoten, nicht einmal eine Fotografie des Brautpaares. Die Kinder fragten nie. Weder Vera noch er interessierten sich für die Eltern als Gespann. Man ging beiden aus dem Weg, dem Vater, weil er einen verlegen machte, der Mutter, weil man keine Ruhe hatte, wenn sie im Haus war, weil ein elektrischer Strom von ihr ausging, der durch alle Türen drang und einem zu jeder Zeit einen Schlag versetzen konnte.

Den Vater sah man eigentlich nur bei Tisch, wo er so viel und so hastig in sich hineinstopfte, als müsse er in den Krieg. Die Pfeife war ihm in den Wohnräumen verboten, und so zog er sich immer gleich wieder in sein Arbeitszimmer zurück, wo er eine Stunde auf seinem »Freund« schlief. Dann schlich er geräuschlos die Treppe hinunter zur Haustür. Auf Zehenspitzen. Er liebte alte, abgetragene Schuhe mit weichen Sohlen. Kaufte sich nie neue – musste aber doch manchmal neue tragen. Nicht seine eigenen – die seiner Frau. Sie war so groß und er war so klein, dass beide die gleiche Schuhgröße hatten. Sie liebte neue Schuhe, aber sie durften nicht hart sein. Ein halb Dutzend Mal im Jahr standen ein Paar nagelneue Damenstiefel mit hohen Hacken und Knöpfen an der Seite vor dem Ohrensessel, der Schuhknöpfer daneben, und warteten auf die Rückkehr des Vaters. Die musste er anziehen und einen Abend lang anbehalten, um sie auszutreten, konnte dann nur mit kleinen Kinderschrittchen die Treppe rauf und runter trippeln. Vera und er waren an den Anblick gewöhnt und lachten nicht mehr. Manchmal fiel er um, dann halfen sie ihm auf die Beine.

Berglund trat von der Brüstung zurück und ließ sich in den Korbsessel fallen. Warum rückte ihm der Vater plötzlich auf den Leib? Weil er selbst auf dem besten Weg war, hörig zu werden? Unsinn. Er wollte dieses Mädchen besitzen, weiter nichts. Der Kaufpreis – Beschneidung, Heirat – war ungewöhnlich, zugegeben. Ungewöhnlich war auch das lächerliche Zittern, in das er verfiel, wenn er an das Fächeln der gelben Schleier dachte. Ein einziges Mal hatte sie ihn voll angesehen, und er hatte sofort erkannt: Das sind keine sanften, unschuldigen Kuhaugen, das sind wissende Augen, zwielichtig trotz der Schwärze. Dieses Mädchen mochte eine Jungfrau sein – sonst wäre sie keinen Heller wert –, aber sie hatte es faustdick hinter den Ohren, in solchen Dingen irrte er sich nicht.

Er öffnete noch einmal das Buch, erinnerte sich dunkel, dass es in diesem Lande eine ganz bestimmte Zeremonie gab, durch die der Bräutigam am Morgen nach der Hochzeit seine Zufriedenheit über den einwandfreien Zustand seiner »Neuanschaffung« ausdrückte.

»Der Bräutigam schießt mit seiner Pistole in den Kamin.« Das war's. Aber es würde schwierig sein, er hatte da bestimmte Pläne. Dem Brauch zufolge hätte er diese Nacht mit Amina im Haus ihres Vaters verbringen müssen, damit alle Bewohner in laute Freudengesänge ausbrechen konnten, sobald der Schuss fiel.

Er aber hatte vor, mit Amina gleich nach dem Festessen zum Bahnhof zu fahren. Er würde seine Hochzeitsnacht im Orientexpress verbringen.

4

Mustafa schien ihn erwartet zu haben, denn der Diener führte ihn sofort in die Empfangshalle. Der Alte saß auf einem Kissen am Rand des Springbrunnens. Die Dade stellte gerade einen Schemel unter seine Füße. Sie watschelte eilig davon, als sie Berglund eintreten sah, und zog sich hastig den Schleier übers Gesicht.

Er ließ sich von Berglund auf die Beine helfen, um ihn mit der dreifachen Begrüßungsgeste – die Hand in Richtung von Herz, Mund und Stirn – zu ehren. Sollten sie sich in den Alkoven zurückziehen? Auf keinen Fall, da war er dem Alten immer ins Netz gegangen. Er hob den kleinen Mann kurzerhand hoch und platzierte ihn wieder auf sein Kissen am Brunnenrand. Setzte sich neben ihn.

Mustafa ließ eine längere Pause verstreichen, um sich wieder würdevoll zu verankern, und bemerkte dann, dass Allah groß und einzig sei. Berglund hatte nichts dagegen einzuwenden, im Gegenteil, das gab ihm das Stichwort für seinen Eröffnungszug.

»Allah«, meinte er bedächtig, während er seine Zigarre anzündete, »hatte doch sicher einen Bauplan voll göttlicher Weisheit, als er die Welt erschuf, meinen Sie nicht, Mustafa Karabey, efendi?«

Der Alte sah ihn erstaunt an. Er war darauf vorbereitet, dass sein künftiger Schwiegersohn ihn heute aufsuchen und den unverschämten Kaufpreis für Amina um einige Tausend herunterhandeln würde. Nicht unüblich und nicht unehrenhaft. Was aber sollte dieses Präludium zu Ehren Allahs? War es möglich, dass er zum Islam übertreten wollte? Er wusste, dass es in Berglund brannte, und hatte den Preis entsprechend erhöht, aber dass er Amina zu Gefallen ihre Religion annehmen wollte, hatte er ihm doch nicht zugetraut. Ihm, Mustafa, lag nichts daran und Amina sicherlich auch nicht. Doch die Sache hatte einen gewissen sportlichen Reiz. Er legte daher die Handflächen aneinander und nickte andächtig dreimal mit dem Kopf.

Berglund spielte mit der Hand im Brunnenwasser und ließ es langsam durch die Finger laufen.

»Auch die Menschen«, sagte er versonnen, »sind doch nach einer ganz bestimmten, gottgefälligen Konzeption erdacht, nicht wahr?«

Mustafa beeilte sich, auch diesem frommen Gedanken zuzustimmen. Jede Einzelheit sei genauestens ausgetüftelt und aufs Herrlichste verwirklicht worden. Dabei kämmte er mit den Fingern den prächtigen Bart, mit dem ihn Allahs Sinn fürs Detail ausgestattet hatte.

»Warum versucht dann der Türke«, sagte Berglund und fixierte den Alten mit plötzlich steinharten blauen Augen, »an Allahs Modell herumzukorrigieren?«

Mustafa witterte, dass Berglunds Bekehrung im Eimer war, tappte aber immer noch im Dunkeln. Er zog die wild wuchernden Augenbrauen zusammen und ließ sein Französisch ausfallen. Auch das Gehör funktionierte schlecht, aber sein zukünftiger Schwiegersohn zog sein türkisches Lehrbuch aus der Tasche und schlug eine Seite im Anhang auf. »Warum malt man den Hintern der Braut mit Henna an?«, fragte er drohend und zeigte mit dem Finger auf eine Zeile. »Warum rasiert man sie?«

Mustafa fiel die Kinnlade runter, sodass ein schwarzes Loch mit nur wenigen gelben Zähnen zwischen dem Bartgewirr klaffte.

»Hat Allah vielleicht einen Fehler begangen, als er die Frau erschuf?«, fuhr Berglund unerbittlich fort. »Schämt man sich für ihn, und korrigiert man deshalb sein Werk heimlich im Frauenhaus, bevor es zur Inspektion zugelassen wird? Allah ist also ein Stümper?«

Jetzt war er zu weit gegangen. Mustafa wiegte sich in empörtem Protest rückwärts und vorwärts und fiel vom Brunnenrand. Zwei Diener kamen herbeigestürzt und hoben ihn auf. Berglund rührte keinen Finger.

Der Alte brüllte auf Türkisch, hob die Fäuste gen Himmel, schüttelte sie wild in der Luft und ließ sich halb getragen, halb geschleift aus der Halle bringen. Niemand kümmerte sich um Berglund, der auf dem Brunnenrand sitzen blieb und die Wasserkreise unter der Fontäne betrachtete. Es war angenehm kühl – und wahrscheinlich das letzte Mal, dass er hier sitzen durfte. Sein gesenkter Blick wanderte über den Holzboden und fiel auf ein Paar nackte braune Füße. Die Dade. Wahrscheinlich war sie im Auftrag von Mustafa lautlos angeschlichen gekommen, um ihm die Tür zu weisen. Langsam hob er den Blick, war sich bewusst, dass er im Nachteil war, denn sie stand und konnte ihn von oben herab beobachten, er aber saß und musste zu einem verhüllten braunen Pfosten aufblicken.