Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
ER WILL IHR HELFEN UND SETZT DABEI SEIN EIGENES LEBEN AUFS SPIEL! Der Ranger Riley Hendrix liest im halbdunklen Joshua Tree Nationalpark eine fremde Frau auf und ahnt nicht, welcher wahre Grund sie in die Natur treibt. Ehe er sich versieht, findet er eine weibliche Leiche, gerät selbst ins Visier von Verbrechern und wird in Haydens Vergangenheit gestoßen, die dunkler als die Nacht in der Wüste zu sein scheint. Trotzdem fühlt er sich zu ihr hingezogen und versucht alles, um sie zu beschützen. Doch bald wird ihm klar, dass ihr Geheimnis gefährlicher ist, als er vermutet hat ...
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 470
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Das Leben besteht aus unzähligen Entscheidungen. Hört auf euer Herz, seid mutig, stark und selbstlos. Ob für euch selbst oder jemand anderen. Trefft die Entscheidungen, so wie Hayden.
Für Julia,
weil wir den Joshua Tree Nationalpark gemeinsam erlebten und
für diese Geschichte gesorgt haben. Schon während der Fahrt
durch ihn durch wusste ich, dass ich sie schreiben würde.
Das hier ist für uns, weil unsere Reise etwas Besonderes war.
Ranger: Mitarbeiter, Betreuer oder Fremdenführer in einem Nationalpark
Navy SEAL: Spezialeinheit der US Navy, Einsatzorte sind
Meer, Luft und Boden (SEa, Air, Land)
FBI: Federal Bureau of Investigation
Special Agent: Ermittler einer Bundesregierung, überwiegend
in strafrechtlichen Untersuchungen tätig
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
EPILOG
Die junge Frau starrte in die Ferne. So eine grandiose Aussicht war ihr bisher nie zuteil geworden, deshalb war es für sie etwas Besonderes, hier zu sein. Hier, wo sie niemand belauschen konnte. Ihre Fahrt in den Joshua Tree Nationalpark war im Grunde nur dem Vorwand geschuldet, um ungestört miteinander sprechen zu können. Dass es gleichzeitig dieses beeindruckende Panorama gab, war ein Bonus. Bis Palm Springs waren es über 33 Meilen und es war unwahrscheinlich, dass ihnen jemand gefolgt war. Zumindest hatte Katinka Smith niemanden bemerkt. Ellen Gilmore gesellte sich neben sie und verflocht ihre Finger mit ihren.
»Die Sonne geht unter«, flüsterte Ellen, obwohl es überflüssig war, denn Katinka konnte es ebenfalls sehen. »Gleich ist keiner mehr hier.«
»Gut, dann reden wir.« Katinka warf einen Blick zu den Touristen, die gleichermaßen in die Ferne starrten oder Fotos von sich am Abgrund schossen. Katinka konnte sich nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal so unbeschwert war. Mit großer Wahrscheinlichkeit war es schon viele Jahre her.
Es dauerte eine weitere Stunde, ehe alle Touristen verschwunden waren. Inzwischen stand der Mond hell am Himmel und erleuchtete den Freundinnen das Sichtfeld. Auch im Dunkeln war ihre Umgebung eindrucksvoll und Katinka überkam eine seltene Ruhe. Obwohl der Wind ihnen kalt um die Ohren pfiff, blieben sie viele Stunden oben auf dem Aussichtspunkt. Für sie gab es eine Menge zu besprechen und wenn sie eins wussten, dann, dass sie sich aufeinander verlassen konnten.
Immer.
Ihr Ziel war es, einen Plan zu schmieden, wie sie alles beenden konnten. Wie sie sich aus dem Elend namens Leben befreien würden. Katinka und Ellen hatten jeweils einen Grund, warum sie endlich aus ihrem bisherigen Dasein ausbrechen wollten.
Dass sie doch nicht alleine waren, bemerkte Katinka erst, als es zu spät war.
Hayden Matthew starrte auf die Bildschirme, die vor ihr auf dem Schreibstand standen, und wartete auf den nächsten Notruf. Es war Anfang der Woche und sie hatte Nachtschicht. In Palm Springs war nicht viel los, nicht Anfang November. Spring Break lag noch in weiter Ferne und bis dahin beklagte sie sich nicht. Seit ein paar Monaten wohnte sie hier in einem kleinen Apartment, welches sie sich nur leisten konnte, weil sie zum Teil äußerst sparsam lebte und größtenteils die Nachtschichten übernahm. Viele der Mitarbeiter waren nicht scharf darauf, um diese Zeit zu arbeiten, und waren dankbar, wenn sich Hayden dafür meldete. Ihr war es meistens egal, wann sie vor den Bildschirmen saß und das Headset auf dem Kopf trug. In ihrem Privatleben war nicht besonders viel los. Nicht das sie sich beschweren würde, sie genoss die Ruhe und die Einsamkeit.
Plötzlich wurde ihr eine Hand auf die linke Schulter gelegt und sie zuckte zusammen. Eine Angewohnheit, die sie einfach nicht ablegen konnte, so sehr sie es auch versuchte.
Hayden wollte kein Opfer mehr sein.
Nicht nachdem sie seit fast einem Jahr ihre Freiheit zurückhatte. Betont ruhig drehte sie sich um und sah Stanley ins Gesicht, der zwei Tassen Kaffee in den Händen hielt. Stanley war einer der Mitarbeiter, der sich nicht vor den Nachtschichten drückte und so ziemlich immer im Dienst war, wenn sie auch da war. Meistens versuchte Hayden, nicht zu viel in die Tatsache hinein zu interpretieren, doch in Situationen wie diesen, fiel ihr das sehr schwer.
»Möchtest du einen Kaffee?« Lächelnd blickte er sie an und reichte ihr eine Tasse.
»Nein, danke. Ich trinke keinen Kaffee«, erwiderte sie und unterdrückte es, die Nase zu rümpfen. Kaffeegeruch war ihr zuwider. Früher hatte sie das heiße Getränk geliebt, jetzt verachtete sie es und kämpfte jedes Mal gegen die unliebsamen Erinnerungen an, die damit unaufhaltsam einhergingen. Es war lange unvermeidlich, doch inzwischen war sie so weit, dass sie nicht jedes Mal in eine Schockstarre verfiel.
»Willst du nicht einmal probieren?« Stanley hielt ihr die Tasse direkt vor das Gesicht.
»Ich weiß, wie Kaffee schmeckt«, sagte sie und hoffte, dass das Thema damit erledigt war. »Du kannst beide Tassen trinken. Wir haben noch eine lange Nacht vor uns.«
»Dann eben nicht«, murmelte er und strebte den Rückzug an.
Erleichtert atmete Hayden auf und drehte sich wieder zu den drei Bildschirmen um. Auf dem in der Mitte war die Straßenkarte von Palm Springs abgebildet, auf der ihr die Position des Anrufers angezeigt wurde, sofern er kein Wegwerftelefon verwendete. Rechts war das Feld, in das sie die Angaben des Notrufs eingab und links konnte sie die Informationen an die betroffenen Einsatzkräfte weitersenden.
Nachdem sie selbst in einer Situation steckte, in der sie Hilfe benötigte, beschloss sie ebenfalls, einer ähnlichen Tätigkeit nachzugehen. Auch sie wollte Menschen helfen, daher ihr aber die nötigen Fachkompetenzen fehlten, um Ärztin oder Krankenschwester zu werden, landete sie hier. Durch Zufall erfuhr sie, dass in der Notrufzentrale jemand gesucht wurde, und stellte sich kurzerhand vor. Nach einem Probetag wurde sie eingestellt und erwies sich laut ihrer Chefin Beatrice als Naturtalent.
Auf ihrem Bildschirm wurde ein eingehender Notruf angezeigt und Hayden setzte sich aufrechter hin, ehe sie diesen entgegennahm. »9-1-1 wie kann ich Ihnen helfen?«
»Das Miststück hat mir kein Trinkgeld berechnet«, blaffte eine männliche Stimme und Hayden zuckte überrascht zusammen.
»Wollen Sie einen Notfall melden, Sir?«
»Ja! Die geizige Frau ist einfach gegangen, ohne die dreizehn Prozent Trinkgeld zu geben«, beschwerte sich der Mann. »Das ist in meinen Augen sehr wohl ein Notfall, immerhin lebe ich von dem Trinkgeld!«
»Sir, das ist bedauerlich, aber kein Notfall für die Einsatzkräfte. Wenn Sie keinen anderen Notruf zu melden haben, machen Sie die Leitung frei!«, erwiderte Hayden und verdrehte die Augen.
»Aber ...«
»Gehen Sie aus der Leitung!«, mahnte sie und beendete die Verbindung. Normalerweise war es nicht ihre Art, aber während der Mann über sein nicht vorhandenes Trinkgeld jammerte, versuchte irgendwer anderes vielleicht einen wahren Notfall zu melden.
Trotzdem war Hayden diese Art von Bagatellen lieber, als sich mit ihrer eigenen Misere auseinanderzusetzen.
War das traurig?
Wahrscheinlich schon. Inzwischen wurde Hayden Meisterin darin, die eigene Tragik auszublenden und sich die der anderen aufzubürden.
Die Nachtschicht verstrich schleppend. Hayden nahm fünf weitere Anrufe entgegen und leitete sie weiter. Dabei handelten es sich um kleinere Angelegenheiten. Der letzte Notruf ging eine Stunde vor Schichtende ein und sie musste sich ein Gähnen verkneifen, ehe sie den Anruf annahm.
»9-1-1, wie kann ich Ihnen helfen?«, sagte sie mit klarer Stimme und vernahm zuerst nur ein Rauschen. »Hallo?« Wieder hörte sie nichts weiter, als dieses Geräusch. »Haben Sie einen Notfall zu melden?«, versuchte sie es erneut.
Keine Antwort.
»Wenn Sie keinen Notruf zu melden haben, bitte ich Sie, die Leitung freizugeben.«
»Hallo?« Leise erklang die Stimme an ihren Ohren und beinahe dachte sie, sie hätte es sich nur eingebildet. »Hallo?«
»Hier ist die Notrufzentrale«, antwortete Hayden.
»Endlich!«, gab die Person auf der anderen Seite von sich und für sie hörte es sich an, als wäre die Person deutlich erleichtert. »Sie müssen mir helfen!«
»Wie heißen Sie denn?«, fragte Hayden und hielt die Finger über der Tastatur bereit, um die Informationen direkt in die vorgegebenen Felder eingeben zu können.
»Katinka. Katinka Smith. Ich bin ... ich will ein Verbrechen melden. Er ... er hat ... sie ... er hat sie ... umgebracht.« Offenbar fiel es Katinka nicht leicht, darüber zu sprechen. »Ich habe es gesehen«, flüsterte sie und die Stimme brach ab.
»Hallo, sind Sie noch dran?« Unwillkürlich schlug ihr Herz schneller. Bisher hatte sie noch keinen Notruf in der Form erhalten. Alarmiert drehte sie sich um und suchte die Schreibtische nach jemanden ab, der ihr vielleicht helfen konnte.
»Hallo? Hallo!«, dröhnte es in ihren Kopfhörern und sie wendete sich wieder ihrem Schreibtisch zu.
»Hören Sie Katinka, ich werde die Polizei zu Ihnen schicken. Wo befinden Sie sich?«
Ein Schluchzen war zu hören. »Die werden mir nicht helfen, ich wusste nur nicht, wen ich sonst anrufen sollte. Ich habe niemanden. Aber es sollte jemand erfahren.«
Verdattert starrte Hayden auf die Tastatur. Dieser Notruf brachte sie vollkommen durcheinander. »Was meinen Sie damit, die Polizei wird Ihnen nicht helfen?«
»Ellen ist ... war ... meine beste Freundin ... das Schwein ... er hat sie einfach ... gestoßen«, stotterte Katinka und zog die Nase hoch. Das Geräusch war durch die Leitung ganz eindeutig zu hören.
»Wo sind Sie Katinka?«, fragte Hayden und suchte die Stadtkarte nach dem blinkenden Punkt ab. Nebenbei gab sie Befehle über ihre Tastatur ein. Glücklicherweise war sie im Tippen sehr geschickt. Da! »Sind Sie im Joshua Tree Nationalpark?«
»Ja, die Verbindung ist schlecht«, antwortete Katinka. »Ich befinde mich ...« Wieder waren ihre Worte nicht zu hören. »... View.« Abrupt endete ihre Stimme und Hayden lauschte angestrengt, ob etwas zu hören war.
Waren das Schritte?
Hayden war sich nicht sicher. Lautes Atmen erklang. »Katinka, sind Sie noch dran?«
»Er ist noch hier«, flüsterte sie und Haydens Herz schlug fast schmerzhaft gegen ihren Brustkorb.
»Können Sie sich irgendwo verstecken?« Gleichzeitig gab sie die Notrufmeldung an die Polizei raus.
»Er wird mich töten«, presste Katinka hervor und die Verbindung brach endgültig ab.
Schnell riss sich Hayden das Headset vom Kopf und sprang von ihrem Stuhl auf. Unruhig sah sie auf den Bildschirm, der ebenfalls anzeigte, dass das Telefonat beendet war. Wo der blinkende Punkt gewesen war, herrschte Leere.
Stanley tauchte hinter ihr auf. Sie konnte seine Gestalt in der Spiegelung des Bildschirms erkennen. »Was ist denn mit dir los?«
»Eben hat eine Frau angerufen, sie meinte, ihre beste Freundin wurde getötet und nun wäre der Mann hinter ihr her«, erzählte sie schnell und verschluckte dabei einige Silben.
»Beruhige dich erst mal.« Er legte seine riesigen Hände auf ihre Schultern. Beinahe brach sie unter dem Gewicht zusammen, so zittrig fühlte sie sich. Sie war so aufgelöst, dass es ihr in dem Moment nicht auffiel, dass er sie anfasste. Normalerweise mochte sie es nicht und befreite sich immer rasch von seinen Berührungen. »Wie war der Name?«
»Katinka Smith.« Hayden sah, wie Stanley die Stirn runzelte.
»Die schon wieder«, murmelte er und schien nicht mehr bestürzt zu sein. Fragend sah sie ihn an und er seufzte. »Katinka Smith ruft ungefähr einmal im Monat hier an und tischt uns irgendwelche hanebüchenen Geschichten auf, die nach Überprüfung überhaupt nicht stimmen. Du solltest diesen Notruf nicht ernst nehmen.«
Entsetzt sah sie zu ihm auf und konnte nicht fassen, dass er es einfach so abtat, obwohl er nicht die Angst in ihrer Stimme gehört hatte. »Meinst du das ernst?«
»Soll ich dir die anderen Notrufe vorspielen, die sie getätigt hat?«, fragte er und trat einen Schritt zurück. »Ich überzeuge dich gerne vom Gegenteil.«
»Nein danke, ich habe Feierabend«, sagte sie, drehte sich um und meldete sich von ihrem Computer ab, wenngleich sie noch über eine halbe Stunde zu arbeiten hatte. Der Notruf hatte sie zu sehr aufgewühlt, um jetzt noch einen klaren Kopf behalten zu können. Danach nahm sie ihre Sachen und verließ das Gebäude.
Noch immer konnte sie nicht begreifen, was gerade geschehen war. Sofort dachte sie an Katinka und an die Angst, die in ihrer Stimme mitgeschwungen war. Unvermittelt kamen ihr unliebsame Erinnerungen in den Sinn und sie kämpfte diese mühsam nieder. Tief atmete sie ein und aus und wickelte sich ihren dünnen Schal um den Hals. Selten gab es Notrufe, die sie noch im Nachhinein beschäftigten.
Auf dem Weg nach Hause versuchte Hayden auf andere Gedanken zu kommen, doch es gelang ihr nicht. Am liebsten wäre sie zur Polizei gegangen und hätte sich erkundigt, ob die Beamten inzwischen in den Nationalpark gefahren waren und nach Katinka suchten.
Das ist nicht deine Aufgabe!, schoss es ihr durch den Kopf und sie zwang sich, in ihr kleines Apartment zurückzukehren und die Tür zu verriegeln. Müde fiel sie ins Bett und sank in einen unruhigen Schlaf.
Als Hayden das nächste Mal die Augen öffnete, war es kurz vor halb drei am Nachmittag. Dennoch fühlte sie sich, als hätte sie nur ganz kurz die Augen geschlossen. Der Traum fühlte sich allzu real an und ihre Muskeln schmerzten, als wäre sie tatsächlich durch die Wüste gerannt.
Schlagartig war sie wach und richtete sich auf, ihre Gedanken waren wieder bei Katinka. Rasch sprang sie unter die Dusche und verputzte ein Sandwich, ehe sie sich anzog und auf den Weg zur Polizeistation machte. Hayden musste herausfinden, ob die Polizisten Katinka gefunden hatten oder nicht.
Auf dem S Civic Dr war mehr Verkehr als zur Morgenstunde. Die Palmen sahen wie riesige Büsche auf Stämmen aus. Da sich niemand der vertrockneten Blätter annahm, hingen sie einfach herunter. Oder aber sie sollten so aussehen, da war sich Hayden nicht so sicher. Obwohl sie bis zur Polizeistation nur eine Minute mit dem Auto benötigte, brauchte sie beinahe fünf, ehe sie an der Straße vor dem Eingang parkte und ausstieg. Ihr Weg führte sie am Gedenkplatz der verstorbenen Polizisten vorbei zum Haupteingang. An der Glastür stand in gelben Buchstaben, dass sie ihr Ziel erreicht hatte. Noch einmal atmete sie tief ein und öffnete die Tür. Dahinter empfing sie der typische Tresen, hinter dem ein Polizist an einem Schreibtisch saß und etwas über die Tastatur in den Computer tippte. Bei ihrem Eintreten sah er auf und erhob sich.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte er und legte die Hände flach auf den Tresen, auf dem verschiedene Formulare lagen. Flüchtig las Hayden den Namen auf seiner Uniform. K. Tanner
»Mein Name ist Hayden Matthew und ich wollte fragen, ob die Beamten einen Notruf nachgegangen sind, den ich weitergeleitet habe. Ich arbeite in der Notrufzentrale von Palm Springs«, schob sie noch als Erklärung hinterher, als sie sah, dass der Beamte protestierend den Mund öffnete.
»Um welchen Notruf geht es denn?«, hakte er widerwillig nach.
»Er ging heute Morgen um 05.21 Uhr ein und wurde von einer Katinka Smith getätigt. Sie gab an, dass ihre beste Freundin getötet wurde.«
»Ja, den haben wir erhalten, sind aber nicht ausgerückt«, erwiderte der Mann und sie sah ihn entgeistert an. Bevor sie nachfragen konnte, fuhr er fort zu sprechen. »Katinka Smith ruft schon seit Monaten an und gibt Verbrechen an, die nie geschehen sind. Die Frau existiert überhaupt nicht. Wir haben sie bereits in ganz Kalifornien gesucht und nicht gefunden. Deshalb nehmen wir es als dummen Streich zur Kenntnis und beachten es nicht weiter.«
Obgleich Hayden die Worte des Polizisten vernahm, verstand sie sie dennoch nicht. Wie konnten die Polizisten einer Frau Hilfe verwehren, die sie so offensichtlich benötigte?
»Kann ich noch etwas für Sie tun?«, hinterfragte er und sah sie abwartend an.
»Nein ... danke«, presste sie hervor und verließ ohne ein weiteres Wort das Departement.
Vor der Tür schnappte sie nach Luft und fuhr sich durch das noch feuchte Haar. Zum Föhnen hatte sie sich keine Zeit genommen. Stanley hatte also recht gehabt. Wieder dachte sie daran, wie angsterfüllt Katinkas Stimme geklungen hatte, und sie fasste einen Entschluss. Wenn keiner der Polizisten nach ihr suchen wollte, würde sie das tun. Hayden glaubte nicht daran, dass Katinka diesen Notruf aus Jux und Tollerei abgegeben hatte. Es war ihr Ernst gewesen und Hayden hoffte, sie würde nicht zu spät handeln.
Bis zum Joshua Tree Visitor Center brauchte sie knapp eine Stunde. Sie parkte ihren hellblauen VW Käfer auf dem Besucherparkplatz und ging in das Gebäude hinein. Drinnen herrschte reges Treiben. Viele der Touristen waren auf der Suche nach einem Souvenir oder suchten die Sanitäranlagen auf. Zielstrebig ging sie zur Kasse und zahlte den Eintritt für das Betreten des Parks.
»Denken Sie daran, dass es bald dunkel wird«, meinte die Kassiererin und Hayden schenkte ihr ein Lächeln.
»Danke für den Hinweis.«
»Hier haben Sie das Ticket und eine Karte des Parks. Zeigen Sie das Ticket an der West Entrance Station vor.«
»Danke.«
Ohne sich lange mit der Karte zu beschäftigen, stieg Hayden zurück in ihren Wagen und bog rechts auf die Straße ein. Es war das erste Mal, dass sie in den Nationalpark fuhr und sie kam aus dem Staunen gar nicht heraus.
Die endlose Weite und der strahlend blaue Himmel darüber hatten etwas von Perfektion. Überall befanden sich Kakteen und Felsen. Hin und wieder kam sie an einigen geparkten Autos vorbei und sah, wie sich Leute begeistert umsahen und Fotos machten. Kurz entschlossen hielt sie ebenfalls am Straßenrand und stieg aus. Während sie den Wagen steuerte, konnte sie sich die Umgebung nicht genauer ansehen und eine kurze Pause konnte nicht schaden. Für den Moment vergaß sie sogar den Grund, weshalb sie eigentlich hier war.
Langsam umrundete sie die riesige Ansammlung von Felsen und hörte, wie sich über ihr ein paar Leute unterhielten. Automatisch sah sie hoch und entdeckte sie etwa fünf Meter über sich hinter einem Felsen stehen. Von dort oben musste die Aussicht noch beeindruckender sein. Auf der Suche nach dem Weg nach oben, umrundete sie die Felsformation und blickte sich um.
Nachdem sie den schmalen Trampelpfad entdeckt hatte, ging sie ihn entlang und achtete darauf, dass sie sich an keinem der Kakteen verletzte, die überall standen. Der Aufstieg war steil und ließ sie schneller atmen und ihr Herz kräftiger schlagen. Schon nach wenigen Metern merkte sie, dass sie überhaupt nicht in Form war, und nahm sich vor, nach diesem Tag mehr Sport zu machen.
Beim letzten Schritt hielt sie sich mit einer Hand am oberen Felsen fest. An ihrem Ziel angekommen bemerkte sie, dass die Sonne bereits am Untergehen war und ein goldenes Licht auf die Felsen in der Entfernung warf. Niemals hatte sie damit gerechnet, dass der Nationalpark so grandios sein würde.
»Wunderschön«, flüsterte sie und starrte gebannt in die Ferne.
Dass sie bereits allein auf dem Felsen stand, bemerkte sie erst, als sie sich umsah und nebenbei ihr Handy aus der Hosentasche zog. Rasch betätigte sie die Kamerafunktion und machte ein Foto.
Hayden begann langsam den Abstieg und kam heil an ihrem Auto an. Auch an der Straße war sie die einzige Person weit und breit. Über ihr kreiste ein Greifvogel und gab sein Schreien von sich. Sie legte die Hand über die Augen, um den Wildvogel besser sehen zu können. Plötzlich wurde ihr wieder bewusst, wieso sie in den Park gefahren war.
Katinka! Nur wegen der Frau war sie hier!
Schnell setzte sie sich in den Wagen und öffnete die Faltkarte, um herauszufinden, wo sie sich jetzt befand und wo sie hinmusste. Fluchend stellte sie fest, dass sie diese verkehrt herum hielt. Mit dem Finger fuhr sie die eingetragene Straße nach, die sie bisher gefahren war. Sehr weit war sie noch nicht gekommen und wenn sie die Strecke schaffen wollte, musste sie sich beeilen. Zwar hatte sie die genaue Benennung von Katinkas Aufenthaltsorts nicht verstanden, aber es gab nur einen Punkt, der das Wort View beinhaltete, und zu dem würde sie nun fahren. Allerdings waren es noch zwanzig Meilen. Der Park war weitläufig, was ihn attraktiv machte, aber in dem Augenblick wünschte sie sich, er wäre etwas kleiner.
Die Sonne setzte ihren Weg fort und verschwand langsam hinter den Felsen. Trotzdem fuhr Hayden unbeirrt weiter. Hin und wieder hielt sie an, um zu sehen, wann die Biegung zum Keys View kam. Als Nächstes kam das Schild für den Quail Springs Trail, auf dem die Leute nach Lust und Laune wandern konnten. Es kamen ihr einige Autos entgegen und sie fuhr automatisch näher an den Straßenrand heran, weil sie das Gefühl bekam, die Straße sei nicht breit genug für zwei Wagen. An der nächsten Gabelung bog sie in die Keys View Road ein und sah die letzten Sonnenstrahlen im Rückspiegel. Gleich würde die Sonne endgültig untergegangen sein.
»Bald bin ich da«, murmelte Hayden vor sich hin und ignorierte das Schild, auf dem ihr ein weiterer Wanderweg angezeigt wurde. Plötzlich gab ihr Käfer ein röhrendes Geräusch von sich und wurde langsamer, bis er ganz stehen blieb. »Nein!« Leise flehend versuchte sie, den Motor erneut zu starten. Nichts geschah. »Ganz ruhig«, sprach sie sich selbst Mut zu, zog den Schlüssel ganz heraus und steckte ihn dann wieder ein. Wieder gab der Motor nur dieses Geräusch von sich, startete aber nicht.
»Nein, nein, nein!«, fluchte sie und schlug auf das Lenkrad, bis ihre Hand schmerzte. Dann nahm sie ihr Handy vom Beifahrersitz und warf einen Blick darauf.
Kein Empfang.
Entmutigt stöhnte sie auf. »Na super!«
Das hatte sie nun davon, dass sie einer wildfremden Person helfen wollte. Frustriert sah sie auf der Karte nach und orientierte sich an dem letzten Wanderweg, den sie gesehen hatte. Sie hatte keine Ahnung, wie weit sie danach noch gefahren war, vermutete aber, dass sie sich in der Nähe von dem nächsten Wanderweg Juniper Flats befand. Ihr blieb nichts anderes übrig, als den Weg zu Fuß zurückzulegen und zu hoffen, dass sich dort noch jemand aufhielt, den sie um Hilfe bitten konnte.
Leise vor sich hin schimpfend nahm sie ihre Jacke vom Beifahrersitz und stieg aus. Nachdem sie noch die Tür zugeschlagen und abgeschlossen hatte, ging sie los.
Schon nach wenigen Schritten fiel ihr, trotz ihrer schlechten Laune, die Stille auf. Nervös strich sie sich das Haar aus dem Gesicht und sah sich sorgsam um. Sie hatte genug Filme gesehen, um zu wissen, wie Situationen, wie diese endeten. Und Hayden war nicht scharf darauf, genau so eine zu erleben. Wie von selbst beschleunigten sich ihre Schritte. Die Stille machte ihr Angst, beinahe genauso viel, wie noch vor ein paar Monaten. Stille bedeutete, dass etwas Schlimmes geschehen würde. Eigentlich sperrte sie diese Art von Gedanken erfolgreich weg, doch manchmal kamen sie an die Oberfläche und dann fiel es ihr schwer, die Oberhand zu behalten und nicht in ihnen zu versinken. Genau diese Gedanken waren der Grund, warum sie mitten ins Nirgendwo gefahren war, um einer unbekannten Frau zu Hilfe zu kommen. Ihr war ebenfalls geholfen worden und jetzt wollte sie diejenige sein, die unterstützte. Tief einatmend vergrub sie die Hände in den Taschen ihrer Jacke und ertastete einen Schokoriegel, den sie gestern vor ihrer Schicht eingesteckt und dann vergessen hatte. Bei dessen Einfall verspürte sie ein Knurren in ihrer Magengegend und verputzte ihn in Windeseile.
Unvermittelt raschelte neben ihr das Gebüsch und ein Tier huschte hervor. Blitzschnell war es an ihr vorbeigerannt, dennoch schrie Hayden erschrocken auf und sprang zur Seite. Dabei stolperte sie über ihre eigenen Füße und verlor das Gleichgewicht. Sie gab einen Schrei von sich, als sie den Boden unter den Füßen verlor und in die Wüste stürzte.
Der Aufprall drängte ihr die Luft aus den Lungen und Schmerz breitete sich in vielen kleinen Explosionen in ihrem Körper aus. Hayden japste nach Luft und das Herz pochte heftig in ihrer Brust. Mühsam richtete sie sich langsam auf und betastete ihre Umgebung. Verwirrt sah sie sich um und entdeckte in der Dunkelheit eine sandige Erhöhung zwischen Straße und Natur. Bereits während der Fahrt war Hayden diese aufgefallen. Anscheinend zog sie sich durch den gesamten Nationalpark. Unter ihren Händen fühlte sie den Sand und kleine Steine und strich diese an ihrer Jeans ab. Dann kam sie auf die Beine und versuchte, ihre zitternden Gliedmaßen zu beruhigen. An ihrem linken Oberarm pochte und brannte es. Instinktiv fasste sie dorthin und bemerkte an ihren Fingern eine warme Feuchtigkeit. Sie hatte sich geschnitten. Im Dunkeln konnte sie einen Kaktus ausmachen. Offensichtlich war dieser Schuld daran. Vernichtend sah sie die Pflanze an und kletterte anschließend vorsichtig über die Erhöhung zurück auf die Straße.
Plötzlich hielten Scheinwerfer direkt auf sie zu und Motorengeräusch drang an ihre Ohren. Hayden kniff die Augen zusammen und fragte sich reflexartig, warum sie das Auto vorher nicht gehört hatte. Wie von selbst sprang sie zurück und verlor beinahe erneut das Gleichgewicht. Dieses Mal blieb sie auf ihren Füßen und bemerkte, dass das Auto mit quietschenden Reifen zum Stehen kam. Glücklicherweise war der Fahrer nicht besonders schnell gefahren, sonst würde sie den Motor nun vermutlich von unten sehen.
Schützend hielt sich Hayden die Hand vor die Augen und sah nur schemenhaft, wie jemand ausstieg.
»Sie sollten nicht in der Dunkelheit herumstolpern, das ist gefährlich«, ertönte eine männliche Stimme und Hayden blinzelte gegen die Helligkeit an. Als wäre ihr das nicht bewusst!
»Ich liebe die Gefahr«, erwiderte sie im sarkastischen Tonfall.
»Sie sollten dennoch zu Ihrem Auto zurückkehren«, beharrte der Mann und kam weiter auf sie zu.
Hayden wollte zu einer weiteren Erwiderung ansetzen, als der Mann ins Scheinwerferlicht trat und sie ihn genauer erkennen konnte. Er trug ein weißes T-Shirt, darüber ein offenes kariertes Hemd und eine braune Weste. Seine Haare waren unter einem Rangerhut verborgen und die Augen lagen im Schatten des Schirms. Auf seinen Lippen lag ein verkniffener Ausdruck. Der Mann machte noch einen Schritt auf sie zu. Automatisch machte Hayden einen zurück. Die Augen des Mannes weiteten sich überrascht.
Abwehrend hob sie ihre Hand. »Das ist nahe genug!«
»Hören Sie, hier draußen gibt es Tiere, denen wollen Sie nicht begegnen. Schlangen, Kojoten, Taranteln und noch einiges mehr.«
Sobald sie das Wort Schlange vernahm, versteifte sie sich. Es gab fast nichts auf der Welt, wovor sie sich so sehr fürchtete, wie vor den wirbellosen Kriechtieren. Haydens Augen huschten zwischen dem Mann und der dunklen Wildnis dahinter hin und her. Mit einem Mal schien ihr die Nähe zu einem fremden Vertreter des männlichen Geschlechts gar nicht mehr so schlimm.
Es sind nicht alle Männer gleich!, rief sie sich in Gedanken zu.
»Verstehen Sie etwas von Motoren?«, fragte sie und ließ die Hand sinken, die sie immer noch erhoben hatte.
»Ich könnte es mir mal anschauen. Ob ich den Fehler finde, weiß ich jedoch nicht.«
»Okay, das reicht mir. Mein Auto steht da hinten«, sagte sie erleichtert. Vielleicht würde sie doch nicht die Nacht hier verbringen müssen.
»Ist es weit bis zu Ihrem Wagen?«, erkundigte sich der Mann und betrachtete sie, während sie näher kam.
»Mein Auto steht gleich hinter der Kurve.« Derweil sie ihm antwortete, machte sie einen Bogen um ihn herum. Besonders weit war sie zu Fuß nicht gekommen. Sie hörte, wie er ihr folgte und das Herz begann in ihrer Brust zu rasen. Über ihre Schulter warf sie dem Mann hinter sich einen Blick zu. War es richtig, einen Fremden in der Nacht um Hilfe zu bitten? An einem Ort, an dem es keine Zeugen gab und er sie einfach verschwinden lassen konnte?
»Sie haben mich um Hilfe gebeten, schon vergessen?«, ertönte hinter ihr die Stimme des Mannes. Unwillkürlich versteifte sie sich. Offensichtlich hatte er bemerkt, wie unsicher sie sich war. Verdammt, er hatte recht!
Du bist doch kein Hasenfuß!, mahnte sie sich selbst zur Ordnung.
Hastig wendete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Straße vor sich. Noch einmal wollte sie nicht auf die Nase fallen.
Hinter der Biegung kam ihr blauer VW Käfer in Sicht. Erleichtert seufzte Hayden auf. Während sie die letzten Meter zurücklegte, kramte sie in ihrer Jackentasche nach dem Schlüssel. Sie bekam ihn nicht zu fassen, erst als sie vor der Fahrertür zum Stehen kam. Die Schritte hinter ihr verstummten und mit einem Mal spürte Hayden die Präsenz des namenlosen Mannes hinter sich. Vor Schreck rutschte ihr der Schlüssel aus den klammen Fingern. Geräuschvoll fiel er auf die Straße. Bevor sie sich regen konnte, bückte sich der Unbekannte und hob den Schlüssel auf. Wortlos reichte er ihn ihr und sie schloss auf. Danach machte sie ihm Platz und gab den Schlüssel an ihn weiter. Er nahm ihn entgegen und Hayden fiel auf, dass er einen halben Kopf größer war als sie.
Sofort setzte er sich hinter das Steuer und musste den Sitz ein Stück zurückschieben, damit seine Beine ebenfalls dahinter passten.
»Es ist schon ewig her, dass ich in einem Käfer gesessen habe«, sagte er und startete den Motor.
Zumindest versuchte er es.
Mehr als ein Stottern gab das Triebwerk nicht von sich.
»Okay, er lässt sich wirklich nicht mehr starten«, murmelte er und Hayden spürte Wut in sich aufsteigen.
Glaubte er etwa, sie wäre zu doof den Motor anzulassen? Dieses Auto war ihr Baby! Nur von Mechanik hatte sie leider keine Ahnung. Dafür war ihr bester Freund Mitch verantwortlich. Bevor Hayden mehr tun konnte, als ihn böse anzustarren, stieg er aus und öffnete die Klappe zum Motor, der beim Käfer hinten lag. Anschließend beugte er sich über die Mechanik und Hayden bekam eine ungehinderte Sicht auf seine Kehrseite, die nicht zu verachten war. Sie hatte schon lange nicht mehr solch ein Exemplar zu Gesicht bekommen.
Vergessen war die Besorgnis, die sie im Angesicht der Situation eigentlich weiter empfinden sollte.
Der Mann stützte sich mit der rechten Hand am Rand ab und begann irgendetwas am Motor zu machen. »Sieht so aus, als würden Sie mit dem Wagen nirgendwo mehr hinfahren.«
»Sagen Sie das nicht!« Unbewusst nahm ihr Tonfall einen flehenden Tonfall an und sie dachte gleichzeitig darüber nach, was das für sie bedeutete. Das Auto bekam sie zum einundzwanzigsten Geburtstag von ihrem Großvater. Dieser besaß ihn über Jahrzehnte hinweg und war sein Goldstück gewesen.
»Immer mit der Ruhe, Miss. Ich bin mir sicher, es ist nur eine Kleinigkeit, um ihn wieder zum Laufen zu bringen. Doch mir sind die Hände gebunden, da muss ein Fachmann ran. Ein Freund von mir hat eine Werkstatt, nicht weit von hier. Der kann sich den Wagen morgen ansehen.«
»Okay, gut«, murmelte sie.
»Wissen Sie, wo Sie für die Nacht unterkommen können?«, fragte er, richtete sich auf und drehte sich zu ihr um.
Haydens Blick schnellte hoch und sie sah, wie die Augenbrauen des Mannes nach oben schossen. Augenblicklich lief sie knallrot an. Glücklicherweise blieb es in der Dunkelheit verborgen.
»Nein«, erwiderte sie ehrlich und zwang sich, ihm in die Augen zu schauen.
Langsam nickte er und schloss die Motorhaube. »Ich werde den Wagen abschleppen.«
»Wenn Sie das können.« Ihr wurde ein spöttischer Blick zugeworfen, zumindest fühlte sich dieser so an. Immerhin konnte sie es durch die Dunkelheit nicht mit Bestimmtheit sagen.
»Ich hole eben den Jeep. Machen Sie keine Dummheiten.« Bei seinen letzten Worten verdrehte sie die Augen. Etwas, was ihm entging, denn er hatte sich bereits umgedreht, und ging schnellen Schrittes den Weg zurück, den sie vor wenigen Minuten zurückgelegt hatten. Es dauerte nicht lange und das Motorengeräusch erklang, wieder wurde sie von den Scheinwerfern geblendet. Der Mann setzte seinen Wagen direkt vor ihren Käfer und ließ ein paar Meter Abstand dazwischen, dann stieg er aus.
Aufmerksam verfolgte sie seine Bewegungen. Gleichzeitig wurde ihr immer kälter. Ihre dünne Jacke konnte einfach nichts gegen die niedrigen Temperaturen auswirken, die hier nachts herrschten. In dem Versuch, sich selbst zu wärmen, schlang sie ihre Arme um sich selbst.
Als der Mann die Heckklappe seines Jeeps öffnete, erklang ein Bellen und Hayden schreckte auf. »Alles gut Onyx, wir fahren gleich nach Hause«, sagte er in das Auto hinein und fluchte im nächsten Moment los. »Verdammter Mist! Ich habe das Abschleppseil nicht dabei!« Er drehte sich zu Hayden herum und sah sie zögerlich an. »Dann kommen Sie eben mit zu mir und wir kommen morgen mit dem Abschleppseil wieder her.«
Haydens Augen weiteten sich und der Bammel kehrte in rascher Geschwindigkeit zurück. Nie und nimmer würde sie mit einem fremden Mann mitgehen, geschweige denn in sein Auto steigen!
»Sie haben die Wahl, entweder Sie fahren mit mir, schlafen in Ihrem Auto oder laufen die ganze Nacht durch die Wildnis«, wendete er ein und musterte sie.
Alle Argumente waren nicht besonders verlockend. Aber welches bedeutete das kleinere Übel? Allein im Auto zu schlafen oder durch die Wildnis zu stapfen kamen nicht infrage ... blieb nur ... ihre Augen trafen auf die des Mannes. Anscheinend hatte er sie beobachtet.
Es war dumm, so was von dumm!
Eine andere Wahl blieb ihr jedoch nicht. Tief einatmend schloss sie kurz die Augen und öffnete sie wieder.
»Also gut, fahren wir«, stimmte sie zu, ging zur Fahrertür ihres Fahrzeugs und setzte sich hinter das Steuer. Schnell griff sie unter ihren Sitz und holte den kleinen Revolver hervor, den sie dort immer aufbewahrte, wenn sie unterwegs war. Die Schusswaffe war klein und handlich. Zudem passte er hervorragend in ihre Jackentasche, wo sie ihn auch jetzt verstaute. Dann zog sie den Schlüssel aus dem Zündschloss und stieg aus. Nachdem sie den Wagen auch noch abgeschlossen hatte, folgte sie dem Mann zum Auto.
»Steigen Sie ein!«, forderte er sie auf und öffnete bereits die Fahrertür.
Als Hayden sich auf dem Beifahrersitz niederließ, erklang das Gebell von Neuem und sie zuckte erschrocken zusammen. Heißer Atem traf sie im Genick und sie wirbelte herum. Ein hübscher Hund hatte die Vorderpfoten auf die Rückenlehne gestemmt und wedelte mit dem Schwanz.
»Aus Onyx«, befahl der Mann und der Hund wich auf die Rückbank zurück. »Entschuldigen Sie, normalerweise reagiert er nicht so.«
»Ist schon okay.« Hayden schnallte sich schnell an.
»Haben Sie sich verletzt?«, fragte der Mann und starrte auf ihren linken Arm.
Verwirrt betrachtete sie ihr betroffenes Körperteil. Das Pochen und Brennen ihres Arms hatte sie verdrängt, doch bei der Erwähnung fiel es ihr sofort wieder ein. »Ich bin vorhin gestürzt, nur ein Kratzer, nichts weiter.«
»Sieht ein bisschen mehr aus als das. Wir werden uns das bei mir anschauen«, bestimmte er und startete den Motor.
»Haben Sie keine Angst davor, dass ich eine Mörderin sein könnte?«, fragte Hayden und schielte zu dem Mann hinüber.
Sein Blick begegnete ihrem und einer seiner Mundwinkel zuckte verdächtig. »Haben Sie denn welche?«
Hayden entwich ein Schnauben. »Wohl kaum. Es können nicht zwei Mörder zur gleichen Zeit im selben Auto sitzen, das widerlegt die Wahrscheinlichkeitsrechnung.«
Ein leises Lachen erklang und ihr Kopf ruckte zu ihm herum. In ihrer Brust schlug das Herz unwillkürlich schneller. »Ein Glück. Dann sind wir beide wohl sicher. Wie heißen Sie?«, erkundigte er sich und warf ihr einen schnellen Blick zu.
»Hayden Matthew und Sie?«
»Riley Hendrix.«
Automatisch fühlte sich Hayden in seiner Gegenwart ein bisschen sicherer.
Riley konnte es nicht fassen, da stieg die fremde Frau einfach in sein Auto! Nervös strich sie sich durch das schulterlange, karamellfarbene Haar. Obwohl sie selbst die Wahl getroffen, und ihre Entscheidung beinahe selbstbewusst verkündet hatte, schien sie damit nicht glücklich zu sein. Ihre gesamte Körpersprache verriet ihm, dass sie sich unwohl fühlte.
Normalerweise gabelte er keine wildfremden Frauen auf der Straße auf, geschweige denn, er nahm sie mit zu sich nach Hause. Seit Jahren hatte er nicht mehr darüber nachgedacht, eine Frau mit zu sich zu nehmen. Nicht seit Marissa ... mühsam unterdrückte er den Gedanken an die Frau. Dabei strengte er sich so sehr an, dass seine Fingerknöchel am Lenkrad weiß hervortraten. Neben ihm knetete Hayden die Finger in ihrem Schoß ineinander.
»Ist Ihnen kalt?« Noch während er sprach, drehte er die Heizung auf.
»Es geht schon«, wiegelte sie ab.
Diese Frau war willensstark, da war er sich sicher. Wieder fragte er sich, ob es klug gewesen war, eine Fremde mit zu sich zu nehmen. Andererseits war ja auch nichts dabei.
Eine Weile lenkte er den Wagen schweigend durch den Joshua Tree Nationalpark, der ihm so vertraut wie sein eigenes Gesicht war. Jeden Tag fuhr er diese Strecke, egal zu welcher Tages- und Jahreszeit. An manchen Tagen hielt er den Wagen an seinem Lieblingsplatz an und genoss die Aussicht, die sich ihm dann bot. Er genoss die Stille und die Einsamkeit unter dem Sternenzelt. Leider war es in der Vergangenheit nicht immer so friedlich im Park zugegangen. Vor anderthalb Jahren fuhren Vandalen außerhalb der Straßen und beschädigten die Natur. Dessen Folgen würden noch in zweihundert Jahren Auswirkungen auf den empfindlichen Boden haben.
Eigentlich hatte er auch heute die Stille genießen wollen, doch ihm war Hayden vor das Auto gelaufen. Und einer Frau in Not half er, dass verlangte einfach seine Kinderstube. Seine Mutter würde ihm die Ohren lang ziehen, würde sie etwas gegenteiliges erfahren, selbst wenn er bereits 32 Jahre alt war. Paloma Hendrix besaß so viel Temperament, dass sie einem gestandenen Mann eine Heidenangst einjagen konnte, wenn sie einen ihrer Anfälle bekam.
»In ein paar Minuten sind wir da«, sagte Riley, um die Stille zu durchbrechen. Aus dem Augenwinkel heraus sah er, wie Hayden zusammenzuckte. Unwillkürlich runzelte er die Stirn. Vielleicht war sie gerade in Gedanken gewesen. Oder aber sie war eine schreckhafte Person.
Das Ende des Nationalparks kam in Form der Kontrollhäuschen in Sicht, in dem die Ranger prüften, ob die Besucher berechtigt waren, hinein zu fahren. Riley setzte den Blinker und fuhr nach links. Bereits einige Minuten später waren die Lichter der Stadt zu sehen, die er nicht durchqueren, sondern vorher abbiegen würde. Die Hendrix-Ranch lag unmittelbar neben dem Nationalpark und das Gebiet, welches direkt an ihn anschloss, wurde von ihnen so gut wie gar nicht genutzt. Nickolas Hendrix war ein Naturfanatiker und bestand darauf, dass der ungenutzte Grund als Grenze diente.
Obwohl Riley ein 32-jähriger Mann war, lebte er noch auf dem Land seiner Eltern. Es war groß genug, um neben der Nutzfläche noch vier Wohnhäusern mit großzügigen Gärten Platz zu spenden. Das Haus seiner Eltern lag im Herzen des gebirgigen Landes. Niemand aus seiner Familie bekam mit, wann er heimkam oder wann er wieder ging. Und genauso erging es seinen beiden Brüdern auch.
Haydens Kopf schoss herum, als er in eine Nebenstraße einbog. In ihren Augen lag ein entsetzter Ausdruck. »Wo fahren wir hin?«, fragte sie und ihre Stimme wanderte mit jedem Wort eine Oktave höher.
»Nach Hause. Das habe ich Ihnen doch gesagt.«
»Aber ... in die Stadt geht es dort entlang.«
»Ich wohne nicht in der Stadt.« Riley blickte gerade noch rechtzeitig zu ihr hinüber, um zu sehen, wie sie sich abrupt versteifte. Schlagartig konnte er die Bilder sehen, die sich aufgrund seiner Worte in ihrem Kopf bilden mussten. »Keine Sorge, ich werde Sie schon nicht unter einem Laubhaufen verscharren«, murmelte er und bewirkte damit nur, dass sie ihm einen entsetzten Blick aus ihrem bleichen Gesicht zuwarf. »Was ist?«
»Ich möchte aussteigen. Sofort!« Sie tastete nach dem Türgriff, während sie ihn weiter anstarrte. »Halten Sie den verdammten Wagen an!«, fauchte Hayden und Riley trat auf die Bremse. Sobald der Jeep stand, sprang sie heraus und schlug hinter sich die Tür zu.
»Verdammtes Frauenzimmer.« Sollte sie doch allein in der dunklen Wildnis umherstolpern! Konnte ihm doch egal sein! Fest entschlossen, nach Hause zu fahren, stellte er den Hebel auf Fahren und gab Gas. Kaum setzte sich der Wagen in Bewegung, trat er auch schon wieder auf die Bremse. Wie von selbst wanderte sein Blick in den Rückspiegel, doch von Hayden war nichts mehr zu sehen. Seine Hand griff nach dem Türöffner, ehe er sich bewusst wurde, was er eigentlich tat. Ruckartig zog er die Hand zurück und warf einen erneuten Blick in den Spiegel. Fluchend stieß er schließlich doch die Tür auf und Onyx gab auf dem Rücksitz ein Bellen von sich.
»Du bleibst schön hier mein Alter«, sagte er und schaltete den Motor aus. Nachdem er ausgestiegen war, verriegelte er das Auto und suchte die Umgebung ab.
Was ritt ihn nur dazu, in der Dunkelheit nach einer fremden Frau zu suchen, die uchtartig aus seinem Auto gesprungen war? Seine Brüder würden ihn auslachen und sein restliches Leben damit aufziehen, wenn sie davon erfuhren. Davon würde er ihnen garantiert nichts verraten. Riley aktivierte die Taschenlampe auf seinem Handy und leuchtete vor sich den Weg ab. Einen Meter entfernt begann das Waldstück, welches als Grenze zwischen Straße und Ranch diente.
Wo war Hayden hingerannt? War sie die Straße entlang oder in den Wald gelaufen?
Müde fuhr er sich durch das Gesicht und beschloss, in den Wald zu gehen. Dank des Lichts der Taschenlampe kam er ohne Schwierigkeiten voran. Immer wieder blieb er stehen, um nach Geräuschen zu horchen, die Hayden von sich geben musste. Plötzlich hörte er Schritte und einen dumpfen Schmerzenslaut.
»Hayden?«, rief er, bekam aber keine Antwort. »Hayden?« Wieder keine Reaktion. Er lauschte und überließ es seinem Instinkt, die Richtung zu wählen. Im Normalfall konnte er sich hundertprozentig auf ihn verlassen. Die Schatten um ihn herum wurden größer und wirkten immer bedrohlicher. Nach einigen Metern leuchtete ihm rosafarbener Stoff entgegen. »Hayden!«
Sie saß auf dem Boden und hielt sich den Kopf. Wütend blickte sie ihn an. »Sie verfolgen mich doch!«
Ihm entwich ein Schnauben. »Wenn meine Mutter erfahren würde, dass ich nicht nach Ihnen gesucht habe, würde sie mich einen Kopf kürzer machen. Und glauben Sie mir, sie würde es herausfinden.«
Auf Haydens Gesicht spiegelte sich Skepsis wider. »Wieso?«
»Weil sie verdammt viel Zeit in meine Kinderstube investiert hat.« Unglaube ersetzte die Zweifel auf ihren Zügen. »Haben Sie sich verletzt?«
»Es geht schon«, murmelte sie und kam umständlich auf die Beine.
Riley beobachtete es mit zusammengekniffenen Lippen und zwang sich, untätig zu bleiben. »Kommen Sie jetzt mit oder springen Sie gleich wieder aus meinem Wagen?«
Hayden schauderte und legte die Arme um sich selbst. Sie kaute auf ihrer vollen Unterlippe. »Sie sind wirklich kein Mörder?«
Sein Mundwinkel zuckte. »Wenn Sie keiner sind, bin ich auch keiner. Ehrenwort.«
»Okay«, hauchte sie und kam langsam auf ihn zu. Dabei presste sie die Hand an ihre Schläfe. Offenbar hatte sie sich doch verletzt und war zu stolz es zuzugeben. »Wo steht das Auto?«
»Nicht weit von hier. Fünf Minuten in diese Richtung«, sagte er und zeigte dabei nach Osten. Er drehte sich um und ging zurück. Hinter sich konnte er Hayden hören, wie sie sich ebenfalls einen Weg durch das Unterholz bahnte.
»Ist es noch weit bis zu Ihnen nach Hause?«, fragte Hayden, als sie am Auto angekommen waren.
»Nein, nur noch wenige Minuten. Mein Haus liegt hinter dem Hügel dort«, erklärte Riley und zeigte in die Dunkelheit, die nur von den unzähligen Sternen ein klein wenig erhellt wurde. Natürlich verbarg sich auch der Hügel in der Dunkelheit. Weder Hayden noch er konnten ihn sehen, aber er wusste, dass er dort war und deshalb hatte er ihn reflexartig als Fixpunkt verwendet.
»Ich muss mal zur Toilette.« Durch die Scheinwerfer sah er, wie sich ihre Wangen aufgrund ihres Geständnisses rötlich färbten.
»Zum Glück habe ich eine richtige Toilette und fließendes Wasser«, entgegnete er sarkastisch.
Daraufhin sagte Hayden nichts, ihre Anspannung war praktisch greifbar und er wusste nicht, was er sagen konnte, damit diese verflog.
Die nächsten Minuten legten sie schweigend zurück, bis der Umriss seines zweistöckigen Hauses zu sehen war. Es war vollkommen dunkel und lag einsam dar. Ihm gefiel die Weite, indem es sich befand und die Privatsphäre, die damit einherging.
»Wir sind da«, bemerkte Riley überflüssigerweise und schaltete den Motor aus. Kaum war der Lärm verklungen, öffnete Hayden die Tür und stieg aus. Das Geräusch der sich schließenden Tür veranlasste ihn dazu, ebenfalls auszusteigen. Bevor er den Schlüssel in die Hosentasche steckte, betätigte er die Zentralverriegelung und die Lampen leuchteten einmal kurz auf. Normalerweise schloss hier niemand sein Fahrzeug ab, doch Riley war es vom Parkplatz der Ranger-Station gewohnt. Haydens Silhouette entfernte sich von seinem Auto. Riley umrundete den Jeep und beobachtete, wie sie sich langsam um sich selbst drehte, den Kopf in den Nacken gelegt und den Blick in den Himmel gerichtet.
»Wow. Wunderschön«, flüsterte sie und starrte gebannt weiterhin nach oben.
Es fiel ihm seltsam schwer, die Augen von Hayden zu nehmen, doch letztendlich folgte er ihrem Blick und entdeckte über sich die Milchstraße. Für ihn war es ein gewohnter Anblick und schon lange nichts Besonderes mehr. Es jetzt durch ein fremdes Augenpaar zu sehen, machte es noch einmal anders.
»Wie kann der Himmel so hübsch sein?«, murmelte sie mehr zu sich als zu ihm, weshalb er nichts darauf erwiderte. »Ist es hier immer so klar?«
»So ziemlich, ja«, antwortete Riley und wendete sich der Haustür zu. Gleichzeitig zog er den Haustürschlüssel hervor. So angenehm der Anblick von Hayden auch war, er war müde und es wurde langsam kalt. Ein Bellen ließ ihn innehalten und stumm fluchen.
Onyx war noch im Wagen und er hatte ihn vollkommen vergessen!
Schnell öffnete er die Tür und der Hund sprang freudig heraus. Manchmal merkte man ihm sein Alter von zehn Jahren gar nicht an. An anderen Tagen dafür umso mehr. Onyx‘ Bellen ließ Hayden den Blick vom Himmel nehmen und ihre Aufmerksamkeit auf Riley richten. Dieser trat zur Haustür und öffnete sie. Der Australian Shepherd stürmte an ihm vorbei und strebte sein Futterschälchen in der Küche an.
»Kommen Sie mit rein, oder bleiben Sie noch draußen?«, erkundigte er sich und drehte sich beim Sprechen zu Hayden um.
»Ich komme mit.« Sie warf einen letzten Blick zum Firmament und kam dann auf ihn zu.
Dem Himmel sei Dank war sein Haus eher spärlich eingerichtet und Ordnung zu halten fiel ihm dementsprechend nicht schwer. Schritte erklangen hinter ihm auf der Veranda und er trat beiseite, um Hayden eintreten zu lassen. Ihr überraschtes Einatmen ließ sein Herz reflexartig schneller schlagen. Unvermittelt fragte er sich, wie sie sein Eigentum wahrnahm. Er versuchte, sich vorzustellen, wie er das erste Mal durch die Haustür trat und den Anblick in sich aufnahm.
»Definitiv keine Höhle eines verrückten Killers«, murmelte sie und er verdrehte die Augen. Was hatte sie nur immer mit ihrem Mörder?
Hayden machte ein paar Schritte in den Wohnbereich hinein. Gegenüber der Haustür stand die Couch, auf der er sich komplett ausstrecken konnte. Über dem in die Wand eingelassenen Kamin hing der Flachbildschirm, auf dem er regelmäßig Footballspiele verfolgte. Entweder mit seinen Brüdern oder allein. Der Fußboden war im gesamten Untergeschoss mit dunklem Parkett ausgelegt. Links neben der Couch befand sich eine kleine Essecke, an der sechs Personen Platz hatten. Dahinter verbarg sich eine hölzerne Schiebetür, die den Blick in die Küche verhinderte. Meistens stand sie einen Spalt offen, damit Onyx jederzeit hineinkonnte. Rechts verhüllte eine gleiche Tür die Sicht ins Gästebad. Es war ein typisches Landhaus. Riley stützte seinen Unterarm gegen das Geländer der Treppe, die ins Obergeschoss führte.
»Sie haben ein wunderschönes Haus«, sagte Hayden und drehte sich zu ihm um.
»Danke, ich habe es selbst gebaut.« Er sah Anerkennung in ihren Augen aufblitzen und stutzte, so ungewöhnliche Tiefen hatte er noch nie gesehen. So hellgrün, dass sie praktisch grau wirkten und der Limbus erschien dagegen fast dunkelgrün. In ihnen huschten verschiedene Emotionen umher. Ihre Augen waren ebenso umwerfend wie ausdrucksstark. Langsam ließ er den Blick über ihr ovales Gesicht wandern, über die vollen Lippen, die bei genauerer Betrachtung etwas ungleichmäßig waren, über die zierliche Nase und die schmalen Wangenknochen, bis hin zu ihrem schulterlangen, karamellfarbenen Haar.
Hayden war hübsch.
Bei seiner Musterung fiel sein Blick auf ihre Schläfe und ihren Arm und ihm wurde wieder bewusst, was er noch zu tun hatte. »Setzen Sie sich auf einen der Stühle, ich hole den Verbandskasten aus dem Bad.« Er wartete ihre Erwiderung gar nicht erst ab, sondern verschwand im Badezimmer. Als er zurückkam, saß Hayden zu seiner Überraschung auf einem Stuhl in der Essecke. »Sie müssen die Jacke ausziehen, damit ich mir den Arm ansehen kann.«
Wortlos zog sie sich das Kleidungsstück aus und legte es neben sich auf den Tisch. Darunter trug sie ein schwarzweiß gestreiftes T-Shirt. Auf ihrem linken Oberarm prangten zwei dicke Kratzer, die vollkommen blutverschmiert waren.
»Die Schnitte sehen reichlich tief aus.«
»Ein Pflaster drauf und fertig«, entgegnete Hayden mit fester Stimme und nestelte gleichzeitig an ihrer Jacke herum, bis diese herunterrutschte. Aus der Tasche fiel mit einem Knall etwas heraus und Hayden zuckte zusammen. Ehe sie reagieren konnte, bückte sich Riley und hob den silbrigen Gegenstand hoch. Seine Augenbrauen waren beinahe in seinem braunen Haar verschwunden, als er ihr in die außergewöhnlichen Augen sah. An seinem Finger baumelte ein kleiner Revolver.
»Sie rechnen offensichtlich immer mit dem schlimmsten, was?«, murmelte Riley und legte die Waffe auf den Tisch.
Hayden zuckte mit den Schultern. »Selbstschutz steht an erster Stelle.«
»Da kann ich Ihnen nicht widersprechen.« Wäre er nicht auf einer Ranch aufgewachsen, würde ihn der Anblick der kleinen Schusswaffe vermutlich nervös machen. Doch schon in seiner Kindheit wurde er mit weitaus größeren Waffen konfrontiert. »Ich verspreche, dass ich Ihnen keinen Grund geben werde, mich erschießen zu müssen.« Er holte Klammerpflaster und Wundpflaster aus dem Verbandskasten hervor. Vorsichtig machte er sich daran, ihre Wunden zu versorgen.
»So fertig. Jetzt sehe ich mir Ihren Kopf an.«
»Sind Sie jetzt auch noch Arzt?«, scherzte Hayden, sah zu ihm auf und strich sich das Haar aus dem Gesicht. Schalk blitzte in ihren Augen auf und Riley hielt in seiner Bewegung inne. Für einen kurzen Moment sah er statt Haydens ein anderes Gesicht vor sich.
Schnell blinzelte er und setzte dann sein Bestreben fort. Vorsichtig betastete er ihre Schläfe und fühlte unter dem Haar verborgen eine Beule. Unter seinen Berührungen fuhr Hayden zusammen und ein leiser Klagelaut drang über ihre Lippen.
»Entschuldige«, murmelte er und strich gleichzeitig das karamellfarbene Haar beiseite. Zum Vorschein kam ein kleiner Riss in der Haut, der nur minimal geblutet hatte.
Ihre Stimme war nur ein Flüstern. »Schon okay, ich bin hart im Nehmen.«
»Haben Sie Kopfschmerzen?«, hakte er nach, ließ sie los und trat einen Schritt zurück. Sofort schüttelte Hayden mit dem Kopf. »Gut, wenn doch, fahre ich Sie ins Krankenhaus. Sagen Sie mir nur Bescheid.«
»Danke für die ärztliche Behandlung«, entgegnete sie. »Wo ist das Bad?«
»Hinter der Tür dort«, antwortete er und zeigte in die Richtung der geschlossenen Schiebetür. Hayden nahm seine Beschreibung nickend zur Kenntnis und verschwand hinter der Tür.
Stumm sah Riley ihr nach.
Hayden machte kein Auge zu. Entweder sie wälzte sich von einer auf die andere Seite oder sie starrte an die dunkle Zimmerdecke, den Revolver immer griffbereit unter dem Kopfkissen. Auch wenn sie auf einem gemütlichen Sofa lag und todmüde war, fand sie nicht die nötige Ruhe, um einzuschlafen. Wenigstens hatte sie es warm und in ihrem Käfer war es längst nicht so bequem.
Das über ihr im Obergeschoss ein fremder Mann schlief, ignorierte sie mal mehr und mal weniger. Sobald es ihr wieder allzu bewusst wurde, fuhr eine Starre durch ihren Körper, die ihr den Atem nahm. Zwar hatte Riley ihr bisher keinen Grund für Zweifel gegeben, ganz im Gegenteil, er hatte ihr sogar ein Sandwich gemacht und Bettzeug geholt, aber geheuer war ihr die Situation trotzdem nicht.
Seufzend betätigte sie die Tastensperre ihres Handys und stellte überrascht fest, dass sie wieder Empfang hatte. Mitch, der so ziemlich der Einzige war, der ihr Nachrichten schrieb, hatte sich fünf Mal bei ihr gemeldet. Alle Mitteilungen beinhalteten den gleichen Wortlaut und in ihr keimte das schlechte Gewissen auf. Sie hatte ihm nichts von ihrem Plan erzählt, denn hätte sie es getan, hätte Mitch ihr diesen auszureden versucht.
Wieder verließ ein Seufzen Haydens Mund. Schnell verfasste sie eine Antwort, in der sie beteuerte, ihm alles morgen zu erzählen, und schloss die Augen.
Das Klappern von Geschirr ließ sie die Augen aufreißen und sich ruckartig aufsetzen. Wo war sie? Einen Moment benötigte sie, um sich an den gestrigen Abend zu erinnern. Rasch sah sie sich um und entdeckte Riley hinter der offenen Schiebetür in der Küche.
»Ah, Sie sind wach«, begrüßte Riley sie und sie zuckte zusammen. »Haben Sie auf der Couch schlafen können?«
»Ja, danke«, nuschelte Hayden und schob die Beine über die Kante ihres improvisierten Betts.
»Frühstücken wir und machen uns dann auf den Weg zu Ihrem Käfer. Ich habe das Abschleppseil schon ins Auto gepackt«, sagte Riley und trug ein Tablett zum Esstisch, auf dem unzählige Leckereien standen.
»Ich, äh, ich gehe kurz ins Bad.« Hayden erhob sich, die Decke rutschte von ihren Beinen und offenbarte, dass sie außer T-Shirt und Höschen nichts am Leib trug. Riley entging dieses Detail ebenfalls nicht, denn sein Blick heftete sich auf ihre nackten Beine und wanderte an ihnen auf und ab. Irgendetwas lag in seinen Augen, was Hayden nicht das Gefühl gab, sich unwohl zu fühlen. Dennoch schnappte sie sich ihre Jeanshose von der Lehne und huschte ins Bad. Nachdem sie sich angezogen und frisch gemacht hatte, Riley hatte ihr sogar eine Zahnbürste gegeben, trat sie aus dem Badezimmer und ging langsam auf den gedeckten Esstisch zu.
Er wartete mit dem Essen auf sie!
Obwohl es nichts Besonderes sein sollte, schlug ihr Herz bei dieser Feststellung schneller. Dass ein fast fremder Mann so viel Wert auf ihre Gesellschaft legte, rührte sie. Abwartend sah Riley sie an und sie gab sich einen Ruck, setzte sich neben ihn an den Tisch und entdeckte die leere Tasse und das sich in seiner heißer Tee befand.
»Ich habe keinen Kaffee im Haus, wenn Sie welchen möchten, müssen wir ins Haupthaus.«
»Tee ist vollkommen in Ordnung«, erwiderte sie und er nickte. Während er ihr aus einer Thermoskanne heißes Wasser eingoss, suchte sie sich aus der Teedose einen Beutel heraus. Kurzerhand entschied sie sich für eine fruchtige Mischung.
Schweigend frühstückten sie und Hayden kam nicht umhin, den Mann neben sich aus den Augenwinkeln zu mustern. Sein braunes Haar stand in sämtliche Richtungen ab und war an den Seiten kürzer geschnitten. Die hellbraunen Augen machten auf sie den Eindruck, als würden sie ein Geheimnis verbergen. Gleichzeitig wirkten sie so aufgeweckt und freundlich, dass Hayden ein warmer Schauer über den Rücken lief. Rileys Kiefer wurde durch einen Dreitagebart verdeckt, der ihm gut zu Gesicht stand.
Er sieht gut aus und kann auch noch kochen, dachte sie.
Bisher war ihr kein Mann begegnet, der sich in die Küche stellte und Mahlzeiten zubereitete. Besonders das Rührei hatte es ihr angetan, es schmeckte göttlich.
»Wollen Sie noch mehr?«, fragte Riley unvermittelt und ihr Blick huschte zu ihm. Er deutete auf seine Portion Ei auf dem Teller und nahm einen Schluck Tee.
»Nein, danke.« Hayden senkte verlegen den Blick. »Aber es war ausgezeichnet.«
»Das Kompliment gebe ich gerne weiter«, entgegnete er und sie sah ihn verwirrt an. »Meine Mutter hat das Frühstück zubereitet. Ich war vorhin da und habe schnell etwas geholt. Mein Kühlschrank gab leider nicht sehr viel her. Meistens esse ich dort mit meiner Familie.«
»Oh.«
»Was ist?«
»Nichts. Ich bin nur davon ausgegangen, dass Sie das Frühstück zubereitet haben«, gestand sie leise.
»Für das Kochen bleibt mir nur wenig Zeit. Ich arbeite im Nationalpark und nebenbei noch hier auf der Ranch meiner Eltern.«
»Was ist das hier für eine Ranch?«, erkundigte sich Hayden und sah ihn neugierig an.
»Damals war es vor allem eine Rinderfarm. Mein Vater hat früh angefangen, Pferde zu züchten und zu trainieren, und hat letztendlich die Haltung von Rindern vollständig aufgegeben. Meine Mutter bewirtet die Angestellten und vermietet vier kleine Bungalows an Gäste. Wenn Sie mal Urlaub auf einer Ranch machen wollen, sind Sie hier genau richtig.«
Nach dem Frühstück machten sie sich auf den Weg zurück in den Joshua Tree Nationalpark. Onyx saß hinten auf der Rückbank und Hayden war in ihre Gedanken vertieft. Deshalb bekam sie auch erst mit, dass sie bei ihrem Käfer angekommen waren, als Riley den Motor ausschaltete und die Tür öffnete. Unsicher, was sie tun sollte, stieg sie ebenfalls aus. Es schien, als würde Riley öfter ein Auto abschleppen, denn er befestigte das Seil in wenigen Sekunden.
»Setzen Sie sich in ihren Wagen und schalten Sie den Warnblinker ein. Solange ich Sie ziehe, müssen Sie lenken. Die Fahrt dauert etwa eine Viertelstunde.«
Exakt achtzehn Minuten später zog Rileys Jeep den Käfer auf den Hof der Werkstatt und ein dunkelhäutiger Mann trat aus dem Gebäude. Dieser wischte sich die Hände an einem Lappen ab und reichte Riley die Hand, der ausgestiegen war. Eilig verließ Hayden ebenfalls ihr Fahrzeug und ging auf die Männer zu.
»Pete, das ist Hayden. Hayden mein Freund Pete. Er wird sich um Ihren Wagen kümmern«, stellte Riley die beiden vor und sie musterte den fremden Mann vor sich genauer. Der Mann war älter als Riley und kleine Fältchen befanden sich um seine Augenwinkel. Ein freudiges Lächeln lag auf den Lippen von Pete, als er Hayden betrachtete.
»Nettes Mädchen Riley. Irgendwann musstest du dich ja wieder in eine vergucken«, meinte Pete und zwinkerte Hayden zu.
Riley räusperte sich und rieb mit einer Hand seinen Nacken. »So ist das nicht Mann.«
»Ist es nie«, widersprach Pete und wechselte abrupt das Thema. »Was ist denn mit dem Schmuckstück?«
Kurz berichtete Hayden, wie der Motor versagt hatte und sich nicht mehr starten ließ, dann machte sich Pete an die Reparatur.
»Sie sind jetzt in guten Händen Hayden. Ich muss zur Arbeit«, sagte Riley und wendete sich ihr zu.