Und morgen sag ich es! - Doris Meißner-Johannknecht - E-Book

Und morgen sag ich es! E-Book

Doris Meißner-Johannknecht

0,0

Beschreibung

Paul ist 10, zieht gerade um und kommt in eine neue Schule. In Berlin war er noch Paula. Doch hier, in der Stadt des deutschen Fußballmeisters, ist alles anders. Wie werden Pauls Mitschüler, wie wird seine Umwelt auf seine Geschichte reagieren? Ich mochte keine Kleider und Röcke. Keine Mädchenschuhe. Ich liebte immer schon die Farben Blau und Grün und Türkis. Spielte am liebsten mit Autos und Lego. Kletterte gerne auf Bäume, machte mich gerne dreckig. Und meine Leidenschaft ist der Fußball. Seit drei Jahren bin ich Paul. Und das fühlt sich gut an. Und richtig. Doris-Meißner Johannknecht thematisiert Identität und Geschlecht in einer sensibel und klug erzählten Geschichte und schenkt einen neuen Blick auf ein für viele schwieriges Themenfeld.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 167

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Doris Meißner-Johannknecht

Und morgen sag ich es!

Illustrationen vonAljoscha Blau

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Neue Rechtschreibung

© 2018 by Obelisk Verlag, Innsbruck Wien

Lektorat: Philipp Rissel

Coverentwurf: Aljoscha Blau

Alle Rechte vorbehalten

Druck und Bindung: Finidr, s.r.o. Český Těšín, Tschechien

ISBN 978-3-85197-872-8

eISBN 978-3-85197-896-4

www.obelisk-verlag.at

INHALT

1. Abschied

2. Unterwegs

3. Willkommen, Paul!

4. Angekommen

5. Zu Hause

6. Champagner und Strandkorb

7. Das Geheimnis liegt auf der Hollywoodschaukel

8. Mama kommt!

9. Ostsee mit Oma

10. Der Burgenwettbewerb

11. Schule

12. Leo

13. Helena

14. Fußball

15. Besuch bei Helena

16. Fieber

17. Nummer 13

18. Tatort

19. Die coolste Grillparty der Welt

20. We are the Champions

21. Helenas Einladung

22. Freunde?!

23. Eine richtig gemütliche Party

24. Helena und das Ferienhaus in den Bergen

25. Der Psychologenblick

26. Zwei Briefe

1. ABSCHIED

„Tooooor! Tooooor! Tooooor!

4:3!

Der Wahnsinn!

Dieses Tor!

Von der Nummer 13 in die obere linke Ecke geknallt.

Kein Torwart der Welt hätte diesen Ball halten können.

Und jetzt: der Schlusspfiff!

Das Stadion tobt!

Die Fans jubeln!

Sie singen!

Nein, sie brüllen!

Sie trommeln!

Sie schwenken ihre Fahnen!

Der Kampf der beiden Rivalen ist aus!

Der deutsche Meister steht fest!“

Ich mach das Radio aus.

„Kommst du, Paul?“

Papa steht in der Tür.

In der Hand ein paar Leinenbeutel.

Und den Wohnungsschlüssel.

„Vergiss das Radio nicht!“

Ich klemme mir den alten Kasten unter den Arm.

Erbstück von Oma Caro.

Cooles Teil aus dem Jahr 1980.

Fettes Orange.

Dieses Heiligtum vergessen?

Niemals!

Ich schau ein letztes Mal aus dem Küchenfenster.

Auf die alte Kastanie im Hof.

So also fühlt sich Abschied an.

Ein sehr sehr komisches Gefühl ist das.

Hatte ich bis jetzt in meinem Leben noch nicht.

Eine seltsame Trauer.

Ziemlich kurz vorm Heulen.

Aber ich heule nicht.

Ich fands gut in Berlin.

An den Wochenenden mit den Rädern raus an die Seen.

Schwimmen. Paddeln. Angeln.

Im Sommer mit Campingzelt.

Am Abend Lagerfeuer.

Echtes Abenteuer war das!

Und dieses Haus?

Ich fand es gut!

Obwohl es alt ist und ziemlich vergammelt.

Der Putz bröckelt von der Fassade.

Die Fensterscheiben fallen bald aus dem Rahmen.

Geheizt wird mit Kohleöfen.

Die Wohnungen sind eher klein.

Aber alles extrem billig.

Und für Leute mit wenig Geld.

Auch wir hatten nur zwei Zimmer.

Aber die Decken sind fast vier Meter hoch.

Opa hat uns aus Holz in jedes Zimmer eine zweite Ebene gebaut.

Mit schmalen Holztreppen zum Raufklettern.

Und dicken Seilen zum Runterrutschen.

Nichts für Menschen mit Höhenangst.

Aber das absolute Glück für Kletterfans.

Wie mich.

Unsere Wohnung war wie ein riesiges Piratenschiff.

Total schön!

Damit ist jetzt Schluss.

Endgültig.

„Warum baust du nicht alles ab und baust es in der neuen Wohnung wieder auf?“

Aber Papa hat bloß den Kopf geschüttelt.

„Wir ziehen in einen Neubau, Paul.

Ins Dachgeschoss.

Da sind die Decken nur halb so hoch.

Und die Wände auch noch schräg!“

Also bleibt das Piratenschiff hier.

Das tut echt weh.

Gleich wird er kommen, der neue Besitzer.

Unser Nachmieter Falco.

Er wird uns tausend Euro geben.

Für ein Schiff, das mindestens das Zehnfache wert ist.

Wütend macht mich das.

Aber Papa sagt bloß:

„Das alte Leben ist vorbei.

Und jetzt fängt ein neues an.

Mit neuem Haus und neuen Möbeln.

Am Montag fahren wir zu Ikea und geben die tausend

Euro wieder aus.“

Aber ob tausend Euro reichen?

Wir besitzen wenig.

Auf dem Kleinlaster vor der Tür lagert alles, was wir haben.

Und was wir zum Leben brauchen.

Nur das Nötigste.

Keinen überflüssigen Krempel.

Geschirr, Wäsche, Klamotten, viele Bücher, ein paar Matratzen.

Eine alte Couchgarnitur, ein alter Sessel.

Ein großer Tisch, ein paar Stühle, Regalbretter.

Und unsere Räder. Alle drei vom Trödel.

Mein gesamter Kram passt in vier Umzugskartons.

Mehr hab ich nicht.

Und mehr brauch ich nicht.

Ein paar Bücher, CDs, DVDs, ein paar Spiele, eine Kiste mit Lego.

Ein Sack mit Holzklötzen.

Jeans, Kapuzenpullis und Sportklamotten.

Mehr nicht.

Und dann noch die ganz geheimen Sachen.

Von denen niemand weiß.

Die liegen eingeschlossen in einer Holzkiste.

Den kleinen Schlüssel trag ich an einem Band um den Hals.

In meiner Schatztruhe liegen meine ganz geheimen Tagebücher.

Was drin steht?

Alles über die Zeiten von früher.

Erinnerung an das alte Leben.

Und die schwarze Stoffpuppe.

Warum ich gerade die aufgehoben habe?

Es war meine Trostpuppe.

Als ich klein war.

Als ich noch Paula war.

„Hast du auch nichts vergessen, Paul? Alles eingepackt?“

Ich nicke.

„Dann schließe ich jetzt ab! Okay?

Wir können im Garten auf Falco warten!“

Meine Stimme ist plötzlich wie weg.

Ich muss schlucken.

Jetzt bloß nicht heulen.

Nein! Paul heult nicht!

Aber Papa merkt sofort, was los ist.

Er nimmt mich in den Arm.

Drückt mich an sich.

Hält mich fest!

„Unser neues Zuhause wird schön, Paul!

Das weißt du doch!“

Ja, es wird schön. Das weiß ich auch.

Aber dieses Zuhause war eben sehr besonders.

Mein ganzes Leben hab ich hier verbracht.

Seit meiner Geburt! Zehn lange Jahre!

Und in diesen zehn Jahren ist eine Menge passiert!

Mit mir ist eine Menge passiert!

Eine sehr komische Geschichte!

Ich werde diesen alten Kasten vermissen.

Die Fahrräder im Flur.

Die Schuhe vor den Türen.

Die Zeitungsstapel. Die Flaschenkisten.

Die Kinderwagen.

Die Stimmen. Die Musik.

Das Schlagen von Türen.

In diesem Haus war man nie allein.

Irgendjemand war immer da.

Im Sommer war der Garten im Hinterhof so was wie ein Wohnzimmer.

Für alle.

Wäsche flatterte auf der Leine.

Es wurde gegrillt.

Es wurde gefeiert.

Wir haben Sandburgen gebaut.

Wasserschlachten gemacht.

Gemüse angepflanzt.

Kartoffeln im Feuer geröstet.

Im Sommer im Zelt übernachtet.

Und Fußball gespielt!

Toll war das!

Aber das hat sich in letzter Zeit verändert.

Alte Mieter zogen aus.

Neue Mieter zogen ein.

Man sah immer wieder fremde Gesichter.

Die aber schnell wieder verschwanden.

Und die alte Hausgemeinschaft gabs irgendwann nicht mehr.

Die Flure wurden nicht mehr geputzt.

Das Treppenhaus war schnell zugemüllt.

Und der Garten?

Der wurde immer wilder.

Niemand schnitt mehr den Rasen.

Keiner räumte auf.

In allen Ecken stapelte sich der Müll.

Mich hat das nicht gestört.

Auch die neuen Mieter nicht.

Die zogen eines Tages in die Wohnung über uns.

Drei junge Männer mit Schlagzeug, Saxophon und Gitarren.

Die Band „Hammerhart“.

Und die spielten Tag und Nacht.

Ich fand ihre Musik toll.

Laut und schräg und ziemlich verrückt!

Hammerhart eben.

Am liebsten hätte ich mitgespielt.

Aber für Mama und Papa war das der Anfang vom Abschied.

Bloß weg aus Berlin!

Sie konnten nicht mehr arbeiten.

Mama und Papa sind Schauspieler.

Und Schauspieler müssen ja irgendwann mal ihre Rollen lernen.

Und dafür brauchen sie Ruhe. Und Stille.

Die hatten sie in unserem alten Haus nicht mehr.

Und eine neue Wohnung in Berlin?

Mama und Papa haben einfach keine gefunden.

Eine, die sie hätten bezahlen können.

Die gabs einfach nicht.

Dafür das Gerücht, dass das Haus bald verkauft werden würde.

Die alten Mieter raus.

Nur noch Platz für Leute mit viel Geld.

Die sich die obercoolen Eigentumswohnungen leisten können.

Aber der wichtigste Grund, wegzuziehen war die ewige Frage:

Wer kümmert sich um Paul?

Seit ich existiere, gibt es diese Frage.

Irgendeine Lösung fand sich schon.

Tagesmutter, Kita, betreute Grundschule.

Aber das hat nicht immer gereicht.

Die Arbeitszeiten meiner Eltern sind nicht gerade kinderfreundlich.

Die Proben sind morgens, wenn ich irgendwo betreut werde.

Aber Schauspieler verdienen ihr Geld normalerweise ja am Abend.

Da stehen sie auf der Bühne.

Und wo bleibt dann der kleine Paul?

Früher gabs immer irgendwelche Nachbarn, bei denen ich sein konnte.

Aber inzwischen sind all unsere guten Freunde ausgezogen.

Meine Eltern mussten mich oft alleine lassen.

Das hat sie echt fertiggemacht.

Im Notfall, wenn meine Eltern beide auf Tournee waren, kam Oma.

Es gab Zeiten, da musste Oma Caro ganz schön oft kommen.

Ein ziemlicher Aufwand.

Fünf Stunden Zugfahrt.

Aber sie war die Einzige, die sich die Zeit nehmen konnte.

Opa Carl arbeitet nämlich noch.

Er hat eine kleine Firma.

Mit seinen drei Angestellten streicht er Häuser an.

Innen und außen.

Immer noch.

Obwohl er eigentlich schon im Rentenalter ist.

Aber Opa kann sich einfach noch nicht trennen.

Von seiner Leiter, den Pinseln und der Farbe.

Oma macht für ihn die Büroarbeit.

Aber nicht mehr gerne.

Am liebsten wäre ihr, Opa würde seinen Betrieb aufgeben.

Und zwar sofort.

„Dann hätten wir einfach mehr Zeit für unseren Paul!“, sagt sie.

Omas Fahrerei hat jetzt ein Ende.

Und meine Betreuung ist ab sofort komplett gesichert.

Es sieht so aus, als würde jetzt eine glückliche Zeit anfangen.

Sogar ohne Betreuung in der Grundschule.

Ab sofort kann ich nach der letzten Stunde das Schulgelände verlassen.

Das finde ich super.

Den ganzen Tag Schule?

Der öde Schulhof mit einem Klettergerüst aus der Steinzeit?

Die vollgestopften Klassenzimmer?

Den ganzen Tag Gewusel, Geschrei und Hektik?

Das super eklige Essen aus der Großküche?

Total ätzend finde ich das alles.

Ich bin einfach gerne allein.

Ganz allein für mich.

Und ich liebe die Ruhe.

Aus dem Fenster gucken.

Nachdenken.

Träumen!

Lesen und malen.

Bauen und basteln.

Mich macht das glücklich.

Aber verstehen kann das keiner so richtig.

Die meisten Menschen finden mich sowieso komisch.

Aber mir ist das egal.

Der Kleinlaster ist gepackt.

Nach der Schlüsselübergabe geht’s los.

Ab in die Stadt des Deutschen Meisters.

Ab in unser neues Zuhause.

Ab zu Oma und Opa.

Nein, wir werden nicht in ihrem Haus wohnen.

Das nicht.

Aber ich kann jederzeit zu ihnen.

Uns trennen nur fünf Minuten Fußweg.

Und bei Oma und Opa hab ich ein eigenes Zimmer.

Das hab ich immer schon gehabt.

Und ein Baumhaus im Garten.

Mit Opa eine Werkstatt im Keller.

Omas Atelier im Anbau.

Und das Beste: die große Wiese zum Fußballspielen.

Bei Oma und Opa ist alles perfekt.

Auch das Essen!

Immer total lecker!

Und jeden Tag frisch gekocht!

Und immer meine Lieblingsgerichte!

Das absolute Verwöhnprogramm.

Aber bei Oma und Opa esse ich sowieso alles gerne.

Sogar Wirsing und Rosenkohl!

Ich hab totales Glück mit diesen Großeltern.

Meine anderen Großeltern wohnen in Wien.

Weit weg.

Aber die haben sowieso keine Zeit.

Die haben ein Architekturbüro und bauen Bürohäuser und Banken.

In der ganzen Welt.

Die seh ich höchstens einmal im Jahr.

Und auch nur kurz.

Wenn wir nach Italien fahren.

Auf der Durchreise.

Ich glaube, meine Großeltern in Wien mögen mich sowieso nicht.

Seit ich beschlossen habe, Paul zu sein, finden auch sie mich komisch.

Wie gut, dass mir das egal ist!

Ab jetzt werden wir in einer total coolen nagelneuen Wohnung leben.

Opa hat sie neulich gekauft.

Eigentlich für sich und Oma.

Für später, wenn ihr Haus für sie zu groß ist.

Wenn sie richtig alt sind.

Die Wohnung liegt im Dachgeschoß.

Es gibt einen Aufzug.

Also alles total praktisch.

Fußbodenheizung.

Eine komplett eingebaute moderne Küche.

Mit allen Geräten, die es so gibt.

Spülmaschine und Dunstabzugshaube aus Edelstahl.

Backofen in Augenhöhe.

Ein riesiges Ceranfeld für sechs Töpfe.

Und dann die gigantische Dachterrasse!

Ich hab bis jetzt nur Fotos gesehen.

Aber diese Wohnung!

Ich finde, sie ist der Hammer!

Das absolute Kontrastprogramm zu unserem Piratenschiff in Berlin.

Vier große Zimmer!

Diese riesige Küche!

Zwei Bäder! Eins mit begehbarer Dusche.

Das andere mit großer runder Badewanne.

Mit Platz für drei Personen mindestens.

Eine echte Luxuswohnung!

Mama und Papa waren anfangs nicht so begeistert wie ich.

„Viel zu spießig!“, sagte Mama. „Da passen wir nicht hin!“

„Irgendwie ziemlich langweilig!“, sagte Papa.

„Zu perfekt für uns!“

„Aber auch praktisch!“, sagte Mama.

„Und echt toll, dass wir nur wenig Miete zahlen müssen!“

„Und die allerbeste Lösung für Paul!“, sagte Papa.

„Das ist sowieso das Wichtigste!“, sagte Mama.

„Das Allerwichtigste überhaupt!“

„Endlich ist Schluss mit der ewigen Frage!“, sagte Papa.

„Wer kümmert sich um Paul?“

Ich schlucke die Tränen runter.

Löse mich aus Papas Umarmung.

Atme ein paar Mal tief ein und aus.

Und das Wunder passiert.

Die Trauer fliegt davon.

Und das Gefühl von Glück hat wieder Platz in mir.

Ja, ich freue mich!

Auf mein neues Leben.

Auf diese megacoole Wohnung.

Nur fünf Minuten von Oma und Opa entfernt.

Und auf die Stadt des deutschen Fußballmeisters!

Mit diesem gigantischen Stadion!

Dem besten der Welt!

(Sagen die Experten!)

Diese super Stimmung dort!

Den total verrückten Fans!

Die ihre Mannschaft echt lieben!

Ob ich mal dabei sein kann?

Einer von 85.000 Zuschauern?

Das wär der Hammer! Echt!

Auf jeden Fall werde ich schon bald in einem Verein spielen.

Zweimal die Woche Training.

Am Wochenende Meisterschaftsspiele.

Ab sofort wird der Fußball auch mein Leben bestimmen.

Nein, nicht mein ganzes Leben.

Nur ziemlich viel von meiner freien Zeit.

Zum Profi reicht es bei mir nicht!

Da mach ich mir nichts vor.

Ich bin nicht schnell genug.

Und noch hab ich zu wenig Kraft für die ganz harten Bälle.

Echte Geschosse krieg ich selten hin.

Aber ich bin kein schlechter Verteidiger.

Und auch kein ganz schlechter Torwart.

Und ich liebe Bälle.

Als ich angefangen habe zu sprechen, soll „Ball“ mein erstes Wort gewesen sein!

Das behauptet Mama jedenfalls.

Und „Tor“ das zweite Wort.

Das behauptet Papa.

Aber daran erinnere ich mich nicht mehr.

Nur, dass ich immer schon Bälle geliebt habe.

Und Fußballplätze.

Diese riesige grüne Fläche aus Gras.

Und das Dribbeln, die Rennerei, das Schießen auch.

Ich liebe ganz einfach die Bewegung.

Und ich strenge mich total gerne an.

Alles geben bis zum Letzten.

Laufen bis zur Erschöpfung!

Dann völlig fertig ins Gras fallen!

Ein tolles Gefühl!

Ja, ich bin echt extrem.

Einerseits bin ich total gerne allein.

Aber dann brauch ich auch das Gefühl, Teil einer

Mannschaft zu sein.

Um gemeinsam für ein Ziel zu kämpfen.

Den Sieg!

In Berlin hab ich bis jetzt in einer gemischten

Mannschaft gespielt.

Das ist jetzt vorbei.

Ich bin zehn geworden.

Und eigentlich muss ich ab jetzt in die Mädchenmannschaft.

Wenn man in meinen Personalausweis guckt, ist das klar.

„Wir werden den Ausweis hier nicht zeigen!“, sagt Papa.

„Du bist Paul! Ich habe dich schon angemeldet.“

In die Jungsmannschaft!

So ein richtig gutes Gefühl ist das nicht!

In Berlin war alles klar.

Da war ich Paula.

Seit meiner Geburt.

Viele Jahre lang.

Bis vor drei Jahren.

Da hab ich beschlossen, Paul zu sein.

Für alle war ich von einem Tag zum nächsten eben Paul.

Das Leben von Paula war zu Ende.

In Berlin war das überhaupt nicht schwierig.

Aber Papa findet, wir sollten hier erstmal vorsichtig sein.

Nicht mit jedem darüber reden.

Genau überlegen, wann und wem wir was erzählen.

Ich liebe Geheimnisse.

Aber in diesem Fall wär mir lieber, wir würden allen sagen, wie es ist.

„Lass uns Zeit, Paul!“, sagt Papa.

„Ich weiß auch nicht, was besser ist!“, sagt Mama.

Und ich bin jetzt auch etwas durcheinander.

Aber vielleicht hat Papa ja recht.

Erstmal abwarten, wie das so ist, in dieser neuen Stadt.

Wir sitzen im Garten, der mal ein Garten war.

Und warten auf Falco.

Ein Müllplatz ist das jetzt.

Alte Bettgestelle, kaputte Waschmaschinen.

Aufgerissene Säcke mit aussortierten Klamotten.

Papa spielt mit seinem Autoschlüssel.

Guckt ständig auf die Uhr.

„Ich bin froh, wenn wir endlich weg sind!“, sagt er.

Falco kommt eine halbe Stunde später als verabredet.

Aber er hat das Geld dabei. Immerhin.

In einem Umschlag liegen zehn grüne Scheine.

Nagelneu, wie frisch gedruckt.

„Sind die echt?“, frage ich.

„Keine Ahnung!“, sagt Falco.

„Ich hab sie gerade von der Bank geholt!“

Papa steht auf.

„Komm Paul! Und jetzt nix wie weg!“

Er steckt den Umschlag ein.

Ich schluck meine Trauer runter.

Ciao, Piratenschiff!

2. UNTERWEGS

Wir sitzen in unserem klapprigen Kleinlaster.

„Ob der durchhält, Papa?“

Papa grinst.

„Einen Garantieschein hab ich nicht!

Aber die Nummer vom ADAC.

Wenn alles gut läuft, sind wir in fünf Stunden da!“

Ich schließe die Augen.

Fühl mich auf einmal etwas erledigt.

Kein Wunder!

So ein Umzug!

Die Packerei!

Eine ganze Woche waren Papa und ich damit beschäftigt.

Dann all die Abschiedsfeiern!

Und jetzt schleicht plötzlich ein neues Gefühl an.

Ein unangenehmes.

Und das Gefühl heißt Angst!

Ja, etwas Angst hab ich schon.

Vor der neuen Schule zum Beispiel.

Vor Frau Kaiser, meiner Klassenlehrerin!

Papa hat ihr die Geschichte mit Paula und Paul erklärt.

Musste er ja.

Wegen der Anmeldung.

Aber Frau Kaiser konnte das gar nicht locker sehen.

So wie meine alte Lehrerin in Berlin!

Frau Kaiser wollte erstmal alles geheim halten.

Paul ist Paul.

Wieso und warum?

Das sollte erstmal niemand erfahren!

Und wenns doch rauskommt?

Was passiert dann?

„Cool bleiben, Paul!“, sagt Papa dann.

„Lass uns abwarten!“

Aber jetzt merke ich, dieses „Abwarten“ macht mir Angst!

Echt!

In Momenten wie diesen fehlt mir Mama.

Ja, jetzt würde ich mich gerne an ihre Schulter lehnen.

Oder ihre Hand halten.

Aber Mama steht jetzt auf einer Bühne.

Mit bunten Ringelsocken und knallroten Zöpfen.

In irgendeiner Schulaula.

In einer Stadthalle.

Oder in einem Theater.

Irgendwo in Deutschland, in Österreich oder der Schweiz.

Wo ist sie heute?

Ich hab den Überblick verloren.

Und den Terminplan nicht im Kopf.

Kann sein, dass sie heute in Hamburg ist.

Und morgen in Köln.

Momentan spielt Mama die Pippi Langstrumpf.

Ich liebe Pippi Langstrumpf.

Dieses Leben in absoluter Freiheit!

Keine Schule!

Allein in einer Villa Kunterbunt!

Nur mit einem Pferd und einem Affen.

Und einer Schatztruhe.

Das Paradies!

Echt!

Und dann dieser Mut!

Ja, so mutig wie Pippi zu sein, das hab ich mir immer gewünscht!

Egal, was die Leute denken!

Das eigene Ding durchziehen!

Ja, Pippi ist mein Vorbild!

Wenn die Leute mich komisch finden?

Mir egal! Echt!

Pippi sieht das genauso!

Ich hab Mama noch nicht in dieser Rolle gesehen.

Immer hat sie irgendwo gespielt.

Nur nicht in Berlin.

Mama liebt ihren Beruf.

Mein Ding wär das nicht.

Jede Nacht in einem fremden Bett.

Meistens in billigen Hotels oder Pensionen.

Jeden Tag mit dem Bus in die nächste Stadt.

Jeden Tag zwei Vorstellungen.

Manchmal auch drei.

Ich fände das furchtbar.

Und immer nur Fast Food.

Pizza, Döner, Frühlingsrollen.

Zwischendurch Brötchen.

Und keine Küche, in der man sich was Leckeres kochen kann.

Nur manchmal heimlich eine Suppe mit dem Wasserkocher.

„Das ist ja nicht für immer, Paul!

Irgendwann bekomme ich vielleicht eine feste Stelle.

An einem Stadttheater.

Oder ich werde für den Film entdeckt!

Aber jetzt ist es wirklich okay!“, sagt Mama.

Immer wieder sagt sie das.

Dabei weiß ich auch, dass Mama die ewige Reiserei leid ist.

Dass sie viel lieber öfter zu Hause wär.

Bei Papa und mir.

Aber sie zieht das durch.

Weil irgendjemand ja Geld verdienen muss.

Trotzdem reicht das, was sie verdient, nicht für uns drei.

Bloß glaubt das keiner.

Alle denken immer, Schauspieler sind mega reich.

Totaler Quatsch ist das!

Bei Papa ist es auch nicht besser.

Im Sommer ist auch er auf Tournee.

In deutschen Ostseebädern.

Aber auch nur im Sommer.

Im Winter unterrichtet er an einer Hochschule für Schauspielkunst.

Weit weg!

An der Ostsee.

Zwei Monate lang.

Aber das bringt alles nicht viel Geld aufs Konto.

Neulich hatte er eine Rolle in einer Fernsehserie.

„Mieses Niveau!“

Hat Papa gesagt.

„Aber es gibt eben genug Leute, die gerade so was sehen wollen!“

Und sogar das wurde schlecht bezahlt.

Zwischendurch schreibt er Theaterstücke.

Aber bis jetzt hat er noch keinen Verlag gefunden, der sie drucken wollte.

Und auch keine Bühne, die sie aufgeführt hat.

Papa schreibt aber trotzdem weiter.

Und hofft!

Mama und Papa arbeiten echt viel.

Beide.

Immer.

Aber sie haben Mühe, davon zu leben.

Und zwischendurch gibt’s Zeiten, da verdient Mama ihr Geld mit völlig anderen Sachen.

Im Winter zum Beispiel verkauft sie gebrannte Mandeln auf dem Weihnachtsmarkt.

„Nein!“, sagt Mama. „So weit will ich nie kommen.

Arbeitslosengeld? Niemals!“

Sie arbeiten gerne.

Und sie jammern nicht.

Aber von Zeit zu Zeit sage ich:

„Ich bin für euch bloß ein Klotz am Bein!

Ohne mich könntet ihr jetzt in Hollywood sein.

Karriere machen.

Und Oscars kassieren!“

Dann gucken beide sehr ernst.

„Nicht schon wieder, Paul!

Nicht schon wieder diese Sätze.

Du weißt doch, der einzige Grund, immer wieder gerne nach Hause zu kommen, das bist du!

Unser Zuhause, das ist unser Paul!

Wann kapierst du das endlich?“

Ich habs natürlich schon längst kapiert.

Aber es tut immer wieder total gut, ihre Sätze zu hören!

Nur deshalb fang ich immer wieder damit an.