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Wer sich mit über dreißig verliebt, muss damit rechnen, dass sein Gegenüber eine Vergangenheit hat. Und Kinder. Hier ist das Buch für alle, die unversehens Stiefmütter oder Stiefväter werden: Wie fühlt es sich an, plötzlich eine Familie zu haben? Was entgegnet man als ungeübte Wochenend-Mutter auf den Killer-Satz »Du bist nicht meine Mama«? Wie geht man damit um, dass die Ex des neuen Partners dank der Kinder alles über einen weiß – bis hin zu Kontostand und Körpergewicht? Und was geschieht in dem fragilen Patchwork-Gefüge, wenn eigene Kinder hinzukommen? Die Publizistin und Bestsellerautorin Felicitas von Lovenberg berichtet lebensnah, witzig und klug aus dem Alltag ihrer Patchwork-Familie und gibt wertvolle Erfahrungen weiter, die das Miteinander leichter machen. Ein Buch für Liebende, Eltern, Stiefmütter, Stiefväter und Expartner.
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Seitenzahl: 347
Felicitas von Lovenberg
Und plötzlich war ich zu sechst
Aus dem Leben einer ganz normalen Patchwork-Familie
FISCHER E-Books
»Also, denkt immer daran: So weit alle wissen,
sind wir eine nette, normale Familie.«
Homer Simpson, »Die Simpsons«
Für meinen Mann und meine Stiefkinder
»In der Wahl seiner Eltern kann man nicht vorsichtig genug sein.«
Paul Watzlawick
»The more, the merrier.«
Englisches Sprichwort
Zum Thema Familie hat kaum einer ein unverkrampftes Verhältnis. Die einen wollen ihr entkommen, die anderen glorifizieren sie, die dritten verteidigen sie wie Löwen. Feste, Therapien und Morde werden in ihrem Zeichen begangen. Ohne Familie gäbe es keine Gesellschaft und keine Literatur. Je nach Temperament und Erfahrung, besteht das Ideal wahlweise in einem Personenkreis, der einen am besten in Ruhe lässt, der Familie als Rückhalt in sicherer Entfernung oder der Geborgenheit bei Menschen, die immer für einen da und vor Ort sind.
Wenn es um Familie geht, ist jede Erfahrung so einzig wie absolut. Das Geschenk einer intakten Familie erleben nur wenige. Doch niemand sitzt so sehr zwischen allen Stühlen wie die Patchworker, mit Kindern, zu denen sie nichts beigetragen haben, Großeltern und Schwiegermüttern, die nicht ihre eigenen sind. Patchwork kann mit der Idealvorstellung der heilen Familie nicht konkurrieren. Zwar mögen Fernsehserien und Prominente uns attraktive Bilder einer bunten Familienidylle auch nach Trennung und diversen Weiterverästelungen von Müttern und Vätern vermitteln, aber man ahnt, dass hinter den Kulissen oft Machtkämpfe toben, Schmerz, Verletzungen und Wut regieren. Dabei sind Stieffamilien normal. Es gibt sie, seit Stammesmitglieder die Kinder von gestorbenen oder kranken Eltern mit aufzogen. Über Jahrhunderte und quer durch die Kulturen stellte das, was wir heute Patchwork nennen, wahrscheinlich sogar den häufigsten Familientyp dar – bis die moderne Medizin die Sterblichkeit signifikant senkte und steigende Scheidungsraten zugleich bedeuteten, dass Kinder nicht mehr erst zu Halbwaisen werden mussten, um es mit einem Stiefvater oder einer Stiefmutter zu tun zu bekommen. Diese sind, dem unausrottbaren Sprichwort »Blut ist dicker als Wasser« zufolge, Wasserverwandte. Das gefällt mir. Denn Wasser ist eine Urkraft: Es spendet Leben, bricht Dämme, wäscht rein – und sucht sich immer seinen Weg.
Bis mir das Thema vor einigen Jahren sehr konkret begegnete, hatte ich mir über Patchwork allerdings nie wirklich Gedanken gemacht. Über Liebe und die Chancen und Risiken der Partnerwahl hatte ich ausführlich nachgedacht, sogar in Buchform, aber familiäre Konstellationen hatten dabei keine große Rolle gespielt. Dann traf ich einen Mann nach meinem Herzen, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Denn mit ihm hielten zwei Kinder in mein Leben Einzug – und plötzlich fand ich mich in einer überaus erfreulichen, aber zugleich so unbekannten Situation wieder, dass ich dringend nach Verbündeten, Vorbildern und Artgenossen Ausschau hielt. Wie es meiner Neigung und meinem Beruf entspricht, suchte ich diese vor allem in Büchern. Ratgeber für Eltern, die sich getrennt haben, fand ich zuhauf, doch ansonsten – Fehlanzeige. Alles, was es über Patchwork-Familien und Stiefelternschaft gibt, geht von den Problemen aus, die diese Familienform mit sich bringen kann. Da ich aber vor allem glücklich und ausgefüllt an der Seite meiner drei neuen Lebensmenschen war, schienen diese Titel für meine Situation nicht recht in Frage zu kommen. Zwar fand ich britische und amerikanische Romane, die aus dem Zusammenkommen von junger Frau und Märchenprinz mit Anhang durchaus unterhaltsamen dramatisch-romantischen Honig saugen, und sogar zwei oder drei, die tatsächlich vom wahren Leben inspiriert schienen. Trotzdem war die Ausbeute enttäuschend, zumal die deutschsprachige Gegenwartsliteratur, die sonst gern Familiengeschichten erzählt, bislang eher einen Bogen um das Thema macht. Dafür fielen mir diesseits der Bücher immer mehr Frauen und Männer auf, die genau wie ich durch die Liebe zu Wochenend- oder Vollzeit-Zweiteltern geworden waren. Bei den Gesprächen merkte ich, dass unsere Beobachtungen und Erfahrungen sich ähnelten, sowohl was die beglückenden Erlebnisse mit unseren neuen Familien anging als auch die Komplikationen, die im Umgang mit Kindern, Ex-Partnern, Lehrern und anderen dazugehörigen Personen auftreten können. Aber keiner kannte ein Buch, in dem wir uns wiederfinden konnten.
Vielleicht hat es damit zu tun, dass Patchwork genauso wenig wie eine normale Familie eine abgegrenzte Erfahrung ist, sondern eher ein Lernprozess, der einen ein Leben lang begleitet. Es gibt keine Lehrgänge, keine Diplome und keine Richterskala für die Amplitude der Freuden und Probleme, die diese Familienform mit sich bringt. Patchwork macht glücklich, dankbar und demütig, aber manchmal ist man eben auch ratlos und frustriert. Nach acht Jahren kann ich aber sagen: Es lohnt sich, dranzubleiben. Beim Schreiben dieses Buches bin ich immer wieder von der Realität überrumpelt und verblüfft worden. Es gab einige wenige Tage, an denen ich das Gefühl hatte, Patchwork bloß durchzustehen, statt es bewusst zu leben, und viele andere, da es sich wie die beste, ehrlichste und vielseitigste aller Familienformen anfühlte. Die meisten waren irgendwo dazwischen. Patchwork ist keine Aufgabe oder Herausforderung, die sich je ganz meistern lässt. Wahrscheinlich gilt das für alle Familien – allerdings mit dem gravierenden Unterschied, dass Patchworker, Eltern wie Kinder, um die Zerbrechlichkeit ihrer familiären Welt wissen und sich darum auf deren Haltbarkeit nicht einfach verlassen, sondern in guten Fällen versuchen, am Gelingen mitzuwirken. Darüber hinaus ist die Zeit ein Verbündeter dieser Familienform: Je länger sie währt, desto besser funktioniert sie.
Ich bin keine Expertin in Sachen Patchwork, im Gegenteil. Auch nach acht Jahren mit meiner Familie sind meine Qualifikationen eher dürftig, bin ich immer noch verliebt in meinen Mann und die meiste Zeit begeistert von meinen Stiefkindern. Mit anderen Worten: Ich bin gerne Stiefmutter. Warum das so ist, davon möchte dieses Buch erzählen – ohne die Schwierigkeiten zu verschweigen, die Patchwork mitunter für alle Beteiligten mit sich bringt. Vor allem aber will es dazu ermuntern, sich nicht unterkriegen zu lassen.
»Ich glaube an große Familien. Schon deswegen
sollte jede Frau mindestens drei Ehemänner haben.«
Zsa Zsa Gabor
»Ehen halten nicht. Wenn ich einen Mann treffe,
stelle ich mir als Erstes die Frage: Ist das der Typ,
mit dem meine Kinder die Wochenenden verbringen sollen?«
Rita Rudner
Verliebt, verlobt, verheiratet war früher. Nach geschieden kommt heute oft: Patchwork. Und Patchwork heißt Familie von Anfang an, hier gibt es keine Aufwärmphase als Paar ohne Verantwortung für Kinder. Insofern ist Patchwork etwas für Fortgeschrittene. Das fängt beim Einstiegsalter an: Patchwork-Bindungen sind notwendigerweise für mindestens einen der Partner der zweite Anlauf, oft auch für beide. Darum ist Patchwork Familie in Potenz – hoch drei, vier, fünf. Auch, was die Herausforderungen angeht. Stieffamilien bilden bereits heute die dritthäufigste Familienform in unserem Land. Jede sechste Familie lebt in einer Patchwork-Konstellation, Tendenz steigend. Dem Statistischen Bundesamt zufolge wächst in Deutschland bereits jedes vierte Kind zeitweise in sogenannten alternativen Lebensformen auf, also bei Noch-Alleinerziehenden oder Schon-Patchworkern. Und bei Scheidungskindern, die eine Woche bei Mama, dann eine Woche bei Papa wohnen, spricht das Behördendeutsch von »paritätischer Doppelresidenz«.
Immer mehr Kinder erleben also im Laufe ihrer Jugend eine Situation, wo sie es mit Stiefvater oder Stiefmutter, oft auch mit Geschwistern zu tun haben, mit denen sie nicht oder nur zur Hälfte leiblich verwandt sind. Wie häufig das Modell Patchwork-Familie geworden ist, kann jeder am eigenen Umfeld feststellen, im Bekannten- und Freundeskreis. Da sind Konstellationen wie »der Sohn des zweiten Mannes meiner Schwester«, der Kumpel mit vier Kindern von zwei oder drei Frauen oder die Nichte, die älter ist als ihr Onkel, weil es sich um den Jüngsten des zum dritten Mal verheirateten Großvaters handelt, heute kein Grund mehr für hochgezogene Brauen. Kein Wunder, dass in Kindergärten bereits der moderne Abzählreim kursiert »Verliebt, verlobt, verheiratet, geschiiieden – wie viele Kinder willst du kriiiegen?« oder dass Schulanfänger berichten, beim Kennenlernen laute eine der ersten Fragen: »Und, sind deine Eltern noch zusammen?«
Die Patchwork-Familie ist also keine Ausnahme mehr, sondern Normalität – was auch damit zu tun haben dürfte, dass die Scheidungskinder der siebziger und achtziger Jahre inzwischen selbst ein- bis zweimal geheiratet und Kinder bekommen haben. In naher Zukunft bereits dürften die Patchworker ebenso häufig sein wie die sogenannte, aber immer weniger als solche empfundene »normale« oder »klassische« Familie. In amerikanischen Großstädten soll es bereits jetzt mehr Patchwork- als traditionelle Familien geben (und nach wie vor mehr Singles als beide zusammen). Dennoch wird diesseits der Unterhaltungsindustrie und des Boulevards noch immer auffallend wenig über sie berichtet – oder wenn, dann dient Patchwork in erster Linie als Synonym für moderne Familienführung, die ja ohnehin von der Frage bestimmt ist, wie man alles unter einen Hut bekommt, Kinder und Karriere, Ausgaben und Einkommen, Romantik und Selbstverwirklichung.
Ganz wie der angelsächsische Quilt, von dem das Flickwerk-Modell seinen Namen hat, sind Patchwork-Familien auf Erweiterung angelegt; hier kommt zusammen, was ursprünglich nicht zusammengedacht war, und indem man versucht, aus unterschiedlichen Nöten eine gemeinsame Tugend zu machen, ergibt das Ganze ein neues, buntes, fröhlich wirkendes Muster, das Geborgenheit ausstrahlt. Nur dass jede Naht, die das Flickengewebe zusammenhält, hier zugleich eine Narbe ist.
Kinder in Patchwork-Familien, das sind die mit den doppelten Müttern, den Ersatzvätern und den vielen Großeltern, die einander noch nie begegnet sind. Die mindestens zweimal Weihnachten und Geburtstag feiern und in den Ferien erst mit Mama und deren zweitem Mann nach Südfrankreich und dann mit Papa und seiner Freundin an die Ostsee fahren. Manche bekommen auf diese Weise zunächst fertige Brüder und Schwestern, mit denen sie gar nicht verwandt sind, und später vielleicht noch Halbgeschwister, die sie an einen Ur-Zustand von Familie erinnern, den sie selbst verloren haben. Damit Patchwork gelingt, müssen alle Beteiligten zu allen Entwicklungen eine glaubwürdige gute Miene aufsetzen – vielleicht daher die auffällige Verbreitung dieser Familienform unter Politikern und Schauspielern.
Als es in den achtziger Jahren erstmals größere mediale Aufmerksamkeit fand, nannte man das Phänomen gutbürgerlich deutsch »Ich heirate eine Familie« und machte eine rührende Vorabendserie mit Thekla Carola Wied daraus; inzwischen heißt das Modell nach amerikanischem Filmvorbild eher »Deine, meine, unsere« oder schlicht »Modern Family«, sieht sympathisch aus und auf chaotische Weise kuschelig. Zugleich steht diese Familienform unter Verdacht, weil Außenstehende stets argwöhnen, dass hier die romantische oder erotische Selbstverwirklichung mindestens eines Elternteils auf dem Rücken der Kinder ausgetragen wird. Denn dass es immer mehr Patchwork-Familien gibt, heißt keineswegs, dass sie auch immer besser funktionieren. Im Gegenteil: Je mehr Beispiele die Statistik füttern, desto ungewisser scheint die Aussicht auf dauerhaft stabile Verhältnisse. Die Hälfte aller Patchwork-Familien geht wieder in die Brüche – und bringt so immer neue hervor.
Das dürfte nicht nur mit den besonderen Belastungen und Herausforderungen zu tun haben, denen alle Familienmitglieder in solchen Situationen ausgesetzt sind, sondern auch mit der Erfahrung des Scheiterns, die ihnen vorangeht: Die schlimmste Scheidung ist bekanntlich immer die erste. Das tut der idealistischen Annahme, dass beim nächsten Mal alles anders sein könnte, aber offenbar keinen Abbruch. Die Institution Ehe ist jedenfalls durch die immer größer werdende Gruppe der Patchworker nicht, wie oft behauptet wird, in Gefahr, im Gegenteil. Kinder sind eine konservative Kraft: Von den gut zwölf Millionen Familien mit Kindern in Deutschland sind knapp achtzig Prozent (wieder-)verheiratet. Nur bei zwei Prozent aller Patchwork-Zweitehen war ein Elternteil zuvor verwitwet.
Die Anzahl der Patchwork-Familien hierzulande entspricht laut Studien ziemlich genau der Anzahl geschiedener Ehen mit Kindern, weil der Nachwuchs offenbar der stärkste Antrieb für eine familiäre Neukonstellation ist – die oftmals erstaunlich rasch auf die gerade zu Bruch gegangene Ehe folgt. Da in den neuen Bundesländern statistisch die meisten Ehen geschieden werden, ist dort auch die Zahl der Stief- und Patchwork-Familien am größten.
Dass die Patchworker immer zahlreicher, aber dabei nicht unbedingt langfristig glücklicher werden, dürfte vor allem daran liegen, dass ihnen noch keiner so recht vorgemacht hat, wie das gehen könnte. Gerade für diese bunte und variantenreiche Familienform fehlt es bislang weitgehend an Vorbildern und Mustern jenseits von Klischees. Dabei täten sie hier besonders not. Da Soziologen schon lange herausgefunden haben, dass Kinder, die die Scheidung ihrer Eltern erlebt haben, sich als Erwachsene selbst schneller trennen als Nicht-Scheidungskinder, dürfte es sich mit Patchwork ähnlich verhalten: Wer als Kind Patchworker war, für den ist das Bild der heilen Familie unheilbar zerbrochen, und die Wahrscheinlichkeit steigt, dass er selbst als Erwachsener mehrere Trennungen erleben wird. Wer das weiß, will im zweiten Anlauf erst recht vorbildlich sein, um seinen Kindern doch noch vorzuleben, dass glückliche Familie auf Dauer möglich ist – oder dass sich Konflikte in der Partnerschaft auch anders bewältigen lassen als durch Auseinandergehen.
Wer sich mit einer Frau oder einem Mann samt Anhang zusammentut, weiß zwar theoretisch, was das bedeutet, ist aber in der Praxis trotzdem oft überfordert: Das belegen die ratlosen, bedrückten und verzweifelten Postings in den zahlreichen Internetkummerkästen für Stieffamilien. Dort sind vor allem Beiträge von Frauen zu lesen, deren neue Partner Kinder aus einer früheren Beziehung mitbringen. Tausende von Einträgen dokumentieren die Frustration darüber, immer in der Minderzahl zu sein, die quälende Eifersucht auf die Kinder des Mannes und die bittere Erfahrung, dass die Wahlverwandtschaft einer neuen Liebesbeziehung sich letztlich fast immer als schwächer erweist als die Bindung zum eigenen Kind. Vielleicht um dieses dauernde Ungleichgewicht im Gefühlshaushalt auszubalancieren, wird in Patchwork-Familien besonders häufig adoptiert, wenn gemeinsame Kinder ausbleiben – schließlich sind Stief- und Adoptivelternschaft einander nicht ganz unähnlich.
Patchwork ist bloß ein neuer Name für eine Konstellation, die so alt ist wie die Menschheit. Denn die biologischen Zwänge der Fortpflanzung bedeuteten noch nie, dass die leibliche Mutter zwangsläufig auch die soziale sein muss. Mutterschaft wird der französischen Ethnologin Nicole-Claude Mathieu zufolge in den meisten Gesellschaften »weniger durch das Gebären als durch die soziale Rolle begründet, die der Mutter zugeschrieben wird«. Biologische Verwandtschaft ist keineswegs erforderlich, um eine hohe emotionale Bindung zwischen Vater, Mutter und Kindern herzustellen. Wer überleben will, muss sich seit jeher zusammentun. Schon die in Rudeln lebenden Höhlenmenschen waren Patchworker, und die Geschichte ist reich an vergessenen Stiefvätern und Stiefmüttern, angefangen bei Josef, dem Ziehvater von Jesus. Bis ins letzte Jahrhundert hinein machte der Tod der Mutter im Kindsbett oder der Kriegstod des Vaters viele Kinder erst zu Halbwaisen und später zu Stiefkindern.
Abhängig ist das Funktionieren dieser Form menschlichen Zusammenlebens wie bei allen Familien in erster Linie von den Eltern, die dabei aus Sicht der anderen Parteien ziemlich oft versagen. Allerdings ist die Schar der potentiellen Kritiker und damit das Fettnäpfchenvorkommen bei Patchworkern deutlich größer als in anderen Familien. Selbstverständlich kann es die neue Stiefmutter aus Sicht der mütterlichen Großeltern nur schlechter machen als ihre eigene Tochter, und aus der Perspektive der Kinder sowieso. Stiefväter hingegen, denen es schließlich nicht an der Wiege ihrer Patchwork-Kinder gesungen war, dass sie sich um diese kümmern und oft auch materiell für sie aufkommen würden, können sich offenbar leichter Meriten verdienen – allein schon, weil sie eine Frau mit Anhang gewissermaßen von der Straße aufgelesen haben, was einen Kavalier nahelegt. Auf den ersten Blick scheinen die Zahlen dies zu bestätigen: So gibt es dem Familienministerium zufolge in Deutschland 47 Prozent Stiefvaterfamilien und nur 27 Prozent Stiefmutterfamilien. Diese Diskrepanz zur gesellschaftlichen Realität, in der sich nachweislich geschiedene Väter am häufigsten neu binden, erklärt sich dadurch, dass für diese Statistik nur die Haushalte zählen, in denen die Kinder gemeldet sind, also den Großteil ihrer Zeit verbringen. Für das Einwohnermeldeamt fällt eine Familie, bei der die Kinder nur an den Wochenenden sind, nicht in die Patchwork-Kategorie. Fürs Amt zählt lediglich der Hauptwohnsitz.
Generell scheinen Stiefväter mit weniger Vorurteilen zu kämpfen zu haben als ihre weiblichen Pendants, denn die Erwartungen an sie sind schlicht geringer – in diesem Punkt ist Gleichberechtigung praktisch aussichtslos. Auch wenn hauptsächlich die Frauen aus dem Büro hetzen, um Chauffeurdienste zwischen Kindergarten und Klavierstunde zu absolvieren, nachts den Kuchen für das Klassenfest backen und von neuntausend Windeln, die ein Kind bis zur Kloreife im Durchschnitt verbraucht, achttausend bis achttausendneunhundertfünfzig wechseln, gilt dabei noch immer die optimistische Annahme, die Mark Twain einst formulierte: »Meine Mutter hatte einen Haufen Ärger mit mir, aber ich glaube, sie hat es genossen.«
Noch polemischer verkürzt, könnte man sagen: Patchwork musste schon deswegen auf die Welt kommen, weil Männer, wenn sie allein sind, sich von Kindern oft überfordert fühlen – das war vor Tausenden von Jahren nicht anders als heute und stellt keinerlei Abwertung der Väter dar. Denn die Zahl der Männer, die im Zusammensein mit ihren Kindern aufgehen, nimmt meist dann drastisch ab, wenn der Nachwuchs zahnt, quengelt, kränkelt, pubertiert oder sonst wie anstrengend wird. Einer kongolesischen Weisheit zufolge lieben Väter ihre Kinder nur, solange die Mutter in der Nähe ist, während Papst Johannes XXIII. einmal weise formulierte, es sei für einen Vater leichter, Kinder zu haben, als für Kinder, einen Vater zu haben. Ausnahmen bestätigen hier tatsächlich die Regel. Ich weiß von begeisterten und liebevollen Vätern, die nach zehn Tagen allein verantwortlichen, unausgesetzten Zusammenseins mit ihren Kindern vor Stress, Anstrengung und Überforderung Asthmaanfälle oder nervösen Ausschlag bekommen, und anderen, die lieber dreimal am Tag ins Restaurant gehen, bevor sie ihre meist unbenutzte Küche in eine Fischstäbchen- und Rahmspinatfabrik verwandeln. Männer, die sonst um jeden Cent feilschen, nehmen es bei der Babysitter-Rechnung nicht so genau und geben in den Ferien, ohne zu zögern, ein kleines Vermögen für Hotels mit Kinderbetreuung aus. Andere haben erstmals in ihrem erwachsenen Leben nichts dagegen einzuwenden, ihre Mutter oder sogar ihre frühere Schwiegermutter mit in den Urlaub zu nehmen – jede Großmutter ist ihnen willkommener als die Aussicht, sich allein mit dem Nachwuchs in einer Ferienwohnung wiederzufinden und zwei Wochen lang den Alleinunterhalter spielen zu müssen.
Die Erfahrung der eigenen Hilflosigkeit, der Verunsicherung und des Leidens, vielleicht auch der Schuld und der Reue, welche die erste Zeit nach einer Trennung begleiten, mag für die Eltern einschneidend und für die ihnen zuschauenden Kinder regelrecht beängstigend sein – aber sie bildet die Grundlage für gelingendes Patchwork. Denn für diese Familienform genügt es nicht, dass einer allein sich bemüht, damit es im zweiten Anlauf besser klappt, sondern es muss allen daran gelegen sein. Wenn Kinder Patchwork nicht als von den Eltern diktierte Folge von deren eigener Beziehungsniederlage erleben sollen, darf die nächste familiäre Bindung kein Überfallkommando sein – was allerdings oft der Fall ist, weil sich viele Menschen nun einmal erst dann trennen, wenn sie den Silberstreif am Horizont in der holden Gestalt eines neuen Gefährten gefunden zu haben glauben. Für kinderlose Leute mag dieses Verhalten, das die lästigen Mietkosten einer temporären Wohnung spart, nicht ungewöhnlich sein. Aber selbst, wenn es sich um den Mann der besten Freundin handelt, den die Kinder seit ihrer Geburt kennen, um die langjährige Kollegin oder sonst jemanden, der in der Familie bestens eingeführt ist: Für die beteiligten Kinder bedeutet der elterliche Sprung von einer Vollzeit-Beziehung in die nächste in jedem Fall eine massive Erschütterung ihrer Bedürfnisse nach Sicherheit und Stabilität. Das bekommen auch ihre Eltern zu spüren. Diese Regel bestätigen nicht einmal Ausnahmen. Ganz gleich, ob man es sich hinter die Ohren schreibt, aufs Armaturenbrett klebt oder an den Badezimmerspiegel heftet: Wenn sich eine oder beide Seiten ohne die Katharsis einer Pause – und nein, eine längere eheliche Phase ohne Sex gilt nicht als Qualifikation – in die nächste Partnerschaft stürzt, ist das nicht der ideale Auftakt für eine glückliche neue Familie. Man schaue sich nur an, wie es der armen Anna Karenina erging!
»Niedliche Kinder gelten als Eigentum der ganzen Welt.
Schreckliche Kinder gehören ihren Müttern allein.«
Judith Martin
Wer gerade eine schmerzhafte Trennung hinter sich hat, denkt zumeist nicht gleich an eine nächste Beziehung, sondern ist vollauf damit beschäftigt, sich in seinem neuen Leben als alleinstehende Mutter oder alleinstehender Vater einzurichten. Oft bedeutet das für die Kinder einen doppelten Umzug, weil die Wohnung der Mutter sich ebenso verkleinert wie die des Vaters, und nicht immer bleiben beide Eltern am selben Ort. So geht das Ende der Familie, wie sie die Kinder bis dahin kannten, mitunter zusätzlich mit einer vollständigen Veränderung auch aller anderen Lebensumstände einher. Manchen Kindern mag das sogar helfen, sich mit der neuen Situation zu arrangieren, weil sie aktiv einbezogen werden und etwa ihr neues Zimmer bei Papa selbst einrichten dürfen oder die Mutter auf ihrer Wohnungssuche begleiten. Gerade zu Beginn aber kann kein noch so schönes neues Heim das Gefühl der emotionalen Entwurzelung kompensieren. Es bedarf keines Kindertherapeuten, um die Zeichen dafür zu deuten, die je nach Alter und Naturell ganz unterschiedlich ausfallen können. Bei den einen verschlechtern sich die schulischen Leistungen dramatisch, andere Kinder leiden unter völliger Appetitlosigkeit oder schaufeln, um sich zu trösten, Süßigkeiten und fette Speisen, nicht umsonst comfort food genannt, in sich hinein. Kleinere Kinder regredieren, können plötzlich Dinge, die sie zuvor bereits allein beherrschten, nicht mehr, wollen sich nicht selbst anziehen, fragen nach Flasche oder Schnuller und stellen herzzerreißende Fragen wie: »Wann kommt Papa zurück?« oder »Warum hast du Mama nicht mehr lieb?« Hinzu kommt, dass Kinder oft zusätzlich leiden, weil sie den eigentlichen Grund der Trennung bei sich selbst wähnen und sich daher schuldig fühlen.
Als Neuzugang in eine solche Situation hineinzuplatzen ist nicht einfach. Davor bedarf es, zumal auf Seiten der frisch fragmentierten Familie, einer gewissen Heilungs- und Ruhephase. Schließlich wird man sich als Gesamtfamilie nicht gleich auf die Suche nach dem fehlenden Puzzleteil machen, auch wenn das früher Filme wie der Heinz-Erhardt-Klassiker »Witwer mit fünf Töchtern« suggerierten. Aber nicht bloß getrennte Mütter und Väter rätseln, wie sich das ganze Bäumchen-wechsle-dich-Spiel wohl gestalten mag, wenn man mit Anhang Anschluss sucht, sondern auch ihre Kinder werden einige Erwartungen und Befürchtungen hegen.
Meiner Beobachtung nach unterscheidet sich die Situation von Müttern und Vätern dabei deutlich. Zum einen haben die Väter die Kinder in den weitaus häufigsten Fällen nur an den Wochenenden bei sich oder jedenfalls deutlich seltener als die Mütter, die außerdem nach einer Trennung den ganzen Alltag allein bewältigen müssen, was die Lage zusätzlich kompliziert. Kurz nach einer schmerzhaften, bösen oder teuren Scheidung bittet es sich den früheren Partner oder gar die Ex-Schwiegermutter nicht mehr so leicht um kurzfristiges Einspringen, Aushelfen oder Betreuen. Eher ist man darauf bedacht, sich aus dem Weg zu gehen, ob bei Elternabenden oder im Freundeskreis. Und wenn noch ein Umzug dazukommt, dauert es oft viele Monate, bis man wieder eine einigermaßen funktionierende Infrastruktur von Babysittern oder anderen Hütern etabliert hat, die einem überhaupt ermöglichen, sich an den Abenden hier und da außer Haus zu begeben.
Die komplizierte Suche nach Mr oder Mrs Right II mag sich durch die Möglichkeiten moderner Kontaktaufnahme kurzweiliger gestalten, tatsächlich verkürzt wird sie dadurch hingegen meist nicht. Schließlich gilt es, jemanden zu finden, der nicht nur einem selbst zusagt, sondern mit dem sich auch die anderen Familienmitglieder anfreunden können. Und da wird die Sache mitunter höllisch kompliziert.
Väter, deren Kinder nur zeitweise oder an den Wochenenden bei ihnen sind, tun sich meist etwas leichter als Mütter. Sie haben schlicht mehr Freiraum, sich zu verabreden und auszugehen, und lernen dadurch auch eher jemanden kennen. Außerdem erscheint die Situation für einen Außenstehenden nicht ganz so bedrohlich oder, politisch korrekt ausgedrückt, herausfordernd, wenn die Kinder nicht permanent anwesend sind, und dadurch auch die Zahl der gestörten Nächte, der Körbe voll dreckiger Wäsche oder der Legotürme im Wohnzimmer überschaubar scheint. Ein Mann hingegen, der sich in eine Frau mit kleinen Kindern verliebt, tut dies zumindest theoretisch in dem Wissen, dass er die nächsten Jahre praktisch nie an erster Stelle kommen wird, sondern dass seine Bedürfnisse und Wünsche nachrangig zu denen der Kinder sein werden und dass er, um seiner Frau ein wirklicher Partner zu sein, Verantwortung auch für den Nachwuchs eines anderen Mannes übernehmen muss.
Gelegentlich tauchen in dieser Situation Bekannte auf, die jetzt ihre Chance wittern. Gleich, ob man das zynisch oder realistisch finden will: Da heute feste Beziehungen und auch Ehen nicht mehr in Stein gemeißelt sind, gibt es im Umkreis eines jeden Paares fast immer die eine oder andere Person, die ein Ende der bisherigen Verhältnisse wenn schon nicht herbeigesehnt hat, so doch die neuen Umstände zumindest nicht nur tragisch finden kann. Allerdings sind auch hier eher Männer die Profiteure, weil es eben auch für Außenstehende kein unerheblicher Unterschied ist, ob man sich einen Wochenendvater anlacht oder eine Frau mit einem oder gar mehreren Kindern. Anders ist nicht zu erklären, dass es so viele warmherzige, attraktive und erfolgreiche Mütter gibt, die nach einer Trennung alleinerziehend bleiben, aber kaum Teilzeitväter unter den Dauersingles. Mein Freund Ulrich jedenfalls konnte sich vor Angeboten zur Verköstigung oder zur unverbindlichen Gesellschaft beim samstäglichen oder sonntäglichen Kinderprogramm kaum retten, nachdem er und seine Partnerin auseinandergegangen waren. Single-Kolleginnen boten an, ihn und seine Tochter auf den Spielplatz oder ins Kindertheater zu begleiten (»ist doch sicher langweilig, so allein!«), Bekannte baten um seine Begleitung zu Vernissagen oder Einladungen (»du kannst ja als mein Walker mitkommen«). Weil Ulrich nicht nur gut aussieht und anständig verdient, sondern außerdem völlig arglos und uneitel ist, was seine Person und die versteckte Agenda zumal von Frauen angeht, fand er sich bald in Situationen wieder, wo die andere Seite seine verbindliche Art bereits als Ermunterung missdeutet hatte. Zum Glück erwies sich seine damals fünfjährige Tochter als zuverlässige Abschmetterin. Nachdem sie eine Anwärterin mit dem unschuldigen Satz »Du bist wohl schon lange in meinen Papa verliebt, oder?« in die Flucht geschlagen und eine andere mit der Bemerkung »Mein Vater hat gesagt, seine nächste Frau suche ich ihm aus« irritiert hatte, hatte sie ihren Vater an den Wochenenden erst einmal wieder für sich allein. Als später dann eine des Weges kam, die beide mochten, verkniff sie sich die verletzenden Kommentare ganz von allein.
Ein derart intaktes emotionales Immunsystem, noch dazu eines, das für Eltern und Kind gleichermaßen funktioniert, ist allerdings eher die Ausnahme. Stattdessen werden viele Kinder im Lauf der Zeit mit einer ganzen Reihe von Freunden und Freundinnen konfrontiert, gegen deren jeweiliges Auf- und Abtauchen sie völlig machtlos sind. Ein Schulkamerad meines Stiefsohns zählte neulich einmal ganz cool auf, was er in den vergangenen zwei Jahren mit seiner Mutter so alles erlebt hat: »Ihr erster Freund nach Papa war Kalle, der war irre lustig und hat immer mit mir Quatsch gemacht und herumgeblödelt. Den fand ich klasse, aber Mama meinte, sie brauche auf Dauer nicht noch einen Kindskopf im Haus. Als Nächstes war dann Hans angesagt, aber der war immer unterwegs, und eigentlich habe ich den nur gesehen, wenn ich in der Nacht noch mal rausmusste oder Ohrenschmerzen hatte. Das war immer irgendwie peinlich, wenn da plötzlich dieser Typ bei Mama im Bett lag, zumal ich das ja vorher nicht wissen konnte. Später hat sie dann gesagt, der habe ihr nur was vorgemacht und habe seine Frau gar nicht wirklich verlassen wollen. Philip hatte selbst zwei Söhne, sogar in meinem Alter, aber die wohnten mit ihrer Mutter in einer anderen Stadt, und deswegen hatte er am Wochenende nie Zeit. Dann habe ich ab und zu meinen Deutschlehrer bei uns in der Küche sitzen sehen, und eigentlich bin ich in Deutsch ganz gut, es kann also nicht um mich gegangen sein. Weiß nicht, was da genau war. Jetzt ist sie schon eine ganze Weile solo, aber das ist auch nicht toll, weil sie oft schlechte Laune hat und ich alles abbekomme.« Was für ein Fluch und Segen es sein kann, wenn man von den eigenen Kindern gnadenlos durchschaut wird, lässt sich gerade in Patchwork-Konstellationen beobachten. Davon wird später noch ausführlicher die Rede sein.
Von außen betrachtet, scheint es leicht, Regeln aufzustellen, was die Bekanntschaft von Kindern mit vorübergehenden oder bleibenden Partnern angeht. Die meisten Menschen reagieren entsetzt, wenn sie hören, dass Kinder die romantische trial-and-error-Phase ihrer Eltern mitmachen müssen. Aber der hehre Vorsatz, es dazu auf keinen Fall kommen zu lassen, kann ebenso nach hinten losgehen, wie ein Bekannter feststellen musste. Er war fest entschlossen, seinen Kindern keine kurzfristigen Liebschaften zuzumuten, sondern sie nur dann einer neuen Frau vorzustellen, wenn er selbst sicher sei, dass er mit ihr dann auch langfristig zusammenbleiben würde. Allerdings kann man heute eine derart weitreichende Entscheidung ohne Einbindung der Kinder nicht mehr so fällen wie vielleicht im achtzehnten Jahrhundert. Eine Beziehung, die sich ohne die Anwesenheit des Nachwuchses höchst erfreulich gestaltet, offenbart ihre Schwächen oft gerade dann, wenn die unbestechlichen Kinder ins Spiel kommen und zeigen, was sie davon halten. So war es jedenfalls hier. Denn als der Mann die scheinbar perfekte Kandidatin endlich gefunden hatte, stellte sich heraus, dass die Chemie zwischen ihr und seinen Kindern überhaupt nicht stimmte – was umso dramatischer war, da sie bereits mit dem Anspruch der künftigen Stiefmutter antrat. Das Hochzeitsdatum stand schon fest, als der Vater seine Zukünftige endlich seinen Kindern vorstellte. Die aber ignorierten sie, weigerten sich, von ihr gekochte Gerichte zu essen, antworteten nicht, wenn sie sie ansprach, und machten über mehrere Wochenenden hinweg derart deutlich, dass sie nicht vorhatten, die neue Stiefmutter zu akzeptieren, dass diese sich irgendwann zurückzog. Sie habe regelrecht Angst gehabt vor den Wochenenden mit den Kindern, erzählte sie mir später, habe sich gedemütigt und verletzt gefühlt und manchmal sogar mit den Tränen kämpfen müssen. Den Vater gegen den erklärten Willen der Kinder zu heiraten hätte die Sache in ihren Augen noch schlimmer gemacht: »Davon abgesehen, dass ich diesen Terror nicht ausgehalten hätte – wie soll man selbst glücklich sein, wenn dieses Glück andere so offensichtlich unglücklich macht?«
Wer hingegen lediglich als »guter Bekannter« – wobei Kinder einem das nicht lange abkaufen – oder eben als neuer Freund oder Freundin beginnt, hat es in der Regel leichter, weil die Situation für alle transparent ist, offener und fairer. Natürlich besteht immer das Risiko, dass es schiefgeht, aber wenn man seine Erwartungen herunterschraubt und sich nicht gleich unter den Druck setzt, auf eine wichtige Beziehung müsse unweigerlich gleich die nächste folgen, merken das auch die Kinder und sind im Zweifelsfalle toleranter und entgegenkommender, als wenn sie gleich fürchten müssen, gegen den oder die Neue sei kein Kraut gewachsen. Die Spannung von solchen Vorstellungsrunden, bei denen den Kindern vorher eingebläut wird, sich auch nur ja tadellos zu benehmen, keine freche Bemerkung vom Stapel zu lassen und der oder dem Neuen freundlich zu begegnen, bewirkt fast immer das genaue Gegenteil. Da läuft dann alles so weit gut, bis ein Kind mit einem patzigen, beleidigenden oder anderweitig völlig unmöglichen Satz die Situation rettungslos entgleisen lässt. Hier einige Beispiele aus dem wahren Leben: »Papa, die Frau hat ja eine unmögliche Lache. Wie hältst du das nur aus?«; »Mama, der Typ stinkt nach Zigaretten. Ich glaub, mir wird gleich schlecht.«; »Wir haben heute in Englisch eine neue Redewendung gelernt: trying too hard. Jetzt weiß ich, was damit gemeint ist!«
Natürlich will sich niemand von seinen Kindern vorschreiben lassen müssen, mit wem er sein Leben teilen darf. Aber die Ära des Machtworts, ohnedies in den letzten Zügen dahinsiechend, ist in diesem heiklen Punkt schlicht vorbei – jedenfalls, wenn man auf Dauer eine echte Familie werden will und keine Zwangsgemeinschaft von angestrengt Konversation machenden Tischgenossen. »Ich kann mir doch von meiner Tochter nicht diktieren lassen, wer mir gefällt«, schäumte eine Freundin neulich nach einem von ihrer dreizehnjährigen Tochter durch dauernde SMS, Anrufe und vorgetäuschtes Unwohlsein torpedierten Rendezvous. »Zum einen habe ich ein Recht auf mein eigenes Glück, und außerdem ist es doch für sie auch viel besser, wenn ihre Mutter nicht auf ewig allein ist!« Das stimmt zwar, aber so denkt nun mal kein Kind und kein Teenager. Kinder sind Konformisten, und als solche auf die Bewahrung des Bestehenden gepolt. Ihr Mantra lautet: Alles soll möglichst so bleiben, wie es ist. Jede Veränderung ist eine Bedrohung des Status quo. Den Makel des Scheidungskinds zu tragen ist schon schlimm genug. Wie Jochen Schmidt es in seinem Roman »Schneckenmühle« beschreibt: »Im Film wird Kindern so etwas in einem ersten Gespräch mitgeteilt, mit der Versicherung, dass sich für sie gar nichts ändern wird. Sie bekommen ein Stofftier geschenkt, das sie sich immer gewünscht haben, über das sie sich aber gar nicht mehr richtig freuen können. Mit solchen Kindern will dann keiner spielen, höchstens ein anderes Scheidungskind, obwohl die meistens zu gestört und bockig sind, um sich wenigstens untereinander anzufreunden.«
Zu diesem vagen Gefühl des Beschädigtseins gesellt sich mitunter noch die kaum je laut geäußerte, aber darum für viele nicht weniger akute Befürchtung, gerade die Mutter könnte mit einem neuen Partner womöglich noch ein Kind bekommen und man selbst auf der Strecke bleiben. Meine Freundin überzeugten diese Erklärungsversuche indes nicht. »Ach komm, wir reden doch nur von einem Flirt, nicht von meinem nächsten Ehemann! Ich will doch nicht noch mal Kinder kriegen! Außerdem: Ihr Vater lebt mit einer anderen Frau zusammen, seitdem er vor sieben Jahren ausgezogen ist. Dagegen hat sie nie etwas gehabt, obwohl die Hexe sogar der Grund für unsere Trennung war. Aber wehe, ich will einmal meinen Spaß haben!« Objektiv betrachtet, hat sie völlig recht. Ihre Tochter misst mit zweierlei Maß und ist ihrer Mutter gegenüber nicht nur besitzergreifend, sondern massiv ungerecht. Daran hat sich nichts geändert. Auch nach vielen Gesprächen, lauten wie leisen, mit ihrer Mutter, Großmutter, Patentante und sogar einer Therapeutin ist sie stur bei ihrer Opposition geblieben und hat ihrer Mutter so manchen Abend in männlicher Gesellschaft gründlich verdorben. In solchen Situationen hilft vielleicht nur die mit anderen Eltern geteilte Erfahrung, dass man von seinen Kindern leider gerade dann nie Altruismus, Reife und Entgegenkommen erwarten darf, wenn man es wirklich braucht. Und dass man sich von unausstehlichen Partnern trennen kann, von seinen Kindern aber niemals.
Die österreichische Jugendbuchautorin Christine Nöstlinger schildert einen Fall von erfolgreicher Patchwork-Verhinderung in ihrem Roman »Als mein Vater die Mutter der Anna Lachs heiraten wollte«. Der elfjährige Cornelius lebt seit der Trennung seiner Eltern vor fünf Jahren recht zufrieden beim Vater, weil seine Mutter als Fotografin viel reisen muss und im Haus des Vaters außerdem mehr Platz ist. Eines Tages kommt eine Neue in die Klasse, Anna Lachs, die mit ihrer Mutter, einer Kollegin von Cornelius’ Vater, neu in die Stadt gezogen ist, angeblich aus beruflichen Gründen, in Wahrheit aber, wie sich herausstellt, weil die Mutter und Cornelius’ Vater sich ineinander verliebt haben und heiraten wollen. Die Kinder lernen den jeweils neuen Partner also gleich unter der Prämisse kennen, dass es sich um ein Ersatzelternteil handelt, und reagieren entsprechend empfindlich. Cornelius jedenfalls findet die Mutter von Anna Lachs zu dick, zu hysterisch und auch sonst überhaupt nicht zu seinem Vater passend, während Anna vor allem zurück nach Hause will, in ihr altes Salzburger Haus und zu ihrem geliebten Hund, der nicht mit umziehen durfte nach Wien. Die beiden Kinder, die sich zu Beginn nicht besonders leiden können, werden in ihrem Versuch, den Eltern klarzumachen, dass sie bei Zukunftsplanungen auch noch ein Wörtchen mitzureden haben wollen, erst zu Zwangsverbündeten und dann zu richtigen Freunden, während Cornelius’ Vater bei einigen verpatzten Wochenendtreffen und zahlreichen Krisentelefonaten wegen der renitenten Tochter tatsächlich feststellt, dass Sabine Lachs doch nicht die Frau seines restlichen Lebens ist.
Nöstlinger, wie immer auf Seiten der Kinder, schildert das Familiendrama mit viel Humor und Fingerspitzengefühl. Es gibt großartige, dem Alltag abgelauschte Gespräche etwa zwischen Cornelius und seinem Freund Robi über den Ernst der elterlichen Lage: »›Vielleicht entliebt sich dein Vater wieder‹, sagte der Robi. ›Der Papa von der Conny verliebt und entliebt sich andauernd. Die Conny hat schon mindestens fünfmal Angst gehabt, dass sie eine blöde Stiefmutter bekommt.‹« Schließlich schüttet Cornelius seiner Mutter sein Herz aus: »›Es soll einfach alles so bleiben, wie es bis jetzt war!‹, sagte ich, ›Darauf habe ich ein Recht!‹« Worauf die Mutter nachdenklich erwidert: »›Jeder hat so sein eigenes Recht. Ich hatte das Recht, mich scheiden zu lassen, dein Vater hat das Recht, sich neu zu verlieben, diese Sabine hat das Recht, mit deinem Vater leben zu wollen, du hast das Recht, dagegen zu sein, und die Tochter dieser Sabine hat das Recht, nach Salzburg zurückzuwollen. So viele Rechte gehen einfach nicht unter einen Hut, und wenn es ein Sombrero wäre.‹« Als sich herumspricht, warum Anna Lachs sich so seltsam benimmt, reagiert die ganze Klasse solidarisch: »Alle meinten, dass man als Kind das Recht habe, gegen die Heirat der Mutter zu sein, und sich mit allen Mitteln zur Wehr setzen dürfe, egal, ob es nütze oder nicht.«
Auch meine Stiefkinder waren keineswegs ahnungslos, was das weitere Liebesleben ihrer Eltern nach deren Trennung anging. Als sie mich kennenlernten, hatte ihre Mutter gerade zum zweiten Mal geheiratet, und ihr Vater hatte zwar vor lauter Arbeit in den letzten Jahren wenig Zeit für irgendeine Form von Privatleben gehabt, aber das bisschen, was blieb, auch nicht als Eremit verbracht. Zum Ersten, worüber sie mich nach der Aufwärmphase einweihten, gehörten denn auch ihre Einschätzungen meiner Vorgängerinnen. »Die erste Freundin vom Papi, die haben wir eigentlich gar nicht kennengelernt, die kam nur, wenn wir nicht da waren. Und dann gab es die Eva. Die war zwar ganz nett, aber in Wahrheit mochte sie uns nicht besonders.« Die letzte Freundin ihres Vaters hatte sich eigene Kinder gewünscht, und ihre innere Distanz zu den beiden bereits vorhandenen nie ganz verhehlen können. Beides stand zu dieser Zeit einer langen, erfüllten Beziehung im Wege – er konnte sich, so kurz nach dem Scheitern seiner Ehe, keine weiteren Kinder vorstellen, und sie letztlich kein Zusammenleben mit den Kindern aus der vorigen Beziehung. So etwas muss ja gar nicht explizit ausgesprochen werden, um dennoch im Raum stehen zu können. Ungestörte Zeit mit den Eltern, ungeteilte Aufmerksamkeit und Zuwendung und das wohlige Wissen, dass einem Papa oder Mama einen Abend oder ein paar Tage lang ganz allein gehören, sind aus Kinderperspektive kostbar. Da will man niemanden Fremdes dabeihaben, und erst recht keinen, der den freundlichen Zuschauer spielt, aber letztlich um die Hauptrolle buhlt. Rückblickend aber muss ich sagen, dass die beiden im Großen und Ganzen von Anfang an erstaunlich kooperativ und fair waren, was die Partnersuche ihrer Eltern anging.
In Patchwork-Familien, wo sich der Ast eines Stammbaums überraschend weiter gegabelt hat und nun neu verzweigt, bleiben Mutter und Vater in der Regel als Zentralfiguren erhalten. Wenn diese sich neu binden, werden diese Zweit-, Dritt- oder gar Viert-Partner zwar hoffentlich auch zu Bezugspersonen für den Nachwuchs, aber das ist nicht ihre primäre Funktion. Solange ein Kind Mutter und Vater hat und zu beiden verlässlichen Zugang, sind alle Personen, die durch eine Patchwork-Konstellation dazukommen, Verstärker, Bonuseltern, zusätzliche Maschen im Sicherheitsnetz – wie immer man es nennen will. Für die Kinder ist ihr Auftauchen aber nicht überlebenswichtig, sondern im besten Fall erfreulich. Aus Sicht der Eltern hat der neue Partner natürlich einen ganz anderen Stellenwert, aber sich dieses Gefälle vor Augen zu führen kann entlastend sein, weil es einem hilft, die eigene Rolle nicht überzubewerten.
Dass die Kinder von vorneherein nicht dazu neigen, es zu tun, ist eine Nebenwirkung des Misstrauens, das die Trennung der Eltern in vielen von ihnen hervorruft. Wer erleben musste, dass einem die Bindung, auf die er sein ganzes Vertrauen setzte, von einem Tag auf den anderen – denn so scheint es in Kinderaugen oft – unter den Füßen weggezogen wird wie der Boden, auf dem man geht, der traut so leicht keiner neuen elterlichen Beziehung mehr Ewigkeitsstatus zu.
»Ich vermute, der wahre Grund dafür,
dass meine Frau und ich Kinder bekommen haben,
ist derselbe wie der, weshalb Napoleon in Russland einmarschiert ist: Seinerzeit schien es eine gute Idee.«