Und so was nennt ihr Liebe - Marie Louise Fischer - E-Book

Und so was nennt ihr Liebe E-Book

Marie Louise Fischer

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Beschreibung

Es ist schwer, jung zu sein. Das muss der 18-jährige Jürgen erfahren, dem die Konflikte über den Kopf wachsen. Bald wird er nicht mehr mit ihnen fertig. Und es kommt der Tag, an dem sich Jürgen vor Gericht verantworten muss, seinen besten Freund erschossen zu haben. Erst jetzt schrecken die Menschen in seinem Umfeld auf, die bislang in ihren eigenen Problemen verhaftet waren: Sein erfolgreicher Vater, der mit seiner Sekretärin ein Verhältnis unterhält und immer tiefer selbst in kriminelle Machenschaften gerät. Seine Mutter, die sich einem anderen Mann zugewandt hat, und seine Schwester, die schon als 16-Jährige sexuelle Erfahrungen sammelt. Wird sich die Familie wieder zusammenfinden können, ihre Schicksale, Verfehlungen und Hoffnungen teilen können?Marie Louise Fischer wurde 1922 in Düsseldorf geboren. Nach ihrem Studium arbeitete sie als Lektorin bei der Prag-Film. Da sie die Goldene Stadt nicht rechtzeitig verlassen konnte, wurde sie 1945 interniert und musste über eineinhalb Jahre Zwangsarbeit leisten. Mit dem Kriminalroman "Zerfetzte Segel" hatte sie 1951 ihren ersten großen Erfolg. Von da an entwickelte sich Marie Louise Fischer zu einer überaus erfolgreichen Unterhaltungs- und Jugendschriftstellerin. Ihre über 100 Romane und Krimis und ihre mehr als 50 Kinder- und Jugendbücher wurden in 23 Sprachen übersetzt und erreichten allein in Deutschland eine Gesamtauflage von über 70 Millionen Exemplaren. 82-jährig verstarb die beliebte Schriftstellerin am 2. April 2005 in Prien am Chiemsee.-

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Marie Louise Fischer

Und so was nennt ihr Liebe

Roman

SAGA Egmont

Und so was nennt ihr Liebe

Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof Forlag A/S

Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, (www.marielouisefischer.de) represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)

Originally published 1974 by Heyne Verlag, Germany

All rights reserved

ISBN: 9788711719190

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt og Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com

»Angeklagter, stehen Sie auf, wenn ich mit Ihnen rede!« donnert der Staatsanwalt.

Jürgen Molitor erhebt sich langsam, mit deutlichem Widerstreben. Er spürt, daß die Blicke aller Anwesenden im großen Schwurgerichtssaal des Düsseldorfer Landgerichtes sich an ihm festsaugen, aber es macht ihm nichts mehr aus. Die Zeiten sind vorbei, da er rot wurde, sobald ihn jemand aufs Korn nahm.

Mein Junge, denkt Gisela Molitor, mein armer, großer, dummer Junge! – Und hastig steckt sie ihr tränenfeuchtes Spitzentaschentuch zwischen die Lippen, verbeißt sich darin, um das Schluchzen, das in ihr aufsteigt, zu unterdrükken. Nur durch einen Schleier sieht sie ihn, den schlaksigen, hochaufgeschossenen jungen Mann in dem braven dunkelblauen Anzug, zu dem ihm der Verteidiger geraten hat, in dem weißen, am Hals offenen Hemd. Warum schaut er mich denn nicht an? fragt sie sich verzweifelt. Bin ich denn nicht mehr seine Mutter, daß er mich nicht anschaut?!

Aber Jürgen Molitor sieht niemanden an, weder seine Mutter noch seinen Vater, seine Schwester, seinen Klassenlehrer oder Senta Heinze, das Mädchen, das er liebt. Dennoch ist er sich mit jeder Faser bewußt, daß sie alle auf der Zeugenbank sitzen, daß er sich vor jedem einzelnen von ihnen verantworten muß, vor allem vor den Eltern von Gerd Singer, der sein Opfer wurde.

»Angeklagter«, sagt der Staatsanwalt, durch dessen offensichtlichen Mangel an Respekt gereizt, »ich habe den Eindruck, daß Sie die Bemühungen des Gerichtes als Belästigung empfinden!« Jürgen wirft sich mit einem heftigen Ruck eine blonde Strähne aus der Stirn. »Ich finde das viele Gerede verdammt unnötig, wenn Sie es genau wissen wollen«, platzt er heraus. »Ich habe Gerd Singer erschossen, ich gebe es ja zu. Was verlangen Sie denn noch weiter? Ich möchte wirklich wissen, wozu die ganze blöde Fragerei noch nötig ist!«

Martina, seine Schwester, schlägt sich die Hand vor den Mund, um nicht hysterisch loszukichern – ausgerechnet im Strafprozeß, bei dem es um Kopf und Kragen ihres einzigen Bruders geht! Nein, daran ist wirklich nichts Komisches, sie braucht sich nur vorzustellen, daß Gerd, der reiche, verwöhnte, sorglose Gerd, seit Monaten unter der Erde liegt. Sie senkt den Kopf, daß ihr blondes, schulterlanges Haar wie ein Vorhang vor ihr Gesicht fällt. Das sieht diesem Bengel wieder mal ähnlich, denkt sie, gibt freche Antworten, statt sich mit dem Richter gutzustellen. Dämlicher kann er’s wohl nicht mehr anstellen.

»Sie scheinen den Ernst der Situation immer noch nicht begriffen zu haben«, braust der Staatsanwalt auf, »ich bitte mir einen anderen Ton aus, wenn Sie mit mir sprechen!«

Der Angeklagte zuckt die Achseln, seine Lippen sind weiß und schmal wie ein Strich. Er macht eine Bewegung, als wenn er die Hände in die Hosentaschen stecken wollte, unterläßt es dann aber. Die Ärmel seines dunkelblauen Anzuges und seines weißen Hemdes sind ihm ein ganzes Stück zu kurz, seine kräftigen Handgelenke ragen daraus hervor.

Mein Sohn, denkt Helmuth Molitor, das ist nun mein einziger Sohn, dieser verstockte, trotzige Junge. War denn alles umsonst? Was habe ich denn nicht alles getan, damit ihm so etwas erspart bliebe. Er sollte es besser haben als ich, nicht die Schwierigkeiten durchmachen, die ich hatte. Ich wollte nicht, daß er erfährt, wie hart und gemein das Leben ist. Hatte er nicht alles, was er sich wünschte? Und geht trotzdem hin und macht solche Sachen – ruiniert sein ganzes Leben und unseres dazu? Was hat ihn nur dazu gebracht? Ich kann es nicht begreifen. Ich werde es niemals begreifen. Es muß wohl doch an der Zeit liegen, denkt er, es ist ihm zu gut gegangen, das wird es wohl sein. Und er zupft mit nervösen Bewegungen die messerscharfe Bügelfalte seiner Hose zurecht.

Der Verteidiger hat sich halb zu dem Angeklagten umgewandt. »Entschuldigen Sie sich! Aber sofort!« flüstert er ihm zu. »Hier können Sie keine Lippe riskieren!«

»Entschuldigen Sie, bitte, Herr Staatsanwalt«, sagt der Angeklagte, aber es klingt eher verächtlich als reuevoll.

»Moment bitte!« Der Richter unterbricht die Vernehmung durch den Staatsanwalt. »Jetzt hören Sie mir einmal gut zu, mein Junge«, sagt er in beherrschtem, fast väterlichem Ton. »Sie haben einen Menschen getötet. Das ist kein Spiel mehr und kein Spaß. Sie können nicht von uns erwarten, daß wir das auf die leichte Schulter nehmen. Sie haben einen jungen, hoffnungsvollen Menschen getötet! Können oder wollen Sie nicht begreifen, was das bedeutet?«

»Und ob!« stößt Jürgen hervor. »Erschießen Sie mal Ihren besten Freund, dann werden Sie wissen, wie einem danach zumute ist!«

»Es tut Ihnen also leid? Sie bereuen Ihre Tat?«

Die Hände des Jungen krampfen sich um die Anklagebank, seine Knöchel werden weiß, seine Nasenflügel beben. »Du lieber Himmel«, preßt er hervor.

»Was heißt das?« fragt der Richter. »Ich muß Sie doch bitten, sich so auszudrücken, daß wir alle hier …«, und er macht eine Geste, die seine beiden Nebenrichter und alle Anwesenden mit einschließt, »daß wir alle hier Sie verstehen können!«

Diese Juristen! denkt Dr. Georg Opitz, Jürgens ehemaliger Klassenlehrer, und streicht sich mit der Hand über Wangen und Kinn. Begreifen sie denn gar nichts!? Sie halten sich für immens gescheit und merken nicht einmal, daß der Junge vollkommen fertig ist! Er ist am Ende. Am liebsten würde er vor Verzweiflung heulen, wenn er sich nur getrauen würde. Kann man denn so mit Blindheit gegenüber den Jungen geschlagen sein? War ich es auch, solange Jürgen noch in meiner Klasse saß? Ihm und auch seinen Kameraden gegenüber?

Der Richter klopft mit dem Kugelschreiber auf den Tisch. »Wir warten auf Ihre Erklärung, Angeklagter!«

»Was hilft es denn, wenn ich es bereue«, sagt Jürgen Molitor mühsam, »davon wird Gerd doch nicht mehr lebendig. Es ist geschehen, daran läßt sich nichts ändern!«

Der Richter lehnt sich zurück, schlägt die Arme übereinander, überläßt dem Staatsanwalt das Wort. Der kann sich eine gewisse Ironie nicht verkneifen. »Sie irren sich, wenn Sie glauben, wir sind hier zusammengekommen, um die Toten aufzuerwecken«, sagt er, »es geht bei diesem Prozeß um Sie, Angeklagter, um eine Beurteilung und Bewertung Ihrer Tat. Sie haben also allen Grund, uns bei der Rechtsfindung zu unterstützen.«

Jürgen sieht vom Richter zum Staatsanwalt und schweigt.

»Sie haben nicht nur getötet«, fährt der Staatsanwalt unerbittlich fort, »Sie haben auch den Menschen, die Ihnen am nächsten standen und stehen, schweres Leid zugefügt!«

Jetzt, zum ersten Mal, gleiten Jürgens Augen ab, zur Zeugenbank hinüber, begegnen Senta Heinzes Blick – nur für den Bruchteil einer Sekunde – außer den beiden jungen Menschen merkt es niemand.

Das Mädchen versucht alles in ihren Blick zu legen, was sie ihm geben möchte: Ermutigung, Zuspruch, Kraft, Verständnis. Unwillkürlich drückt sie beide Daumen, hebt die fest geschlossenen Fäuste vor die Brust.

Dann ist es schon vorbei, er hat sich wieder abgewandt, seine Augen sind weiter gewandert, zu Gerds Eltern hin, die sehr gerade dasitzen, hoch aufgerichtet, fast starr, und in ihrer Bewegungslosigkeit wie Schaufensterpuppen wirken. Sie lehnen sich nicht an, sind darauf bedacht, daß der Abstand zwischen ihnen gewahrt bleibt.

»Reue allein«, sagt der Staatsanwalt, »nutzt wenig, da haben Sie vollkommen recht. Was wir alle hier von Ihnen erwarten, ist ehrliche Einsicht!«

Ich hätte es verhindern müssen, denkt Senta Heinze, ich hätte mich mehr um ihn kümmern, ich hätte ihm Halt geben müssen! Aber hätte ich es gekonnt? Egal, wenn ich es überhaupt nur versucht hätte! Die bräunliche Haut über ihren hochstehenden Backenknochen strafft sich, ihre schwarzen, schräg stehenden Augen sind ganz schmal vor Erregung.

»Ich habe gestanden, was wollen Sie denn noch von mir?« fährt Jürgen heftig auf.

Aber der Staatsanwalt läßt sich nicht beirren. Als er sieht, wie es in diesem weißen, verzerrten Gesicht zuckt, stößt er nach: »Wann haben Sie die Tat zum ersten Mal geplant! Antworten Sie!«

»Geplant?« wiederholt der Junge gedehnt. »Überhaupt nicht. Wie kommen Sie denn darauf? Sie wissen doch genau, daß ich es niemals vorhatte.«

»Es ist bewiesen, daß Sie lange zuvor den Revolver aus dem Schreibtisch Ihres Vaters entwendet haben! Geben Sie nur zu, daß Sie es mit der vollen Absicht taten, Ihren Klassenkameraden zu töten!«

»Nein!« Jürgen Molitor schreit es heraus. »Nein! Das ist nicht wahr!«

Der Staatsanwalt beugt sich vor. »Warum haben Sie es getan? Warum? Seit zwei Tagen verhören wir jeden Menschen, der Sie und Ihr Opfer gekannt hat! Keiner hat uns ein einigermaßen plausibles Motiv für diese furchtbare Tat angeben können! Jetzt wollen wir es von Ihnen wissen! Warum haben Sie den jungen Mann getötet, den Sie selber Ihren besten Freund genannt haben?«

Die Stille im Gerichtssaal wird atemlos, alle warten auf die entscheidende Antwort. Aber sie kommt nicht.

»Wenn ich das wüßte«, sagt Jürgen tonlos und schlägt die geballten Fäuste gegeneinander, »wenn ich das nur wüßte! Ich kann mich nicht erinnern. Nur, daß er lachte … er lachte mich durch einen roten Nebel an! Und ich zielte, zog den Hahn durch. Es gab einen Knall. Dann lachte er nicht mehr. Sein Gesicht wurde ganz erstaunt. Er preßte die Hände auf den Magen. Und dann fiel er um.«

»Sie geben also zu, daß Sie auf ihn gezielt haben?«

»Ja«, sagt Jürgen Molitor leise, »ja, das habe ich. Ich wollte ihn töten. Ich … ich konnte sein Lachen nicht mehr ertragen.« – Er schlägt die Hände vor das Gesicht, senkt den Kopf, die blonden Haare fallen ihm in die Stirn, sein Körper bebt.

Der Verteidiger springt auf. »Ich beantrage, den psychiatrischen Sachverständigen anzuhören!« Und als er merkt, daß Richter und Staatsanwalt noch zögern, fügt er in einem kollegialen und gleichzeitig beschwörenden Ton hinzu: »So kommen wir doch nicht weiter!«

Nach kurzem Wortwechsel wird seinem Antrag stattgegeben. Der Psychiater, Prof. Dr. Josef Goldmann, wird hereingerufen. Er tritt ein, einen blauen Aktenhefter in der Hand. Er verbeugt sich leicht.

»Hohes Gericht«, beginnt er, »bevor ich mein Gutachten abgebe, möchte ich vorausschicken, daß der Angeklagte Jürgen Molitor während seiner Untersuchungshaft über einen Monat lang in meiner Klinik zur psychiatrischen und psychologischen Untersuchung stationär war und daß ich mich während dieser Wochen täglich mit ihm beschäftigt habe. Ich glaube zu wissen, was in ihm vorgeht, was in ihm vorging, als er die Tat beging.«

Professor Goldmann macht eine kleine Pause, schlägt den Aktenhefter auf, blättert darin. »Zuerst stand auch ich vor einem Rätsel. Ein junger Gymnasiast hat einen anderen Menschen getötet, anscheinend kaltblütig niedergeschossen. Dabei handelt es sich bei dem Täter keineswegs um einen Jungen aus asozialen oder zerrütteten Familienverhältnissen, nein, seine Familie ist intakt, eine ganz normale mitteleuropäische Durchschnittsfamilie. Der Vater hat es durch Fleiß und Strebsamkeit dahin gebracht, seinen Angehörigen einen gewissen Wohlstand zu schaffen. Die Mutter hat, noch bevor der heutige Angeklagte zur Welt kam, ihren beruflichen Ehrgeiz aufgegeben und seitdem nur für ihren Mann und ihre Kinder gelebt. Eine ideale Familie also, möchte es fast scheinen. Auch anlagemäßig ist der jugendliche Täter vollkommen normal, der Grad seiner Intelligenz entspricht seinem Alter, wenn auch eine gewisse Konzentrationsschwäche bemerkbar ist. Zweifellos befindet er sich körperlich und seelisch noch in dem schwierigen Stadium der Pubertät. Aber nichts deutet auf ein gestörtes Triebleben, nichts auch auf krankhafte Veranlagung. Ist er also für seine Tat voll verantwortlich zu machen?« Professor Goldmann legt eine kleine Pause ein, schlägt den Aktendeckel zu, den Zeigefinger zwischen zwei Seiten, sieht die Richter nacheinander durch die Gläser seiner randlosen Brille an. »Ja, und auch wieder nein. Eines steht fest, selbst wenn wir diese Frage bejahen, so können und dürfen wir ihm die Verantwortung auf keinen Fall allein zuschieben. Es stimmt, er hat in einer entscheidenden Situation seines Lebens versagt. Aber dazu wäre es niemals gekommen, wenn nicht seine Umwelt, wir alle, am meisten aber die Menschen, die ihm am nächsten standen, ebenfalls versagt hätten, denn nur so konnte es passieren, daß der jugendliche Täter in diese für ihn nicht mehr selbstverantwortlich zu bewältigende Situation geriet.«

Er wendet sich dem Staatsanwalt zu, sagt kampfbereit: »Es ist falsch, das Motiv der Tat in einer Auseinandersetzung zwischen Jürgen Molitor und seinem Opfer zu suchen, in Rivalität, Eifersucht, einem jäh entflammten Streit, Reibereien irgendwelcher Art, nein, die Ursachen zur Tat liegen tiefer und … ganz woanders.«

1.

Es war Martina, die an diesem Sonntag den Funken ins Pulverfaß warf allerdings ohne jede böse Absicht und vor allen Dingen, ohne zu ahnen, daß sie eine Kettenreaktion auslösen würde.

Die Familie Molitor hatte in dem großen, gemütlichen Zimmer ihrer Altbauwohnung in der Markgrafenstraße in Düsseldorf-Oberkassel friedlich bei einem sehr späten und sehr reichlichen Frühstück zusammengesessen. Noch etwas verdöst vom ungewohnt langen Schlaf und vom eintönigen Rauschen des Frühjahrsregens, der draußen niederging, hatten sie ausgiebig und ziemlich schweigsam gegessen. Nur Martina war mit fröhlichen kleinen Bemerkungen bemüht gewesen, für eine gute Stimmung zu sorgen.

Als die Mutter aufstand, um den Tisch abzuräumen, war sie sofort zugesprungen. »Warte, Mutti, ich helfe dir!«

Ihre Mutter hatte mit leichtem Erstaunen die Augenbrauen gehoben, denn sie war eine derartige Hilfsbereitschaft bei ihren Kindern keineswegs gewohnt. Aber sie enthielt sich jeden Kommentars, sagte nur: »Nett von dir.«

Martina war in die Küche geeilt, mit dem großen Tablett wiedergekommen und hatte eifrig begonnen, es vollzustellen. Als sie es forttragen wollte, hatte es die Mutter ihr abgenommen, »Laß mich lieber!«

Jürgen, in Manchesterhosen und Sporthemd, Sandalen an den bloßen Füßen, hatte sich vor den Radioapparat gehockt und an den verschiedenen Knöpfen herumgedreht. Aber außer kirchlichen Sendungen und klassischer Musik konnte er ihm nichts entlocken. »Immer derselbe Mist«, raunzte er, »ausgerechnet, wenn man mal Zeit hätte …«

Der Vater hatte sich eine Zigarette angezündet, leerte seine Kaffeetasse, stand auf und ging zur Türe.

Martina, die Pfeffer- und Salzstreuer in den Schrank geräumt hatte, war sofort alarmiert. »Was ist los, Papa?« rief sie. »Wo willst du hin?«

»Mir eine Sonntagszeitung besorgen.«

Sie holte ihn mit sanfter Gewalt zurück. »Komm, bleib sitzen. Du mußt nicht selbst gehen, bei dem Regen.« Damit bugsierte sie ihn in seinen Lieblingssessel. »Ich werde sie dir holen …«

Helmuth Molitor sah mit einem kleinen, belustigten Zwinkern zu ihr auf. Es war ihm klar, daß sie etwas im Schilde führte. Aber es gefiel ihm, wie sie ihn umschmeichelte und dabei ihre strahlenden braunen Augen, die sie geschickt durch kühne Lidstriche optisch noch vergrößert hatte, auf kindlichste Weise aufriß, die Lippen zu einem Babymund schürzte. Er fand, daß sie alles in allem recht attraktiv sei, doch in seinen Stolz als Vater mischte sich leises Bedauern darüber, wie groß seine Kinder schon waren – beinahe schon erwachsen –, ein Bedauern, das er sich jedoch selber niemals eingestand.

Er gab ihr zärtlich einen kleinen Klaps. »Ich dachte, du wolltest deiner Mutter helfen?«

»Mach ich ja auch, aber das hindert mich doch nicht, dir die Zeitung zu holen.« Sie hockte sich neben ihn auf die Sessellehne, legte ihren Arm um seine Schultern und rieb schmeichelnd die Wange an seinem sorgfältig gebürsteten Haar, das sich an den Schläfen und am Hinterkopf bereits zu lichten begann. »Vor allem aber möchte ich mit dir sprechen«, sagte sie.

»Aha«, sagte er, darauf bedacht, sich das Vergnügen nicht anmerken zu lassen, das ihm ihre Zärtlichkeiten bereiteten.

»Ich möchte dir nämlich einen Vorschlag machen«, sagte sie und zauste ihn, bis ihm das Haar in einem Schopf zu Berge stand.

Er drückte seine Zigarette aus, tat so, als wollte er zur Brieftasche greifen. »Wieviel?«

»Tu bloß nicht so ekelhaft überlegen, es muß sich ja nicht immer nur um Geld handeln, oder?«

In diesem Augenblick kam die Mutter wieder herein. Der Anblick Martinas, die mit ihrem Vater schmuste, versetzte ihr einen leichten Stich, über dessen Beweggründe sie sich keine Rechenschaft gab. Sie hatte gerade eben noch im Vorbeigehen in den Garderobenspiegel geschaut und sich jung und anziehend gefunden.

Das kurzgeschnittene blonde Haar saß einwandfrei, und ihre Haut war so glatt und so rein, daß sie sich auch ohne einen Hauch von Make-up und Puder sehen lassen konnte.

Jetzt aber, als sie Martina an ihren Vater geschmiegt fand, die noch etwas zu kompakten Beine in den giftgrünen Häkelstrümpfen sorglos baumelnd, fühlte sie sich auf einmal alt. »Wo bleibst du denn?« fragte sie, schärfer als notwendig gewesen wäre. »Ich warte auf dich!«

Martina lächelte sie mit größter Seelenruhe an. »Gedulde dich, o holdes Weib, dies ist gewiß kein Zeitvertreib … gut, was? Von mir! Ich hab’ noch ’ne Kleinigkeit mit dem Hausherrn zu besprechen.«

Ihr Vater lachte. »Ein bißchen mehr Respekt, junge Dame«, sagte er, aber es klang durchaus nicht ärgerlich.

Seine Frau atmete tief durch, um ihre Gereiztheit zu bewältigen. »Darf ich vielleicht auch hören, um was es geht?«

»Na klar, es ist durchaus kein Staatsgeheimnis. Meine Freundin Senta fährt in den großen Ferien mit ihren Leuten an die Adria, sie haben ein richtiges Haus für sich gemietet …«

Helmuth Molitor runzelte die Stirn. »Was geht uns deine Freundin Senta an?«

»Moment, darauf komme ich schon! Ihr wißt doch, daß Senta jede Menge Geschwister hat, auf einen mehr oder weniger kommt es da gar nicht an, und deshalb war Frau Heinze sofort einverstanden, als Senta ihr vorschlug, mich mitzunehmen …« Martina hatte diesen langen Satz ohne Atem zu holen herunter gehaspelt, jetzt kam sie nicht mehr weiter.

»Das kann doch nicht dein Ernst sein!« rief ihre Mutter. »Du wirst doch nicht mit fremden Leuten verreisen wollen?!«

»Heinzens sind doch nicht fremd! Schließlich ist Senta meine beste Freundin!«

»Und unter der unübersehbaren Schar ihrer Geschwister«, sagte ihr Vater in gutmütigem Spott, »wird sicher auch ein Junge sein, der gern bereit ist, dein bester Freund zu werden!«

Martina sprang von der Sessellehne. »Ihr habt Begriffe! Wolfgang, Sentas Bruder, ist siebzehn, ein gutes halbes Jahr jünger als Jürgen! Ihr werdet doch wohl nicht glauben, daß so etwas Unausgegorenes für mich überhaupt in Frage käme!«

Der Vater betrachtete seine Tochter mit deutlichem Wohlgefallen. »Hoffentlich«, sagte er, »aber wie dem auch sei, wenn diese Frau Heinze dich tatsächlich einladen will, so muß sie sich an uns wenden, an mich und an deine Mutter. Falls sie uns eine gewisse Garantie dafür geben kann, daß du …«

»Oh, Boy!« schrie Martina. »Das wirst du mir doch nicht antun, Vati! Damit würdest du mich in Grund und Boden blamieren!«

»Womit? Das kann ich durchaus nicht einsehen!«

»Aber, Papa, verstehst du denn nicht!?« Martina griff zum letzten Mittel, sie zauberte Tränen in ihre weit aufgerissenen Augen. Helmuth Molitor stand entschlossen auf. »Nein«, erklärte er energisch, »ich denke nicht daran, mich auf weitere Debatten einzulassen. Jetzt werde ich endlich das tun, woran du mich bisher gehindert hast, ich werde mir meine Sonntagszeitung holen. Schließlich habe ich wohl ein gewisses Recht, nachdem ich die ganze Woche für euch gearbeitet habe, mein freies Wochenende zu genießen.« Er warf einen Blick zum Fenster, an dem noch immer der Regen herunter lief. »Soweit das bei dem Wetter möglich ist.«

Jürgen hatte dem Gespräch bis jetzt schweigend, aber mit wachsender Aufmerksamkeit gelauscht. Er hatte auf ein günstiges Stichwort gewartet, das nie kam, hatte im Geist blendende Sätze formuliert, mit denen er bei jeder Diskussion Erfolg hätte haben müssen. Doch als die Auseinandersetzung sich zuspitzte und er nur noch die Wahl hatte, entweder den Mund zu halten oder alles zu riskieren, da fehlten ihm plötzlich die Worte.

»Wenn ich auch mal was sagen darf …«, begann er ungeschickt. Aber Helmuth Molitor hörte nicht auf ihn. Er mußte gegen den Impuls ankämpfen, seine Tochter zurückzuhalten und tröstend in die Arme zu nehmen, die, als sie merkte, daß auch ihre Tränen nichts nutzten, schluchzend aus dem Zimmer stürmte.

»Vater!« stieß Jürgen rauh und fordernd heraus.

Helmuth Molitor blieb stehen, drehte sich zögernd zu dem großen Jungen um, den er nicht mehr übersehen konnte. Wie immer, wenn er gezwungen war, sich mit Jürgen zu befassen, empfand er ein Unbehagen, das ihm den Magen zusammenzog, seine Kehle verkrampfte. Niemandem, nicht einmal sich selbst, hätte er zugegeben, daß er sich seines eigenen Sohnes schämte, dieses langen schlaksigen Bengels mit den unfertigen Gesichtszügen, dem finsteren Ausdruck und, was für ihn das Schlimmste war, dem üppigen Haar, das genauso golden war wie das seiner Schwester und, wie es ihm schien, fast genauso lang.

»Wann gehst du endlich zum Friseur?« fragte er.

Jürgen zuckte bei dieser Frage, die er nur zu oft und bei jeder Gelegenheit zu hören bekam, zusammen. »Das auch«, sagte er, »aber …«

»Also, wann?«

»Mußt du immer wieder mit diesem alten Quatsch anfangen?« brach es aus Jürgen heraus. »Können wir denn wirklich nicht einmal vernünftig miteinander reden?«

»Jürgen, bitte!« mahnte seine Mutter und trat schnell zu ihm hin, als wenn sie ihn vor dem Zorn des Vaters schützen müßte.

»Ich kann mich nicht erinnern, je etwas Vernünftiges aus deinem Mund gehört zu haben«, sagte dieser scharf.

»Weil du mich nie zu Wort kommen läßt!«

»Ah, wirklich? Nun, wenn’s daran liegt, sollst du Gelegenheit haben.« Helmuth Molitor lehnte sich mit übereinander geschlagenen Armen gegen den Wohnzimmerschrank. »Sprich dich nur aus. Du hast volle Narrenfreiheit.« Er wußte, daß sein Verhalten dem Sohn gegenüber nicht gerecht war, und das machte ihn noch zorniger.

»Ich will ebenfalls nicht mit euch verreisen!« platzte Jürgen heraus.

»Sieh mal an! Und darf ich fragen, welche Pläne du für deine Ferien verfolgst?« fragte der Vater mit zynischer Gelassenheit.

»Ich will arbeiten!«

»Gar keine schlechte Idee.« Helmuth Molitor löste die Arme, klopfte Jacke, Weste und Hose auf der Suche nach seinen Zigaretten ab. »Du willst also versuchen, deine Wissenslücken durch eisernen Fleiß während der Ferien aufzufüllen«, sagte er, seinen Sohn absichtlich mißverstehend.

»Nein. Ich will arbeiten, um Geld zu verdienen!« Jürgen richtete sich kerzengerade auf, suchte den Blick des Vaters.

Aber Helmuth Molitor tat ihm den Gefallen nicht, er hätte ja zu dem Jungen, der einen halben Kopf größer war als er, hinaufsehen müssen. »Du bist also der Meinung, daß du zu wenig Taschengeld bekommst?« fragte er provozierend.

»Nein, das nicht. Für Kleinigkeiten reicht es. Aber ich werde im Juni achtzehn, Vater!« Jürgen sagte das so beschwörend, als wenn es sich um eine magische Zahl handelte.

Doch Helmuth Molitor wollte ihn nicht verstehen. »Na und?« fragte er und griff nach dem Zigarettenpäckchen, das auf dem kleinen Tisch neben dem Sessel lag.

»Dann kann ich endlich meinen Führerschein machen, Vater! Und für ein paar hundert Mark kriege ich ein gebrauchtes Auto. Soviel kann ich mir leicht in den Ferien verdienen, wenn ich ein bißchen Glück habe und einen guten Job erwische!«

»Aber, Jürgen«, sagte Gisela Molitor, »für was brauchst du denn ein Auto?«

»Um in die Penne zu fahren! Weil ich es satt habe, mich dauernd immer bloß mitnehmen zu lassen!«

Sein Vater hatte sich eine Zigarette angezündet. »Auf die Idee, daß man auch mit der Straßenbahn fahren kann, bist du wohl noch nicht gekommen, was?«

»Natürlich kann man, Vater! Ich bin doch schließlich kein Idiot! Aber die ist immer so überfüllt und außerdem … was würdest du sagen, wenn du mit der Straßenbahn zu deiner Bank fahren müßtest?«

»Ich würde es tun, wenn es sein müßte. Ich habe noch ganz andere Unbequemlichkeiten auf mich genommen, als ich so jung war wie du. Aber davon hast du ja keine Ahnung! So etwas lernt ihr ja nicht in der Schule, deshalb seid ihr auch alle solche eingebildete Besserwisser geworden!« Er verlor die Nerven, wurde laut. »Achtzehn Jahre alt, und da muß der Bengel unbedingt ein Auto haben! Weißt du, was los war, als ich achtzehn war? Ich hätte meinem Vater mal mit so etwas kommen sollen …«

»Aber darum geht es doch gar nicht!« gab Jürgen zurück. »Es interessiert mich einen Dreck, was in deiner Jugend los war! Das sind doch alles olle Kamellen, die du uns auftischst, damit wir dir dauernd dafür danken sollen, wie gut wir es haben! Aber ich brauche einfach ein Auto! Ich bin für die anderen der letzte Mensch, wenn ich kein Auto kriege!«

»Daß du der Letzte bist, das glaube ich dir gerne! Aber daran ist nicht die Tatsache schuld, daß du kein Auto hast, sondern daß deine Leistungen unter aller Kritik sind! Setz dich gefälligst erst mal auf den Hosenboden und zeig uns, daß du etwas kannst, bevor du Forderungen stellst! Achtzehn Jahre und ein Auto, das ist wirklich der Gipfel!«

»Aber es würde dich doch gar nichts kosten, im Gegenteil, ich will mir das Geld ja selbst verdienen!«

»Das möchte ich erleben!« Helmuth Molitor verschluckte sich am Rauch seiner Zigarette, mußte husten, drückte sie wütend aus. »Herrgott, warum bin ich mit einem solchen Idioten von Sohn geplagt! Wenn du wenigstens rechnen könntest! Aber nein, bei dir reicht es nicht einmal, zwei und zwei zusammenzuzählen! Sonst würdest du nämlich wissen, daß es mit den Anschaffungskosten nicht getan ist! Ein Auto kostet Steuern, Versicherung, braucht Benzin, Öl, Reparaturen! Darf ich fragen, womit du das bezahlen willst?«

Jürgens Gesicht war krebsrot angelaufen. »Von meinem großartigen Taschengeld natürlich!« konterte er mit erstickter Stimme. Helmuth Molitor holte aus und schlug seinem Sohn ins Gesicht, »So, das ist die Antwort auf deine Frechheit!« brüllte er. »Dir werde ich die Unverschämtheit noch austreiben, du … du …« Jürgen starrte seinen Vater den Bruchteil einer Sekunde mit schwimmenden Augen an. Dann machte er eine jähe Bewegung, als wenn er sich auf ihn stürzen wollte – wandte sich aber ab und rannte aus dem Zimmer. Die Türe schlug krachend hinter ihm zu.

Gisela Molitor war ganz blaß geworden. Unter ihren Augen zeigten sich bläuliche Schatten. »Das hättest du nicht tun dürfen, Helmuth«, sagte sie tonlos.

»Verlangst du etwa von mir, daß ich mir die Frechheiten deines Herrn Sohnes einfach gefallen lasse?« Helmuth Molitor rieb sich das Gelenk der rechten Hand, das ihn von dem heftigen Schlag schmerzte. »Ihm vielleicht noch ein Auto schenken? Für seine fabelhaften Schulleistungen?«

»Natürlich nicht, Helmuth. Aber man hätte doch …« Gisela Molitors Stimme zitterte. »Man hätte doch alles in … in Ruhe besprechen können.«

»Ich weiß nicht, was es da überhaupt zu besprechen gibt!«

»Aber, Helmuth … nein, glaube nicht, daß ich das gutheiße … aber es ist doch offensichtlich, daß beide, Martina und Jürgen, nicht mehr mit uns zusammen verreisen wollen, und da müssen wir uns doch überlegen …«

Er unterbrach sie hart: »Wenn es nach dir ginge, sollten wir ihnen wohl ihren Willen lassen, was? Du hast eine sehr seltsame Auffassung von Erziehung, das muß ich schon sagen. Seit Jahren bin ich es, der darum kämpft, daß die Familie nicht auseinanderfällt. Aber sei ohne Sorge, ich werde es weiter tun, auch wenn ich nicht die geringste Unterstützung bei dir finde.«

»Aber, Helmuth«, sagte sie hilflos, »du weißt doch genau …«

»Daß du unfähig bist, deine Kinder zu erziehen, ja, das weiß ich. Aber solange ich lebe, ich …«, er schlug sich auf die Brust,»… werde ich Gehorsam und Respekt verlangen. Und solange die Kinder nicht erwachsen sind und auf eigenen Füßen stehen, werden sie mit uns verreisen, obwohl ich selber wüßte, was ich lieber täte.«

»Was heißt das?« fragte sie. »Was tätest du lieber?«

»Auch mal allein unterwegs sein wie andere Männer! Bildest du dir ein, es macht mir Spaß, jeden Urlaub die gesamte Familie mitzuschleppen? Glaubst du, das wäre eine Erholung?«

»Helmuth«, sagte sie, »ich dachte … wir haben uns doch immer so auf den gemeinsamen Urlaub gefreut! Das ganze Jahr Pläne gemacht und …« Sie mußte schlucken. »Du bist auch nicht mehr gerne mit uns zusammen? Ist das wahr, Helmuth?« Sie trat auf ihn zu, mit leicht erhobenen Händen.

Er wußte, er hätte sie jetzt in die Arme nehmen und beruhigen müssen. Aber er war noch viel zu gereizt und zu verärgert, unzufrieden mit sich und der Welt. »Ich rede niemals einfach etwas daher«, sagte er kalt, »so gut solltest du mich doch schon kennen.« Er übersah ihre flehende Geste und verließ das Zimmer. Sie stand ganz still, hörte nach einiger Zeit die Wohnungstüre zuschlagen. Dann war nichts mehr zu hören als der Regen, der gegen die Fensterscheiben trommelte.

Der Eßtisch, an dem sie vorhin so friedlich gesessen hatten, war noch nicht ganz abgedeckt. Sie ließ ihren Blick über den hellen Schrank mit der gläsernen Schiebetüre gleiten, den runden weißen Tisch mit den weißen Sesseln, die Stehlampe mit dem goldgelben Schirm, die gemütliche Sitzecke, das Gemälde von Achenbach – ein stark nachgedunkeltes Stilleben, das sie mit in die Ehe gebracht hatte –, und alles, was ihr noch am Morgen so vertraut gewesen war, schien ihr plötzlich fremd.

Neunzehn Jahre, in guten und in schlechten Zeiten, war sie von Anfang an von der Aufgabe erfüllt gewesen, ihrem Mann und ihren Kindern ein Heim zu schaffen, in dem sie sich wohl fühlen sollten. Neunzehn Jahre lang hatte sie ihre eigenen Wünsche zurückgestellt, hatte sie Befriedigung in der Gewißheit gefunden, geliebt und gebraucht zu werden.

Lange stand sie so. Dann trat sie auf den düsteren Flur hinaus, ging zum Zimmer ihres Sohnes, klopfte an. Nichts rührte sich. Sie drückte die Klinke nieder. Die Tür gab nicht nach.

Jürgen hatte sich eingeschlossen.

Montag war immer der unangenehmste Tag der Woche, dieser Montag aber begann besonders lustlos. Nachdem es das ganze vergangene Wochenende ununterbrochen geregnet hatte, klarte es, wie zum Hohn, in der Frühe auf. Als Jürgen das Haus verließ, spannte sich ein fast südlich blauer Himmel über der Stadt am Rhein, die es sich etwas hatte kosten lassen, Industrieanlagen, welche das saubere Bild hätten stören können, an die Peripherie zu verbannen.

An der Ecke Markgrafenstraße-Luegallee wartete er, von Minute zu Minute ungeduldiger werdend, auf seinen Freund Gerd Singer, der ihn hier aufzulesen pflegte. Aber der Strom der Autos rollte vorbei, ohne daß Jürgen das knallrote Vehikel Gerds entdecken konnte. Er fluchte in sich hinein, verwünschte zum tausendsten Mal seine Abhängigkeit. Wenn Gerd sich verschlafen hatte, wenn er krank geworden war oder sich auch nur in letzter Minute, was bei ihm durchaus drin war, entschlossen hatte, die Schule zu schwänzen, war er geliefert.

Jürgen setzte schon zum Spurt auf die Straßenbahnhaltestelle an, als es neben ihm hupte. Er machte einen Satz, fuhr herum. Sein Freund drückte den Schlag auf, Jürgen warf die Schulmappe nach hinten in den offenen Wagen, ließ sich, aufatmend vor Erleichterung, auf den niedrigen Sitz fallen.

»Mensch, wo bleibst du denn? Ich hab’ mir die Beine in den Bauch gestanden!«

Gerd saß leicht nach vorne gebeugt, wartete auf eine Gelegenheit, in den rollenden Verkehr einzuscheren. Die Spitze der Autokolonne kam am Luegplatz zu stehen, Gerd konnte einbiegen und sich anschließen. Er fuhr sehr lässig, einen Ellenbogen über den Schlag gelehnt. Jürgen beobachtete ihn von der Seite. An Gerd war nichts Besonderes, wenn man die zwei Jahre, die er älter war als seine Klassenkameraden – eine Folge seines zweimaligen Sitzenbleibens – nicht in Betracht zog. Er sah nicht einmal gut aus, hatte ein absolutes Durchschnittsgesicht. Und doch wirkte er, wie er da am Steuer saß, in seinem supermodernen Freizeitanzug, auf Jürgen imponierend, der sich daneben quälend als Schuljunge fühlte.

»Ich wollte dir was erzählen …«, sagte Gerd und trat, als sich dicht vor ihnen eine Gruppe junger Leute zur Straßenbahninsel drängten, so heftig auf die Bremse, daß Jürgens Kopf fast gegen die Windschutzscheibe geprallt wäre.

»Verdammt! Muß das sein?« rief Jürgen.

Gerd grinste. »Reg dich ab. Kleiner Betriebsunfall.«

Jürgen verging das Schimpfen. Er hatte Senta Heinze entdeckt, die sich auf die Plattform der stehenden Straßenbahn zu quetschen suchte. Obwohl sie sich mit dem Rücken zur Fahrbahn vorwärts drängte, war sie es unverkennbar. Niemand sonst hatte so tiefschwarzes, glänzendes Haar, so geschmeidige Bewegungen. Ihr schlanker Körper mit den kräftigen Schultern steckte in einem korallenroten Kostüm im Uniformstil, dessen Rock nur eben die Kniekehlen freigab, obwohl sie sich durchaus hätte erlauben können, mehr von ihren Beinen zu zeigen.

Jürgen fuhr hoch. »Senta!« schrie er. Er beugte sich zu Gerd, schüttelte ihn an der Schulter. »Mensch, hup doch mal, da ist Senta!«

Der Freund tat ihm den Gefallen.

Aber da hatte Senta sich schon einen Platz erobert. Sie drehte sich zu den Jungen um, hob die Hand, lächelte, machte jedoch keine Anstalten, wieder auszusteigen.

Statt dessen sprang Martina ab, die Jürgen, fasziniert wie er war, völlig übersehen hatte, sie schlängelte sich durch die stehende Kolonne, kletterte ungefragt auf den Hintersitz, bevor Gerd wieder anfuhr.

»Tag, Gerd«, sagte sie unbekümmert, »nett von dir, auf mich zu warten!«

»Stell dir vor, du warst nicht mal gemeint«, erwiderte Gerd unverblümt.

Martina zuckte die Schultern, die in einem ihrer bevorzugten, quergestreiften kleinen Pullover steckten. »Glaubst du, das macht mir was aus? An dir ist ja auch bloß dein Auto interessant, und das wird schön langsam reif für den Schrotthaufen.« Sie wirkte jung und sehr frisch, zumal sie für die Schule auf der dicken schwarzen Lidstrich verzichtet hatte und sich damit begnügen mußte, die Wimpern leicht zu tuschen.

»Wenn es de nen Ansprüchen nicht genügt, kannst du jederzeit aussteigen«, versetzte ihr Gerd.

Martina schlug die Arme übereinander, rutschte in die bequemste Stellung. »Das könnte euch so passen.«

Jürgen hülke sich in verbissenes Schweigen, während das Auto über die Rheinbrücke rollte und in die Innenstadt fuhr. Daß ihm aber auch alles schiefgehen mußte. Er haderte mit seinem Schicksal, und das mehr als leichtfertige Wortgeplänkel, mit dem sich Gerd und seine Schwester gegenseitig aufzogen, war nicht dazu angetan, seine Stimmung zu verbessern. Er war noch verärgert, als sie Martina endlich losgeworden waren.

Gerd Singer warf ihm einen forschenden Blick zu. »Paßt dir etwas nicht?«

»Die Art, wie du mit meiner Schwester sprichst.«

»Bildest du dir etwa ein, sie sei unberührbar?«

Jürgen wurde rot. Dabei schämte er sich seiner Verlegenheit. »Wie soll ich das denn beurteilen«, knurrte er.

»Ich meine ja nur«, sagte der andere gelassen, »nämlich selbst wenn sie es wäre, würde es bestimmt nicht mehr lange dauern, bis sie es überstanden hat. Die ist überfällig, glaube mir.«

Jürgen brauste auf. »Halt die Schnauze! Du redest immerhin von meiner Schwester!«

»Na, wenn schon. Sie ist deswegen nicht einen Deut besser als die anderen. Du hast keine Erfahrung, Kumpel, sonst wüßtest du, daß die Bienen alle nichts taugen. Man kann sich einen Spaß mit ihnen machen, aber mehr sind sie nicht wert.«

»Es gibt auch andere«, behauptete Jürgen.

»Es soll ja auch Zeichen und Wunder geben«, erwiderte Gerd unbekümmert, »mir ist jedenfalls noch keine andere über den Weg gelaufen.«

Sie bogen in den Hof des Gymnasiums ein, von dem eine erhebliche Fläche als Parkplatz für die Autos der Lehrer und der älteren Schüler, für Motorräder, Mopeds und Fahrräder abgetrennt war.

Die Schulglocke ertönte.

Gerd warf einen Blick auf seine flache goldene Armbanduhr.

»Verdammt, so spät schon! Wegen deiner süßen Schwester bin ich nicht mal dazu gekommen, dir das Wichtigste zu erzählen.«

»Was?« fragte Jürgen und schlug die Wagentür hinter sich zu. Gerd trat dicht zu ihm hin, ließ die Mappe aufspringen. »Da sieh mal!« sagte er vertraulich.

Jürgen traute seinen Augen nicht. »Was ist das?«

»Eine Armeepistole, ziemlich veraltetes Modell, aber bestimmt noch brauchbar.«

»Menschenskind, woher hast du die?« Jürgen war tief beeindruckt. »Du hast Mut, die mit in die Schule zu bringen!«

»Warum nicht?! Du wirst mich doch nicht verraten.« Gerd stützte die Mappe auf das Knie, drückte das Schloß wieder zu. »Meine Regierung war übers Wochenende mal wieder geplatzt. Da habe ich ein bißchen ’rumgestöbert und das Ding gefunden. Du weißt doch, der Chef war Offizier im letzten Krieg, mit Ritterkreuz und allem Drum und Dran. Ist immer noch mächtig stolz darauf. Brauche ihn bloß ganz doof danach zu fragen, wenn ich ihn in Stimmung bringen will.«

Sie liefen zwischen den anderen Schülern die breite Treppe hinauf.

»Tu das Ding bloß weg!« sagte Jürgen.

»Hast du etwa Angst?«

»Das nicht …«

»Dann hab’ dich doch nicht so. Wenn ich deswegen mit der Regierung aneinander gerate, ist das mein Bier. Ich werd’ die Kanone heute nachmittag mal ausprobieren. Aber wenn du keine Lust hast …«

»Mal sehen!«

Dabei blieb es, weil in diesem Augenblick Studienrat Müller die Klasse betrat und mit dem Unterricht begann …

Jürgen Molitor gehörte zu jenen Schülern, die im Mündlichen wesentlich besser sind als im Schriftlichen. Er konnte zuweilen überraschend intelligente Fragen stellen, die die Lehrer immer wieder für ihn einnahmen. Aber er besaß nicht die Konzentration, eine Arbeit wirklich einwandfrei abzuschließen.

An diesem Vormittag war er im Unterricht gar nicht bei der Sache. Der gestrige Zusammenstoß mit dem Vater saß ihm noch in den Knochen. Alles, was in der Klasse vorgetragen und diskutiert wurde, schien ihm blaß und theoretisch, völlig belanglos gemessen an seinen eigenen Problemen. Er duckte sich hinter seinen Vordermann, beschränkte seine Bemühungen darauf, nicht aufgerufen zu werden und nicht aufzufallen, und hatte damit auch Erfolg bis zur letzten Stunde, Mathematik bei Studienrat Dr. Opitz.

Die Schüler behandelten ihre Lehrer im allgemeinen nicht gerade übertrieben respektvoll oder höflich. Aber im Moment, da Dr. Opitz vor die Klasse trat, wurde es totenstill. Er trug einen Stoß schwarzer Hefte unter dem Arm, den er auf seinen Schreibtisch absetzte.

»Na also, meine Herren«, sagte er und rieb sich die langen, ausdrucksvollen Hände, »da hätten wir es mal wieder. Ich muß sagen, die Arbeiten sind ganz leidlich ausgefallen. Damit wir uns recht verstehen: Meisterleistungen sind keine darunter. Aber immerhin, es hätte schlimmer sein können.«

Dr. Opitz rückte seine Brille zurecht, sah die großen Jungen, einen nach dem anderen, aufmerksam an, blickte in erwartungsvolle, ängstliche, neugierige, selbstzufriedene und gleichgültige Augen. Er war sich ihrer Spannung bewußt, widerstand jedoch der Versuchung, den Moment noch länger auszukosten.

»Dann wollen wir mal«, sagte er und begann die Hefte zu verteilen.

Er hatte sie nicht geordnet, wie es einige seiner Kollegen taten – die beste Arbeit zuoberst, die schlechteste zuunterst –, weil er wußte, daß das für die schwächeren Schüler zu einer wahren Qual werden konnte. Aber er war auch nicht so gleichgültig, daß er die Hefte von irgend einem der Jungen hätte verteilen lassen. Er rief die Namen auf, gab jedem einzelnen Schüler einen Kommentar zur Arbeit und zur Benotung.

Jürgens Magen krampfte sich zusammen, während er darauf wartete, an die Reihe zu kommen. Für ihn hing viel von dieser Klassenarbeit ab, unter Umständen Versetztwerden oder Hängenbleiben. Er war schwach in Latein, und wenn er in Mathematik diesmal auch auf ein Ungenügend kam … Er vergrub die Zähne in der Unterlippe, während er auf den Lehrer starrte.

Dr. Opitz war ein schlanker Mann, der fast hager wirkte, weil er seine Anzüge aus Bequemlichkeitsgründen stets etwas zu groß wählte. Aber die Jungen, die ihn im Turnzeug kannten, wußten, daß diese schlotternde Kleidung einen sportlich durchtrainierten, fast jugendlichen Körper verbarg. Dr. Opitz hatte eine besondere Art, ernst und durchdringend zu blicken, auch wenn er lächelte – und zu lächeln, auch wenn er etwas recht Unangenehmes sagte. »Molitor!«

Jürgen fuhr hoch, wollte nach vorne stürzen, beherrschte sich aber und schlenderte scheinbar gelassen zum Schreibtisch des Lehrers. Dr. Opitz hielt das Heft abwägend in der Hand, sah ihm durch seine leicht getönten Brillengläser entgegen. »Tut mir leid, Molitor, Sie haben auch diesmal daneben gehauen. Wie kaum anders zu erwarten war.«

Es war sein Lächeln und sein Ton, der Jürgen rasend machte. »Na wenn schon«, sagte er aufsässig.

»Ich sehe, Sie nehmen es leicht, Molitor. Nun ja, Sie waren an einer akademischen Laufbahn wohl ohnehin nie interessiert.«

»Stimmt haargenau«, sagte Jürgen wild, »ich kann mir was Besseres vorstellen!«

Dr. Opitz verlor nicht für eine Sekunde seine ironische Gelassenheit, wegen der er von seinen Schülern bewundert und gefürchtet wurde. »Was zum Beispiel?« fragte er. »Wollen Sie Ihrem Vater nacheifern und ins Bankfach einsteigen? Dazu müssen Sie aber rechnen können. Nein, ich sehe keine andere Karriere für Sie, denn als … Berufssportler! Wie wäre es damit? Dazu brauchen Sie nur Ihre Muskeln, und die sind ja soweit in Ordnung.«

Einige Jungen lachten, und Jürgen fuhr herum. »Ihr habt’s gerade nötig!« fauchte er. »Ihr!«

Dr. Opitz hob abwehrend die Hände. »Nicht handgreiflich werden, Molitor, bitte nicht! Sparen Sie Ihre Kräfte für später, bei uns am Gymnasium wird man dafür nicht bezahlt.«

Jürgen riß das Heft an sich, drehte sich um und stapfte auf seinen Platz zurück. Er knallte es auf seinen Arbeitstisch, ließ sich auf seinen Stuhl fallen, stemmte die Ellbogen auf, stützte das Kinn in die Hände, starrte blicklos vor sich hin und versuchte, sich zu beruhigen.

»Sie sollten sich Ihre Arbeit ruhig einmal ansehen«, stichelte Dr. Opitz, »es lohnt sich, wenn vielleicht auch nur zur Abschreckung. Lassen Sie sich von den roten Strichen nicht irritieren, es handelt sich um die Spuren meiner unzulänglichen Bemühungen, Ihre Fehler zu verbessern.«

»Wenn du jetzt nicht sofort die Schnauze hältst«, murmelte Jürgen, »bringe ich dich um!«

Dr. Opitz hatte schon den nächsten Schüler aufgerufen, er wurde dennoch aufmerksam. »Haben Sie etwas gesagt, Molitor?«

Jürgen biß die Zähne aufeinander, seine Wangenmuskeln arbeiteten.

»Nein?« fragte Dr. Opitz freundlich. »Dann muß ich mich getäuscht haben. Wenn ich Ihnen dennoch einen unmaßgeblichen Rat geben darf: bereiten Sie Ihre Eltern darauf vor, daß Ihre Versetzung gefährdet ist. Es wäre schlecht, wenn der blaue Brief sie völlig überraschend träfe. Vielleicht nehmen sie die Sache nicht ganz so leicht wie Sie selbst.«

Als sie nach Schulschluß nebeneinander die breite Treppe hinuntergingen, sagte Gerd: »Ehrlich, Jürgen, ich verstehe dich nicht! Daß du immer wieder auf die öden Witze von Opitz hereinfällst. Der legt es doch nur darauf an, einen hochzunehmen. Das solltest du doch inzwischen wissen.«

»Weiß ich auch. Ich bin ja kein Idiot. Ich hatte einfach eine Wut im Bauch.«

»Na und?«

»Wenn ich hängenbleibe … du ahnst ja nicht, was das zu Hause für ein Theater gibt. Dann bin ich bei meinem Vater vollkommen unten durch.«

Sie waren auf dem Hof bei Gerd Singers rotem Sportauto angekommen. Er schloß die Türe auf. »Macht dir das was aus?«

Jürgen flankte über die andere Türe, plumpste auf den Sitz.

»Angenehm wäre es mir jedenfalls nicht.«

Der Freund ließ den Motor an. »Bürgerliche Vorurteile. Sieh mich an, ich bin schon zweimal sitzengeblieben, aber das kann mich nicht erschüttern.«

»Wenn du’s diesmal nicht schaffst, mußt du von der Schule.«

»Kann mir nicht passieren. Meine Regierung hat einen erheblichen Batzen für neue Geräte in der Turnhalle gestiftet. Da getrauen sie sich nicht mehr, mich backen zu lassen.«

»Ach so«, sagte Jürgen verwirrt.

Gerd steuerte durch das Tor. »Mit Geld, mein Sohn, schafft man alles. Geld haben ist besser als Genie.«

»Eigentlich ist das doch eine ganz große Gemeinheit!«

»Ist es, alter Junge, ist es. Es geht auf dieser Welt nicht gerecht zu, das erwarten nur die Kinder. Fang endlich an, die Menschen so zu sehen, wie sie sind!«

Gerd fuhr nicht geradewegs nach Oberkassel, sondern schlug einen Umweg ein. Er gönnte sich und seinem Freund das Vergnügen, gemächlich, vom Graf-Adolf-Platz her, die Königsallee hinunter zu fahren. Die Kastanien hatten schon dicke Knospen, und einige Cafés hatten bereits Tische und Stühle ins Freie gestellt. An den Schaufenstern vorbei flanierten modisch gekleidete Frauen und Mädchen.

Gerd blickte ihnen nach und pfiff durch die Zähne. »Sollen wir uns zwei aufreißen?« fragte er.

»Doch nicht jetzt«, sagte Jürgen, »ich muß nach Hause.«

»Weiß schon: Mutti wartet mit der Suppe!«

»Jeder hat’s eben nicht so gut wie du!«

»Bist du sicher, daß ich es so gut habe?« fragte er überraschen ernst.

»Na, du hast jedenfalls deine Freiheit.«

»Aber mehr auch nicht.« Gerd wechselte auffallend eilig das Thema. »Wie ist das jetzt, soll ich dich heute nachmittag zum Schießen abholen? Ja oder nein?«

»Aber sicher«, sagte Jürgen, »warum denn nicht?«

Als Jürgen am frühen Nachmittag mit zum Grafenberger Wald hinausfuhr, war ihm denkbar unbehaglich zumute. Ihm lag gar nichts an der ganzen Schießerei, er war nur mitgekommen, weil er fürchtete, sich durch eine Absage eine Blöße zu geben, und weil es ihn reizte, etwas zu tun, was die Eltern, die Lehrer und all diese verdammten überheblichen Erwachsenen bestimmt schockieren würde. Aber während sie die Stadt durchquerten, stand er Todesängste aus, sie könnten in einen Unfall verwickelt werden und man würde die Pistole bei ihnen entdecken.

Doch auch diese Angst hatte einen gewissen prickelnden Reiz, und als sie unbeschadet den Wald erreichten, kam das erhebende Gefühl dazu, allen Aufpassern ein Schnippchen geschlagen zu haben. Die Suche nach einem für die geplanten Schießübungen geeigneten Platz war aufregender als das Indianerspiel längst vergangener Kindertage.

Gerd fuhr das Auto in eine Schneise, und sie gingen zu Fuß weiter. Jürgen trug ein paar alte Blumentöpfe, die der Freund von zu Hause mitgenommen hatte. Sie arbeiteten sich zu einer kleinen Lichtung durch, die dicht von Tannen und Unterholz umgeben war, und Gerd erklärte, hier sei es richtig. Er wies Jürgen an, einen der Tontöpfe auf die Spitze einer jungen, etwa zwei Meter hohen Tanne zu setzen. Dann spannte er den Hahn, während Jürgen sich in Sicherheit brachte.

Es gab einen betäubenden Knall. Der Blumentopf fiel von der Tanne. Jürgen rannte hin. Ein Stück war herausgesplittert.

»Streifschuß!« rief er und steckte den Topf wieder auf.

»Es ist gar nicht so einfach«, gestand Gerd, »das reißt einem ja fast den Arm weg. Willst du mal?«

Jürgen zögerte, die schwarze, glänzende Waffe zu nehmen, griff dann aber doch zu. Die Pistole war kalt, wog schwer in der Hand.

»Sonderbar«, sagte er, und ein Prickeln lief ihm den Rükken hinunter, »mit so etwas kann man also einen Menschen auslöschen.«

»Ohne weiteres«, sagte Gerd, »das ist ein ganz schweres Kaliber.« Er zeigte ihm den Sicherungshebel und wie die Pistole zu spannen sei.

Jürgen streckte den Arm ganz gerade aus, kniff das linke Auge zu, zielte.

Plötzlich kam ihm der Einfall, sich statt der Tanne mit dem Blumentopf Dr. Opitz vorzustellen, sein lächelndes Gesicht mit diesen Augen, die einen zu durchschauen schienen. Diese Vision erregte ihn. Er zielte in das verhaßte Gesicht, mitten hinein, drückte ab – er hörte den Knall, spürte den Rückstoß wie einen Schlag gegen die Armkugel. Das rote Gesicht vor ihm zerbarst. Am liebsten hätte er laut geschrien. Aber aus seiner Kehle kam kein Ton.

Statt dessen rief Gerd: »Donnerwetter! Das war ein Volltreffer! Aber ich wette, du hast nur Glück gehabt! Versuch es noch einmal!«

Nur wenige Minuten dauerte der ganze Spaß, denn es zeigte sich, daß nicht mehr als fünf Kugeln im Magazin gewesen waren. Sie hantierten noch eine Weile mit der leeren Waffe herum, probierten aus, wie sie zu laden war und wie sie funktionierte. Dann steckte Gerd sie endgültig in seine Schultasche zurück. Er machte sich anheischig, auch ohne Waffenschein neue Munition besorgen zu können, nach seinem bekannten Motto: Für Geld kriegt man alles.

Sie ließen die restlichen Blumentöpfe auf der Lichtung, bahnten sich ihren Weg zurück zum Auto. Der Wagen rumpelte über den Waldweg auf die asphaltierte Straße. Gerd redete, Jürgen warf nur hin und wieder ein Wort ein, ohne wirklich zuzuhören.

In der Papierfabrik war Schichtwechsel. Mädchen und Frauen strömten ins Freie. Sie gingen in Gruppen, manche untergehakt, zu zweien oder dreien, nur wenige allein.

Gerd nahm Gas weg, ließ den Wagen im Schritt-Tempo dahinrollen. »Schau dir das an!« sagte er und blies die Luft durch die Zähne. »Die sind zwar nicht so zuckrig wie die heute früh von der Kö, aber ich sag dir … mit denen kann man was erleben. Die beiden da vorne zum Beispiel …«

Jürgen betrachtete die beiden Mädchen, die Gerd meinte. Die eine hatte blond gefärbtes Haar, die andere war dunkel, sie trugen Strickjacken und gerade geschnittene kurze Röcke. Ihre Figuren waren nicht umwerfend.

»Nicht schlecht«, sagte Jürgen. »Pech, daß ich keine Zeit mehr habe.«

Gerd warf ihm einen raschen Seitenblick zu. »Was heißt das?«

»Daß ich verabredet bin. Zu deutsch: ich habe was Besseres vor! Ich habe mich nur mit Mühe und Not für die Schießerei freimachen können.«

»Du willst nach Hause? Na schön, ich kann dich nicht hindern. Aber du erwartest wohl nicht, daß ich mir von dir den Spaß verderben lasse.« Gerd trat auf die Bremse, langte an Jürgen vorbei und öffnete die Autotüre. »Dann bis morgen! Mit der 12 kommst du direkt zum Schadowplatz.«

Jürgen wußte, noch hatte er die Wahl. Es war verdammt unbequem, mit der Bahn nach Oberkassel zurückzufahren. Zorn gegen den Freund stieg in ihm auf, ein Zorn, den er selber als ungerechtfertigt empfand.

Er stieg wortlos aus, knallte die Türe zu. »Na denn, amüsier dich gut«, sagte er mit schmalen Lippen.

»Worauf du dich verlassen kannst!« Mit einem Satz schoß der Wagen voran, fuhr erst wieder langsam, als er die Mädchen erreicht hätte.

Jürgen wartete nicht ab, ob eine der beiden auf die Annäherung einging. Er wandte sich ab und ging zur nächsten Haltestelle zurück.

Sein Glücksrausch war verflogen, dafür empfand er Ernüchterung und Ekel.

2.

Martina verließ am Mittwochabend kurz vor acht Uhr das Haus, angeblich, um in den Jugendklub zu gehen, tatsächlich aber hatte sie etwas ganz anderes vor. Sie war mit einem jungen Mann verabredet, den sie in der vorigen Woche kennengelernt hatte. Schon seit Tagen hatte sie dem Wiedersehen mit diesem augenblicklichen Schwarm entgegengezittert.

James Mann verdiente sich sein Geld als Autoverkäufer in einem erstklassigen Salon in der Graf-Adolf-Straße, ein Job, dessen zusätzlicher Reiz darin bestand, daß er Gelegenheit bot, mit den schicksten Wagen, ob nun günstig erstanden oder nur entliehen, durch die Gegend zu brausen. Aber nicht das allein war es, was Martina an ihm faszinierte, sondern sein ganzes Auftreten, seine selbstsichere überlegene Art, ganz abgesehen davon, daß er bereits achtundzwanzig Jahre alt war, ein wirklicher Mann, kein grüner Junge mehr, eine Eroberung, wie sie keine ihrer Freundinnen und Klassenkameradinnen aufweisen konnte.

Senta Heinze hatte sie zwar gewarnt: »Der ist viel zu alt für dich, und außerdem, er wirkt doch irgendwie schmierig, merkst du das denn nicht?«

Aber Martina hatte sich nicht beeinflussen lassen. »Aus dir spricht der blanke Neid«, hatte sie erwidert, »mir gefällt James, und ich werde ihn mir anbändigen, auch wenn du platzest.«

Er hatte sie gleich am ersten Abend, als er sie in seinem amerikanischen Straßenkreuzer nach Oberkassel brachte – nur bis zum Luegplatz, denn sein Aufkreuzen in der Markgrafenstraße hätte verräterisch werden können – geküßt. Aber wie! Von einem Jungen hätte sie sich das nicht so rasch gefallen lassen, aber bei diesem Mann imponierte es ihr. Sein Tempo raubte ihr den Atem, und sie fand es sehr schmeichelhaft, daß sie es war, die ihm solche Leidenschaft entlockte.

Am liebsten hätte sie sich gleich am nächsten Tag wieder mit ihm getroffen, aber als er den Mittwoch vorschlug, hatte sie nicht gewagt, ihre Ungeduld zu verraten.

Und nun stand sie da, vor dem Opernhaus, wohin er sie bestellt hatte, und wartete, eine Palette in Grün und Orange. Sie trug einen grünen Regenmantel, orangefarbene Strümpfe und grüne Schuhe, und ihr honigblondes Haar bildete die Krönung dieser Skala. Sie hatte reichlich Make-up benutzt.

Junge Männer, die vorüberschlenderten, sprachen sie an, warfen ihr anzügliche Worte zu, pfiffen anerkennend. Das kümmerte sie nicht. Immer ungeduldiger blickte sie die Alleestraße hinauf und hinab, aber im Licht der hohen Bogenlampen waren nur noch die Fahrzeuge zu erkennen, die chromblitzend und lackglänzend die Rampe zur Rheinbrücke hinauf fuhren, die Insassen waren nicht mehr zu erkennen.

Martinas freudige Erwartung verebbte, wandelte sich in Unsicherheit und Enttäuschung. Sie war fast schon überzeugt, daß James Mann sie versetzt hatte, wehrte sich aber noch, sich diese Niederlage einzugestehen, als ein Jaguar rechts vom Opernhaus einbog. Die Türe wurde von innen aufgestoßen, und Martina lief hin – schwankend zwischen jäh aufflammender Hoffnung und der Angst, sich einem Fremden gegenüber zu sehen und unsterblich zu blamieren.

Aber es war James, der ihr die Türe aufhielt. »He, Küken!« sagte er und entblößte lächelnd seine weißen, auffallend regelmäßigen Zähne.

»Ich habe gar nicht gewußt … ich meine … voriges Mal hattest du einen anderen Wagen!«

Er wendete schwungvoll, mit großer Routine. »Kann schon sein. Du kennst ja meine Devise: lieber öfter mal was Neues.«

Auch bei Mädchen? hätte sie fast gefragt, aber sie unterdrückte diese Bemerkung, weil sie um keinen Preis kleinlich erscheinen wollte. »Wohin fahren wir?« fragte sie statt dessen.

Er stoppte, weil er warten mußte, bevor er einbiegen konnte. »Bedaure, nirgends. Mir ist was dazwischen gekommen, ich wollte dir bloß Bescheid sagen. Aber immerhin, nach Hause kann ich dich bringen.«

Daraufhin konnte sie sich nicht zurückhalten. »Du hast eine … andere Verabredung?« fragte sie und hätte sich im gleichen Augenblick wegen dieser Frage und mehr noch wegen des leichten Zitterns in ihrer Stimme selbst ohrfeigen können.

Er lachte. »Schäfchen«, sagte er gönnerhaft, »glaubst du, ich hätte schon die Nase voll von dir?«

»Das nicht, aber … ich verstehe nicht …«

»Ganz einfach. Eine berufliche Sache. Ich muß nach Hause, weil ich ein Ferngespräch aus London erwarte. Es geht um ein ganz großes Geschäft.«

Sie schluckte, ohne es zu merken, den Köder. »Aber dieses Gespräch«, sagte sie, »kann doch nicht so lange dauern.«

»Stimmt haargenau. Du bist ein kluges Kind. Die Frage ist eben nur, wann es kommt. Unter Umständen …« Er unterbrach sich, fragte, als wenn ihm das gerade erst einfiele: »Wie wäre es, wenn ich dich irgendwo absetzen würde? Vielleicht haben wir Glück, und das Gespräch kommt rasch, dann könnte ich nachher wieder zu dir kommen.«

Sie überlegte, zog die Unterlippe zwischen die Zähne. »Und wenn nicht?«

»Na, dann gehst du eben schön nach Hause!«

Die Autokolonne kam zum Stehen, er wollte nach rechts, in Richtung Oberkassel einbiegen, da legte sie ihm beschwörend die Hand auf den Arm.

»Halt, James, noch nicht! Einen Augenblick! Wäre es nicht viel praktischer, wenn ich mit zu dir käme!?«

Er schaute sie unter seinen langen, dichten Wimpern hervor von der Seite an, der Blick seiner dunkelblauen Augen war ausdruckslos. »Praktischer schon«, sagte er gleichgültig, »ich hätte dir selber schon den Vorschlag gemacht …«

»Warum hast du es dann nicht getan?«

Er zuckte die Achseln, betätigte den linken Blinker. »Ich dachte, du wärst von der altmodischen Art, könntest es falsch auffassen.«

»Ich bin doch nicht blöd.«

»Das merke ich!« Er gab Gas, es gelang ihm gerade noch im letzten Moment die Alleestraße zu überqueren, er bog nach links ein, sie fuhren in Richtung auf die Innenstadt …

James Mann wohnte im siebten Stock eines großen, modernen Appartementhauses am Brehmplatz. Sie fuhren im Lift nach oben, er schloß die Türe auf, während Martina hinter ihm wartete. »Ich darf doch vorgehen«, sagte er, half ihr aus dem Mantel, ging weiter in den sehr großen Hauptraum, knipste die Stehlampe und die Schreibtischlampe an.

Sie blieb beeindruckt auf der Schwelle stehen. »Das ist ja eine Wucht!«

Das Zimmer war äußerst komfortabel eingerichtet. Eine richtige Junggesellenwohnung mit einer riesigen Couch, die mit Bergen von bunten Seidenkissen bedeckt war, mit modernen schwarzen Ledersesseln, einem langen gläsernen Tisch, einem einzigen überdimensionalen, abstrakten und sehr farbenfreudigen Gemälde an der Wand.

»Freut mich, daß es dir gefällt«, sagte er.

»Gefallen ist gar kein Ausdruck.«

»Mach’s dir bequem.« Er stellte den Plattenspieler an, und Sekunden später rieselte aus der Stereoanlage der seidenweiche Sound der Ray Anderson Band auf Martina herab.

Sie kuschelte sich in einen der Sessel, zog die Beine an. Sie wirkte sehr süß in dem ärmellosen sonnengelben Tangentenkleid, das unter dem Regenmantel zum Vorschein gekommen war. Aber er schien es nicht zu bemerken. Sein dunkles Gesicht zeigte einen abwesenden und verschlossenen Ausdruck. Er mischte an der Hausbar einen Whisky mit Eis und viel Wasser für sie, einen Whisky pur für sich selber.

»Einen Long Drink für dich«, sagte er, als er das Glas vor sie hinstellte, »du kannst ihn ruhig trinken, ich habe ihn ganz dünn gemacht.«

»Hältst du mich für ein Baby?«